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Tal der tausend Blüten

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Nr. 345

Tal der tausend Blüten

Die Droge der Verwandlung wird zur Rettung

von Clark Darlton

Die Erde ist wieder einmal davongekommen. Pthor, das Stück von Atlantis, dessen zum Angriff bereitstehende Horden Terra überfallen sollten, hat sich dank Atlans Ein­greifen wieder in die unbekannten Dimensionen zurückgezogen, aus denen der Kon­tinent des Schreckens urplötzlich materialisiert war.

Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem neuen Start zu verlassen. Der ungebetene Besucher ging wie­der auf eine Reise, von der niemand ahnt, wo sie eines Tages enden soll.

Doch nicht für lange! Denn der überraschende Zusammenstoß im Nichts führte da­zu, daß der »Dimensionsfahrstuhl« Pthor sich nicht länger im Hyperraum halten konnte, sondern zur Rückkehr in das normale Raum-Zeit-Kontinuum gezwungen wurde.

Und so geschieht es, daß Pthor auf Loors, dem Planeten der Brangeln, niedergeht, nachdem der Kontinent eine Bahn von Tod und Vernichtung über die »Ebene der Krieger« gezogen hat.

Natürlich ist dieses Ereignis nicht unbemerkt geblieben. Sperco, der Tyrann der Galaxis Wolcion, schickt seine Diener aus, die die Fremden ausschalten sollen. Dar­auf widmet sich Atlan sofort dem Gegner. Um ihn näher kennenzulernen und seine Möglichkeiten auszuloten, begibt sich der Arkonide in die Gefangenschaft der Sper­coiden. Sein Weg führt dabei von Sarccoth in das TAL DER TAUSEND BLÜTEN …

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Die Hautpersonen des Romans:Atlan - Der Arkonide entdeckt das Tal der tausend Blüten.Proscutter-Lop - Ein entflohener Gefangener der Spercoiden.Tentakel - Ein seltsames Wesen, dem ebenfalls die Flucht vor den Spercoiden gelang.

1.

Nachdem Atlan drei Stunden lang ohne Unterbrechung marschiert war, hielt er er­schöpft inne. Wenn er jetzt keine Erholungs­pause einlegte, würde er bald zusammenbre­chen, und die ganze abenteuerliche Flucht wäre umsonst gewesen.

Das Gelände stieg allmählich an, aber der Übergang zum eigentlichen Gebirge war deutlich zu erkennen. Dort wurde es steiler. Tiefe Einschnitte ließen dahinterliegende Pässe vermuten, die eine Überquerung der Berge ermöglichten.

Die schwachen Mentalimpulse, die Atlan seit ein paar Stunden empfing, kamen von jenseits des Hauptkamms. Er richtete sich nach ihnen, denn sie vermittelten positive Emotionen, keine bösartigen.

Er setzte sich auf einen von der Sonne des Planeten Karoque erwärmten Stein und sah zurück. Eine fast senkrecht aufsteigende dunkelfarbige Wolke verriet die Müllver­nichtungsanlage, in der er beinahe gelandet wäre, hätte er sich nicht rechtzeitig befreit. Er glaubte nicht, daß die Spercoiden ihn noch in der Festungsanlage Sarccoth such­ten, aus der er hatte entkommen können. Seine Fahrt mit dem Müllwagen schienen sie auch nicht bemerkt zu haben.

Karoque konnte erdähnlich genannt wer­den. Der Planet besaß eine Sauerstoffatmo­sphäre und eine etwas geringere Schwer­kraft. Tag und Nacht dauerten insgesamt achtzehn Stunden. Die Sonne erschien klein und leuchtete gelblich weiß. Das Klima war warm und erträglich.

Irgendwo in dieser Galaxis war der Di­mensionsfahrstuhl auf dem Planeten Loors gelandet, doch Atlan war von seinen Freun­den getrennt worden. Er mußte den Weg zu ihnen zurückfinden, aber vorher war noch

eine Rechnung mit dem Tyrannen Sperco zu begleichen, der über ein gewaltiges Sternen­reich mit unvorstellbarer Grausamkeit herrschte.

Atlan schloß die Augen, um sich besser auf die Mentalimpulse konzentrieren zu können, die unaufhörlich auf ihn einström­ten. Die positiven Emotionen wechselten, blieben allerdings ohne definitive Aussage.

Wahrscheinlich gelten sie nicht einmal mir, dachte er ein wenig verwirrt. Sie gehen von jemandem – oder etwas – aus, das Si­cherheit zu bieten scheint. Ich muß die Quel­le finden – oben in den Bergen …

Nach einem letzten Blick hinab in die Ebene erhob er sich, um seinen Weg fortzu­setzen. Er folgte einem schmalen Bach, der aus den Bergen kam und dort eine Klamm ausgewaschen hatte. Atlan war überzeugt, daß sie ihm das Eindringen in den Höhenzug ermöglichen konnte, ohne daß er die fast senkrecht ansteigenden Steilwände erklet­tern mußte. Er hatte nichts bei sich, was ihm dabei helfen konnte, er trug nur seine schüt­zende Lederkombination, die Schnürstiefel und um die Hüfte den breiten Gürtel.

Er unterdrückte das aufkommende Hun­gergefühl, indem er ab und zu einen Schluck Wasser trank. Die wenigen verkrüppelten Bäume, die in Bachnähe dahinvegetierten, trugen keine Früchte. Wild hatte er noch kei­nes gesehen, und wenn das der Fall sein würde, mußte er es mit einem gut gezielten Steinwurf erlegen.

Eine Stunde später erreichte er den An­fang der Klamm. Felsbrocken versperrten den Einschnitt, die er mühsam überwinden mußte. Dahinter bahnte sich der nun nicht mehr so friedlich wie zuvor dahinrauschen­de Bach sein Bett durch schroffe Vorsprün­ge und glattgewaschene Hänge.

Einen Augenblick dachte Atlan daran, ei­ne günstigere Stelle zur Überquerung des

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Gebirges zu suchen, aber dann sagte er sich, daß wohl die eine so sei wie die andere. Au­ßerdem verlief die Klamm genau in die Richtung, aus der die mentalen Impulse zu kommen schienen.

In jeder anderen Situation hätte die wildromantische Landschaft ihren Eindruck auf Atlan nicht verfehlt, so aber hatte er nur Augen für günstig liegende Felsbrocken und handbreite Pfade entlang der Steilwände, auf denen sein Fuß Platz finden konnte. Immer enger und steiler wurde die Klamm. In sprü­henden Kaskaden stürzte der Wildbach über aus dem Fels gefressene Stufen in die Tiefe.

Nach kurzer Zeit war Atlan bis auf die Haut durchnäßt. Kein Sonnenstrahl fiel in die Schlucht. Es wurde kühl, dann kalt. In ein oder zwei Stunden wurde es dunkel. Wenn sich bis dahin kein geeigneter Lager­platz für die Nacht fand, würde es ungemüt­lich werden.

Auf halber Höhe eines Wasserfalls ge­langte Atlan an eine geschützte Stelle. Eine fast senkrecht stehende Steinplatte hielt den Sprühregen des in die Tiefe rauschenden Ba­ches ab. Der überhängende Felsen der Steil­wand zur Rechten vermittelte den Eindruck einer Höhle. Der Boden war trocken, es wuchs sogar spärliches Gras.

Atlan beschloß, die Nacht an dieser Stelle zu verbringen.

*

Durchgefroren, aber halbwegs getrocknet erwachte er am anderen Morgen mit steifen Gliedern. Er lockerte sie durch Freiübungen, die zugleich wärmten, wenn sie auch den Hunger nicht vertreiben konnten.

Weiter! Nach einigem Suchen fand er den günsti­

gen Aufstieg und war wenige Minuten spä­ter wieder völlig durchnäßt. Aber er kam nun schneller und besser voran, weil sich die Klamm verbreiterte.

Die mentalen Impulse waren stärker ge­worden, sie schienen ihn leiten und locken zu wollen. Er hatte keine andere Wahl, als

Clark Darlton

der hypno-telepathischen Aufforderung zu folgen, denn eine Rückkehr in die Ebene hätte den sicheren Tod bedeutet.

Sein Extrasinn blieb passiv – ein gutes Zeichen. Im Fall einer unmittelbaren Gefahr hätte es ihn sicherlich gewarnt. Trotzdem blieb die Frage offen, von wem die mentalen Gedankenimpulse ausgingen.

Mehrmals mußte Atlan den Bach über­queren und holte sich dabei zu allem Über­fluß auch noch nasse Füße. Aus der Klamm war ein schmales Tal geworden, die Hänge rechts und links schienen immer weiter aus­einanderzurücken. Nach vorn verengte sich das Tal jedoch wieder.

Er schritt schneller aus und begann all­mählich wieder trocken zu werden. An man­chen Stellen schien jetzt sogar die Sonne, die hoch genug gestiegen war, um die Tal­sohle erreichen zu können.

Vier Stunden nach seinem Aufbruch er­reichte Atlan das obere Ende des Tales. Sei­ner Schätzung nach befand er sich jetzt etwa tausend Meter über der Ebene und gut zwan­zig Kilometer von ihr entfernt.

Er setzte sich auf einen Stein und genoß die wärmenden Sonnenstrahlen. Seine Le­derkombination war fast wieder trocken. Wenn nur der bohrende Hunger nicht gewe­sen wäre …!

Nachdenklich betrachtete er seine Umge­bung.

Die Berghänge an den Seiten waren fla­cher geworden, luden aber kaum zu einer Kletterpartie ein. Sie war auch überflüssig, wie Atlan erleichtert feststellte. Zwar steilte genau vor ihm eine glatte Felswand empor und bildete den Talabschluß, aber in dieser Wand klaffte ein kaum zwei Meter breiter Spalt. In ihm verschwand der Oberlauf des Baches, der zu einem kläglichen Rinnsal ge­worden war.

Es war natürlich auch möglich, daß der Spalt nichts anderes als eine Sackgasse war und schon nach wenigen Metern endete, aber das Vorhandensein des Baches sprach dagegen.

Atlan beschloß, nicht noch mehr Zeit zu

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verlieren, wenn das Ziel auch ungewiß sein mochte.

Er stand auf und drang in die Spalte ein. Kühle Luft schlug ihm entgegen, aber

gleichzeitig verstärkten sich die Mentalim­pulse derart, daß kein Zweifel mehr daran bestehen konnte, daß sie ihm allein galten. Der Absender schien seinen jeweiligen Standpunkt immer genau zu kennen.

Atlan war kein Telepath, aber er wußte nur zu gut, daß es auch Nichttelepathen möglich war, sich auf mentaler Basis zu ver­ständigen, wenn der Partner hypno­telepathische Fähigkeiten besaß. In einem solchen Fall konnten Gedankenimpulse ei­nem normalen Gehirn regelrecht einsugge­riert und so verständlich gemacht werden.

Konzentriert versuchte er, Kontakt aufzu­nehmen, aber er erhielt keine gezielte Ant­wort. Die Emotionen, die sich ihm mitteil­ten, blieben freundlich und gut – alles in al­lem konnten sie als extrem positiv bezeich­net werden.

Vielleicht zu positiv. Nein! Unwillkürlich verscheuchte Atlan

das Mißtrauen, das in ihm aufstieg. Warum sollte es auf dieser Welt des Bösen nicht auch das Gute geben? Lagen Gegensätze nicht oft nahe beisammen?

Die Schlucht wurde nicht schmaler. Wenn er die Arme ausstreckte, konnte er die Fels­wände an beiden Seiten mit den Fingerspit­zen berühren. Das Rinnsal zu seinen Füßen störte ihn nicht.

Dann aber wurde der Pfad steiler. Nach einer kaum spürbaren Windung öffnete sich die Spalte knapp zwanzig Meter vor ihm.

Unwillkürlich hielt Atlan an und blieb ste­hen. Die plötzliche Helligkeit blendete ihn.

Die Mentalimpulse drängten ihn zum Weitergehen, aber noch zögerte er.

Es waren nicht nur die bereits bekannten Impulse, die ihn erreichten, sondern noch et­was anderes, das er nicht definieren konnte. Wie ein dunkler Schatten senkte es sich auf sein Bewußtsein, und dann schien er über ei­nem bodenlosen Abgrund zu schweben, ob­wohl er deutlich sah, daß seine Füße auf

dem felsigen Pfad standen. Jetzt zwang er sie durch seinen starken

Willen, sich wieder in Bewegung zu setzen, auf den Ausgang zu.

Sie gehorchten ihm, aber nur wie in Zeit­lupe.

Er entsann sich, derartiges schon in Träu­men erlebt zu haben. Er wurde verfolgt und wollte davonrennen, aber es wurde nur ein mühseliges Davonschleichen, während der Gegner unerhört schnell aufholte.

Eine Falle …? dachte er entsetzt.

*

Die zwanzig Meter wurden zu einer quä­lenden Ewigkeit.

Der eigenartige Schwebezustand hielt an. Es kam Atlan so vor, als seien es nur seine nach beiden Seiten ausgestreckten Hände, die ihn am Boden festhielten und ein Ent­schweben nach oben verhinderten. Seine Fü­ße schienen durch einen dicken Brei zu wa­ten, obwohl von diesem Hindernis nichts zu sehen war.

Das Unbekannte, das auf sein Bewußtsein drückte, trübte auch den Blick seiner Augen. Verschwommen nur noch sah er die strah­lende Helligkeit vor sich, die das Ende der Schlucht ankündigte. Das, was dahinter lag, mußte er erreichen, koste es, was es wolle …

Und dann, urplötzlich, verdrängten die altbekannten positiven Mentalimpulse die unheimliche Macht, die von ihm Besitz er­greifen wollte. Der erdrückende Schatten wich von seinem Bewußtsein, die Füße konnten sich wieder normal bewegen, seinen Augen sahen wieder – und der Schwebezu­stand hörte auf.

Schnell legte er die letzten Meter zurück und blieb dann mit einem Ruck stehen.

Was er sah, erschien ihm unmöglich. Er mußte träumen.

Vor seinen Augen lag ein weites Tal, des­sen Grenzen nicht exakt zu bestimmen wa­ren. In der Ferne waren Gebirgszüge zu er­kennen, die es wahrscheinlich einschlossen.

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Darüber spannte sich der klare und hellblaue Himmel von Karoque mit seiner kleinen und doch so warmen Sonne.

Doch das allein war es nicht, was Atlan so in Erstaunen versetzte. Es war vielmehr die üppig wuchernde Vegetation, die kaum einen freien Platz ließ.

Manche dieser Pflanzen waren bis zu fünf und sechs Meter hoch, und alle trugen sie farbenprächtige Blüten, die einen betäuben­den Duft ausströmten. Nie in seinem Leben hatte Atlan ein solches Blütenmeer gesehen, und er glaubte, seinen Augen nicht trauen zu dürfen.

Wie war das in dieser Höhe überhaupt möglich? Sicher, das Tal lag geschützt und wurde von den Sonnenstrahlen erwärmt, aber in der Nacht mußte es empfindlich kühl werden. Gab es keine Jahreszeiten, keinen alles vernichtenden Winter?

Aber das waren nicht die einzigen Fragen, die Atlan bewegten.

Vorsichtig ging er ein paar Dutzend Schritte in das Tal hinein und achtete darauf, keine der Pflanzen zu berühren. Immer noch empfing er die Mentalimpulse, aber er hätte nicht zu sagen vermocht, ob sie von der un­gewöhnlichen Vegetation stammten oder nicht.

Ein umgestürzter Baumstamm lud zu ei­ner Pause ein. Er setzte sich.

Jetzt erst ließ er die Fragen auf sich ein­stürmen und versuchte, sie einzeln zu beant­worten, aber was dabei herauskam, waren nichts als Spekulationen.

*

Die Spercoiden galten als die Elitetruppe des Tyrannen Sperco. Mit ihrer Kampfflotte, die aus 36 000 Einheiten bestand, hielten sie das eroberte Sternenreich in Schach. Sie wa­ren gefühllos und ohne Erbarmen, und wenn ihr Herr es befahl, gingen sie ohne Zögern für ihn in den Tod.

Ihre Körpergröße schwankte zwischen an­derthalb und zwei Meter, eingehüllt wurden sie ständig von einem blaßblauem Panzer,

Clark Darlton

der nicht einmal ihr Angesicht sichtbar wer­den ließ. Noch niemals hatte jemand einen Spercoiden ohne diese alles verbergende Rüstung erblickt.

Wie konnte es auf einer Welt, die von Spercoiden als Stützpunkt benutzt wurde, dieses herrliche Blütental geben? fragte sich Atlan. Die seelenlosen Kreaturen Spercos hätten etwas derartig Schönes und Gutes niemals zugelassen, sie hätten das Tal samt seiner Vegetation gnadenlos vernichtet.

Oder hatten sie es bisher noch nicht ent­deckt? Nein, das erschien Atlan ziemlich un­wahrscheinlich. Aber noch unwahrscheinli­cher war nach einigem Überlegen sein Ge­danke, daß die seltsame Sperre am Talein­gang vielleicht den Spercoiden galt und sie am Betreten des isolierten Paradieses hin­dern sollte.

Wie hätten Pflanzen eine solche mentale Sperre errichten können, ganz abgesehen von der Tatsache, daß die Spercoiden mit Flugmaschinen das Tal von oben her einse­hen und angreifen konnten, was allem An­schein nach jedoch nie geschehen war.

Rätsel über Rätsel. Atlan konnte nicht ahnen, daß er erst am

Anfang seiner ungeheuerlichen Entdeckung stand. Für den Augenblick verzichtete er auf die Antworten auf seine selbstgestellten Fra­gen. Hier im Tal fühlte er sich einigermaßen sicher, wenn die Natur der Mentalimpulse auch noch nicht geklärt war.

Neigte sich dort die blutrote Blüte nicht in seine Richtung?

Atlan behielt sie ganz fest im Auge, wäh­rend er langsam weiterging, und wahrhaftig … die Blüte folgte seinen Bewegungen durch eine kaum merkliche Drehung.

Er blieb stehen und sah sie direkt an. »Teile dich mir mit, wenn du kannst«,

forderte er sie auf und achtete darauf, ob sich die Natur der auf ihn einströmenden Impulse veränderte. »Warum nehmt ihr kei­nen Kontakt auf? Ich bin dazu bereit.«

Es folgte keine Reaktion. »Na, dann eben nicht«, murmelte Atlan

und ging weiter in das Tal hinein.

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Manchmal streifte er die übergroßen Blät­ter oder Stengel der Pflanzen. Eine Welle mentaler Sympathieimpulse überflutete ihn dann, und nun konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß sie von der Vegetation stammten.

Aber nicht alle. Immer wieder empfing Atlan andere

Bruchstücke mentaler Eindrücke, die grund­verschieden von den bisherigen schienen. Ganz ohne Zweifel versuchte jemand, end­lich Kontakt mit ihm aufzunehmen. Er schöpfte neue Hoffnung. Gab es in diesem Tal doch ein vernunftbegabtes Lebewesen, das ihm zu helfen bereit war?

Immer weiter drang Atlan in das mär­chenhafte Tal ein, dessen paradiesische Schönheit nicht zu dem Planeten Karoque passen wollte. Und dann kam deutlich der erste verständliche Gedankenimpuls:

»Du hast es geschafft, Fremder. Du bist in Sicherheit – vorerst wenigstens. Geh wei­ter!«

Die Botschaft kam so deutlich an wie laut gesprochene Worte. Unwillkürlich antworte­te auch Atlan laut:

»Wer bist du? Wo kann ich dich finden?« »Das wirst du noch früh genug erfahren

… ah, dein Name ist also Atlan? Geh nur in der bisherigen Richtung weiter, dann wirst du mich schon finden. Richtig, mitten durchs Tal …«

Die Blumenpflanzen standen nicht mehr so dicht wie vorher. Atlan glaubte sogar et­was von einem ausgetretenen Pfad erkennen zu können, dem er folgte. Die Sonne hatte längst ihren höchsten Stand überschritten und wanderte weiter nach Westen. Es war immer noch warm.

Der schmale Weg führte ein wenig bergan auf einen flachen Buckel, der ziemlich in der Mitte des nahezu runden Tals lag. Zum er­sten Mal entdeckte Atlan auch richtige Bäu­me, an denen schmackhaft aussehende Früchte hingen. Erneut meldete sich der bohrende Hunger.

»Hallo, Freund! Ich habe Hunger. Kann ich die Früchte essen, ohne mich zu vergif­

ten?« »Wenn du nicht warten kannst, iß sie ru­

hig. Sie sind nicht giftig. Sie sind sogar das einzige Nahrungsmittel, das es hier gibt.«

»Danke«, gab Atlan zurück. »Ich mache eine Pause, werde also nicht ungeduldig.«

»Bis zum Anbruch der Dunkelheit treffen wir uns …«

Die Früchte erinnerten an Birnen, schmeckten süß und waren sehr saftig. Und vor allen Dingen: Sie sättigten.

Atlan verzehrte fünf von ihnen und hörte dann auf, um sich nicht den Magen zu ver­derben. Jetzt erst nahm er sich die Zeit, seine Umgebung genauer zu betrachten, was von der flachen Erhebung aus sehr gut möglich war.

Er konnte fast das ganze Tal bis hin zu den es einschließenden Berghängen überse­hen. Es schien ein einziges Blumenmeer mit einigen Lichtungen zu sein. Auch von den Obstbäumen gab es mehr als genug. Die Nahrungssorge konnte vorerst vergessen werden.

Doch dann gab es etwas recht Merkwürdi­ges, und er mußte mehrmals hinsehen, um sich zu überzeugen, daß er sich nicht irrte …

*

Einige besonders hohe Pflanzen mit far­benprächtigen Blüten schon am unteren Stengelansatz schienen plötzlich auf halber Höhe aufzuhören. Nicht etwa, als hätte man sie dort einfach abgeschnitten, das wäre zu sehen gewesen. Nein, die bizarren und mit ineinander verfließenden Farben übersäten Pflanzen schienen sich von einer gewissen Ebene an regelrecht zu entstofflichen, so als wüchsen sie in eine andere Dimension hin­ein.

In eine Dimension, die dem Betrachter unsichtbar blieb.

Atlan rieb sich die Augen, aber der Ein­druck veränderte sich nicht. Der Übergang war nur zu deutlich zu erkennen. Sollte die Evolution es ausgerechnet diesen Pflanzen ermöglicht haben, durch bloßes Wachstum

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in ein anderes Kontinuum zu gelangen? Atlan wußte, daß nichts im Universum

unwahrscheinlich oder gar unmöglich war, das ein intelligentes Gehirn auch erkennen und sich vorstellen konnte. Er konnte sich eine solche Pflanze vorstellen, also war es auch möglich, daß es sie gab …

»Es war auch für mich ein überraschender Anblick«, meldete sich der Unbekannte nun wieder. »Ich dachte zuerst, es käme vom Genuß der Früchte, aber das stellte sich als unrichtig heraus. Das Verschwinden der Blüten ist keine Illusion, es geschieht tat­sächlich.«

»Und warum?« »Ja, wenn ich das wüßte …!« Atlan ahnte, daß auch für den anderen das

Tal noch Geheimnisse barg und er nicht alle Fragen beantworten konnte. Er warf einen letzten Blick auf die ins Nichts hinein wach­senden Pflanzen und setzte seinen Weg fort.

Es ging wieder leicht bergab, mitten hin­durch zwischen mehrfarbigen Blütenmeeren und Obstbäumen mit verschiedenen Frucht­arten. Die Luft war angefüllt mit einem be­täubenden Duft.

»Wir sind äußerlich nicht sehr verschie­den«, kam der nächste Gedankenimpuls bei Atlan an. »Gleich wirst du mich sehen …«

Eine braune Pelzhand schob die im Weg stehenden Pflanzen zur Seite, dann erschien ein ebenfalls mit Pelz bedeckter Körper, et­wa so groß wie der eines Menschen. Zwei kluge Augen blickten Atlan entgegen.

Das Wesen stand auf zwei kräftigen Bei­nen und trug keine Bekleidung, wahrschein­lich genügte das pelzige Fell als Schutz ge­gen die nächtliche Kälte. Das Gesicht ähnel­te mehr dem eines Nasenaffen als dem eines Menschen, aber dieser Eindruck mochte des­halb entstehen, weil es ebenfalls behaart war.

»Ich bin Proscutter-Lop«, teilte der Frem­de mit und streckte Atlan die Hand entge­gen, die dieser ohne Zögern nahm und den kräftigen Druck zurückgab. »Unser Schick­sal dürfte identisch sein.«

»Die Spercoiden …?«

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»Ja, ich war auch ihr Gefangener, aber ich konnte entfliehen. So wie du fand ich dieses Tal, und seitdem lebe ich hier. Wahrschein­lich werde ich meine Heimatwelt, von der ich verschleppt wurde, nie mehr wiederse­hen.«

Atlan fand die Aussicht, für immer hier auf Karoque bleiben zu müssen, alles andere als verlockend, aber das wichtigste war erst mal, in Sicherheit zu sein. Und wenn dieser Proscutter-Lop schon längere Zeit hier weil­te, ohne wieder eingefangen worden zu sein, so bedeutete das zumindest eine Galgenfrist.

