Theorie ist Revolte

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    Theorie ist Revolte

    Hans-Jrgen Krahl, die Theorieproduktionund no satisfaction

    Vortrag von Helmut