»Ich habe schon oft an Flucht gedacht«, gab Proscutter-Lop zu und verriet damit, daß er Atlans Gedanken mitlas. »Vielleicht schaffen wir es gemeinsam. Doch der Tag wird bald der Nacht weichen, du wirst müde und erschöpft sein. Ich zeige dir das Lager.«

Atlan hatte noch tausend Fragen, aber er mußte seinem neuen Freund recht geben. Nach ein paar Stunden Schlaf sah die Welt schon wieder anders aus. Außerdem war er wirklich müde. Die Sonne stand bereits über dem Westkamm des Gebirges.

Er folgte Proscutter-Lop, der wieder die hier dicht stehenden Pflanzen zur Seite schob, um eine Gasse zu schaffen. Bereits nach wenigen Metern öffnete diese sich zu einer unregelmäßig geformten Lichtung, de­ren trockener und steiniger Boden keiner Pflanze Halt und Nahrung geboten hätte. Ein schrägliegender Felsbrocken in der Mitte der Lichtung schien das Ziel von Proscutter-Lop zu sein.

»Ich habe etwas nachgeholfen und gegra­ben, dadurch ist eine Art Höhle entstanden. Sie bietet Schutz vor Regen und Kälte. Du wirst dort gut schlafen können.«

»Ich bin dir sehr dankbar für deine Hilfe, mein Freund. Ohne dich wüßte ich nicht, was ich unternehmen sollte. Wie gut, daß du mich mit deinen Mentalimpulsen hierher hast finden lassen.«

»Es waren nicht nur meine, sondern auch die der Blüten, die ins Dunkel wachsen. Sie riefen dich ebenfalls, weil sie das Gute zu beschützen wissen.«

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Das klang reichlich geheimnisvoll, stimmte aber mit Atlans Beobachtung über­ein, daß nur positive Impulse von ihnen aus­gingen.

Dankbar kroch er unter den überhängen­den Felsen, während der Pelzige noch ein­mal losging, um Früchte einzusammeln.

*

An diesem Morgen war Atlan nicht so durchgefroren wie nach der vergangenen Nacht. Proscutter-Lop war schon wach. Dicht neben dem Felsen hatte er ein Feuer entzündet, auf dem ein dampfender Kessel stand. Als er bemerkte, daß sein Gast sich aufrichtete, wandte er sich an ihn:

»Es gibt aromatische Kräuter hier im Tal, aus denen sich ein wohlschmeckendes Ge­tränk brauen läßt, wenn man sie vorher trocknet. Es wärmt und gibt Kraft. Zusam­men mit den Früchten reicht es zur Ernäh­rung völlig aus.«

Atlan stand auf und kam zum Feuer. »Du hast dich schon an das Leben eines

Einsiedlers gewöhnt«, sagte er und setzte sich. »Wie lange bist du hier?«

»Es müssen zwei Jahre vergangen sein«, erwiderte Proscutter-Lop und blickte hinauf zum Ostrand des Gebirges, hinter dem ein heller Schein die aufgehende Sonne ankün­digte. »Aber ich werde nicht alle deine Fra­gen beantworten können. Meine Hauptsorge hier war bisher das reine Überleben. Du aber bist voller Probleme und Pläne, bei denen ich dir kaum helfen kann. Warum genießt du nicht die Ruhe und den Frieden des Tales?«

»Weil ich nicht für immer hierbleiben kann, mein Freund. Vor mir liegt noch eine große Aufgabe, die es zu erfüllen gilt. Soll­ten wir gemeinsam einen Fluchtweg finden, der von Karoque fortführt, so nehme ich dich gerne mit, wenn du es wünschst.«

»Eine Rückkehr auf meine Heimatwelt nützt mir nichts, Atlan. Sie wurde von den Spercoiden versklavt und dem Reich des Ty­rannen einverleibt. Hier lebe ich frei und un­gebunden. Ich bleibe hier.«

Atlan nickte. Erneut wurde ihm bewußt, wieviel Leid und Elend Sperco über unzähli­ge Welten und Völker gebracht hatte, die er erobert und unterjocht hatte, um sich ein ei­genes Imperium aufzubauen. Aber war die­sem mächtigen Tyrannen beizukommen, wenn man selbst nicht einmal über ein Mes­ser verfügte, geschweige denn über andere Waffen und Raumschiffe?

»Deine Gedanken sind sinnlos«, teilte Proscutter-Lop traurig mit. »Niemand kann seinem Schicksal entrinnen.«

Atlan trank den heißen Tee und biß in ei­ne saftige Frucht.

»Was ist mit diesen bunten Blüten, mit den Pflanzen überhaupt? Was meintest du, als du sagtest, sie wüchsen ins Nichts hinein, ins Dunkel? Wie soll ich das verstehen?«

»Ich kann es dir nicht erklären, aber mir ist in diesen zwei Jahren die Vermutung ge­kommen, daß die Pflanzen hier und die Spercoiden in irgendeinem Zusammenhang stehen. Ob das etwas mit ihrem Hineinragen in das Dunkel zu tun hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß man in die ›schwarzen Berei­che‹ gelangen kann, wenn man den Nektar der Blüten trinkt.«

»Woher willst du das wissen?« Für lange Sekunden erhielt Atlan keine

Antwort, nur die glücklichen Impulse der Pflanzen trafen sein Bewußtsein.

»Ich weiß es eigentlich nicht so genau, denn ich habe es nie probiert. Aber die Blü­ten haben es mir mitgeteilt, als ich einmal Kontakt mit ihnen hatte. Der Kontakt war nur oberflächlich und nicht sehr konkret. Es ist schwierig, sich mit ihnen vernünftig zu verständigen.«

»Dein Volk … sind alle seine Angehöri­gen geborene Telepathen?«

»Ja, alle. Wir kennen deine Lautsprache nicht, die ich nur undeutlich hören kann. Unsere Welt ist ruhig und still, und gegen die mentalen Impulse kann sich jeder nach Belieben abschirmen.«

»Ihr müßt sehr glücklich gewesen sein …?«

»Ja, bis die Spercoiden eintrafen.« Das

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klang verbittert und hoffnungslos. Schnell wechselte Atlan das Thema: »Dieser ›schwarze Bereich‹ … was stellst

du dir darunter vor?« Unsicher und zögernd gab Proscutter-Lop

seine Theorien preis, die für Atlans Begriffe jeder Logik entbehrten. Er selbst war noch immer überzeugt, daß die Pflanzen die Mög­lichkeit besaßen, andere Dimensionen und Daseinsebenen zu erreichen, indem sie ein­fach in sie hineinwuchsen.

Überhaupt erschien ihm Proscutter-Lop nicht sonderlich intelligent zu sein, aber die Frage blieb offen, ob er ein Durchschnitt­sexemplar seiner Rasse war oder nicht.

Zum Glück konnte auch Atlan sein Ge­hirn abschirmen, so daß er ungestört denken konnte, ohne befürchten zu müssen, daß der Fremde etwas aufschnappte. Aus Höflich­keit machte er von seiner Fähigkeit nur äu­ßerst selten Gebrauch.

Er legte Holz nach und sagte: »Ich habe deine Theorie gehört, nun höre

meine …« So einfach wie möglich versuchte er Pros­

cutter-Lop die Natur der verschiedenen Di-mensionen zu erklären und betonte, daß es normalerweise nicht möglich sei, ohne be­sondere wissenschaftliche Erkenntnisse von der einen in die andere vorzudringen.

»Es ist auch möglich, daß sich Dimensio­nen überschneiden, wobei jede für die ande­re unsichtbar bleibt. Das bedeutet, daß ein Gegenstand, der sich in einer anderen Di­mension befindet, unbemerkt bleibt. Hinzu kommt, daß Raum und Zeit völlig verschie­denen Gesetzen unterliegen. Materie kann sich gleichzeitig an zwei Orten aufhalten, umgekehrt ist es möglich, daß sich zwei Ge­genstände gleichzeitig an ein und demselben Ort befinden. Der Zeitablauf kann in der einen Dimension langsamer sein als in der anderen. Wenn sich nun solche Ebenen überlappen, kommt es zu erstaunlichen und oft unerklärlichen Phänomenen. Ich glaube, diese Blütenpflanzen hier sind ein gutes Bei­spiel dafür.«

Proscutter-Lop gab zu, daß er nicht alles

Clark Darlton

verstand und noch darüber nachdenken müs­se. Er wiederholte, daß ein unerklärlicher Zusammenhang zwischen den Spercoiden und den Pflanzen bestand. Dann erhob er sich ziemlich abrupt und teilte mit, daß er einen Spaziergang unternehmen und Früchte sammeln wolle.

Atlan blieb sitzen und blickte ihm nach­denklich nach.

Er wußte nicht, was er von allem halten sollte.

Die »schwarzen Bereiche«, eine andere Dimension …?

Andere Dimensionen und das Eindringen in sie waren für ihn, schon lange bevor er die Terraner überhaupt kennenlernte, eine Selbstverständlichkeit gewesen, wenn die entsprechenden technischen Hilfsmittel zur Verfügung standen. Jede Transition eines Raumschiffs war ein Übergang von der einen in die andere Dimension.

Es gab keinen besseren Fluchtweg als ei­ne andere Dimension.

Er sah hinüber zu dem Blütenmeer der ge­heimnisvollen Pflanzen, die dieses Problem ohne jede Technik gelöst zu haben schienen. Konnte man vielleicht durch sie erfahren, wie sie es gemacht hatten?

Der Nektar …! Proscutter-Lop behauptete, daß der Genuß

des Blütensafts ein Überwechseln in die an­dere Dimension ermöglichte.

*

Proscutter-Lop kehrte mit Früchten bela­den zurück. Er hatte die ganze Zeit über kei­nen Kontakt zu Atlan haben können, weil dieser sich abschirmte. Er verlor keinen ein­zigen Gedanken darüber.

»Nun haben wir den ganzen Tag über ge­nug zu essen«, teilte er mit. »Wir werden viel Zeit haben, unsere Gedanken auszutau­schen.«

»Ich möchte den Versuch unternehmen, Kontakt mit den Pflanzen herzustellen. Wirst du mir dabei helfen können?«

»Mein damaliger Kontakt war Zufall,

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mehr nicht. Ich habe es später mehrmals ver­sucht, hatte aber nie Erfolg. Ich glaube, es gehört sehr viel Konzentration dazu, und die läßt sich gemeinsam schlechter erreichen. Ich meine damit: Allein in der Einsamkeit kann man sich besser konzentrieren.«

In diesem Punkt gab Atlan ihm recht. Er wechselte das Thema:

»Sind wir außer den Pflanzen die einzigen Lebewesen im Tal?«

»Nein, es gibt noch andere, aber sie gehö­ren nicht hierher.«

Atlan sah ihn befremdet an. »Wie meinst du das: Sie gehören nicht

hierher?« Proscutter-Lop stocherte mit einem Holz­

stab in der glühenden Asche herum. »Sie kommen aus dem dunklen Bereich,

nehme ich an. Sie tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden dann wieder. Einmal sah ich ein Wesen, das auf vier Beinen kroch … nun, wie soll ich es beschreiben? Es hatte einen Panzer und einen gepanzerten Schwanz …«

»Ein Krokodil?« »Was ist das? Stelle es dir vor …« Atlan stellte sich ein Krokodil vor. »Ja, so ungefähr«, stimmte Proscutter-Lop

zu, »nur nicht so dunkel gefärbt. Eigentlich war das Wesen blaß und weiß, der Panzer schien auch nicht so dick zu sein. Jedenfalls war ich sehr erschrocken, als ich es sah. Und wie ich es sah!«

»Wie denn?« »Ich stand auf der Lichtung, und plötzlich

schob sich aus der Luft die Schnauze, dem der Kopf und schließlich der ganze Körper folgte. So wie die Blüten im Nichts ver­schwinden, kam dieses Wesen aus dem Nichts. Es starrte mich an, dann kroch es weiter und verschwand wieder, so wie es ge­kommen war.«

Die Parallele zu dem Verhalten der Pflan­zen war nicht zu übersehen, nur schien der Vorgang hier zuerst umgekehrt erfolgt zu sein. Das Krokodil, oder was es auch gewe­sen sein mochte, tauchte aus einer anderen Dimension auf und kehrte wieder in sie zu­

rück. Das Tal mußte in einem solchen Schnittpunkt liegen, der Phänomene dieser Art ermöglichte.

Oder gab es eine andere Erklärung? »Hat das Wesen von den Pflanzen gefres­

sen?« fragte Atlan aus einer Eingebung her­aus.

»Einige der Blüten waren abgefallen, die fraß es. Kurz darauf verschwand es vor mei­nen Augen.«

Atlan ahnte, daß man einen Schritt weiter­gekommen war.

Die Blüten und ihr Nektar schienen in der Tat etwas mit einem Übergang zu tun haben, die Frage war nur, ob es »auf der anderen Seite« auch solche Blüten gab.

Unsinn! Man konnte Dimensionen nicht durch Zauberkünste nach Belieben wech­seln, schon gar nicht durch magische Ge­tränke und Säftchen!

Oder doch …? »Ich hätte es schon längst ausprobiert«,

griff Proscutter-Lop seine Überlegungen auf. »Aber ich hatte bisher keinen Grund da­zu. Mir erschien dieses Paradies unver­gleichlich, ich wollte es überhaupt nicht mehr verlassen. Wozu auch? Um in eine mir unbekannte und vielleicht schreckliche Welt zu gelangen?«

»Wie sammelt man den Nektar?« fragte Atlan.

Proscutter-Lop machte eine Bewegung, die Überraschung verriet.

»Du willst es also doch versuchen?« »Früher oder später.« »Hm, es ist nicht einfach, den Nektar ein­

zusammeln, man muß dabei die Blüten zer­stören.«

»Nein, nicht unbedingt. Ich glaube, ich kann es dir zeigen.«

»Ich werde niemals mit dir gehen!« teilte Proscutter-Lop noch mit, ehe er loszog, um Holz für die Nacht zu sammeln.

2.

Früh am anderen Tag geschah etwas, das die Meinung des Pelzigen total änderte.

12

Sie hatten nach dem Frühstück noch eine Weile am verlöschenden Feuer gesessen, als Atlan aus den Augenwinkeln heraus über dem Taleingang eine Bewegung erhaschte. Einen Moment saß er ganz still da, ehe er begriff.

Ein Gleiter der Spercoiden! Abgesehen von der typischen Form, be­

stand er aus dem blassen blauen Metall, aus dem auch die Schiffe der Spercoiden herge­stellt waren. Er war über das Gebirge ge­kommen und senkte sich nun in das Tal hin­ab, zum Glück ziemlich weit entfernt.

Trotzdem warf Atlan sofort ein paar Hän­de Sand auf die noch glühende Asche und erstickte das Feuer vollends.

»Sie waren noch nie hier«, dachte Pros­cutter-Lop erschrocken. »Wenigstens habe ich sie nie bemerkt. Was wollen sie hier?«

»Sie sind gelandet, hinter dem Hügel. Sie kennen also das Tal der Blüten …!«

»Wenn sie uns entdecken …« »Wir werden vorsichtig sein, Proscutter-

Lop. Verstecken wir uns unter den Felsen, dort sind wir sicher.«

»Ich will wissen, was sie hier tun!« »Vielleicht haben sie meine Spur gefun­

den und suchen mich. Ich habe dir Unglück gebracht, mein Freund. Verstecke dich, ich werde mich ihnen entgegenschleichen und sie beobachten. Du aber bleibst hier, damit sie dich nicht finden. Sollte ich es sein, den sie suchen, werden sie das Tal wieder ver­lassen, wenn ich sie ablenken kann.«

»Du begibst dich in Gefahr, um mich zu retten?«

»Wir sind Freunde«, erinnerte ihn Atlan und deutete zum Felsen. »Los! Verschwin­de!«

Zögernd kroch Proscutter-Lop hinüber zum Felsen. Atlan folgte ihm und schob ihn unter den Überhang.

»Und hier bleibst du, verstanden?« Ohne sich weiter um den Pelzigen zu

kümmern, schlich er sich gebückt vor bis zu den Pflanzen und tauchte zwischen ihnen unter. Eine Weile konnte Proscutter-Lop noch sehen, wie sich die Stengel bewegten,

Clark Darlton

dann war nichts mehr. Er empfing auch keine Gedankenimpulse

von Atlan mehr, der sein Gehirn abge­schirmt hatte.

Resigniert wartete Proscutter-Lop, was weiter geschehen würde.

*

Atlan erreichte einen schmalen Pfad, der mitten durch die Pflanzen führte und der Deckung versprach. Die ungefähre Richtung kannte er. Der Talausgang …

Er bewegte sich mit äußerster Vorsicht und achtete stets darauf, daß er im Notfall mit einem Satz unter dem dichten Blüten­dach verschwinden konnte. Es kam in erster Linie darauf an, daß man ihn nicht von oben sehen konnte.

Also gab es auch hier in diesem so fried­lich anmutenden Tal keine absolute Sicher­heit vor den Spercoiden. Sie schienen über­all zu sein.

Seiner Schätzung nach mußte er bis auf etwa fünfhundert Meter an den vermuteten Landeplatz des Gleiters herangekommen sein, als er ihn plötzlich wiedersah. Ge­räuschlos stieg die metallene Flugmaschine senkrecht in die Höhe, ganz langsam und so, als suchten ihre Insassen etwas.

Atlan huschte unter das dichte Dach der Blüten und beobachtete. Wenn der Gleiter weiter hinein in das Tal flog, bestand Gefahr für Proscutter-Lop.

»Proscutter-Lop! Aufpassen! Der Gleiter ist gestartet!«

»Ich liege unter dem Felsen, und da bleibe ich auch!«

»Wird gut sein, aber behalte ihn trotzdem im Auge.«

»Keine Sorge! Wo steckst du?« »Ziemlich nah beim Talausgang.« Die

Kommunikation funktionierte einwandfrei. Der Gleiter stieg weiter, machte aber kei­

ne Anstalten, seine engen Kreise weiter aus­zudehnen. Es sah so aus, als wolle er ledig­lich an Höhe gewinnen, eine Vermutung, die sich dann auch bestätigte.

13 Tal der tausend Blüten

Als er auf einer Ebene mit dem Gebirgs­rand war, der das Tal von der Ebene trennte, erhöhte er seine Geschwindigkeit und war Sekunden später hinter den Bergen ver­schwunden.

Atlan wunderte sich ein wenig, denn wenn die Spercoiden ihn gesucht hatten, be­wiesen sie wenig Geduld. Oder ahnten sie vielleicht nicht, daß er sich im Tal verborgen hielt? Dann wiederum stellte sich eine zwei­te Frage: Was hatten sie hier gewollt?

»Sie sind fort, Proscutter-Lop. Ich will versuchen, ihren Landeplatz zu finden. Mag sein, daß ich dort einen Hinweis entdecke. Du kannst wieder aus deinem Versteck her­vorkommen.«

»Brauchst du meine Hilfe?« »Nein, danke. Bleib, wo du bist!« Atlan kroch unter dem Blütendach hervor.

Er hatte sich die ungefähre Richtung des vermutlichen Landeplatzes gemerkt und fand auch einen Weg dorthin. Die Pflanzen wuchsen hier am Südrand des Tales nicht mehr so dicht wie in seiner Mitte. Er kam schnell voran.

Er ging langsamer und sah sich sorgfältig um, als er die Stelle erreichte, an der der Gleiter niedergegangen war. In dem hier re­lativ weichen Boden konnte er sogar Fuß­spuren erkennen, aber es waren nicht die von Spercoiden, da war er sicher. Sie verlie­fen ziemlich regelmäßig zwischen noch jun­gen Pflanzen, die kaum einen Meter hoch waren.

Vergeblich versuchte Atlan herauszufin­den, was hier geschehen war.

»Nichts«, teilte er Proscutter-Lop schließ­lich mit. »Ich kann mir nicht vorstellen, was sie hier gewollt haben. Die Spuren scheinen von kleinen Robotern zu stammen.«

»Komm zurück, wenn du nichts finden kannst.«

Atlan untersuchte noch einmal diesen Teil des Tales, fand aber keinen einzigen ver­nünftigen Hinweis auf die Tätigkeit der Ro­boter, die von den Spercoiden für alle mögli­chen Dinge eingesetzt wurden. Schließlich verließ er die Jungpflanzung wieder und

drang erneut in den Urwald der erwachsenen Blüten ein. Er stieg auf den Hügel, auf dem er auch gestern gestanden und das Phäno­men der im Nichts verschwindenden Blüten bestaunt hatte.

Es hatte sich nichts geändert. Er wollte schon weitergehen, als genau

das geschah, was Proscutter-Lop beschrie­ben hatte.

Keine zehn Meter von Atlan entfernt ent­stand plötzlich dicht über dem mit Gras be­deckten Boden ein heller Punkt, der sich ruckartig vergrößerte und zu einer mit dich­ten Zahnreihen besetzten spitzen Schnauze wurde, dem ein Hals und dann ein langer Körper folgte, der in einem gezackten Schwanz endete.

Das »Krokodil«! Eigentlich sah es mehr aus wie ein riesi­

ger Molch, der nie das Licht der Sonne gese­hen hatte, denn sein ganzer Körper war von weißlich blasser Färbung. Auch schien das Tier friedlicher Natur zu sein, denn es be­achtete Atlan kaum, sondern kroch langsam und behäbig dicht an diesem vorbei auf die nächste Pflanzenansammlung zu.

Wie gebannt sah Atlan zu, was weiter ge­schah.

Der Molch erreichte die ersten herabge­fallenen Blüten und begann sie genüßlich zu verzehren. Es war Atlan klar, daß er damit auch den geheimnisvollen Nektar zu sich nahm, aber die Frage blieb offen, ob das fremde Lebewesen die Blüten mit eben die­ser Absicht fraß oder nicht.

Längere Zeit über geschah nichts, doch dann passierte genau das, was Proscutter-Lop geschildert hatte. Der Molch kroch wei­ter, und es war, als durchbreche er eine un­sichtbare Mauer, in der er stückweise ver­schwand. Zuerst der Kopf, dann der Körper und schließlich der Schwanz. Der Spuk hatte sich in Nichts aufgelöst.

Aber es war kein Spuk gewesen. Atlan konnte deutlich die Kriechspur des Molches erkennen. Sie kam aus dem Nichts und en­dete im Nichts.

Nun konnte kein Zweifel mehr daran be­

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stehen, daß in diesem Tal tatsächlich der Übergang von einer Dimension in die andere stattfand.

Atlan folgte der Spur des Molches, bis sie abrupt aufhörte, so als hätte sich das Tier an dieser Stelle in die Luft erhoben. Vorsichtig streckte er die Hand nach vorn, aber sie traf auf kein Hindernis. Die Hand verschwand auch nicht.

Der Dimensionsschnittpunkt war weiter­gewandert, oder aber er hatte sich aufgelöst.

Proscutter-Lop saß vor dem Felsen und sah Atlan entgegen, der ihn inzwischen von dem Erlebnis unterrichtet hatte. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck der Befriedigung.

»Na, siehst du! Und du glaubtest mir nicht …«

»Alles klang sehr unwahrscheinlich, aber nun weiß ich, daß dein Bericht nicht der Phantasie entsprang. Aber damit wissen wir noch immer nicht, was der Gleiter hier woll­te.«

»Sein Erscheinen stört meinen Frieden«, gab der Pelzige zu. »Von nun an werde ich nicht mehr so ruhig leben wie bisher.«

»Dann solltest du mit mir gehen«, schlug Atlan vor. »Ich habe nicht die Absicht, für immer hierzubleiben und zu warten, bis ich von den Spercoiden entdeckt werde.«

»Vielleicht hast du recht. Wir sollten ver­suchen, die schwarzen Bereiche aufzusu­chen. Bekäme ich noch einmal Kontakt zu den Pflanzen, wäre es leichter für uns. Viel­leicht darf man nur eine gewisse Menge des Nektars zu sich nehmen.«

»Versuche es«, riet Atlan und setzte sich. »Ich bleibe hier.«

Proscutter-Lop tauchte im Blütenmeer un­ter.

*

Mittag war schon längst vorbei. Die Son­ne schien warm vom klaren Himmel herab. Atlan saß mit dem Rücken gegen den Felsen gelehnt. Von Proscutter-Lop waren schon lange keine Informationsimpulse mehr ein­getroffen. Wahrscheinlich versuchte er noch

Clark Darlton

immer, Kontakt zu den Pflanzen zu bekom­men.

In seinem langen Leben hatte Atlan schon viele phantastische Abenteuer bestanden, aber dies hier schien eines der seltsamsten zu werden. Für das, was in diesem Tal ge­schah, gab es keine Erklärung.

Nach einer Stunde nahm der Pelzige wie­der Kontakt auf:

»Ich bin auf dem Rückweg und ich glau­be, ich hatte Erfolg.«

Mehr teilte er nicht mit, und Atlan stellte keine Fragen.

Als Proscutter-Lop endlich erschien, schleppte er im Arm einige Pflanzen, die er behutsam neben dem Felsen auf den Boden legte. Dann erst setzte er sich Atlan gegen­über.

»Drüben, wo die Blüten in den schwarzen Bereich hineinwachsen, kam ein Kontakt zu­stande. Er war nur kurz und unvollkommen, aber ich glaube, die wichtigsten Hinweise erhalten zu haben, Entscheidend dürfte die Information sein, daß nur der Nektar jener Blüten wirksam ist, deren Stengel sich nicht mit dem oberen Teil bereits im schwarzen Bereich befindet. Solche habe ich mitge­bracht.«

»Hast du etwas über eine Dosierung er­fahren können?«

»Nein!« Atlan beugte sich vor und nahm eine der

Pflanzen auf. Sie hatte drei verschiedenfar­bige Blüten, jede größer als zwei Handteller. Die Blütenblätter waren steif und wirkten recht widerstandsfähig. Mentalimpulse wa­ren nicht festzustellen.

Im Innern der Blüten hatte sich auf dem Grund eine gelbliche Flüssigkeit gesammelt, mehr als ein Fingerhut voll. Atlan tippte die Spitze seines Zeigefingers hinein und schleckte sie dann vorsichtig ab.

Das Zeug schmeckte leicht süßlich. Das mußte der Nektar sein.

»Wie sammeln wir ihn?« »In einer der Blüten oder in einem hohlen

Stengel.« »Dein Vorrat wird kaum reichen.«

15 Tal der tausend Blüten

»Ich werde noch mehr holen, und danach werden wir nicht mehr lange zögern. Jeden Augenblick kann wieder ein Gleiter auftau­chen, nachdem ich zwei Jahre Ruhe vor den Spercoiden hatte …«

Proscutter-Lop erhob sich und schritt da­von.

*

Sie bemühten sich, zwei gleiche Portionen Nektar in je einer Blüte zu sammeln. Atlan nahm an, daß die Wirkung desto schneller eintrat, je mehr sie von der zähflüssigen Masse zu sich nahmen. Die von den Pflan­zen im Tal ausgehenden Mentalimpulse ver­rieten keinen Protest, sie blieben friedlich und wohlwollend.

Am späten Nachmittag hatten sie es ge­schafft. Die beiden gleichgroßen Portionen standen bereit.

»Nun ist es soweit«, stellte Atlan fest und versuchte, das Gefühl banger Unsicherheit zu unterdrücken. »Wir werden gleichzeitig trinken und versuchen zusammenzubleiben – was immer auch geschieht.«

»Wir müssen es sogar!« stimmte Proscut­ter-Lop zu. »Sonst sind wir verloren.«

Sie nahmen die halbgefüllten Blüten in die Hände und setzten sie an ihre Lippen. Auf ein Zeichen hin tranken sie und leerten die Blütenkelche bis auf den letzten Trop­fen.

Nun gab es kein Zurück mehr. Zuerst geschah nichts. Nach zehn Minuten gespannter Erwartung

glaubte Atlan plötzlich, ein Gefühl der Leichtigkeit zu verspüren, so als verlöre er an Gewicht. Gleichzeitig tat sich etwas mit seinem Gehirn. Er glitt allmählich in eine Art Rauschzustand hinein, so als habe er ei­ne Überdosis Alkohol zu sich genommen.

Wirkung eines Halluzinogens! dachte er mühsam.

Der einsetzende Rauschzustand war ange­nehm, und im Zusammenwirken mit dem Gefühl körperlicher Leichtigkeit forderte er zum Davonschweben auf. Zumindest aber

suggerierte er einen Spaziergang. Proscutter erging es ebenso. Gemeinsam

mit Atlan stand er auf, ein wenig unsicher auf den Beinen. Er fuchtelte mit den behaar­ten Armen um sich herum, als suche er nach einem festen Halt. Instinktiv wankte er auf die Pflanzung zu, und Atlan folgte ihm.

Die mehr als armdicken Stengel boten ei­ne willkommene Stütze. Immer tiefer dran­gen die beiden Freunde in den Blütend­schungel ein, bis sie jenen Teil des Tales er­reichten, in dem die mit ihrem Oberteil ver­schwindenden Pflanzen gediehen.

Trotz des Rauschzustands vermochte At­lan noch klar zu denken und zu beobachten. Er ließ Proscutter-Lop dabei keine Sekunde aus den Augen, um ihn nicht zu verlieren. Der Pelzige taumelte vor ihm her, wahllos und ohne bestimmtes Ziel.

Dann blieb er plötzlich stehen, und Atlan sah, daß sich eine der größeren Blüten zu ihm herabneigte und sich wie ein Hut auf seinen Kopf legte.

Atlan wollte vorspringen, um es zu ver­hindern, aber die plötzlich auf ihn einströ­menden Mentalimpulse der Pflanzen hielten ihn davon ab. Gleichzeitig verspürte er selbst das leichte Gewicht einer solchen Blü­te auf seinem Haupt.

Einige Sekunden lang geschah sonst nichts. Die positiven Impulse blieben und beruhigten. Nur die Sonne über den Bergen im Westen schien ein wenig blasser zu wer­den, der sonst so blaue Himmel dunkler.

Atlan versuchte genau zu analysieren, was mit ihm geschah, um nicht durch unvorher­gesehene Ereignisse überrascht zu werden. Er hatte eine Art Droge zu sich genommen, das war ihm klar.

Eine n-dimensionale Droge vielleicht …? Der Zustand war nicht unangenehm zu

nennen, eher befreiend und so etwas wie zeitlos. Daher wußte er auch nicht mehr, wie lange er so gestanden hatte, die Blüte halb über dem Kopf und mit langsam trüber wer­dendem Blick.

Richtig: Um ihn herum schien es dämm­rig zu werden.

16

Und dann, mit einem Schlag, wurde es völlig dunkel.

3.

Was dann geschah, war nicht weniger un­erklärlich als das Vorangegangene.

Atlan spürte zwar, daß seine Füße auf fe­stem Boden standen, aber sein übriger Kör­per schien im Nichts zu schweben. Um ihn herum waren tiefe Schwärze und absolute Lichtlosigkeit. Proscutter-Lop war nicht zu sehen.

»Proscutter! Wo steckst du?« Keine Reaktion. Atlan versuchte noch mehrere Male, Kon­

takt aufzunehmen, aber er bekam keine Ant­wort. Trotzdem spürte er, daß der Pelzige in seiner Nähe war.

Atlan blieb stehen und rührte sich nicht vom Fleck. Ein Schritt vor ihm tat sich viel­leicht ein bodenloser Abgrund auf, in den er hineinstürzen konnte. Vergeblich versuchte er, mit seinen Augen die totale Finsternis zu durchdringen. Er kam sich vor wie jemand, der auf einem schmalen Brett eine Schlucht zu überqueren versuchte und dabei von der Nacht überrascht wurde. Jeder weitere Schritt konnte den Tod bringen.

Auch die Mentalimpulse der Pflanzen ka­men nicht mehr an.

Atlan wußte, daß er in den schwarzen Be­reich vorgedrungen war. Er befand sich nun in einer anderen Dimension, die bisher keine erfreulichen Aspekte aufzeigte. Ganz im Ge­genteil.

Und noch etwas anderes begann ihn zu beunruhigen. Hier schien es keine Pflanzen zu geben, die ihm eine Rückkehr in die für ihn normale Dimension ermöglichten. Hier schien es überhaupt nichts zu geben.

Eine Leer-Dimension? Reserviert für spä­teres Leben?

Doch dann hörte er etwas. Er sah nichts, aber er konnte hören. Wie aus unendlich weiter Ferne klang es

wie dumpfes Glockengeläute. Die gut atem­bare Luft trug es bis an seine Ohren, aber er

Clark Darlton

vermochte nicht, die Richtung zu bestim­men. Es kam von allen Seiten, schien die Leere und die Finsternis zu füllen, und es klang alles andere als beruhigend und fried­voll.

Das waren keine Kirchenglocken, wußte Atlan instinktiv.

Was aber war es dann? Ihm blieb keine Zeit, weiter darüber nach­

zudenken. Obwohl er seiner Ansicht nach nicht den Versuch unternommen hatte, sich von der Stelle zu bewegen, schien er plötz­lich davonzugleiten. Er spürte die Nähe Proscutters, ohne ihn sehen oder kontaktie­ren zu können. Sie blieben zusammen, das war sicher, aber sie hätten genausogut tau­send Lichtjahre auseinander sein können.

Unaufhaltsam glitt Atlan durch das schwarze Nichts der anderen Dimension, bis seine suchenden Augen endlich wieder einen Anhaltspunkt fanden. Vor ihm tauchte rötliches Licht auf und wurde größer und heller.

Mehr als einmal in seinem Leben hatte Atlan den glutflüssigen Lavastrom eines ausbrechenden Vulkans gesehen, und so war es kein Wunder, daß er sofort daran erinnert wurde. Das, worauf er nun ohne sein Dazu­tun zuschwebte, schien ein solcher Lava­strom zu sein. Er kam aus dem Nichts und floß ins Nichts zurück. Eine furchtbare Dro­hung, und vielleicht das Ende einer langen und unglaublichen Reise.

Instinktiv stemmte sich Atlan gegen das Unbekannte, aber der rote Feuerschein kam näher und näher. Bald füllte er den halben Gesichtskreis aus. Dahinter waren schemen­hafte Schatten zu erahnen.

Der Schwebezustand endete abrupt. Wo war Proscutter geblieben? Der Schat­

ten dort vor dem kalten Feuerstrom …? War das der Pelzige, der sein Paradies gegen die große Ungewißheit eingetauscht hatte? Er reagierte noch immer nicht auf mentale An­fragen. Die Blockade war vollkommen.

Atlan konzentrierte sich auf das, was jen­seits des Feuervorhangs war, soweit er es er­kennen konnte.

17 Tal der tausend Blüten

Es mußte eine Art Landschaft sein, die im Dämmerlicht lag.

Der Feuerstrom strahlte keine Hitze aus, wenigstens konnte Atlan nichts dergleichen wahrnehmen. Er bewegte sich auch nicht, sondern wirkte wie ein fester Bestandteil der unwirklichen Umgebung. Das vorher beob­achtete »Fließen« war eine optische Täu­schung gewesen.

Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das rötliche Dämmerlicht. Die hinter dem Vorhang liegende Landschaft wurde deutli­cher erkennbar. Der Schatten davor war un­zweifelhaft Proscutter-Lop. Er bewegte sich jetzt und kam auf Atlan zu, bis er dicht ne­ben diesem war.

Noch immer kein Kontakt. Vorsichtig streckte Atlan die Hand aus,

bis er das struppige Fell berühren konnte. Er versuchte zu sprechen, aber auch seine eige­nen Ohren vernahmen keinen Laut. Alles blieb unheimlich still, nur das ferne Glockengeläut war zu hören. Es kam aus ei­ner nicht bestimmbaren Richtung.

Immerhin: Proscutter-Lop und er waren materiell vorhanden, wenn auch in einer un­definierbaren Zustandsform.

Erneut wandte Atlan seine Aufmerksam­keit der Landschaft zu, die weit vor ihm lag. Sie erstreckte sich bis zum fernen Horizont, der von unregelmäßig hohen Gebirgszügen begrenzt wurde. Soweit sich das beurteilen ließ, gab es keinerlei Vegetation oder Was­ser. Es war eine tote Landschaft, die keine Spur von Leben verriet.

Oder doch? Genau hinter dem starren Feuervorhang

schälte sich ein regelmäßig geformtes Gebil­de aus dem Dämmerlicht. Atlan kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu kön­nen. Das Gebilde sah aus wie ein riesiger Würfel, der einsam und allein in der Wüste stand. Er war zu weit entfernt, um Öffnun­gen in ihm erkennen zu können.

Ohne Zweifel war er nicht natürlichen Ur­sprungs.

Wenn in ihm die Wesen dieser Leer-Dimension wohnten, so mußte man versu­

chen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Aber wie, so fragte sich Atlan, war der Feuervor­hang zu überwinden.

Er drehte sich um und starrte in die abso­lute Finsternis des schwarzen Bereichs, aus dem er gekommen war. Nein, dorthin führte vorerst kein Weg zurück. Der riesige Block war die einzige Möglichkeit, einen Schritt voranzukommen.

Er wandte sich wieder um. Neben ihm stand Proscutter-Lop, noch immer bewe­gungslos und ohne Reaktion. Er blickte je­doch ebenfalls hinüber zu dem gewaltigen Block, dem einzigen Anzeichen intelligen­ten Lebens in dieser rätselhaften Dimension.

Am Himmel waren keine Sterne zu sehen, sonst wäre Atlan die Vorstellung leichterge­fallen, daß es sich bei diesem Block um eine planetarische Station handelte, die von ir­gendeinem raumfahrenden Volk auf dieser öden und unfruchtbaren Welt errichtet wor­den war.

Immerhin: Sie besaß eine atembare Atmo­sphäre, wenn ihr Ursprung unter den gege­benen Verhältnissen auch mehr als schleier­haft blieb. Atlan trug keinen Schutzanzug und wäre rettungslos verloren gewesen, um­gäbe ihn jetzt das Vakuum des Weltraums.

Neben ihm bewegte sich Proscutter-Lop, seine Hand suchte die von Atlan und ergriff sie. Gleichzeitig begann sich wieder das Ge­wicht der beiden Männer zu verändern. Es schien zu schwinden.

Atlan hielt Proscutter-Lops Hand fest, be­obachtete aber gleichzeitig aufmerksam, was nun geschah. Er überlegte, womit er es ver­gleichen konnte, und gelangte zu dem Er­gebnis, daß er eine Art von »Teleportation in Zeitlupe« erlebte.

Wie von Geisterhand wurden er und sein pelziger Begleiter in die Höhe gehoben, ähn­lich dem ersten Mal, als sie das Tal verlie­ßen. Sanft glitten sie über den kalten und er­starrten Feuerstrom dahin, schwerelos und von etwas Unbekanntem zielbewußt gelenkt.

Sie schwebten genau auf den riesigen Würfelblock zu.

18

*

Der Block wurde größer und wuchtiger, je mehr sie sich ihm näherten. Noch immer waren keine Öffnungen zu erkennen. Es gab keine Fenster, aus denen Licht gefallen wä­re. Düster und drohend lag der Block im Dämmerlicht des fernen Feuervorhangs und wartete.

Instinktiv versuchte Atlan, sich gegen den unfreiwilligen Flug zu wehren, aber er muß­te bald einsehen, wie sinnlos sein Sträuben war. Zusammen mit Proscutter-Lop schweb­te er auf die Frontseite des Blockes zu, des­sen Höhe er auf mehr als hundert Meter schätzte.

Die Wand kam näher und näher, während sich der Flug zu verlangsamen begann. Un­willkürlich streckte Atlan die freie Hand aus, um den Aufprall abzumildern, der un­vermeidbar schien. Doch dann, als es soweit war, glitt die Hand in das Gemäuer ein, als bestünde es aus Luft.

Der Hand Atlans folgten die beiden Kör­per, ohne auf den geringsten Widerstand zu stoßen.

Sie durchdrangen die Wand und befanden sich dann im Innern der vermuteten Station. Sekunden später kehrte ihr ursprüngliches Körpergewicht zurück, und sie standen wie­der auf festem Boden. Der unsichtbare Griff, der sie hierhergebracht hatte, löste sich und verschwand.

»Wie ist das alles nur möglich?« fragte sich Atlan laut, und zu seinem Erstaunen konnte er seine eigene Stimme wieder ver­nehmen. Laut und deutlich hörte er sie.

Aus seinem Erstaunen wurde Verblüf­fung, als Proscutter-Lop mit Mentalimpul­sen antwortete:

»Wir sind in die Dimension der Geister verschlagen worden, mein Freund. Und aus dem Reich der Geister gibt es keine Rück­kehr. Wäre ich doch nur in meinem Tal ge­blieben …«

»Wir können uns wieder verständigen«, überging Atlan den Stoßseufzer. »Diese Di-

Clark Darlton

mension wird realer. Wir sind im Gebäude, das wir gesehen haben. Die Frage ist nun, ob es bewohnt ist oder nicht.«

»Die Glocken haben aufgehört zu läuten.« Richtig! Atlan fiel es erst jetzt auf. Dafür

gab es jedoch andere Geräusche, die von un­ten zu kommen schienen. Soweit er es beim »Anflug« hatte beobachten können, standen sie jetzt etwa auf halber Höhe des Blocks, also fünfzig Meter über der Oberfläche des Planeten – oder was immer diese merkwür­dige Welt auch sein mochte.

Aus der Tiefe drang ein gleichmäßiges Brummen wie von Maschinen zu ihnen her­auf.

Zum Glück war es nicht völlig dunkel. Ein gleichmäßiges, aber sehr schwaches Licht strahlte aus Decke und Wänden, nur der Boden blieb in Dunkelheit gehüllt. Pros­cutter-Lop und Atlan standen am Beginn ei­nes langen Ganges, der von der Mauer her mitten in den Block hineinführte. Seitlich zweigten andere Gänge ab. Der Block mußte völlig ausgehöhlt sein.

»Wir können nicht einfach hier stehen­bleiben«, flüsterte Atlan.

»Und wenn man uns entdeckt?« »Das wird früher oder später ohnehin ge­

schehen. Komm!« Vorsichtig schlichen sie den Hauptgang

entlang und fanden fünfzig Meter weiter einen senkrechten Schacht, an dessen Rän­dern eine breite Treppe nach oben und nach unten führte. Eine quadratisch angelegte Wendeltreppe, erinnerte sich Atlan unwill­kürlich.

Es würde wenig Sinn haben, nach oben zu steigen, außerdem kamen die Geräusche von unten. Atlan winkte Proscutter-Lop zu und begann mit dem Abstieg. Alle fünf Meter passierten die beiden Männer ein neues Stockwerk mit dem dazu gehörenden Ganglabyrinth.

Plötzlich hielt Atlan an und flüsterte: »Jemand kommt! Von rechts!« Sie drückten sich fest gegen die Wand

und hofften, daß der unerwartete Bewohner der Station nicht zufällig nach oben blickte,

19 Tal der tausend Blüten

sondern geradeaus oder nach unten weiter­ging. Sie befanden sich jetzt im zweiten oder dritten Stockwerk.

Und dann sahen sie ihn. Fassungslos starrte Atlan auf den Riesen­

molch, der senkrecht auf seinen Hinterbei­nen daherschritt und sich mit dem kräftigen Schwanz abstützte. Das Lebewesen gehörte der gleichen Art an wie jenes, das er flüchtig im Tal gesehen hatte.

Molche sollten dieses Riesengebäude er­richtet haben?

Sekunden später folgte die zweite Überra­schung: Dicht hinter dem Molch ging einer der kleinen Roboter, wie sie Atlan von den Spercoiden her kannte, wenn dieser auch leicht veränderte Formen besaß. Er war etwa einen Meter hoch und erinnerte an einen Zy­linder mit Gliedmaßen.

Es war offensichtlich, daß er den Molch wie einen Gefangenen bewachte, was diesen automatisch zu einem Verbündeten werden ließ.

Molch und Robot verschwanden im tiefer gelegenen Stockwerk.

Atlan atmete erleichtert auf. Proscutter-Lop fragte:

»Was hat das zu bedeuten? Sind denn die Spercoiden und ihre Roboter auch hier in dieser Dimension? Dann war unsere Flucht völlig umsonst.«

»Noch wissen wir nicht, was hier vor sich geht«, ermahnte ihn Atlan. »Wir werden es herausfinden müssen, ehe wir weiterplanen können. Vielleicht ergibt sich ein Ausweg.«

»Die Roboter dürfen uns nicht entdecken, sonst sind wir verloren. Was mögen sie mit den Krokodilen vorhaben?« Er benutzte noch immer den Ausdruck, den Atlan ihm durch seine Mentalvorstellung vermittelt hatte. »Sie sind Gefangene, so wie es mein Volk auch ist.«

»Genau wissen wir es noch nicht. Um Ge­wißheit zu erlangen, müssen wir sie beob­achten. Von jetzt an mit doppelter Vorsicht. Ich werde nicht mehr laut reden, wenn ich mich mit dir unterhalte, sondern nur noch denken.«

Sie hielten an dem Stockwerk an, in des­sen Korridor der Molch und sein Begleiter verschwunden waren. Das Brummgeräusch kam von weiter unten. Dort schienen Ma­schinen zu laufen.

»Nach links«, teilte Proscutter-Lop mit. Der Gang war leer, aber er verlief nicht

wie der obere hin bis zur Außenwand, son­dern endete bereits nach zehn Metern vor ei­nem brusthohen Geländer. Dahinter war es hell.

Atlan gab sich einen Ruck und ging wei­ter. Proscutter-Lop folgte ihm nach einigem Zögern. Das Ganze wurde immer geheim­nisvoller und unverständlicher.

Atlan verlangsamte seine Gangart, als er sich dem Geländer näherte. Er sah, daß sich hinter dem Geländer der Gang erst in einiger Entfernung wieder fortsetzte, dazwischen lag ein großer, runder Raum, der eine Höhe von mindestens zwei oder drei Stockwerken hatte. Das Geländer führte in halber Höhe rings um den Raum herum und schloß den schmalen Rundgang ab.

Vorsichtig beugte Atlan sich vor, um in den Kuppelraum hineinsehen zu können. Sein Kopf kam schnell wieder zurück.

»Unten sind sie …«, teilte er lautlos mit. »Die Roboter und gut ein Dutzend von die­sen Molchen oder Krokodilen. Es geschieht etwas sehr Merkwürdiges – sieh selbst! Aber äußerste Vorsicht!«

Was die beiden Männer erblickten, ergab vorerst keinen Sinn.

*

Die kleinen Roboter der Spercoiden rann­ten eilfertig hin und her. Was sie herbei­schleppten, kam Atlan sehr bekannt vor. Waren das nicht die metallenen Schutzanzü­ge der Spercoiden?

Was hatte das zu bedeuten? Das Rätsel löste sich nur zur Hälfte, als

die Roboter damit begannen, die sich nur schwach wehrenden Molche in diese Anzü­ge hineinzuzwängen.

Es war ein grotesker Anblick, sosehr die

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derart vergewaltigten Lebewesen den heim­lichen Beobachtern auch leid tun mußten. Die Molche waren mit der brutalen Behand­lung durchaus nicht einverstanden, aber sie wagten nur geringen Widerstand.

Die Roboter gingen zielbewußt und mit Routine vor, so als hätten sie diese Beschäf­tigung seit ewigen Zeiten ausgeübt. Sie mußten darauf programmiert sein.

Atlan zog den Kopf zurück, nachdem er fürs erste genug gesehen hatte.

»Was hältst du davon?« fragte er. Auch Proscutter-Lop brachte sich außer Sichtwei­te.

»Ich verstehe nichts mehr«, gab er zu. »Was haben sie mit den Gefangenen vor? Warum legen sie ihnen gegen ihren Willen die Raumanzüge der Spercoiden an? Auf dieser Welt gibt es eine Atmosphäre, Schutzanzüge sind überflüssig.«

»Vielleicht will man sie von hier fortbrin­gen?«

»Selbst dann wären die Anzüge überflüs­sig, denn in den Raumschiffen der Spercoi­den ist ebenfalls atembare Luft vorhanden.«

»Trotzdem hat diese Aktion einen Sinn, wenn wir ihn auch nicht kennen. Jedenfalls beneide ich die armen Kreaturen nicht, die zu irgendwelchen Zwecken dienen sollen. Wir können ihnen nicht einmal helfen, denn wir haben keine Waffen, um die Roboter au­ßer Gefecht zu setzen.«

Proscutter-Lop fing wieder an zu jam­mern.

»Und deshalb sind wir in diese Dimension gekommen? Nur um zuzusehen, was hier geschieht? Welchen Sinn und Zweck soll das haben?«

»Manchmal ist der Sinn und Zweck einer Sache nicht gleich ersichtlich. Warten wir ab, was weiter geschieht.«

Aber vorerst geschah nichts, das auf ihre Fragen eine Antwort hätte geben können. Die in die Schutzanzüge gezwängten Gefan­genen wurden abgeführt und verschwanden im unteren Gang, während von der anderen Seite her neue Opfer herangeschleppt wur­den.

Clark Darlton

»Wir müssen weiter unten nachsehen«, schlug Atlan vor.

Proscutter-Lop stimmte ihm sofort zu. Die Neugier überwand allmählich seine Furcht und Skepsis.

Sie schlichen sich bis zum Treppen­schacht zurück, da die schmalen Stufen, die vom Rundgang aus zum Boden der Kuppel­halle hinabführten, für sie unpassierbar wa­ren. Man hätte sie sofort entdeckt.

Ohne das geringste Geräusch zu verursa­chen, erreichten sie das untere Stockwerk. Der Gang war leer. Sie huschten ihn entlang und nahmen die letzte Abzweigung vor der Halle, die sie auf keinen Fall betreten woll­ten. Es war mehr eine intuitive Handlungs­weise von Atlan, mit logischer Überlegung kam er hier nicht weiter.

Der Seitengang endete zu seiner Überra­schung vor einer Tür, die sich leicht öffnen ließ. Sie war sehr schmal, also wahrschein­lich ein Neben- oder Notausgang. Sie führte direkt ins Freie.

Draußen herrschten das schon gewohnte Dämmerlicht und der rötliche Schein des fernen Feuerstroms, dessen Aussehen sich nicht geändert hatte. Aber dafür hatte sich etwas anderes geändert.

Keine zweihundert Meter von dem Wür­felblock entfernt stand ein spercoidisches Raumschiff, das das Gebäude um mehr als das Doppelte überragte.

Atlan wich unwillkürlich zurück, als er es erblickte.

»Was ist?« fragte Proscutter-Lop er­schrocken.

»Ein Schiff der Spercoiden! Keine zwei­hundert Meter entfernt.«

»Das war zu erwarten. Ich frage mich nur, wie sie von einer Dimension in die andere gelangen.«

»Sie müssen einen Weg gefunden haben. So wie wir auch.«

»Natürlich, das ist mir klar. Aber was tun sie hier?«

»Sie stecken Gefangene in ihre Schutzan­züge – und wahrscheinlich schleppen sie sie dann in ein Raumschiff und bringen sie fort.

21 Tal der tausend Blüten

Wir werden das herausfinden.« So leicht war die Antwort nicht, das wuß­

te Atlan selbst. Waren die Spercoiden oder ihre Roboter wirklich in der Lage, mit einem Raumschiff beliebig Dimensionen zu wech­seln? Handelte es sich bei dem sogenannten schwarzen Bereich wirklich um eine andere Dimension, um eine andere Daseinsebene? Oder war das alles nur Illusion?

Immerhin – Atlan wurde unwillkürlich an den Nektar der Pflanzen erinnert, die nichts anderes als die Produzenten einer Droge wa­ren. Und diese Droge rief Halluzinationen hervor, allerdings recht reale. Er brauchte sich nur ins Bein zu kneifen, um feststellen zu können, daß er nicht nur träumte.

Das schwerelose Schweben, der erstarrte Feuerstrom, der Würfelblock – das alles sprach für eine Drogenillusion.

Aber die Roboter und die Molche! Sie waren zweifellos eine Realität!

Hielt er sich vielleicht in einem Grenzbe­zirk zwischen Wirklichkeit und Illusion auf?

»Da kommt eine Gruppe!« teilte Proscut­ter-Lop mit und unterbrach damit Atlans Überlegungen. »Roboter und Molche in Schutzanzügen!«

Die Gefangenen in ihren schweren Pan­zeranzügen bewegten sich nur langsam und schwerfällig, obwohl sie von den Robotern erbarmungslos angetrieben wurden. Aus der Ferne sahen die Gefangenen selbst wie Sper­coiden aus, die Atlan noch niemals ohne Schutzanzüge gesehen hatte.

Sollte etwa …? Nein, der Gedanke war zu verrückt. Atlan vergaß ihn sofort wieder, um nicht noch mehr verwirrt zu werden.

Die Roboter führten ihre Gefangenen zum Raumschiff, dessen Luke sich weit geöffnet hatte. Atlan war überzeugt, daß es sich bei den Molchen nun um Sklaven handelte.

Und er konnte nicht helfen. Proscutters Empfindungen unterschieden

sich nicht von den seinen. Gab es eine Lösung? »Wir müßten versuchen, in das Raum­

schiff zu gelangen, natürlich unbemerkt«, schlug Atlan vor.

»Niemals!« kam es entschlossen zurück. »Niemals werde ich wieder ein Schiff der Spercoiden betreten! Lieber sterbe ich hier.«

»Wenn das deine Einstellung ist, kann ja der Versuch nichts schaden«, stellte Atlan trocken fest. »Zum Sterben ist immer noch Zeit.«

»Sie geben einem nicht einmal die Chan­ce dazu. Ich kenne die Kreaturen des Tyran­nen vielleicht besser als du. Vielleicht ist das auch der Grund, warum sie die Gefangenen in die Anzüge zwängen. Sie verhindern den Selbstmord.«

Atlan mußte zugeben, daß Proscutter-Lop gar nicht so unrecht hatte und daß seine Theorie einen Schimmer der Wahrschein­lichkeit besaß. Trotzdem blieb er bei seinem Vorschlag.

»Hier erfahren wir nichts mehr und kön­nen auch kaum etwas unternehmen. Es könnte uns sogar gelingen, das Schiff in un­sere Gewalt zu bringen. Die Station zu er­obern, ist absolut unmöglich.«

Sie standen im Schutz der schmalen Tür und sahen zu, wie immer neue Gruppen von Gefangenen zum Schiff geführt wurden und in seinem Innern verschwanden. Das Gelän­de war viel zu übersichtlich, um ein unbe­merktes Anschleichen zu ermöglichen. Sie konnten ohnehin froh sein, bis jetzt nicht entdeckt worden zu sein.

Atlan schrak zusammen, als er hinter sich im Gang das Geräusch sich nähernder Schritte hörte. Es waren die gleichmäßigen Schritte eines Roboters.

Hastig sah er sich nach allen Seiten um. Es gab nur eine Möglichkeit, der drohenden Begegnung vielleicht auszuweichen, aber dann mußten Glück und Zufall mit von der Partie sein. Wenn er und Proscutter-Lop sich rechts und links von der Tür an die Mauer drückten, bestand die Möglichkeit, daß der Roboter zwischen ihnen durchging, ohne sie zu sehen. Gleichzeitig durfte aber auch kei­ner jener Roboter in ihre Richtung blicken, die ihre Gefangenen zum Schiff brachten.

Viel Zeit zur Überlegung blieb ihnen nicht. Die Verständigung mit Proscutter-Lop

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dauerte nur Bruchteile von Sekunden, dann war der Roboter auch schon da.

Er trat aus der Tür und blieb stehen. Im ersten Augenblick war Atlan über­

zeugt, daß er sie entdeckt hatte, aber dann, als er erneut Schritte im Gang vernahm, wurde klar, daß er nur auf einen zweiten Ro­boter wartete.

Der erste drehte sich halb um seine Achse und sah hinüber zu dem Trupp, der gerade mit neuen Gefangenen die Station verließ. Seine starren Sehorgane blickten dabei un­mittelbar an Atlan vorbei, aber er reagierte in keiner Weise.

Der zweite Roboter erschien. Zwischen den beiden gab es eine kurze und stumme Kontaktaufnahme, dann gingen sie in Rich­tung des Schiffes weiter. Dabei streifte der eine beinahe Atlan.

Sie mußten beide blind sein, wenn sie ihn nicht sahen.

Fassungslos starrte er hinter ihnen her, ehe er tief Luft holte.

»Welche Erklärung gibt es?« fragte er kurz seinen Partner.

»Keine, Atlan. Sie haben uns nicht gese­hen, das steht fest.«

»Wir sind aber nicht unsichtbar, denn ich kann dich ja auch sehen, und umgekehrt. Sieh auf den Boden, da sind unsere Fußspu­ren und die der Roboter. Sie müssen uns ge­sehen haben!«

»Ich habe keine Erklärung. Du verstehst mehr von anderen Dimensionen als ich, also finde du eine. Wir sind materiell vorhanden und können uns und die anderen sehen. Sie aber uns nicht. Die Frage ist nur, ob diese beiden Roboter eine Ausnahme waren oder nicht …«

Atlan durchzuckte ein plötzlicher Gedan­ke.

»Das werden wir herausfinden, Proscutter …«

»Du bist verrückt!« erklärte der Pelzige sofort. »Wenn deine Theorie falsch ist, sind wir verloren.«

»Das sind wir ohnehin, wenn wir hier ste­henbleiben und warten. Bleib hier, ich werde

Clark Darlton

es versuchen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er

den fragwürdigen Schutz der Gebäudewand und folgte den vorangehenden beiden Robo­tern, ohne auf Deckung zu achten. Ein Trupp von ihnen kam gerade aus dem Schiff und strebte wieder der Station zu. Wahr­scheinlich holten sie neue Gefangene.

Atlan unterdrückte den instinktiven Im­puls, sich in die nächste Bodenfurche zu werfen und sich so klein wie möglich zu ma­chen. Ruhig ging er weiter, dem Trupp Ro­boter schräg entgegen. Was er heimlich ge­hofft hatte, trat ein: Sie ignorierten ihn, als sei er Luft.

»Sie sehen uns wirklich nicht, Proscutter! Komm her, es besteht keine Gefahr. Ich be­greife es zwar nicht, aber …«

»Ich komme schon. Und was dann?« »Das werden wir noch sehen.« Die Form des Schiffes erinnerte an zwei

aufeinandergeschobene Hüte. Es war mehr als zweihundert Meter hoch. Die Einstiegs­luke war durch eine schräg nach unten ver­laufende breite Rampe mit dem Boden ver­bunden. Auf ihr marschierten Roboter und Gefangene in das Innere des Transporters.

Proscutter-Lop hatte Atlan eingeholt. Sie waren stehengeblieben, keine zehn Meter vor der Rampe. Die letzten Molche in den blaßblauen Panzerungen der Spercoiden wa­ren in der weit geöffneten Luke verschwun­den. Drüben bei der Station erschien ein neuer Trupp.

»Ich muß wissen, was mit ihnen ge­schieht«, teilte Atlan mit.

»Man wird sie irgendwohin bringen«, ver­mutete Proscutter-Lop lakonisch. »Aber ver­giß deine Idee, dich ins Schiff zu begeben und mitzufliegen. Wenn du den schwarzen Bereich verläßt, wirst du für die Roboter wieder sichtbar.«

»Sie starten noch nicht, wenigstens so lange nicht, wie Gefangene gebracht wer­den. Du bleibst hier und mit mir in Kontakt. Sobald keine Truppe mehr erscheint, gib Be­scheid. Ich werde das Schiff dann so schnell wie möglich verlassen. Es kann nicht ohne

23 Tal der tausend Blüten

gewisse Vorbereitungen starten. Mir bleibt Zeit genug.«

»Du bist verrückt!« »Nein, ich nutze nur unsere Chance.« Ohne eine Antwort oder neue Ratschläge

abzuwarten, schritt er auf die Rampe zu und betrat sie. Vier Roboter, die ihm entgegen­kamen, ignorierten ihn, aber Atlan hütete sich, eine direkte Berührung zu riskieren. Ei­ne Entdeckung wäre dann unvermeidlich ge­worden.

Atlan durchquerte schnell die geöffnete Luftschleuse und gelangte in einen Haupt­korridor. Ein Stück weiter entdeckte er einen Lift, den er eine Minute lang beobachtete. Er blieb keine Sekunde unbenutzt, war also für einen Transport nach oben oder unten nutz­los.

Nach einigem Suchen – immer wieder mußte er Robotern ausweichen – fand er tat­sächlich eine Art Nottreppe, wie sie überall bei Energieausfällen verwendet wurde. Sie hatte außerordentlich flache und breite Stu­fen, so daß sie im Notfall auch für Rollen oder Räder geeignet war.

Er beschloß, nach oben zu steigen. Etwa hundert Meter über der Planeteno­

berfläche sah er zum ersten Mal einen Trupp von Robotern und Gefangenen. Er bewegte sich langsam einen Korridor entlang, der in regelmäßigen Abständen von gut drei Me­tern durch eine Tür unterbrochen wurde. Hier mußte eine Kabine neben der anderen liegen.

Atlan, der sich in eine Nische gedrückt hatte, die durch eine geschlossene Tür gebil­det wurde, konnte genau beobachten, was geschah.

Die Roboter schoben jeweils einen ihrer Gefangenen in eine solche Kabine, um dann die Tür hinter ihm zu schließen. Dann kam der nächste an die Reihe.

»Bis jetzt ist alles gutgegangen«, teilte er Proscutter-Lop mit, dessen mentale Fragen er bisher ignoriert hatte, um sich auf seine Aufgabe konzentrieren zu können. »Sie stecken die Molche in Einzelhaft. Warum, das weiß ich noch nicht. Sobald die Roboter

hier oben verschwunden sind, werde ich ver­suchen, eine der Zellen zu öffnen und Kon­takt mit einem Gefangenen aufzunehmen.«

»Sei vorsichtig!« warnte der Pelzige be­sorgt. »Außerdem wird dich der Gefangene kaum verstehen.«

»Dann sehe ich nur nach, was mit ihnen geschieht«, schwächte Atlan ab.

»Hier draußen ist nichts Neues. Gleich trifft ein neuer Trupp ein.«

»Gut. Warne mich, wenn du etwas von Startvorbereitungen bemerkst.«

Er schirmte den Ausgangsteil seines Ge­hirns wieder ab und blieb nur auf Empfang.

Die Roboter brachten ihren letzten Gefan­genen unter, sammelten sich und marschier­ten in Doppelreihe zum nächsten Lift. Minu­ten später war der Korridor leer. Ein paar noch geöffnete Türen ließen vermuten, daß weitere Gefangene erwartet wurden.

Atlan wartete, bis alles still geworden war, dann näherte er sich vorsichtig einer der geschlossenen Kabinentüren. Noch wäh­rend er das Schloß zu untersuchen begann, veränderte sich die Struktur des Materials. Es wurde allmählich transparent und schließlich völlig durchsichtig.

Mißtrauisch registrierte Atlan das neue Wunder, das ihm unbegreiflich war. Vor­sichtig streckte er die Hand aus, und sie traf auf keinen Widerstand. Zögernd trat er einen Schritt vor, aber er hütete sich, den dahinter liegenden Raum zu betreten, den er ohnehin gut überblicken konnte. Wenn die Tür nicht wieder stabil wurde, saß er selbst in der Fal­le.

Was er sah, rief explosionsartig gewisse Zusammenhänge hervor, ohne sie jedoch zu erklären.

Im Gegenteil: Das Rätsel verdoppelte die Menge der be­

reits bestehenden Fragen …

4.

Der Gefangene lag, immer noch ein­gehüllt in seinem Spercoidenpanzer, auf ei­nem einfachen Lager an der Kabinenwand.

24

Der Raum selbst bestand nur aus kahlen Wänden ohne jede Einrichtung, selbst eine Sichtluke fehlte. Er erinnerte an eine Ge­fängniszelle.

Aber dann war da etwas, das nicht in eine solche Zelle hineinpassen wollte.

»Du wirst es nicht glauben, Proscutter-Lop, aber auf, der anderen Seite der Kabine, kaum zwei Meter von dem Gefangenen ent­fernt, steht ein rechteckiger Kasten, der mit Erde gefüllt ist. Mit richtiger Erde, wie Pflanzen sie benötigen, wenn sie gedeihen sollen. Und auch diese Pflanze ist vorhan­den. Ein junger Schößling, kaum einen halb-en Meter hoch. Aber er trägt bereits Knos­pen und Blüten.«

»Eine Blume?« verwunderte sich der Pel­zige, der noch immer unbehelligt außerhalb des Schiffes stand und beobachtete, was ge­schah.

»Ja, eine Blume, und zwar eine jener Blu­men, wie sie im Tal gedeihen.«

»Unglaublich! Was soll denn das alles?« »Das weiß ich auch noch nicht, aber ich

spüre ganz zarte Emotionsimpulse, die mich ebenfalls ans Tal erinnern. Sie sind gut und positiv. Wenn ich mich nicht täusche, stam­men sie von der Pflanze – und sie werden intensiver.«

»Ich verstehe nicht …« »Bitte, störe mich jetzt nicht. Ich melde

mich wieder, wenn ich Gewißheit erhalten habe.«

»Gewißheit? Welche?« »Die Gewißheit einer Ungeheuerlichkeit,

Proscutter! Ende!« Er schirmte sich erneut ab. Diesmal voll­

kommen, also auch gegen Empfang. Es wur­de mental absolut ruhig, soweit es Proscutter anging, die schwachen Mentalimpulse der Pflanze jedoch blieben.

Sie schienen zusehends zu wachsen. Die Knospen begannen sich wie bei einer Zeitrafferaufnahme langsam zu öffnen, bis sie in voller Pracht erblühten, wenn auch nicht so groß wie im Tal. Hier schien es sich um eine Art Zwischenstadium zu handeln.

Atlan verstand nichts von dem geheimnis-

Clark Darlton

vollen Prozeß, der vor seinen Augen ablief. Es gab nichts, was seine Spekulationen be­stätigt hätte, die so wild und phantastisch waren, daß er sie am liebsten sofort beiseite geschoben hätte.

Aber dann entsann er sich rechtzeitig, was er in den vergangenen Stunden schon alles an Unglaublichem erlebt hatte. Die Macht des interstellaren Tyrannen Sperco konnte nicht allein auf der Überlegenheit seiner Waffen beruhen. Es mußte andere Mittel ge­ben, die ihn vor jedem Sturz bewahrten.

Unwillkürlich mußte Atlan an die Magier von Pthor denken, denen ebenfalls geheim­nisvolle Kräfte zur Seite standen und die ih­nen ungeahnte Macht verliehen.

War es hier ähnlich? Waren alle Spercoiden Magier? Unsinn!

Sie arbeiteten ganz einfach mit Naturgeset­zen, die Atlan unbekannt waren, das war al­les. Das alles hatte nichts mit Zauberei zu tun. Also gab es auch Erklärungen.

Doch die, so ahnte Atlan, würden noch auf sich warten lassen.

Er konzentrierte sich wieder auf das, was in der Zelle geschah.

Der Gefangene lag reglos auf seinem La­ger. Wenn es wenigstens möglich gewesen wäre, sein Gesicht hinter der metallenen Maske zu beobachten. Ein Gesicht verrät oft, was im Innern eines Lebewesens vor sich geht.

Der Mentalimpuls der wachsenden Pflan­ze wurde stärker, als erhielte sie ständig neue Energien. Atlans Blick fiel auf den Ge­fangenen. Kamen diese Energien von ihm? Aber warum dann nur positive Impulse, kei­ne negativen?

Entzog die Pflanze dem gefangenen Molch nur das Gute und ließ das Schlechte zurück?

Wie ein Blitz durchzuckte Atlan die Er­kenntnis.

War das die Lösung? Die plötzliche Erkenntnis war nicht das

Resultat langer Überlegungen und logischer Spekulationen, sondern sie war auf einmal da, so als hätte sie ihm jemand suggeriert.

25 Tal der tausend Blüten

Der eigentliche Prozeß konnte nur jenen bekannt sein, die ihn beherrschten und ein­geleitet hatten. Sie verstanden es, alle positi­ve Bewußtseinskraft aus den Gefangenen herauszuholen und auf die Pflanzen überzu­leiten und in ihnen für immer zu verankern. Zurück blieb demnach nur das Böse in den Gefangenen. Dieses Negative und Bösartige jedoch war das Hauptmerkmal der Spercoi­den.

Wurden aus den Gefangenen Spercoiden? Atlan stand vor der transparenten Kabi­

nentür, starr und unbeweglich wie eine Sta­tue. Was er miterlebte, war eine phantasti­sche und schier unglaubliche Mentalmeta­morphose. Es war anzunehmen, daß sie auch auf anderen Welten – oder in anderen Di-mensionen? – stattfand.

Wenn diese Theorie stimmte, dann waren die Spercoiden nichts anderes als Angehöri­ge der verschiedensten Rassen und Völker, deren Bewußtsein man das Gute und Positi­ve entzogen hatte. Das würde auch erklären, warum sie stets den alles verbergenden Pan­zeranzug trugen.

Aus den harmlosen Molchen hier wurden die brutalen Spercoiden und Henkersknechte des Tyrannen Sperco.

Es war eine Erkenntnis, die Atlan fast um­warf.

Er nahm Kontakt zu seinem Begleiter auf. »Proscutter! Kontakt?« »Vorhanden. Nichts Neues hier. Du hat­

test dich abgeschirmt?« »Ich werde jetzt zurückkommen. Ich glau­

be, einige unserer Fragen beantwortet zu ha­ben. Du wirst staunen.«

»Sie haben das Tor der Station geschlos­sen. Ich glaube, der letzte Trupp mit Gefan­genen ist unterwegs zum Schiff. Beeile dich!«

»Gut, unterrichte mich, wenn etwas ge­schieht.«

Er drehte sich um, gleichzeitig remateria­lisierte die Tür wieder.

Er konnte nicht mehr in die Kabine hin­einsehen.

Hastig eilte er zurück zur Nottreppe und

lief sie hinab. Zum Glück begegnete ihm niemand. Aber es war ein langer Weg, hun­dert Meter Höhenunterschied zu überwin­den. Proscutter meldete sich:

»Du mußt dich beeilen, Atlan! Sie haben das Schiff erreicht!«

»Geht nicht schneller …« Endlich glaubte er, denn richtigen Korri­

dor erreicht zu haben, der auf gleicher Höhe mit der Luftschleuse lag, aber er suchte sie vergeblich. Er mußte sich geirrt haben. Also eine Etage tiefer …

»Sie schließen die Luke!« gab Proscutter bekannt. In seinen Mentalimpulsen war die Panik unverkennbar. »Schnell!«

Atlan raste an einigen Robotern vorbei, die ihn nicht beachteten. Die Schleuse …!

Sie war geschlossen. Er saß endgültig in der Falle.

*

Proscutter-Lop hatte sich an den Zustand der Unsichtbarkeit gewöhnt, wenn er ihm auch unerklärlich blieb. Er verließ sich voll und ganz auf Atlan, dem er klugerweise mehr zutraute als sich selbst. Er beschränkte sich darauf, die Tätigkeit der Roboter zu verfolgen und darauf zu achten, das nichts auf den bevorstehenden Start des Schiffes hindeutete.

Dann jedoch geschah das, was er Atlan noch mitteilen konnte. Mit Entsetzen beob­achtete er, wie die letzten Roboter mit ihren Gefangenen im Schiff verschwanden und die Außenluke geschlossen wurde.

Atlan hatte es nicht mehr geschafft, recht­zeitig ins Freie zu gelangen. Er war im Schiff gefangen.

Proscutter-Lops Entsetzen war vollkom­men. Er machte sich die schlimmsten Vor­würfe, sich auf dieses waghalsige Unterneh­men eingelassen zu haben. Natürlich war Atlan daran schuld. Er hätte nicht auf ihn hören sollen.

»Ich würde an deiner Stelle die Hoffnung nicht so schnell aufgeben«, kamen Atlans Gedanken mit leichtem Vorwurf. »Das

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Schiff ist noch nicht gestartet. Vielleicht ge­lingt es mir, die Luke noch rechtzeitig zu öffnen. Zieh dich bis zur Station zurück, dort bist du sicher.«

»Die Luken sind gesichert und nur von der Kommandozentrale aus zu öffnen – das weiß ich von meinem Transport her.«

»Gut«, gab Atlan zurück, »dann werde ich den Robotern etwas zu denken geben. Wo ist die Kommandozentrale?«

»In der oberen Hälfte, mehr weiß ich auch nicht.«

»Laß das Schiff nicht aus den Augen«, riet Atlan, und da er sein Bewußtsein nicht abschirmte, konnte Proscutter-Lop genau verfolgen, was er unternahm.

*

Diesmal benutzte er den Lift, um nach oben zu gelangen. Die Roboter mußten sich in ihre Bereitschaftsräume zurückgezogen haben, denn er begegnete nur noch ganz we­nigen, die gewisse Aufgaben zu erledigen hatten.

Er verließ den Lift, als der Etagenanzeiger in anderen Farben als sonst aufleuchtete und ein Summton hörbar wurde.

»Richtig!« bestätigte Proscutter-Lop so­fort. »Bei meinem Transport durften da nur die Offiziere den Lift verlassen.«

Atlan fragte sich, wie es ihm möglich sein würde, schnell genug die Luftschleuse zu er­reichen, wenn er sie erst einmal geöffnet hatte. Der Weg war viel zu weit, und bis er beim Ausstieg war, hatte man den »Defekt« längst bemerkt und behoben.

Aber ihm blieb keine andere Wähl, als es zu versuchen.

Die Kommandozentrale war nun leicht zu finden, außerdem ließen sich kaum Roboter sehen. Atlan wunderte sich, daß er keinem einzigen Spercoiden begegnete.

Dann allerdings stand er ziemlich hilflos vor den unbekannten Kontrollen und ver­suchte, die deutlich sichtbaren Zeichensym­bole zu entziffern. Es waren zum Glück kei­ne Schriftzeichen, sondern ihre Bedeutung

Clark Darlton

und Funktion wurde in Bildern dargestellt. Das erleichterte Atlans Aufgabe erheblich.

Es gab ein Dutzend Symbole, die Luft­schleusen zeigten. Eine besonders markierte lag, wenn man den Symbolen trauen wollte, auf der gleichen Etage wie die Kommando­zentrale. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Notausstieg.

Schon vorher hatte Atlan bemerkt, daß die Hülle des Schiffes nicht glatt und eben war. Eine Art Gitter bedeckte sie, dessen Bedeu­tung ihm jetzt klar wurde. Von jedem Aus­stieg aus führte eine schmale Leiter, die fest mit der Außenhülle verbunden war, nach un­ten.

Kurz entschlossen drückte er auf den Knopf mit dem Symbol des Notausstiegs.

Wenn jetzt zufällig einer der Roboter in der Kommandozentrale auf diesen Knopf geachtet hätte, wäre ihm sicherlich aufgefal­len, daß sich dieser – wie von Geisterhand betätigt – in seinen Sockel hineinsenkte. Gleichzeitig leuchteten mehrere Signallam­pen auf.

Atlan mußte sich beeilen. Durch die offene Tür lief er hinaus auf

den Korridor, ohne auf eventuelle Geräusche zu achten, die er vielleicht verursachte. Wenn ihn die Symbolsprache nicht ge­täuscht hatte, befand sich der Notausstieg auf der linken Seite, keine zwanzig Meter von der Kommandozentrale entfernt.

Die Innenluke war geöffnet, dahinter lag eine kleine Schleusenkammer, und die Au­ßenluke begann gerade wieder nach innen zuzuschwenken.

Die Roboter hatten den »technischen Feh­ler« bereits wieder korrigiert. Atlan blieben nur Sekunden.

Mit zwei gewaltigen Sätzen raste er durch die Kammer und zwängte sich durch den schnell enger werdenden Spalt nach drau­ßen. Seine Hände fanden Halt, dann seine Füße. Er stand auf der schmalen Leiter, die nach unten führte, aber er befand sich im­merhin noch hundertfünfzig Meter über der Oberfläche. Wenn das Schiff jetzt startete, war er endgültig verloren.

27 Tal der tausend Blüten

Es war jedoch anzunehmen, daß die Ro­boter zuerst die Ursache des vermeintlichen Fehlkontakts untersuchen würden. Auf kei­nen Fall würden sie sofort starten.

Trotzdem beeilte sich Atlan, nach unten zu gelangen.

Proscutter-Lop teilte mit: »Ich kann dich sehen, sehr gut sogar. Die

Leiter endet fünf Meter über dem Boden, du wirst also das letzte Stück springen müssen. Schaffst du das?«

»Fünf Meter? Aber sicher, kein Problem. Sonst alles in Ordnung?«

»Kein Roboter mehr zu sehen. Hoffent­lich startet das Schiff nicht jetzt …«

»Ich muß springen, so oder so …« Atlan verzichtete den größten Teil seines

Abstieges auf die engen Sprossen. Seine Fü­ße klemmten die beiden Metallstangen rechts und links ein, um das schnelle Abrut­schen zu bremsen. Die Hände halfen dabei.

Die Leiter war zu Ende, wie Proscutter-Lop es angesagt hatte.

Atlan stieß sich von der Hülle ab, fiel das letzte Stück und federte mit elastischen Ge­lenken den Aufprall ab. So schnell er konn­te, rannte er dann auf die Station zu, wo der Pelzige ihn erwartete.

»Das war gerade zur rechten Zeit«, emp­fing ihn dieser mit unverkennbarer Erleich­terung. »Das Schiff startet.«

Atlan drehte sich um. Schwerelos, wie es schien, begann der

Raumtransporter der Spercoiden in die Höhe zu steigen. Wenig später verschwand er in dem dämmerigen und sternenlosen Himmel.

»Und was nun?« fragte Proscutter-Lop. »Wir haben viel erfahren können, mein

Freund, dafür hat sich das Abenteuer ge­lohnt. Also werden wir hier warten, bis wie­der ein Schiff auftaucht, an dessen Bord wir uns verbergen können: Hier können wir nicht bleiben, da wir verhungern und verdur­sten würden. Aber … merkst du eigentlich nichts?«

»Merken? Was soll ich merken?« »Es fiel mir schon auf, als ich von der

Leiter sprang. Der Aufprall hätte härter sein

müssen. Ich glaube, die Schwerkraft verrin­gert sich, wir werden leichter.«

»Wirkt die Nektardroge denn noch im­mer?«

Atlan blickte in Richtung des immer noch glühenden Feuerstroms.

»Ohne sie wären wir nicht hier, und wenn die Wirkung nachläßt …«

Proscutter-Lop starrte ihn fassungslos an. »Du meinst …?« Atlan nickte und bereitete sich auf den

Schock vor.

5.

Der Rücksturz in die Realität erfolgte plötzlich und ohne Ankündigung.

Das einzige Anzeichen war das schwin­dende Gewicht und das Gefühl des Schwe­bens, aber es erfolgte keine Ortsveränderung wie beim ersten Mal. Sie standen vor dem riesigen Würfelblock der Station und sahen hinein in die dämmerige, jetzt wieder leblo­se Landschaft, die keine Antwort auf ihre tausend Fragen gab.

Dann erlosch der mentale Kontakt zwi­schen ihnen, und es wurde dunkel.

Jetzt erst hatten sie beide den Eindruck, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen.

Dann wurde es urplötzlich hell um sie herum. Geblendet schlossen sie die Augen, denn über ihnen stand die Sonne von Karo­que in einem blauen und wolkenlosen Him­mel.

Sie lagen auf dem Boden, mitten zwi­schen den farbenprächtigen Blüten der Pflanzen im Tal.

Sofort war der telepathische Kontakt wie­der vorhanden.

»Zurück!« jubelte Proscutter-Lop, ohne zu begreifen, wie das geschehen konnte. »Wir sind wieder im Tal!«

»Wir sind dort, wo wir angefangen ha­ben«, gab Atlan zurück und dämpfte die Freude seines Gefährten. »Außer einigen Er­kenntnissen haben wir nichts gewonnen, falls wir nicht geträumt haben.«

»Das war kein Traum!« Proscutter-Lop

28

richtete sich langsam auf und setzte sich hin. Er deutete auf die Pflanzen. »Jetzt wissen wir, was sie sind und was sie bedeuten.«

»Noch nicht! Endgültige Gewißheit haben wir noch nicht.« Atlan stand auf. »Gehen wir zu unserem Versteck zurück, ich habe Durst und Hunger.«

Unterwegs sammelten sie Früchte und tranken Wasser aus dem Bach. Als sie dann die Lichtung und ihr Versteck erreichten, hatten beide das Gefühl, in eine Art Heimat zurückgekehrt zu sein. Die dämmerige Gei­sterlandschaft, aus der sie kamen, erschien ihnen wie ein böser Traum.

»Wir haben jetzt Zeit, das Erlebte zu ver­arbeiten und zu analysieren, Proscutter. Eine endgültige Antwort werden wir nicht finden, aber auch Vermutungen und logische Über­legungen führen oft zum Ziel. Jene Pflanzen dort … sind das wirklich die positiven Be­wußtseinsinhalte der Spercoiden?«

»Sie müssen es sein, Atlan, nur verstehe ich nicht, warum sie nicht vernichtet wer­den. Das muß einen Grund haben, aber wel­chen?«

»Er hat sicherlich nichts mit Nächstenlie­be zu tun, denn das, was in den Spercoiden verblieben ist, kennt ein solches Gefühl nicht. Doch eine andere Frage: Wie kommen die Pflanzen hierher? Jemand hat sie ge­bracht.«

»Der Gleiter!« erinnerte sich Proscutter-Lop.

»Richtig! Wir sahen am Landeplatz junge Pflanzen. Sie hatten etwa die Größe jener Pflanzen, die ich im Schiff sah. Sobald sie also den positiven Bewußtseinsinhalt über­nommen haben, werden sie in dieses Tal ge­bracht, wo sie wachsen und gedeihen. Zu welchem Zweck? Hier wird das Positive re­gelrecht konserviert …«

»Ich habe eine andere Frage«, wechselte der Pelzige das Thema. »Was wir erlebten …. was war es? Du dachtest am Anfang im­mer an eine andere Dimension. Später fiel mir auf, daß du diesen Begriff nicht mehr in Erwägung zogst. Was also war es dann?«

»Eine Folge des Nektars, der eine seltsa-

Clark Darlton

me Droge zu sein scheint. Ebenso seltsam war auch die Wirkung. Wir erlebten etwas, das ich als Real-Illusion bezeichnen möchte. Was wir sahen, geschah wirklich, aber wir waren nicht in unserer ganzen Körperlich­keit dort. Wenigstens nicht ständig. Das be­weist unsere Unsichtbarkeit auf der einen und unsere Fußspuren auf der anderen Seite. Wir waren in einem abstrakten Zustand, eine rationelle Erklärung gibt es nicht.«

»Was wir sahen, geschah also gleichzeitig und real?«

»Sicherlich, es war kein Traum. Ich wage es nicht mehr, an eine andere Dimension zu glauben, obwohl alles darauf hindeutet. Ver­giß die Blumen nicht drüben im Tal, die scheinbar ins Nichts hineinwachsen.«

»Wir werden niemals die Wahrheit erfah­ren«, registrierte Proscutter-Lop und stand auf. »Ich gehe Holz sammeln für die Nacht.«

Atlan sah ihm nach und blieb sitzen. Um in Ruhe nachdenken zu können, schirmte er seine Gedanken ab.

Die Tatsache, daß Proscutter-Lop den Tip mit dem Nektar von den Pflanzen erhalten hatte, schien ihm Beweis genug für die Tat­sache zu sein, daß es ihr Bestreben war, ihn die Wahrheit wissen zu lassen. Er – und da­mit auch Atlan – sollten wissen, auf welche Art und Weise der Tyrann Sperco seine Truppen rekrutierte.

Der Entzug der positiven Persönlichkeit mußte auf vielen Welten praktiziert werden, nicht nur auf jener, die er und Proscutter-Lop gesehen hatten. Doch ein Gutes schien das schreckliche Geschehen doch zu haben: Die positiven Bewußtseine blieben erhalten, in diesem Tal auf Karoque. Und wahr­scheinlich auch auf anderen Welten.

Es konnte mehrere Gründe dafür geben. Vielleicht war es ein Rest von Selbstver­

ständnis, das die Spercoiden daran hinderte, ihr eigenes positives Denken und Fühlen zu vernichten. Es war aber auch möglich, daß sie mit einer solchen Vernichtung sich selbst für immer ausgelöscht hätten. Schließlich bestand aber auch noch die Möglichkeit, daß

29 Tal der tausend Blüten

dieses Positive noch einmal benötigt wurde. Proscutter-Lop kehrte mit einem Armvoll

Holz zurück und machte sich daran, Funken zu schlagen. Wenig später kräuselte Rauch in die Höhe, der aber schnell wieder ver­schwand, als der Zunder ausgebrannt war. Das trockene Holz selbst brannte ohne Rau­chentwicklung.

»Wir sind nicht allein im Tal«, teilte der Pelzige plötzlich ohne jeden Übergang mit.

Atlan sah ihn verwundert an. »Wie meinst du das? Sprichst du von den

gelegentlichen Erscheinungen, die wir se­hen? Der Molch damals …«

»Nein, ich meine nichts Derartiges, Atlan. Ich meine einen anderen geflohenen Gefan­genen. Nun bin ich schon zwei Jahre hier im Tal, und doch begegnete ich ihm nie. Viel­leicht gibt es noch mehr.«

»Kannst du dich nicht deutlicher aus­drücken?«

Atlan sprach laut, und seine Stimme ver­riet Ungeduld.

»Ich ging ein Stück weiter als sonst nach Westen, wo die meisten Obstbäume wach­sen. Dort gibt es genug Holz. Als ich eine Bewegung wahrnahm, versteckte ich mich, weil ich an den Gleiter dachte. Aber es war kein Spercoide, der da herumschlich. Es war zwar auch ein aufrecht gehendes Lebewe­sen, aber es sah nicht sehr vertrauener­weckend aus. Tentakel hat es, funkelnde Au­gen und gar keine Haare.«

»Das Aussehen eines Lebewesens hat nichts mit seinen charakterlichen Eigen­schaften zu tun«, belehrte ihn Atlan. »Sah es dich oder griff es dich an?«

»Natürlich nicht, denn ich hatte mich ja versteckt. Ich habe es nur beobachtet. Es sammelte Früchte und verschwand wieder. Aber wir wissen nun, daß wir nicht mehr al­lein hier sind.«

»Wenn er länger hier ist als du, weiß er vielleicht auch mehr und kann uns manche Fragen beantworten, an denen wir noch her­umrätseln. Zeige mir den Ort, an dem du den Fremden sahst.«

»Du glaubst nicht an eine Gefahr?«

»Wir werden vorsichtig sein«, versprach Atlan.

*

Sie überquerten den flachen Hügel, der wie ein Riegel vor den Bergen im Westen lag. Von ihm aus hatte man eine gute Aus­sicht nach allen Seiten, aber Atlan konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.

»Wir müssen noch ein Stück weiter.« »Da unten wachsen keine Blumen mehr?« »Nur vereinzelt. In der Hauptsache Bäu­

me und Sträucher. Aber sie tragen Früchte.« »Und wo hast du dieses Wesen gesehen?« Proscutter-Lop deutete nach Westen. »Dort! Wo der Bach aus den Bergen

kommt.« Es gab mehrere Bäche im Tal, die sich

dann zu einem einzigen vereinigten, der im­mer noch klein und wasserarm war. Es war jener, dessen Lauf Atlan gefolgt war und der ihn ins Tal gebracht hatte.

»Weiter!« forderte er seinen Begleiter auf. »Und auf Deckung achten.«

Er rechnete nicht ernsthaft mit einer Ge­fahr, denn wenn der Fremde ein Flüchtling war wie er selbst, würde er jedem Streit aus dem Wege gehen. Das einzige Problem wür­de die Verständigung sein, denn es war kaum damit zu rechnen, abermals einen Te­lepathen anzutreffen. Höchstens Proscutter-Lop konnte Normalimpulse empfangen und deuten, was jedoch umgekehrt nicht unbe­dingt möglich sein mußte.

»Ich habe keinen einzigen Mentalimpuls aufgefangen«, beantwortete Proscutter-Lop Atlans stumme Frage. »Er sendet keine aus.«

»Dann denkt er überhaupt nicht, oder er schirmt sich ab.«

Durch dichtes Gestrüpp drangen sie wei­ter nach Westen vor, bis der Pelzige plötz­lich stehenblieb.

»Hier etwa muß es gewesen sein. Er kam dort aus den Büschen, dahinter liegen Felsen mit Höhlen. Wahrscheinlich wohnt er in ei­ner.«

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»Vielleicht sollten wir uns bemerkbar ma­chen, damit er sein Mißtrauen verliert, falls er uns schon gesehen hat.«

Damit erklärte sich Proscutter-Lop nur zögernd bereit.

Atlan ging nun vor, auf die Felsen zu. Zum Zeichen, daß er unbewaffnet war, hob er beide Arme und zeigte auf die leeren Hände. Das Gefühl, aus einem Versteck her­aus heimlich beobachtet zu werden, wurde stärker.

Dann kam Proscutter-Lops lautlose War­nung:

»Er kommt von rechts – ein schauriger Anblick. Sei vorsichtig!«

Atlan sah den Fremden Sekunden später. Er zwängte sich durch die Büsche und trat dann ins Freie, keine zehn Meter entfernt.

Proscutter-Lops Vorurteil war schon des­wegen verständlich, weil sein Volk bisher kaum Kontakt mit raumfahrenden Völkern gehabt hatte. Atlan hingegen war in seinem langen Leben bereits Tausenden verschie­denartigen Fremden begegnet und wußte, daß es unzählige Entwicklungsformen gab.

Interessiert beobachtete er das seltsame Wesen, das sich ihm vorsichtig näherte. Statt der beiden Arme besaß es zwei mindestens drei Meter lange Tentakel, die in feingliedri­gen Fingern endeten. Der Körper und die Beine wirkten, vom menschlichen Stand­punkt aus gesehen, normal. Ebenso der Kopf und das Gesicht, wenn man von den über­großen Augen absah, die starr auf die beiden Ankömmlinge gerichtet waren.

Atlan spürte sofort, daß sie von diesem Wesen nichts zu befürchten hatten, abgese­hen davon, daß es sich in der gleichen Lage wie sie selbst befand.

Während er noch überlegte, wie er sich verständlich machen sollte, begannen sich die beiden Tentakel in merkwürdigen Ver­renkungen zu bewegen. Es entstanden selt­same Figuren, die entfernt an abstrakte Pla­stiken erinnerten und für Sekunden unverän­dert blieben, bis eine neue geformt wurde. Die Tentakel benahmen sich dabei so ge­schickt, daß sogar Knoten und Schlingen ge-

Clark Darlton

bildet wurden, ohne daß sie sich verheddert hätten.

Atlan studierte das rätselhafte Benehmen des Fremden mit steigendem Interesse. Es fiel ihm auf, das gewisse Figuren sich wie­derholten, was kein Zufall sein konnte. Zum ersten Mal tauchte bei ihm die Vermutung auf, daß der Fremde auf diese ungewohnte Art und Weise Kontakt aufzunehmen ver­suchte.

Eine Zeichensprache? Um zu demonstrieren, daß er zumindest

schon mal die Absicht verstanden habe, formte er mit seinen Armen ein Kreuz und dann einen Kreis. Die Antwort erfolgte in Form weiterer Symbole.

Damit war das Eis gebrochen. »Du kannst herkommen, Proscutter! Kon­

takt!« »Aber keine Mentalimpulse!« Der Pelzige

näherte sich langsam und vorsichtig, eben­falls seine leeren Hände vorzeigend. »Wie sollen wir wissen, was er mit seinen Verren­kungen ausdrücken will?«

»Eine der Figuren wiederholt sich oft, ich glaube, ihre Bedeutung erkannt zu haben. Mit einiger Phantasie ist der Schutzpanzer eines Spercoiden zu erraten.«

Atlan widmete sich wieder dem Fremden. Der hatte für einige Sekunden seine Ver­

ständigungsversuche eingestellt und schien dann aber davon überzeugt zu sein, daß auch der zweite Ankömmling keine Gefahr be­deutete. Er begann erneut mit dem Formen von Symbolen.

Atlan erkannte einen zweiten Begriff. Die Umrisse eines Schiffes der Spercoiden wa­ren unverkennbar. Er brach einen Zweig von einem Busch ab und begann damit, in den weichen Boden vor, den Felsen zwei Bilder zu ritzen: einen Spercoiden und eins ihrer Doppelhutschiffe. Als er sicher war, daß der Fremde die Bedeutung der Zeichen begrif­fen hatte, zertrat er sie.

Ein Wirbeln der Tentakel schien Einver­ständnis und Befriedigung auszudrücken.

Endlich gelang es Atlan, seinem Gegen­über klarzumachen, daß er seine Tentakel

31 Tal der tausend Blüten

länger bei dem beabsichtigten Symbol las­sen müsse, damit Zeit blieb, es zu studieren und seinen Sinn zu erraten.

Der Fremde stammte von einem Planeten, der seine beiden Sonnen in verzwickter Bahn umlief. Die Spercoiden überfielen die friedliche Welt und verschleppten den Groß­teil der harmlosen Bewohner. Tentakel, wie Atlan den Fremden bei sich nun nannte, ge­lang auf Karoque die Flucht, ähnlich wie Proscutter-Lop und Atlan selbst. Auch er fand dieses Tal und lebte hier seit drei Jah­ren.

Für diesen Bericht brauchte Tentakel gan­ze drei Stunden. Es begann zu dämmern. At­lan und Proscutter-Lop nahmen seine Einla­dung an, die Nacht in seiner Höhle zu ver­bringen.

Sie war bequemer und wärmer als das Versteck unter dem Stein.

*

Als sie am anderen Morgen erwachten, war Tentakel bereits auf. Er hatte Früchte gesammelt und das Lagerfeuer vor der Höh­le wieder angefacht. Durch seine Zeichen­sprache gab er zu verstehen, daß er seinen neuen Freunden einen guten Tag wünschte.

Den ganzen Tag über »unterhielt« sich Atlan mit ihm und erfuhr interessante Ein­zelheiten über die Spercoiden und dieses Tal, die seine eigenen Vermutungen bestä­tigten. So kam der Gleiter in regelmäßigen Abständen, landete an bestimmten Stellen des Tales und flog wieder davon, ohne sich länger als notwendig aufzuhalten. Am Lan­deplatz waren dann stets junge Blumen an­gepflanzt worden. Übermorgen würde der Gleiter wieder fällig sein.

An diesem Abend erklärte Atlan dem Pel­zigen seinen Plan:

»Tentakel wird bei der Höhle bleiben wollen, wenn ich ihn richtig verstanden ha­be. Ich selbst möchte versuchen, mich an Bord des Gleiters zu verstecken, obwohl ich weiß, daß ich mich damit in größte Gefahr begebe. Du weißt, daß ich nicht für immer in

diesem Tal bleiben kann. Viele Aufgaben warten auf mich.«

»Sie werden dich finden und töten, At­lan!«

»Vielleicht nicht, denn Tentakel hat mir einige Dinge mitgeteilt, die wir noch nicht wußten. Wir werden morgen mit den Expe­rimenten beginnen.«

»Was für Experimente?« »Nektar!« Proscutter-Lop machte eine Geste der Ab­

wehr. »Niemals wieder! Was erreichen wir

schon damit?« Atlan lächelte. »Du erinnerst dich, daß wir über die rich­

tige Dosierung sprachen, bevor wir den Nektar tranken. Und genau das scheint das ganze Problem zu sein. Wir nahmen eine Überdosis, das ist alles. Nimmt man zuwe­nig, wirkt der Nektar leicht berauschend, trinkt man zuviel, landet man in der Dunkel­zone, dem schwarzen Bereich. Tentakel hat mir zu verstehen gegeben, daß man nur einen einzigen Schluck zu sich nehmen darf, um übernatürliche Kräfte zu erlangen.«

»Übernatürliche Kräfte?« »Ja, Kräfte jedenfalls, die einen befähi­

gen, mit den Robotern und auch mit den Spercoiden fertig zu werden. Ich habe nicht genau verstanden, welche Kräfte das sind. Wir müssen es ausprobieren. Und zwar gleich morgen, denn übermorgen kommt der Gleiter.«

»Ich weiß nicht …« »Bringe mir einen Vorrat des Nektars,

dann wirst du schon sehen.« Proscutter-Lop blieb skeptisch. »Na schön, ich werde ihn in einem hohen

Stengel einsammeln und hierherbringen. Aber ich trinke keinen Tropfen davon.«

»Niemand wird dich zwingen«, schloß Atlan das Gespräch ab.

Er unterhielt sich dann noch lange mit Tentakel, um mehr über die Wunderdroge zu »hören« und erfuhr, daß dieser selbst schon damit experimentiert hatte, aber nicht im Traum daran dachte, sie für eine Flucht

32

zu benutzen. So wie Proscutter-Lop wollte er im Tal bleiben.

Allmählich fand sich Atlan damit ab, daß er wohl allein diese Flucht wagen müsse. Ihm war klar, welches Risiko er damit ein­ging und was mit ihm geschehen würde, wenn die Spercoiden ihn entdeckten.

Ohne das geringste Positive in ihrem Be­wußtsein würden sie ihn erbarmungslos tö­ten, denn die Gelegenheit zu einer zweiten Flucht würden sie ihm kaum geben.

Als er am anderen Morgen erwachte, fand er sich mit Tentakel allein.

Proscutter-Lop war schon sehr früh aufge­brochen, um den Nektar zu sammeln, den Atlan für das Experiment benötigte.

*

Inzwischen hatte Atlan von Tentakel noch in Erfahrung gebracht, daß die Wirkung der Droge nur wenige Stunden anhielt und man dann wieder einen Schluck zu sich nehmen müsse, um die gewünschte Wirkung zu er­zielen. Worin diese Wirkung bestand, war nur zu erraten, da es schwierig war, abstrak­te Begriffe durch Zeichensymbole darzustel­len.

Übergroße körperliche Kräfte, glaubte At­lan erkennen zu können, als Tentakels lange Arme Felsbrocken formten und sie hoch in die Luft schleuderten. Dann deutete er die Bewegung des Laufens an, und schließlich spurloses Verschwinden.

Proscutter-Lop kehrte noch während des Frühstücks zurück und überreichte Atlan einen armdicken Hohlstengel, der an beiden Seiten mit Pflanzenmark verschlossen war.

»Das wird reichen«, teilte er mit und setz­te sich.

»Vorerst zumindest, Proscutter. Ich werde sofort einen Schluck trinken, und du wirst mich ständig beobachten. Ich will versu­chen, die mir durch die Droge verliehenen Kräfte zu kontrollieren, um sie nicht zu ver­schwenden. Tentakel hat mir dazu geraten. Er hat die Wirkung ausprobiert, ohne Scha­den zu nehmen, nur habe ich nicht alles ver-

Clark Darlton

stehen können, was er mir mitteilen wollte.« »Ich lasse dich nicht aus den Augen«, ver­

sprach Proscutter-Lop feierlich. Vorsichtig öffnete Atlan das natürliche

Gefäß. Ohne zu zögern, nahm er einen Schluck des wohlschmeckenden Nektars und verschloß den Stengel wieder. Er legte ihn neben sich auf den Boden und wartete.

Zuerst geschah überhaupt nichts, dann durchströmte ihn äußerstes Wohlbehagen, ungefähr wie beim erstenmal, aber nicht so stark.

»Nun, wie fühlst du dich?« fragte Pros­cutter-Lop neugierig.

»Bestens, mein Freund. Mir ist, als könnte ich Bäume ausreißen.«

»Dann tu's!« riet der Pelzige nicht ohne Ironie.

Atlan stand auf, aber wohl ein wenig zu hastig. Die plötzliche Muskelkraft seiner Beine wirkte sich so aus, als habe der Planet seine Schwerkraft verloren. Atlan sprang fast drei Meter hoch und landete ziemlich unsanft auf allen vieren.

Tentakel verknotete seine überlangen Ar­me zu einem wirren Knäuel, was wohl Belu­stigung bedeuten sollte. Proscutter-Lop brach in ein mentales Gelächter aus, das At­lan schnell wieder auf die Beine brachte, nicht ohne daß er abermals einen hohen Satz vollführte.

Er fühlte die geballten Kräfte, die er auf einmal besaß und zu bändigen lernen mußte. Wenn die Wirkung der Droge nachließ, wür­de die Umstellung nicht einfach sein.

Tentakel beruhigte sich wieder und gab seine Anweisungen.

Übersetzt und entziffert mochten sie etwa lauten:

»Die neuen Eigenschaften müssen koordi­niert werden, damit sie einzeln zur Geltung kommen. Konzentriere dich aufs Laufen!«

Atlan befolgte den Rat und setzte sich in Trab. Die beiden Freunde sahen, daß er mit ungeheurer Geschwindigkeit das freie Stück vor den Felsen durcheilte und dann, so als könne er fliegen, einen Abhang emporrann­te. Oben blieb er stehen und teilte Proscut­

33 Tal der tausend Blüten

ter-Lop seine Zufriedenheit mit. »Es ist leicht, die neuen Fähigkeiten mit­

einander zu koordinieren, Proscutter. Ich komme jetzt zurück, dann sehen wir weiter.«

Wenige Sekunden war er wieder bei ih­nen.

»Es ist phantastisch«, gab der Pelzige fast widerwillig zu. »Du bist so schnell wie der Energiestrahl einer Waffe. Selbst der beste Schütze der Spercoiden könnte dich nur durch einen Zufall treffen.«

»Roboter zielen mit einem Computerge­hirn«, erinnerte ihn Atlan.

»Trotzdem! Einholen jedenfalls kann dich niemand mehr. Was ist nun mit dem spurlo­sen Verschwinden, das Tentakel andeutete?«

»Ich nehme an, ich muß mich darauf kon­zentrieren.«

Atlan ging ein Stück zur Seite und setzte sich auf einen Stein. Er schloß die Augen.

Dann hörte er unartikulierte Laute, die der Pelzige hervorstieß. Er wußte bereits, daß sie höchste Überraschung ausdrückten. Als er die Augen wieder öffnete, sah er Tentakel mit unverständlichen Zeichensymbolen her­umlaufen, während Proscutter-Lop ihm mit­teilte:

»Du bist weg, Atlan! Einfach unsichtbar geworden! Von einer Sekunde zur anderen bist du verschwunden. Wo steckst du?«

»Nicht im schwarzen Bereich, mein Freund, sondern ich sitze noch immer hier auf dem Stein. Komm her, ich muß wissen, ob du mich fühlen kannst.«

Zögernd kam Proscutter-Lop herbei und streckte die Arme aus. Atlan nahm seine Hand in die seine.

»Ja, du bist körperlich vorhanden«, teilte Proscutter-Lop mit. »Deine Hand scheint aus dem Nichts zu kommen, aber ich kann sie spüren. Nicht so fest drücken …!«

Atlan ließ los. »Und du siehst nichts von mir?« »Keine Spur. Absolut unsichtbar! Wie ein

Wunder!« »Eine Wunderdroge«, stimmte Atlan zu.

»Aufpassen, ich werde mich jetzt wieder sichtbar machen. Ein wenig Konzentration,

und schon …« Jeder konnte sehen, daß er wieder auf

dem Stein saß. Tentakel war so begeistert von dem ge­

glückten Versuch, daß ihm ein Mißgeschick passierte. Er paßte wohl nicht genügend auf, jedenfalls stand er plötzlich reglos neben dem Lagerplatz, seine Tentakel derart inein­ander verknotet, daß es zehn Minuten dauer­te, bis er frei war.

*

Atlan ließ sich nicht davon abhalten, seine durch die Droge verliehenen Fähigkeiten auszunutzen. Mit den guten Ratschlägen sei­ner beiden Freunde versehen, rannte er los, um das ganze Tal in einer Stunde zu erkun­den. Unter normalen Umständen hätte er da­für mindestens zwei volle Tage benötigt.

Mit dem irrsinnigen Tempo eines Ge­schosses raste er dahin und fand kaum Zeit, überraschend auftauchenden Hindernissen auszuweichen.

Eine Weile genoß er das Gefühl absoluter Überlegenheit, ohne in seiner Aufmerksam­keit nachzulassen. Je besser er das Tal kann­te, desto eher würde er eventuellen Verfol­gern entkommen können, wenn sein Plan mißlang, sich an Bord des zu erwartenden Gleiters zu verstecken.

Am Talausgang hielt er an. Er dachte an seine mühsame Flucht hierher und wie lange er dafür gebraucht hatte. Mit seinen jetzigen Fähigkeiten konnte er den Weg in zwei Stunden schaffen.

Dann rannte er zu dem Platz, an dem vor wenigen Tagen der Gleiter gelandet war. In langen Reihen standen da die jungen Pflan­zen. Sie schienen alle angegangen zu sein und entfalteten ihre ersten Blüten. Und wie­der strömten die positiven Mentalimpulse auf ihn ein, beruhigend und voller Wohlwol­len. Sie drückten alles das aus, was den Spercoiden nun fehlte.

Lange hielt sich Atlan nicht auf. Er lief weiter, hin bis zum großen Felsen, der ihm und Proscutter-Lop als Versteck gedient hat­

34

te. Das letzte Stück, so glaubte er zu bemer­

ken, fiel ihm schwerer. Seine Kräfte ließen nach. »Proscutter! Die Wirkung des Nektars

verschwindet. Es wird eine Weile dauern, bis ich bei euch bin.«

»Es gibt Blüten genug«, gab der Pelzige zurück. »Du darfst aber nur den Nektar jener nehmen, die mit dem oberen Teil im schwar­zen Bereich verschwinden. Du weißt ja, wo sie wachsen.«

»Richtig, und die Dosierung kenne ich auch.«

Die Umstellung auf »Normalbetrieb« er­folgte fast behutsam, so daß sie nicht so schwer wurde, wie Atlan sich das vorgestellt hatte. Gemütlich fast spazierte er durch die Pflanzen, bis er die Ansammlung jener er­reichte, die ins Nichts wuchsen.

Er pflückte eine der großen Blüten ab und stellte fest, daß ihr Kelch genau die richtige Menge Nektar enthielt. Er und Proscutter-Lop hatten beim ersten Mal den Fehler ge­macht, den Nektar von mehreren Blüten zu trinken.

Er drückte den gelblichen Saft aus der mehrfarbigen Blume und schlürfte ihn. Schon wenige Minuten später kehrten seine Überkräfte zurück.

Minuten später erschien er am Lagerfeuer der Wartenden.

6.

Nachdem Atlan in allen Einzelheiten sei­nen rasenden Lauf durch das Tal geschildert und sich mehrmals unsichtbar gemacht hat­te, teilte Proscutter-Lop zur allgemeinen Überraschung mit:

»Also gut, Atlan, ich werde auch von der Droge nehmen und dir bei deinem Unterneh­men helfen. Aber ich werde hier im Tal zu­rückbleiben, auch wenn dir die Flucht mit dem Gleiter gelingt. Ich werde mich gut mit Tentakel verstehen. Schade, daß ich ihn nicht früher traf.«

»Du wirst mir eine große Hilfe sein«,

Clark Darlton

freute sich Atlan. »Deine Ironie kannst du dir sparen«, gab

der Pelzige zurück. »Du bist klüger und stär­ker als ich. Schade, daß du nicht bleiben willst.«

»Besorge noch mehr Nektar«, schlug At­lan ohne Kommentar vor.

»Aber immer nur einen Schluck, nicht mehr«, riet Proscutter-Lop.

»Schon gut, ich kenne die Dosis nun ge­nau. Übrigens läßt die Wirkung jetzt wieder nach. Die Dauer der Wirksamkeit ist dem­nach unterschiedlich. Mal länger, mal kür­zer. Das muß man einkalkulieren, sonst sitzt man plötzlich auf dem trockenen.«

Tentakel gab zu verstehen, daß es gut sei, noch heute einen weiteren Vorrat des Blü­tensafts zu sammeln, da morgen dazu viel­leicht keine Zeit mehr sei. Der Gleiter könne genausogut am Vormittag wie erst gegen Abend eintreffen.

Proscutter-Lop marschierte los und kehrte eine Stunde später mit einem Hohlstengel zurück. Unter der Aufsicht seiner beiden Gefährten absolvierte er eine Generalprobe, die er glänzend bestand, wenn er dabei auch aus lauter Übermut einige Obstbäume be­schädigte oder gar mit den Wurzeln aus dem Boden riß.

Schließlich hockten sie alle drei friedlich und satt um das Lagerfeuer und versuchten, sich die Ereignisse des kommenden Tages vorzustellen.

Tentakel gab bekannt, daß er in seiner Höhle bleiben würde.

*

Daß nicht immer alles nach Plan gehen konnte, bewies der andere Tag.

Atlan hatte das Gefäß mit dem Nektar in der Brusttasche seiner Lederbekleidung un­tergebracht, wo es leicht und schnell zu er­reichen war und vor Beschädigungen ge­schützt blieb. In den anderen Taschen befan­den sich einige der sättigenden Früchte, mit denen er notfalls einige Tage auskam. Auf die Mitnahme von Wasser mußte er aus

35 Tal der tausend Blüten

Platzmangel verzichten. Tentakel hatte sich auf einen Kompromiß

eingelassen. Er hatte seine Höhle verlassen und hielt sich dicht vor dieser auf. Erst wenn der erwartete Gleiter auftauchte, wollte er wieder in ihr verschwinden.

Es wurde Mittag. »Vielleicht kommt er heute nicht«, be­

fürchtete Proscutter-Lop. Tentakel gab zu verstehen, daß er bis jetzt

fast immer gekommen sei. Der Begriff »fast« war so schwer darzustellen, daß seine Zeichenarme abermals in Verwirrung gerie­ten. Noch während er von den Gefährten be­freit wurde, tauchte über den südlichen Ber­gen ein Punkt auf.

Der Gleiter! Atlan klopfte Tentakel freundschaftlich

auf die Schulter, ehe das seltsame Lebewe­sen in seiner Höhle verschwand. Dann nick­te er Proscutter-Lop aufmunternd zu.

»Nehmen wir einen Schluck«, schlug er vor.

Wie vorher vereinbart, tranken sie die Droge, um kurze Zeit darauf bereits die Wir­kung zu verspüren. Der Mentalkontakt wur­de dadurch nicht beeinträchtigt.

»Sichtbar bleiben«, riet Atlan und setzte sich vorsichtig in Bewegung. »Sonst verlie­ren wir uns.«

In gemäßigtem Tempo, aber noch immer unglaublich schnell, liefen sie am Westrand des Tales entlang, um zu der vermutlichen Landestelle des Gleiters zu gelangen, der langsam zur Oberfläche hinabsank und hin­ter dem Blütendschungel verschwand. Atlan schätzte, daß er bei der letzten Jungpflan­zung niederging.

Sie blieben stets in Deckung, um nicht ge­sehen zu werden, was nicht so schwierig war, weil sich niemand mehr über ihnen in der Luft befand. Je näher sie der Landestelle kamen, desto vorsichtiger und langsamer wurden sie.

»Jetzt nicht weiter!« warnte Atlan, als sie den Rand der alten und hochgewachsenen Pflanzen erreichten. Vor ihnen lag die nied­rige Jungpflanzung, die keinen Schutz mehr

bot. »Wenn es soweit ist, werde ich mich unsichtbar machen.«

Der Gleiter, eigentlich mehr ein kleines Beiboot von mehr als fünfzehn Metern Län­ge, stand jenseits der Pflanzenreihen. Die Luken waren noch geschlossen. Die Roboter ließen sich Zeit.

»Möchte wissen, worauf sie warten …« Atlan gab keine Antwort. Es war sinnlos,

darüber Spekulationen aufzustellen. Man konnte nur abwarten.

Endlich öffnete sich eine der Luken. Zwei der kleinen Roboter kamen heraus,

und dann schloß sich die Luke wieder, sehr zu Atlans Enttäuschung. Atemlos sah er zu, was weiter geschah.

Die beiden Roboter marschierten in ent­gegengesetzten Richtungen davon. Jetzt erst wurde ersichtlich, daß sie zuletzt eingesetzte Pflanzen inspizierten. In gemäßigtem Tem­po schritten sie die Reihen ab und trafen sich schließlich wieder vor dem Gleiter.

»Sie haben Kommunikation mit ihrem Kommandanten«, teilte Proscutter-Lop mit, »aber natürlich kann ich keine Impulse emp­fangen. Was uns fehlt, ist ein Funkgerät mit der entsprechenden Frequenz. Wahrschein­lich berichten sie, daß ihre Blümchen ange­gangen sind.«

Atlan fand sich nur schlecht mit dem Wi­dersprüchlichen ab. Die Roboter der erbar­mungslosen Spercoiden hegten und pflegten Blumen! Dazu noch Blumen, die alles Posi­tive in sich vereinigten, das den Spercoiden entzogen worden war.

Es gab keine vernünftige Erklärung für dieses seltsame Verhalten.

»Die Wirkung beginnt nachzulassen«, meldete sich Proscutter-Lop jetzt wieder. »Dabei haben wir sie nicht einmal ausnützen können.«

»Bevor wir eine neue Dosis nehmen, war­ten wir, was geschieht.«

Der Normalzustand stabilisierte sich. Die beiden Roboter standen noch immer

vor der geschlossenen Luke des Gleiters. Sie bewegten sich nicht, so als hätten sie sich selbst desaktiviert. Im Tal herrschte die übli­

36

che Stille, die auch jetzt durch nichts gestört wurde.

Ein undefinierbares Gefühl warnte Atlan, als sich die Mentalimpulse der ihn umgeben-den Pflanzen verstärkten. Sie blieben posi­tiv, schienen jedoch warnen zu wollen.

»Was hat das zu bedeuten, Proscutter? Kannst du verstehen, was sie uns mitteilen wollen?«

»Nein! Aber sie scheinen beunruhigt zu sein.«

Im augenblicklichen Stadium war es für Atlan unmöglich, an den Gleiter heranzu­kommen und sich in ihm zu verbergen, selbst wenn er sich unsichtbar machte. Die Luken waren geschlossen, und zwei Roboter hielten Wache.

Waren sie mißtrauisch geworden? Und wenn ja, warum?

Atlans Blick wanderte zufällig nach oben und nach Süden, und was er sah, erschreckte ihn.

Über den Bergen erschien ein zweiter Gleiter.

»Ducken!« riet er hastig. Die Pflanzen waren zwar an dieser Stelle

mehrere Meter hoch, standen aber nicht sehr dicht. Gegen Sicht aus der Luft boten sie nur wenig Schutz.

Der zweite Gleiter landete nicht, sondern schwebte in geringer Höhe weiter, etwa in Richtung des Felsbrockens, der zwei Jahre lang Proscutter-Lops Versteck gewesen war. Dort verharrte er eine Weile.

Das konnte Zufall sein … »Sie haben Verdacht geschöpft«, teilte der

Pelzige mit. »Möchte nur wissen, warum das so ist. Zwei Jahre lang haben sie mich eben­sowenig bemerkt wie ich sie, und nun finden sie den Felsen auf Anhieb. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.«

»Er fliegt schon weiter«, beruhigte ihn Atlan, der sich den Vorfall auch nicht erklä­ren konnte. »Hoffentlich bleibt Tentakel in seinem Versteck.«

»Da bin ich absolut sicher. Der rührt sich nicht aus der Höhle.«

Der Gleiter umrundete in langsamem Flug

Clark Darlton

das ganze Tal und kehrte zum Ausgangs­punkt zurück. Dann senkte er sich herab und landete dicht beim ersten. Die Luke öffnete sich. Mehr als zwei Dutzend Roboter quol­len daraus hervor und verteilten sich am Rand des Feldes mit den Jungpflanzen. Sie umstellten es systematisch.

Jetzt erst öffnete sich auch die Luke des ersten Gleiters. Heraus kamen die üblichen Arbeitsroboter mit den Kästen, in denen die nur einen halben Meter hohen Blumen ange­pflanzt waren. Sie trugen sie zu einem Sam­melplatz, wo sie abgestellt wurden. Andere Roboter hoben kleine Löcher aus, die wahr­scheinlich für die Aufnahme der Wurzeln gedacht waren.

Atlan beobachtete die Roboter des zwei­ten Gleiters.

»Siehst du den Unterschied, Proscutter? Es sind keine Arbeitsroboter. Es sind Solda­ten, und sie sind bewaffnet. Möchte wissen, warum sie diesmal geholt wurden.«

»Deinen Plan kannst du vergessen«, erwi­derte Proscutter-Lop. »Du kommst nie unbe­merkt in den Gleiter hinein.«

Der Pelzige hatte recht, wußte Atlan. Na­türlich konnte die heutige Verstärkung eine Routineangelegenheit sein, die sich in be­stimmten Zeitabständen wiederholte. Man würde den nächsten Pflanzungstermin ab­warten müssen.

Inzwischen hatten die Roboter die kleinen Gruben ausgehoben und setzten nun die Pflanzen ein. Noch bevor sie damit fertig waren, kehrten die »Soldaten« in ihren Glei­ter zurück und starteten. Noch einmal pa­trouillierten sie dicht über das Tal hinweg, um dann endgültig zu verschwinden.

Trotzdem war es für Atlans Flucht zu spät, denn die Luken des ersten Gleiters hat­ten sich längst geschlossen. Er startete weni­ge Minuten später und flog ohne Aufenthalt davon.

»Sei nicht enttäuscht«, tröstete Proscutter-Lop. »Nichts kann gleich auf Anhieb klap­pen. Das nächste Mal hast du sicher mehr Glück.«

»Das hat nur wenig mit Glück oder Pech

37 Tal der tausend Blüten

zu tun. Komm, wir sehen uns die Pflanzung an. Ich muß wissen, warum sie mißtrauisch wurden.«

Sekunden später sah er es.

*

Es war im Grunde die einfachste Sache der Welt, und Atlan schalt sich einen Nar­ren, nicht vorher daran gedacht zu haben.

Der weiche Boden des Feldes war mit den Spuren der Roboter förmlich übersät. Es wa­ren runde und gleichmäßige Eindrücke, nicht sehr tief wegen des geringen Gewichts. Und dazwischen, deutlich sichtbar, waren die Spuren von Atlans Stiefeln.

Nun war alles klar. Die Roboter hatten die fremden Spuren bemerkt und Alarm gege­ben. Im Tal mußte sich ein geflohener Ge­fangener aufhalten, vielleicht sogar mehrere. Deshalb die Verstärkung und die Suchflüge.

Die Lage begann kritisch zu werden. »Das nächste Mal werde ich es versuchen,

und wenn sie mit zehn Gleitern kommen«, versprach Atlan. »Die Zwischenzeit werde ich dazu benützen, den Umgang mit der Droge zu perfektionieren. Ich muß noch viel lernen, um den Kordon unbemerkt durchbre­chen zu können. Und du wirst mir dabei hel­fen, Proscutter.«

»Sicher, aber wie?« »Das hängt von der jeweiligen Situation

ab. Wahrscheinlich wird es genügen, wenn du sie ablenkst, ohne dich in Gefahr zu brin­gen.«

Sie verzichteten auf die Einnahme der Droge und spazierten durch das Blumen­meer zum Versteck Tentakels zurück. Sie erreichten es, als es schon zu dämmern be­gann.

Ein Wirrwarr von Zeichensymbolen emp­fing sie.

Tentakel wollte wissen, was geschehen war, und teilte zugleich mit, daß noch nie­mals zuvor zwei Gleiter über dem Tal er­schienen wären. Er hätte den einen aus der Höhle heraus beobachten können. Er sei ganz tief geflogen, als habe er etwas ge­

sucht. Es gelang Atlan, ihn zu beruhigen. An

diesem Abend verzichteten sie auf das übli­che Lagerfeuer.

*

Die Ruhe, die bisher im Blumental ge­herrscht hatte, schien endgültig vorbei zu sein. Am Mittag des nächsten Tages erschie­nen gleich drei Gleiter, landeten an verschie­denen Stellen und spien Dutzende von Kampfrobotern aus, die sich schnell und sy­stematisch verteilten, um mit einer gründli­chen Durchsuchung zu beginnen.

In aller Eile beseitigten Atlan, Proscutter-Lop und Tentakel alle Spuren, die auf ihre Anwesenheit schließen ließen. Am sorgfäl­tigsten taten sie das in der Umgebung ihrer Höhle, von denen es zum Glück hier mehre­re gab.

Atlan machte sich Vorwürfe wegen seiner Sorglosigkeit. Ihm war es zu verdanken, daß die Spercoiden Flüchtlinge im Tal vermute­ten. Aus diesem Grund verzichtete er auch darauf, den geplanten Fluchtversuch an die­sem Tag durchzuführen. Er blieb bei den Freunden.

Einer der Gleiter war in der Nähe des ehe­maligen Verstecks gelandet. Die Roboter fanden dort natürlich genügend Beweise da­für, daß hier jemand lange Zeit verbracht hatte. Sie entdeckten die Spuren des Pelzi­gen, konnten ihnen aber nur kurze Strecken folgen, da immer wieder felsiges Gelände vorkam, das keine Spuren hinterließ.

Atlan hatte nun auch Tentakel dazu über­reden können, von der Droge zu nehmen. Die drei Gefährten machten sich unsichtbar und beobachteten die Aktionen der Such­trupps von einem Felsen aus, der Sicherheit bot.

Fünf Roboter kamen nach zweistündiger Suche auch zu den Höhlen.

Während drei von ihnen Wache bezogen, durchsuchten die anderen beiden die zahlrei­chen Höhlen, wodurch ihre Aufmerksamkeit geteilt wurde. Die drei Freunde auf dem Fel­

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sen verhielten sich ruhig und abwartend. Ih­re Entdeckung war so gut wie ausgeschlos­sen, wenn die Roboter keine Spezialinstru­mente einsetzten.

»Unsere Wärmeabstrahlung müßten sie eigentlich registrieren können, auch wenn wir unsichtbar sind«, befürchtete Proscutter-Lop.

»Sie scheinen keine derartigen Geräte zu haben«, gab Atlan zurück. »Sieh nur, jetzt kommen sie aus unserer Höhle. Sie haben nichts gefunden.«

»Wir haben ja auch gründlich aufgeräumt …«

Nach zwei Stunden – die fünf Roboter waren weitergegangen und bereits außer Sicht – ließ die Wirkung der Droge nach. Atlan konnte bereits die Umrisse von Tenta­kel erkennen, der dicht neben ihm saß.

Als er an sich heruntersah, stellte er einen ähnlichen Effekt fest. Es wurde Zeit, schon jetzt eine zweite Dosis zu nehmen, denn noch hielten sich die Roboter der Spercoiden im Tal auf.

Immerhin lag die gefährlichste Phase hin­ter ihnen. Es war unwahrscheinlich, daß ein Suchtrupp hierher zurückkehrte. Das ehema­lige Felsversteck Proscutter-Lops nahm die ganze Aufmerksamkeit der Roboter in An­spruch.

»Ihr bleibt besser hier«, teilte Atlan mit, »während ich mich ein wenig umsehe. Sollte eine neue Gefahr auftauchen, kehre ich so­fort zurück.«

»Sei vorsichtig!« riet Proscutter. »Und halte Kontakt!«

Atlan blieb unsichtbar, während er mit ra­sender Geschwindigkeit davoneilte, um die einzelnen Landeplätze der drei Gleiter auf­zusuchen. Er achtete darauf, stets auf felsi­gem Boden zu bleiben, auch wenn er des­halb größere Umwege in Kauf nehmen muß­te.

Seine heimliche Hoffnung erfüllte sich nicht.

Alle drei Gleiter wurden scharf bewacht, obwohl ihre Luken geschlossen und elektro­nisch abgesichert waren. Selbst unsichtbar

Clark Darlton

konnte er nicht in sie eindringen, und wenn er Gewalt angewendet hätte, wäre das sofort von den Robotern bemerkt worden.

»Pech gehabt!« teilte Proscutter-Lop ihm mit, und in seinen Impulsen schwang eine heimliche Freude mit.

»Du glaubst doch nicht etwa …?« »War nur eine Feststellung«, kam es kurz

zurück. Atlan wußte nicht, ob er sich über den

Pelzigen ärgern sollte oder nicht. Er ent­schloß sich, neutral zu bleiben. »Ich nehme an, sie werden das Tal bald wieder verlassen und so schnell nicht wiederkommen. Die Spercoiden haben andere Sorgen, als nach einem Flüchtling zu suchen. Es war eine ein­malige Aktion.«

»Ich hoffe, daß du recht behältst, Atlan.« Atlan hielt sich in der Nähe des Gleiters

auf, der bei dem Felsen gelandet war. Hier wurde noch immer gesucht, weil man Spu­ren gefunden hatte. Allerdings endeten sie alle bei den Felsen des Hügels.

Oder sie verliefen sich im Blumenfeld. Darin hatte sich Atlan auch jetzt verbor­

gen, als er plötzlich ein Nachlassen seiner »übernatürlichen« Fähigkeiten registrierte. Seine Transparenz verlor sich, seine Super­kräfte schwanden.

Er duckte sich und griff hastig zur Brust­tasche, um das Stengelgefäß mit dem Nektar hervorzuziehen.

Auf halbem Weg blieb seine Hand in der Luft hängen.

Er mußte die Droge bei den anderen zu­rückgelassen haben, als sie gemeinsam die zweite Ration zu sich nahmen.

Langsam wurde er sichtbar. Während er vorsichtig in den Pflanzend­

schungel hineinkroch, informierte er Pros­cutter-Lop. Nach einer Reihe von Vorwür­fen teilte dieser mit:

»Also gut, ich werde zu dir kommen und Nektar mitbringen, denn dort, wo du dich jetzt aufhältst, findest du keinen. Die richti­gen Blüten gibt es weiter südlich, und zwi­schen dir und ihnen sind Roboter. Bleibe al­so, wo du bist. Ich finde dich schon.«

39 Tal der tausend Blüten

»Beeile dich, sonst erwischen sie mich noch.«

Proscutter-Lop gab keine Antwort, aber Atlan konnte seine Handlungen trotzdem in jeder Phase verfolgen. Der Pelzige unter­richtete zuerst einmal Tentakel von seiner Absicht, was einige Zeit in Anspruch nahm. Dann schluckte er den Nektar und behielt den Hohlstengel in der Hand, ehe er losrann­te.

Inzwischen sammelten sich die Roboter, die zu dem nächsten Gleiter gehörten. Die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen, den ge­suchten Flüchtling zu finden, schien sie nicht weiter zu berühren. Wenn sie aller­dings jetzt auf den Gedanken kamen, die nä­here Umgebung noch einmal abzusuchen, konnte das gefährlich werden.

Atlan lag regungslos unter dem schützen­den Blütendach und hielt mit Proscutter-Lop Verbindung, der sich schnell näherte. Gleichzeitig ließ er die Roboter nicht aus den Augen, die noch auf Nachzügler zu war­ten schienen.

Und dann konnte Atlan ihre mechani­schen Schritte hören.

Sie näherten sich genau in seiner Rich­tung und kamen von Süden.

*

»Keine Sorge, ich werde sie ablenken«, griff Proscutter-Lop ein, ehe Atlan seinen Entschluß, aufzuspringen und zu fliehen, in die Tat umsetzen konnte. »Sie würden dich kriegen.«

»Und du? Deine Ruhe im Tal wäre verlo­ren.«

»Sie sehen mich nicht.« »Roboter akzeptieren keine Geister.« »Bin gleich in deiner Nähe. Wie weit sind

sie fort?« Atlan lauschte. Das Geräusch war nicht

sehr entfernt, vielleicht noch hundert Meter. Er teilte es dem Pelzigen mit. Er fügte hin­zu:

»Nichts übereilen, Proscutter! Es ist mög­lich, daß sie dicht an mir vorbeigehen, ohne

mich zu bemerken. Die Pflanzen versuchen mich zu schützen.«

In der Tat neigten sich die großen Blüten der hochgewachsenen Blumen so zu ihm herab, daß sie einen richtigen Schirm bilde­ten, der ihn vor den suchenden Blicken der Roboter verbarg. Es waren nur zwei von ih­nen, die nun näher kamen, aber doch nicht ganz in der Richtung, in der Atlan am Boden lag.

Wenn er allerdings Spuren hinterlassen hatte … Der Boden war ziemlich weich an dieser Stelle.

Auf der anderen Seite raschelte es leise. Atlan spürte plötzlich den Pelz Proscutter-Lops an seiner Hand.

»Hier, der Nektar. Vielleicht haben wir Glück.«

Das Stengelgefäß wurde erst sichtbar, als er es übernahm. Hastig löste er den Mark­pfropfen und nahm einen Schluck, um sich dann unmittelbar danach sofort auf Unsicht­barkeit zu konzentrieren.

Ewige Sekunden dauerte es, bis er sich zu entstofflichen begann. Das Gewicht seines Körpers drückte sich aber noch immer in den weichen Boden. Ein Zuschauer hätte be­obachten können, wie sich die flache Vertie­fung mit jeder Körperbewegung des Un­sichtbaren leicht veränderte.

Die beiden Roboter gingen knapp drei Meter an dem Blumenversteck vorbei und erreichten den Gleiter, dessen Luke sich öff­nete. Die Besatzung stieg ein, und zwar so dicht hintereinander, daß selbst ein Unsicht­barer keine Chance gehabt hätte, sich unbe­merkt unter sie zu mischen.

»Ich glaube nicht, daß sie Verdacht ge­schöpft haben. Sie halten sich immer so dicht zusammen.«

»Mag sein«, gab Proscutter-Lop zurück. »Jedenfalls wirst du deine Schwierigkeiten haben, wenn es soweit ist. Mir kommt es bald so vor, als wüßten sie um die Verwir­rung des Nektars. Sie handeln mit einer Vor­sicht, als hätten sie es täglich mit unsichtba­ren Gegnern zu tun.«

Der Gedanke war bei Atlan auch schon

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aufgetaucht, aber er hatte ihn wieder fallen­lassen. Roboter handelten nach anderen Ge­setzen als organische Intelligenzen. Jede Be­wegung, die sie ausführten, galt nur der Zweckmäßigkeit und Zeiteinsparung.

Der Gleiter stieg langsam in die Höhe, nahm Kurs nach Süden und traf sich mit den anderen beiden. Wenig später waren sie hin­ter dem Gebirge verschwunden.

Atlan und Proscutter-Lop wurden wieder sichtbar.

»Tentakel wird in Sorge sein, Proscutter. Wir sollten ihn nicht zu lange allein lassen.«

Sie veranstalteten ein regelrechtes Wett­rennen zurück zu der Höhle und begannen mit der Suche nach Tentakel, der allem An­schein nach Freude daran zu finden schien, von der Droge zu naschen und sich unsicht­bar zu machen.

Sie vergaßen ihre Sorgen. »Wir machen uns ebenfalls unsichtbar«,

schlug Proscutter-Lop vor. »Wollen doch mal sehen, ob wir den Burschen nicht auf­spüren. Ist übrigens eine gute Übung. Tenta­kels Fehler solltest du dann später nicht wie­derholen …«

Atlan sah Proscutter-Lops Fußspuren aus dem Nichts entstehen und auf dem felsigen Boden wieder verschwinden. Er selbst blieb stehen und beobachtete nur. Da sie den Platz vor den Höhlen beim Auftauchen der Gleiter gesäubert hatten, war es verhältnismäßig einfach, Tentakels Fußabdrücke zu verfol­gen, soweit er sich auf weichem Boden be­wegt hatte. Jedenfalls hielt er sich nicht mehr auf dem Felsen auf, der als Beobach­tungsposten gedient hatte.

Seine Spuren führten in die Höhle hinein und wieder heraus. Sie endeten ein Stück weiter am Bach. Am anderen Ufer setzten sie sich nicht fort.

Der alte Trick, dachte Atlan. Er verließ nun doch seinen Platz und ging,

ohne Spuren zu hinterlassen, bis zu einer kleinen, felsigen Anhöhe, von der aus er den Lauf des Baches ein gutes Stück nach bei­den Richtungen übersehen konnte. Das Was­ser floß hier nicht so schnell und bildete

Clark Darlton

kaum Wirbel. Atlan mußte grinsen, als er Tentakel ent­

deckte. »Im Bach«, teilte er Proscutter-Lop mit.

»Wo steckst du?« »Habe die Wasserstrudel an der falschen

Stelle auch schon gesehen«, kam es zurück. »Tentakel spaziert jetzt auf uns zu. Er sieht uns nicht. Wir packen ihn von beiden Seiten, ich komme von Süden.«

Sie blieben in Kontakt und koordinierten ihre Bewegungen. Als sie ihr Opfer in der Zange hatten, schien es etwas zu ahnen. Tentakel blieb stehen und nahm wohl an, nichts könne ihn nun mehr verraten.

Dabei war deutlich zu sehen, wie das ru­hig fließende Wasser sich um zwei unsicht­bare Hindernisse herumbewegte.

Tentakels Beine. Sie packten ihn auf Kommando und zo­

gen ihn an Land. Vor Schreck wurde Tentakel sofort sicht­

bar und begann mit den langen Armen zu fuchteln, dann aber formte er das symboli­sche Zeichen für seine Niederlage und ergab sich seinen Freunden.

Viel hatte Atlan bei diesem Spiel zwar nicht hinzugelernt, aber er hoffte, daß Tenta­kel und Proscutter-Lop in Zukunft vorsichti­ger sein würden und den Vorteil des Un­sichtbarseins nicht überschätzten.

7.

Zwei Tage vergingen, ohne daß etwas ge­schah. Atlan verbrachte die meiste Zeit bei der Jungpflanzung und prägte sich jeden Fußbreit ein. Diesmal würde er vorbereitet sein.

Der Gleiter, der die jungen Pflanzen brachte, schien immer an der gleichen Stelle zu landen. Wenn diese Gewohnheit beibe­halten wurde, mußte es einen Weg geben, unbemerkt in ihn einzudringen und eventu­elle Wachen zu umgehen, ohne Spuren zu hinterlassen.

Das mit den Spuren war das größte Pro­blem. Seine unvollkommene Entstofflichung

41 Tal der tausend Blüten

nützte ihm nichts, wenn das Körpergewicht blieb und die Stiefel in den weichen Boden drückte.

Es gab vereinzelt große und flache Steine, die wahllos herumlagen. An einer Stelle wa­ren sie aufgehäuft worden. Wahrscheinlich hatten die Roboter sie eingesammelt und dorthin transportiert, um die eigentliche An­pflanzung freizuhalten.

Atlan machte sich an die Arbeit, die ihm dank der Drogenkräfte nicht schwerfiel. Hier und da legte er einen der Steine zwischen zwei bereits vorhandene, wenn ihm der Ab­stand zu groß erschien. So entstand allmäh­lich eine Art Brücke, die keine Spuren hin­terließ, wenn man von Stein zu Stein sprang und den weichen Boden nicht berührte.

Befriedigt betrachtete Atlan am Abend des zweiten Tages sein Werk. Er war nun si­cher, unbemerkt bis zum Gleiter gelangen zu können. Es kam lediglich darauf an, daß die Roboter die Einstiegsluke nicht zu scharf be­wachten. Und vor allen Dingen war ent­scheidend, daß der Gleiter an der alten Stelle niederging.

Im gemütlichen Dauerlauf kehrte er zu den Höhlen zurück.

Noch ehe er sie erreichen konnte, meldete sich Proscutter-Lop ziemlich aufgeregt:

»Tentakel ist verschwunden, Atlan! Komm schnell!«

»Was heißt ›verschwunden‹? Er hat sich wieder mal unsichtbar gemacht, nehme ich an, um mit uns Verstecken zu spielen.«

»Diesmal nicht! Wo bist du jetzt?« »Bin gleich da!« Atlan erhöhte sein Tempo und sah eine

Minute später den Pelzigen vor der Höhle stehen.

»Kannst du mir erklären …?«, begann er, wurde aber sofort von Proscutter-Lop unter­brochen:

»Du hast insofern recht, daß Tentakel spielen wollte. Ich sah, wie er das Gefäß mit seinem Nektar ansetzte und den üblichen Schluck nehmen wollte. Dabei muß ihm ein Mißgeschick passiert sein, vielleicht hat er sich nur verschluckt. Jedenfalls blieb in dem

Stengel kaum etwas übrig. Er hat den gan­zen Vorrat auf einmal getrunken, und zehn Sekunden später war er spurlos verschwun­den.«

Atlan setzte sich kopfschüttelnd. »Wir ha­ben ihn gewarnt. Ob er es absichtlich getan hat?«

»Niemals, dazu hatte er viel zuviel Angst.«

Atlan zuckte mit den Schultern. Schul­tern.

»Wir wissen ja, was dann passiert. Er wird jetzt bei den Stationen im schwarzen Bereich sein und sich den Kopf zerbrechen, wie er wieder zurückkommt. Du wirst se­hen: In ein oder zwei Tagen taucht er wieder auf. Länger waren wir auch nicht ›drüben‹.«

»Es kann ja auch anders sein«, befürchte­te Proscutter-Lop.

Sie saßen am Feuer und starrten in die Flammen.

Morgen mußte der Gleiter eintreffen, wenn der Pflanzenplan eingehalten wurde. Atlan wollte seine Flucht nicht noch einmal aufschieben. Er konnte nicht warten, bis Tentakel zurückkehrte.

Proscutter-Lop las seine Gedanken. »Keine Sorge«, teilte er mit. »Ich lasse

dich nicht im Stich. Ich werde dir morgen helfen. Wenn alles vorbei ist, kümmere ich mich um Tentakel.«

»Sei vorsichtig«, warnte Atlan, der die Absicht des Pelzigen ahnte. »Warte ab, bis er wieder zurückkommt. Mir geht es wie dir, ich habe ihn auch liebgewonnen, aber helfen kannst du ihm jetzt kaum.«

»Du wirst es nicht mehr erfahren«, pro­phezeite sein Gegenüber.

*

Am anderen Morgen regnete es. Beunruhigt sah Atlan hinauf in den be­

wölkten Himmel, an dem sich nur wenige blaue Stellen zeigten. Regen bedeutete aber­mals einen Aufschub, denn die Wassertrop­fen an seinem unsichtbaren Körper würden sichtbar bleiben und ihn sofort verraten.

42

Proscutter-Lop blieb zuversichtlich: »Das kenne ich. Es regnet nie länger als

eine Stunde, und es hat bereits in der Nacht begonnen. Du wirst sehen, in ein paar Stun­den ist der Himmel strahlend blau und der Boden wieder trocken.«

»Hoffentlich!« Atlan schob den gefüllten Hohlstengel in die Brusttasche und erneuerte seinen Fruchtvorrat. »Wir werden so vorge­hen, wie wir es besprachen. Wichtig ist stän­diger Kontakt. Ich werde dir stets meinen Standort bekanntgeben, damit du dein Ab­lenkungsmanöver gezielt durchführen kannst.«

»Du kannst dich auf mich verlassen, au­ßerdem ist mir alles egal. Mit der Ruhe im Tal ist es ohnehin nun vorbei. Aber solange es den Nektar gibt, werden sie mich niemals einfangen.«

Atlan sah ihn nachdenklich an und schwieg.

Seine stille Hoffnung, daß Tentakel wäh­rend der Nacht zurückkehrte, hatte sich nicht erfüllt. Das liebenswerte Wesen von einer fremden und friedlichen Welt war und blieb verschwunden. Blieb nur zu hoffen, daß man es auf der Zwielichtwelt im schwarzen Be­reich nicht entdeckte und es eines Tages un­versehrt ins Tal zurückversetzt wurde.

»Es ist besser, wir gehen schon jetzt«, schlug Proscutter-Lop vor. »Der Gleiter dürfte gegen Mittag eintreffen, wenn sie ih­ren Zeitplan nicht geändert haben.«

Atlan nickte nur, warf einen letzten Blick auf die Höhle, in der er sichere Nächte ver­bracht hatte, und ging los. Der Pelzige folgte ihm und holte ihn ein. Sie hatten auf die Ein­nahme der Droge verzichtet, da noch viel Zeit blieb.

»Was wirst du tun, wenn der Gleiter nach Sarccoth fliegt und dort bleibt? Du bist von dort geflohen und kehrst dorthin zurück.«

»Diesmal mit der Droge«, erinnerte ihn Atlan. »Sie muß reichen, bis es mir gelun­gen ist, mich in einem Raumschiff zu ver­stecken, das kurz vor dem Start steht. Wo immer es auch hinfliegt, es bringt mich von Karoque fort.«

Clark Darlton

»Was noch lange nicht die Freiheit bedeu­tet!«

»Zumindest einen Schritt in Richtung Freiheit, mein Freund.«

Sie gingen nicht sehr schnell und erreich­ten die Anpflanzung kurz vor Mittag, als die Sonne fast am höchsten stand.

»Jetzt müssen wir uns trennen, Proscutter-Lop, damit wir bereit sind. Ich werde drüben bei dem Felsen sein. Von ihm aus kann ich auf drei verschiedenen Wegen bis zum Rand der Pflanzung gelangen, ohne Spuren zu hinterlassen. Dort aber wird der Gleiter nach den bisherigen Erfahrungen landen.«

»Und ich warte auf der anderen Seite, nach Norden zu. Sobald deine Aktion be­ginnt oder du entdeckt wirst, beginne ich mit dem Ablenkungsmanöver.«

Atlan nahm die Hand des Pelzigen. »Es war gut, dich zu treffen, mein Freund.

Wie gern würde ich deinem versklavten Volk helfen, aber es ist mir unmöglich. Doch kannst du dich darauf verlassen, daß mein Kampf gegen den Tyrannen Sperco fortgesetzt wird. Vielleicht bringe ich dei­nem Volk am Ende doch noch die Freiheit.«

»Ich wünsche dir alles Gute, Atlan, und grüße dein Volk, wenn du es wiederfindest.«

Der Händedruck zwischen den so ver­schiedenen Lebewesen besiegelte eine treue Freundschaft. Keiner würde je den anderen vergessen, was immer auch geschah.

Sie trennten sich und nahmen ihre Aus­gangspositionen ein.

Proscutter-Lop nahm den schmalen Pfad durch die hohen Pflanzen, damit seine Spu­ren nicht so schnell entdeckt wurden, Atlan machte einen Umweg, um über die Fels­brocken gehen zu können. So erreichte er den großen Gesteinsbrocken, der mit seinen zerklüfteten Spalten beste Deckung bot, auch wenn er sich noch nicht gleich unsicht­bar machte.

»So, ich sitze bequem. Kannst du mich sehen?«

Atlan suchte vergeblich nach dem Pelzi­gen. Er sah nur das farbenprächtige Blumen­meer und empfing die sanften, beruhigenden

43 Tal der tausend Blüten

Mentalimpulse der Pflanzen. »Du bist schon jetzt unsichtbar«, scherzte

er. »Aber du nicht. Der Gleiter kann jeden

Moment eintreffen.« Atlan fand eine schmale Spalte und

quetschte sich hinein. »Na, und jetzt?« »So ist es besser, Atlan. Nun können sie

kommen.« Und sie kamen.

*

Wieder war es der große Gleiter, der über den Bergen erschien und, ohne sich aufzu­halten oder das Tal einmal zu umkreisen, an der vermuteten Stelle niederging. Die Luke öffnete sich, zwei Dutzend Roboter stiegen aus.

Die Hälfte von ihnen begann sofort damit, die Pflanzenlöcher auszuheben, während die restlichen die Kästen mit den Schößlingen am Rand des Feldes verteilten.

Zwei Wachen blieben beim Gleiter zu­rück, rechts und links von der offenstehen­den Luke postiert. Diese Vorsichtsmaßnah­me schien allerdings nur Routine zu sein. Man hatte allem Anschein nach die Vorfälle der Vergangenheit vergessen oder maß ih­nen keine besondere Bedeutung mehr bei.

Atlan nahm einen Schluck Nektar. Als er die Wirkung zu spüren begann, teilte er Proscutter-Lop mit: »Es ist soweit, ich gehe jetzt.«

»Viel Glück!« kam es zurück. Über seine flache Steinbrücke hinweg ge­

langte der unsichtbare Atlan bis ganz in die Nähe der arbeitenden Roboter, die bereits damit begannen, die Jungpflanzen einzuset­zen. Ihre Tätigkeit verriet, daß auf Karoque neue Söldner für den Tyrannen eingetroffen waren. Söldner, in denen nur das Böse vor­handen war, weil ihre guten Eigenschaften hier im Tal der Blumen zurückblieben.

Für einen Augenblick kam Atlan wieder der Gedanke, daß die Spercoiden um die Ei­genschaften des Nektars wußten und die

Blumen nur deshalb nicht gleich vernichte­ten. Einiges sprach dafür, anderes wiederum dagegen. Ihre Vorsichtsmaßnahmen wären sicherlich strenger gewesen, wenn sie die Wirkungen der Droge erkannt hätten.

Zehn Meter vom Gleiter entfernt blieb er stehen, denn die beiden Wachroboter erhiel­ten Verstärkung. Sie waren jetzt insgesamt acht, die in engem Halbkreis die Rampe blockierten, die zur Luke hinaufführte.

Atlan schätzte den Abstand zwischen den einzelnen Robotern ab.

»Proscutter …?« »Ja, ich sehe schon, was los ist. Du

kommst nicht durch?« »Es scheint unmöglich zu sein. Wenn du

sie weglocken und ablenken könntest, würde ich einen Moment ihrer Unachtsamkeit nüt­zen können.«

»Warte ein paar Sekunden, aber achte nicht auf mich. Sie werden mich verfolgen. Sieh du zu, daß du in den Gleiter kommst. Der Laderaum, in dem die Blumen standen, dürfte für deine Zwecke am besten geeignet sein.«

»Danke für den Tip. Gib Bescheid, wenn es soweit ist.«

Der Stein, auf dem er stand, war nicht sehr groß. Er mußte ständig auf sein Gleich­gewicht achten, um nicht mit einem Fuß in den weichen Boden zu treten, der ihn um­gab. Sein Fußabdruck, der aus dem Nichts heraus entstand, würde sofort bemerkt wer­den.

»Achtung! Jetzt bringe ich sie ein bißchen durcheinander!«

»Fertig!« bestätigte Atlan. Er war neugierig genug, jetzt weniger auf

den Gleiter und die Wachroboter zu achten. Er blickte zurück in die Richtung, in der er Proscutter-Lop vermutete. Aber der Pelzige hatte seinen Standort gewechselt. Unsichtbar war er mitten in das Feld hineinmarschiert und hatte prächtige Spuren in dem weichen Boden hinterlassen.

Die Pflanzenroboter gerieten sofort in hel­le Aufregung. Sie gaben Alarm und began­nen mit der Jagd auf das Phantom, wobei sie

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ihre Arbeit im Stich ließen. Die Wachroboter zögerten noch, aber

dann eilten sechs von ihnen den Arbeitern zu Hilfe. Atlan konnte beobachten, daß Proscutter-Lop sich für wenige Sekunden sichtbar machte und in nördliche Richtung floh, aber wieder auf dem freien Feld ver­schwand, als die Robotsoldaten ihre ersten Strahlschüsse auf ihn abgaben.

Für Atlan wurde es nun höchste Zeit, sein Vorhaben durchzuführen. Er sprang drei Steine weiter und stand vor der Rampe. Die beiden verbliebenen Roboter verfolgten die Treibjagd auf dem Feld. Wahrscheinlich rechneten sie mit nur einem Unsichtbaren im Tal und schlossen die Möglichkeit aus, daß es zwei oder gar mehrere von ihnen gab.

Der Abstand zwischen ihnen genügte. Atlan trat vorsichtig und behutsam auf,

um kein Geräusch zu verursachen, das ihr Mißtrauen geweckt hätte. Schritt für Schritt ging er die Rampe hoch, zwängte sich durch die nur noch halb geöffnete Luke und er­reichte durch die kleine Schleusenkammer den Innenkorridor.

Ein Blick nach rechts ließ ihn in die Kom­mandozentrale sehen.

Dort entwickelte sich eine rege Tätigkeit. Die beiden Steuerroboter bedienten Kontrol­len und standen offenbar mit einer Befehls­stelle in Verbindung. Atlan vermutete sofort, daß der Stützpunkt Sarccoth alarmiert wur­de. In wenigen Minuten würde Verstärkung eintreffen und das Tal abermals gründlich durchsucht werden.

Armer Proscutter-Lop! Hoffentlich tat er das Richtige …

Er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und fand den Abstieg in die La­deräume. Es waren keine Töpfe mit Pflan­zen mehr vorhanden, dafür auch kein geeig­netes Versteck. Er würde sich also fast stän­dig erneut unsichtbar machen müssen, um nicht entdeckt zu werden.

Zum Glück hielt die Wirkung einer Nek­tardosierung mehrere Stunden an. Je weni­ger er sich anstrengen mußte, desto länger.

Er hockte sich in eine Ecke des übersicht-

Clark Darlton

lichen Raumes und konzentrierte sich wie­der auf Proscutter-Lop, um seine Aktion verfolgen zu können.

*

Proscutter-Lop fühlte sich seinen Verfol­gern weit überlegen und foppte sie nach Herzenslust. Da ihm die Sache Spaß zu ma­chen begann und er ohnehin damit rechnen mußte, daß die Zeit des friedvollen Lebens im Tal ein für allemal beendet war, wollte er die Gelegenheit auch nutzen.

Als er sah – durch Atlans Augen gewis­sermaßen –, daß der Freund im Gleiter ver­schwand, lockte er seine Verfolger weiter nach Norden, um Atlan genügend Zeit zu geben, ein sicheres Versteck zu finden.

Er machte sich mal wieder sichtbar, um den Jagdeifer der Roboter aufzufrischen. In solchen Augenblicken raste er dann mit un­vorstellbarer Geschwindigkeit dahin und ließ seine Verfolger weit hinter sich zurück. Wenn der Abstand genügend groß war, stell­te er sich so hin, daß er weithin sichtbar blieb.

Dieses Spiel wiederholte er mehrmals, ehe er wieder einen Schluck Nektar zu sich nehmen mußte. Als sich die Wirkung ein­stellte, sah er über den südlichen Bergen vier Gleiter auftauchen, die sich schnell verteil­ten und zur Landung ansetzten. Sie mußten mit den Robotern im Tal Kontakt halten, denn sie landeten so, daß sie Proscutter-Lop einkesselten.

Aus jedem Gleiter quollen an die vier Dutzend Kampfroboter.

»Jetzt ist es soweit, Atlan«, teilte er mit, als er Kontakt erhielt. »Mehr als hundert sind hinter mir her, und ich werde ihnen kaum entkommen können, auch wenn ich unsichtbar bin. Ich werde in den schwarzen Bereich flüchten.«

»Du bist wahnsinnig!« warnte Atlan, der die Absicht des Pelzigen schon lange geahnt hatte. »Vielleicht kommst du ganz woan­dershin.«

»Ich muß Tentakel suchen, das weißt du

45 Tal der tausend Blüten

genau! Ich kann ihn nicht allein lassen, er hat keinerlei Erfahrungen. Er ist ein Freund!«

»Ich kann dich nicht daran hindern«, regi­strierte Atlan. »Um mich brauchst du dich nicht mehr zu kümmern. Viel Glück, Pros­cutter!«

»Ebenfalls«, kam es kurz zurück, dann er­losch jeder Kontakt.

*

Da die Verbindung mit Proscutter abge­brochen war, konnte Atlan auch die Ge­schehnisse im Tal nicht mehr länger verfol­gen. Er hörte, daß die Arbeitsroboter in den Gleiter zurückkehrten und sich in ihren Auf­enthaltsraum begaben.

Auch die Soldaten kamen wieder an Bord. Die Luke wurde geschlossen, und wenig später startete der Gleiter.

Außer einem leisen und gleichmäßigen Summen gab es kaum Geräusche, denn alle Roboter – bis auf jene in der Zentrale – hat­ten ihre Ruhestellung eingenommen. Atlan stand auf und versuchte, ein besseres Ver­steck zu finden. Es gab außer dem großen Laderaum noch kleine Nebenräume, eigent­lich mehr Nischen und Fächer. In ihnen wur­den wahrscheinlich sonst Geräte oder Werk­zeuge aufbewahrt, aber sie waren jetzt leer und außerdem durch Schlupflöcher verbun­den, die einen Wechsel des jeweiligen Ver­stecks ermöglichten. Atlan probierte, sich hindurchzuzwängen, und es gelang.

Beruhigt ließ er sich in einem der »Schränke« nieder und aß von dem Obst, das er mitgenommen hatte. Er verzichtete auf die Einnahme der Droge, als deren Wir­kung allmählich nachließ. Er mußte sparsam mit seinem Vorrat umgehen und den Nektar nur dann einsetzen, wenn es unbedingt er­forderlich wurde.

Der Gleiter flog nach Süden, in Richtung des Stützpunkts, während im Tal die Hetz­jagd auf Proscutter-Lop ihren Höhepunkt er­reichte.

Atlan blieb Zeit, über die Zukunft nachzu­

grübeln. Das Talabenteuer hatte wichtige Erkennt­

nisse über die Spercoiden gebracht, daran konnte kein Zweifel bestehen. Er wußte nun viel mehr über sie und ihre Motive als vor­her. Seine Flucht hatte sich also gelohnt.

Nun kam es nur noch darauf an, bei der Landung in Sarccoth unbemerkt zu bleiben und den Gleiter unbehelligt verlassen zu können. Unsichtbar würde es ihm dann ge­lingen, ein startbereites Raumschiff zu fin­den und in es einzudringen.

Alles weitere mußte er dann der jeweili­gen Entwicklung überlassen. Mit seinen von der Droge verliehenen Fähigkeiten gelang es ihm vielleicht sogar, das Schiff der Spercoi­den in seine Gewalt zu bringen und den Pla­neten Loors und damit seine Freunde wie­derzufinden.

Er seufzte. Es hatte wenig Sinn, Spekulationen anzu­

stellen. Er mußte warten, was weiter gesch­ah, und sich dann darauf einstellen. Die sich ergebende Situation würde seine weiteren Handlungen bestimmen, nicht er.

Nach einer halben Stunde veränderte sich das Fluggeräusch. Der Gleiter leitete die Landung ein.

Dem Manöver nach zu urteilen, schien sie ein wenig kompliziert zu sein, denn der An­flug wurde mehrmals wiederholt. Vorsichts­halber nahm Atlan einen Schluck des Nek­tars und verbarg das Gefäß wieder sorgfältig in der Brusttasche der Lederkombination. Vielleicht kamen die Roboter und brachten neue Pflanzen, um sie in ein anderes Tal zu fliegen. Zweimal kamen sie am selben Tag nie in das Tal, wenn Tentakels Angaben stimmten.

Schritte kündigten an, daß die ruhenden Roboter in Bewegung gerieten, nachdem der Gleiter mit einem merkwürdigen schaben­den Geräusch endlich gelandet war und der Antrieb verstummte. Atlan blieb in seinem Versteck, vorerst wenigstens.

Wenn er sich wirklich auf dem Raumha­fen von Sarccoth befand, verlor er keine Zeit, wenn er vorsichtig blieb. Die Luke des

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Gleiters würde er jederzeit ohne Gefahr öff­nen können, solange kein Roboter an Bord war.

Die Schrittgeräusche wurden leiser, ver­stummten jedoch nicht völlig, aber sie klan­gen dumpfer und weiter entfernt. Atlan konnte sich diese Tatsache nur damit erklä­ren, daß der Gleiter nicht auf freiem Gelän­de, sondern in einer Halle oder einem Han­gar gelandet war. Es konnte sich nur um einen Hangar des Stützpunkts handeln. Hier würde es ihm kaum schwerfallen, ein neues Versteck und dann ein startbereites Raum­schiff zu finden. Bei seiner Genügsamkeit würde der Obstvorrat für zwei bis drei Tage reichen. Hinzu kam, daß er eine stark sätti­gende Wirkung des Nektars registrierte. Er verspürte kaum noch Hunger.

Dafür aber Müdigkeit und Schlaf. Ein paar Stunden Ruhe würden nicht schaden.

*

Proscutter-Lop entwickelte einen regel­rechten Spieltrieb.

Immer wieder verzichtete er auf seine Un­sichtbarkeit und foppte die Verfolger mit seiner rasenden Flucht quer durch das Tal. Und wenn sie dann glaubten, ihn ganz sicher gestellt zu haben, verschwand er vor ihren Augen.

Aber die Roboter des Tyrannen Sperco lernten schnell, vielleicht erhielten sie auch neue Anweisungen von ihren Programmie­rern, die mit ihnen in Kontakt standen und ihre Aktionen verfolgten und leiteten.

Systematisch kreisten sie ihr Opfer ein. Proscutter-Lop bemerkte es erst, als es

fast zu spät war. Ohne jede Vorsicht hatte er sich auf einen

der zahlreichen Felsbrocken zurückgezogen, die überall herumlagen und beste Aussichts­punkte darstellten. Umgekehrt konnte ihn dort natürlich auch jeder sehen.

Die Roboter kamen von allen Seiten, ob­wohl er sich wieder unsichtbar gemacht hat­te. Sie fielen nicht mehr auf den Trick her­ein.

Clark Darlton

Proscutter-Lop konnte bemerken, daß sie immer enger zusammenrückten und bald einen lückenlosen Kordon bildeten. Da kam er nicht mehr hindurch, auch wenn er zu springen versuchte. Die herbeieilenden Fuß­abdrücke würden sie bei dem aufgeweichten Gelände sofort bemerken und das konzen­trierte Energiefeuer auf den Unsichtbaren er­öffnen.

Nun blieb ihm keine Wahl mehr, ob er wollte oder nicht.

Behutsam nahm er sein Gefäß mit dem Nektar und vergewisserte sich, daß er das zweite noch bei sich trug. Es sollte ihm die Rückkehr ins Tal ermöglichen, obwohl er davon überzeugt war, daß sie von selbst er­folgen würde.

Der Ring der Roboter war nach allen Sei­ten geschlossen und hundert Meter von dem Felsen entfernt. Proscutter-Lop setzte den Stengel mit der zähflüssigen Masse an. Mit mehreren Schlucken nahm er sie völlig in sich auf, warf den leeren Stengel fort und setzte sich, um in aller Ruhe abzuwarten, was nun geschah.

Von der vorherigen Ration her noch im­mer transparent, fühlte er sich einigermaßen sicher. Aber die Roboter kamen schnell nä­her. Es wurde Zeit, daß die Wirkung der Ge­waltkur eintrat.

Das erste, was er spürte, waren die ver­stärkten Mentalimpulse der Pflanzen, die in einiger Entfernung wuchsen. In seiner un­mittelbaren Umgebung gab es nur Obstbäu­me, und die schickten keinerlei Impulse aus.

Dann kam die Veränderung bei ihm selbst.

Zuerst fühlte er sich leicht und unbe­schwert, als habe er sich einen Rausch ein­gehandelt. Er bekämpfte einen leichten Schwindel, der ihn zu befallen drohte, aber da er auf dem Felsen saß, konnte ihm nicht viel passieren. Die nahenden Roboter sah er nur noch verschwommen, bis sie zu einer unkenntlichen metallenen Masse verschmol­zen.

Der einseitige Kontakt zu den Pflanzen brach ab.

47 Tal der tausend Blüten

Der Sturz in die Lichtlosigkeit des schwarzen Bereichs begann …

*

Als Atlan erwachte, war um ihn herum al­les ruhig und still. Er fühlte sich erfrischt und voller Zuversicht. Er lauschte, aber es war nicht viel zu hören. Von weit her kamen Geräusche, aber sie hatten nichts mit dem Gleiter zu tun. Ihm war, als vibriere der Un­tergrund leicht, auf dem der Gleiter stand.

Das konnte das ferne Laufen von Genera­toren sein, die Maschinen und Lifte eines der riesigen Hangars von Sarccoth betrieben, die tief unter der Oberfläche verborgen la­gen. Seine einzige Chance bestand darin, sich irgendwo in diesem Hangar zu verber­gen und zu warten, bis eines der darin unter­gebrachten Schiffe zum Start vorbereitet wurde.

Er schüttelte den Inhalt seines Nektarge­fäßes. Nun, für einige Portionen der Droge würde es noch reichen, trotzdem wollte er sparsam damit umgehen. Man konnte nie wissen, wie oft er sie noch benötigte.

Er aß eine der Früchte, dann kroch er aus seinem Versteck. Das erste, was er erblickte, waren drei weitere Gleiter, die neben dem seinen standen. Die feste Verankerung war ungewöhnlich, außerdem erschien ihm der Raum verhältnismäßig klein für eine Unter­irdische Anlage. Das Licht war, wie erwar­tet, künstlichen Ursprungs. Es kam aus einer runden Deckenleuchte.

Vielleicht ein Nebenraum des eigentli­chen Hangars …?

Unschlüssig verharrte er an der Schwelle der Ausstiegluke, die er ohne Schwierigkei­ten geöffnet hatte. Es war still, obwohl das Vibrieren nicht aufgehört hatte. Er lauschte auf weitere Geräusche.

Aber Geräusche oder nicht – er mußte hier heraus! Früher oder später wurden wie­der Pflanzen verladen, und dann war eine Entdeckung unvermeidlich. Er mußte sich ein besseres Versteck suchen.

Vorsichtig schlich er vor bis zu einer Me­

talltür, die der großen Einflugluke gegen­überlag. Wenn er sich in einem unterirdi­schen Hangar aufhielt, hätte diese Luke ei­gentlich oben sein müssen, aber vielleicht handelte es sich um einen Versenkhangar. Das würde das komplizierte Landemanöver erklären.

Er öffnete die Tür und stand auf einem breiten Korridor.

Vergeblich suchte er in seiner Erinnerung danach, wo er diese Art Korridor schon ge­sehen hatte. Die leichte Rundung war unver­kennbar. Es gab keinen ersichtlichen Grund dafür, in einem Hangar einen Gang anzule­gen, der im Kreis herumführte.

Das Vibrieren unter seinen Füßen hatte sich verstärkt und es sorgte dafür, daß die Erkenntnis mit einem Schlag kam. Über sich hörte er Schritte – die mechanisch gleichmä­ßigen Schritte von Robotern.

Dazwischen andere, nicht so gleichmäßig und automatisch.

Spercoiden …? Er hielt sich nicht in einem unterirdischen

Hangar auf, sondern befand sich im Innern eines Raumschiffs, das der Flotte des Tyran­nen Sperco angehörte. Und allem Anschein nach bereitete sich dieses Schiff auf den Start vor.

Atlan wußte nicht, ob er besorgt oder er­leichtert sein sollte. Sein Ziel war es zwar gewesen, in ein solches Schiff zu gelangen, aber er hätte es sich lieber ausgesucht. Eine Art Transporter wäre recht gewesen. Dies hier aber konnte auch ein Kriegsschiff sein.

Er überlegte, ob er noch versuchen sollte, von Bord zu kommen, ehe der Start erfolgte, entschied sich aber dann dagegen. Hier im unteren Teil des Schiffes fühlte er sich eini­germaßen sicher, besonders unmittelbar vor einem Start. Soweit er sich erinnern konnte, gab es auch Sichtluken. Bei seinem Aben­teuer im schwarzen Bereich hatte er sie be­merkt.

Er ließ die Tür zum Bordhangar offen, um sich schnell wieder in das Versteck zurück­ziehen zu können, falls jemand kam. Schon nach wenigen Schritten erreichte er einen

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Nebengang, der in Richtung Außenhülle führte. Er endete in einer Verteilerkammer mit drei Türen. Über der mittleren, einem Notausgang für Welten mit atembarer At­mosphäre, war die gesuchte Sichtluke.

Zu seiner Überraschung stand das Schiff nicht auf dem Raumhafen von Sarccoth, sondern in einer wilden und felsigen Land­schaft, die am Horizont von einem hohen Gebirge begrenzt wurde.

Er hätte es sich gleich denken können! Das Landemanöver des Gleiters wäre in Sar­ccoth anders verlaufen und hätte nicht soviel Umstände erfordert. Außerdem wäre ein un­mittelbar darauf folgender Start des Mutter­schiffs unwahrscheinlich gewesen.

Um so besser! Er sah wieder nach draußen. Die letzten

Roboter kamen ins Schiff, er konnte von der Seite her die Rampe erkennen, die dann ein­gezogen wurde. Der Start mußte nun jeden Augenblick erfolgen.

Das Ziel konnte irgendwo auf Karoque liegen, aber die Möglichkeit, daß es den Pla­neten verließ, erschien wahrscheinlicher. Hauptsache war, es drang nicht in den schwarzen Bereich ein, um neue Sklaven zu holen.

Wenn er die Wahl gehabt hätte, wäre er an Bord eines kleineren Schiffes geschli­chen. Dieses große durch einen Handstreich zu erobern, war so gut wie unmöglich. Er mußte unbedingt feststellen, ob es von einer Robotautomatik gesteuert wurde, oder ob sich auch Spercoiden an Bord befanden.

Er tastete mit der linken Hand nach der Brusttasche. Solange er die Droge besaß, konnte ihm nicht viel passieren, aber der Vorrat reichte nicht für ewig. Er durfte sie nur sparsam anwenden.

Wie jetzt … Die Schritte kamen vom Hauptkorridor

her und näherten sich. Er lauschte. Kein Ro­boter, also ein Spercoide. Er konnte sie schon gut unterscheiden, ohne sie sehen zu müssen.

Schnell zog er den Hohlstengel aus der Tasche, entkorkte ihn und nahm einen

Clark Darlton

Schluck. Noch ehe er das Behältnis wieder verstauen konnte, trat schon die Wirkung ein. Er wurde unsichtbar.

Es war ein einzelner Spercoide, der in den Seitengang einbog und genau auf Atlan zu­ging. Der Gang war viel zu schmal, um ihm ausweichen zu können.

Atlan drückte sich in die freie Ecke zwi­schen Notausstieg und rechte Tür. Dann hielt er den Atem an, denn der Spercoide in seinem blaßblauen Metallpanzer berührte ihn fast, als er den Verschluß des Notaus­stiegs überprüfte und sich dann der linken Tür zuwandte. Er öffnete sie und ging hin­durch. Mit einem dumpfen Laut schloß sich die Tür wieder.

Atlan atmete erleichtert auf. Um Haares­breite war er der Entdeckung entgangen. Da­mit der Schluck des wertvollen Nektars nicht vergeudet war, beschloß er, die ver­bleibende Zeit der Unsichtbarkeit zu nutzen. Er wartete einige Minuten, dann öffnete er die rechte Tür, nachdem er eine Zeitlang ge­lauscht hatte. In dem Raum dahinter hielt sich mit Sicherheit niemand auf, es sei denn, er schlief.

Wie erwartet war der Raum leer, eine Art Abstellkammer mit allerlei Gerümpel und ganzen Stapeln Blumenkästen. Ein ideales Versteck, wenn man sicher sein konnte, daß die Kästen nicht so schnell benötigt wurden.

Aber Atlan war sich nicht sicher. Durch eine zweite Tür gelangte er wieder

auf den Hauptkorridor. In diesem Augenblick startete das Schiff. Er spürte es an der stärker werdenden Vi­

bration und einem kurzen Andruck, der aber sofort wieder verschwand. Hastig eilte er zu­rück zur Sichtluke.

Die steinige Wüste lag schon tief unter dem Schiff, das Gebirge südlich des Tals schrumpfte zu bloßen Hügeln zusammen, und dann begann sich der Horizont zu run­den. Es konnte nun kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der Weltraum und damit ein anderer Planet das Ziel des Fluges sein wür­de.

Das aber würde einige Zeit in Anspruch

49 Tal der tausend Blüten

nehmen, also galt es nun, ein wirklich siche­res Versteck zu finden und dort abzuwarten.

Atlan blieb unsichtbar, während er den unteren Teil des Schiffes durchstreifte, ohne das Richtige zu finden. Er beschloß, die Nottreppe zu benutzen und eine Etage höher zu steigen.

Im Korridor begegnete er einem Trupp Spercoiden.

Sie kamen von der anderen Seite und lie­ßen zu wenig Platz, um zwischen ihnen hin­durchschlüpfen zu können. Atlan wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Er mußte schnellstens eine Nische oder eine Abzweigung finden, wenn er nicht schon jetzt entdeckt werden wollte. Außerdem spürte er, daß die Wirkung der Droge bereits nachließ.

Das war unmöglich! Sie hatte sonst viel länger angehalten!

Ob die Tatsache, daß sich das Schiff und damit auch er bereits im Weltraum befan­den, etwas damit zu tun hatte, wußte er nicht, begann es aber zu befürchten.

Es blieb ihm keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Mit einem Satz sprang er in einen abzweigenden Gang hinein, rannte diesen entlang, bis er eine leicht zu öffnende Tür fand. Ohne besondere Vorsicht huschte er in den Raum dahinter.

Wieder so eine Art von Rumpelkammer, in der ein fürchterliches Durcheinander herrschte. Ihm konnte es recht sein. Wäh­rend er nach einem geeigneten Versteck Ausschau hielt, lauschte er an der Tür.

Die Schritte der Spercoiden entfernten sich.

Noch einmal hatte er Glück gehabt, aber er war sichtbar geworden.

Er redete sich ein, daß sein Drogenvorrat ohnehin nicht ewig reichen würde und er sich früher oder später wieder ganz allein auf sich selbst verlassen müsse. Je früher er damit begann, desto besser für ihn.

Trotzdem beschloß er noch einmal, die Wirkung des Blütennektars nur noch in äu­ßersten Notfällen zu beanspruchen.

Er durchsuchte den Raum, fand aber

nichts, das ihm in seiner Situation von Nut­zen sein konnte, nicht einmal einen Gegen­stand, den er als Waffe hätte einsetzen kön­nen. Aber es gab einige Verstecke, die rela­tiv sicher schienen.

Er beschloß, ein paar Stunden zu schlafen und dann zu versuchen, Näheres über den Zweck des Fluges und die Besatzung des Schiffes herauszufinden. Er wußte, daß er damit ein großes Risiko einging, aber auf der anderen Seite konnte er hier, wo er so gut wie blind und taub war, nicht einfach untätig abwarten, was geschehen würde.

Er kroch zwischen die ungeordnet herum­liegenden Kisten und rollte sich auf einem freien Platz zusammen. Es war dunkel. Au­ßer einem fernen, gleichmäßigen Summen war nichts zu hören.

Längst mußte das Schiff das System von Karoque verlassen haben und sich irgendwo zwischen den fremden Sternen einer frem­den Galaxis befinden, die der Tyrann Sperco allein für sich beanspruchte.

Atlan spürte, wie der Schlaf kam. Seine letzten Gedanken galten Proscutter-

Lop, dem pelzigen Freund aus dem Tal der bunten Blumen.

Hatte er rechtzeitig entkommen können?

*

Der Sturz in das Dunkel schien nicht en­den zu wollen.

Trotz des auftretenden Schwindelgefühls konnte Proscutter-Lop auch weiterhin klar denken und handeln, soweit die Umstände des zuließen. Den Sturz ins Nichts konnte und wollte er nicht aufhalten, weil er nicht wußte, was dann passieren würde. Er verließ sich voll und ganz auf die Wirkung der Dro­ge und auf die Erfahrung des letzten »Trips«, den er zusammen mit Atlan unter­nommen hatte.

Dieser dauerte länger. Um ihn herum war absolute Lichtlosig­

keit, die erwartete Dämmerung und der fer­ne Klang schwerer Glocken blieben aus. Vergeblich suchten seine Augen nach dem

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rötlichen Schein des kalten Feuerstroms. Nichts! Traum oder Wirklichkeit? Schon beim er­

sten Mal hatte sich Proscutter-Lop diese Fra­ge gestellt. Versetzte ihn die Droge tatsäch­lich in eine andere Daseinsebene, in eine an­dere Dimension, oder handelte es sich ledig­lich um eine unglaublich real anmutenden Vision?

Er tastete um sich, fand aber keinen Wi­derstand. Er lag auch nicht auf festem Bo­den, sondern schwebte zweifellos im Nichts. Aber er konnte atmen, und er fror nicht.

Wo blieb der Feuerstrom? Wo der gewal­tige Würfel der Station?

Nicht daß Proscutter-Lop besondere Sehnsucht nach der öden Landschaft und den Robotern gehabt hätte, aber sie konnten ihm nichts anhaben, weil er für sie unsicht­bar blieb. Er würde ihnen einen raumtüchti­gen Gleiter stehlen und versuchen, damit endgültig zu fliehen. Unbewohnte Welten gab es genug. Welten, die von den Spercoi­den ignoriert oder noch nicht gefunden wor­den waren.

Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er eine behutsame Veränderung sei­nes Schwebesturzes bemerkte. Zuerst glaub­te er an eine Täuschung seiner Sinne, aber dann spürte er ganz deutlich den leichten Luftzug an seinem Gesicht vorbeistreichen. Gleichzeitig begann sich das bedrückende Dunkel zu lichten.

Es war wie die Morgendämmerung, lange bevor die Sonne aufging.

Dann berührten seine suchenden Hände festen Untergrund.

Er bemühte sich, das sofort wieder einset­zende Körpergewicht in Balance zu halten und auf den Füßen stehen zu bleiben. Er sah nach unten und erkannte Sand, feinen, gel­ben Sand. Und feuchten.

Er lauschte in das Dämmerlicht hinaus. Klang das nicht wie nahe Brandung, die in langen Wogen die Küste erreichte und sich an den Klippen brach?

Er roch die Salzluft. Proscutter-Lop wußte, daß er sich nicht

Clark Darlton

auf jener Ödwelt befand, von der er glaubte, daß sie auch diesmal sein Ziel sein würde. Nein, dies mußte eine andere Welt sein, denn sie besaß Wasser.

Und eine Sonne! Er sah die endlose Fläche des Ozeans und

am Horizont den heller werdenden Schim­mer des aufgehenden Gestirns. Nach der an­deren Seite hin erstreckte sich eine weite Ebene, fruchtbar und mit dichtem Gras be­deckt. Baumgruppen und blühende Büsche sorgten für wohltuende Abwechslung.

Der Himmel war grünblau, mit Rosa durchsetzt, das allmählich verblaßte. Ein paar weiße Wölkchen kündigten belebende Feuchtigkeit an.

Ein Paradies …? Er warf einen letzten Blick auf das Meer

und die gelbe Sonne, deren oberer Rand nun aus dem Wasser stieg wie eine Riesenschild­kröte, dann wandte er sich landeinwärts und ließ den Ozean hinter sich.

War er allein auf dieser unbekannten Welt? Und wie lange würde er hierbleiben dürfen, ehe die Wirkung des Nektars nachließ und ihn ins Tal zurückbeförderte?

Eine halbe Stunde lang wartete er, dann stand er am Ufer eines schmalen, klaren Ba­ches. Er trank das frische Wasser, und er verspürte Hunger. Die huschenden Schatten unter der Oberfläche verrieten Fische.

Nein, er würde auf dieser Welt nicht ver­hungern, wenn er blieb.

Wenn er blieb! Als er sich wieder aufrichtete, in der Hand

das zappelnde Etwas, das sich leicht hatte einfangen lassen, hörte er hinter sich ein Ge­räusch, und dann sah er auch aus den Au­genwinkeln heraus die Bewegung.

Er schnellte herum, um den vermeintli­chen Gegner zu erkennen.

Keine zehn Meter von ihm entfernt stand Tentakel und ließ seine langen Schlangenar­me vor Freude wild herumwirbeln.

Tentakel war schon viel länger hier als er, und er war nicht ins Tal zurückgekehrt. Also würden sie auch beide hierbleiben, in einem Paradies, das ihnen allein gehörte.

51 Tal der tausend Blüten

Er ging auf Tentakel zu und zeichnete das Symbol für Freude und Glück in die Luft.

Wo Atlan geblieben sei, wollte Tentakel wissen.

Proscutter-Lop erklärte es ihm und hoffte dabei, daß der Freund nicht in die Hände der Spercoiden gefallen war. Er hätte mit ihm kommen sollen, dann wäre er jetzt mit Si­cherheit auch frei und glücklich. War denn seine Aufgabe wirklich so wichtig …?

Tentakel deutete in Richtung eines Wäld­

chens und gab zu verstehen, daß dort seine neue Wohnung sei.

Nebeneinander gingen sie dann durch das hohe Gras auf den Wald zu, zwei unter­schiedliche Lebewesen, die das Schicksal zusammengeführt hatte.

ENDE

E N D E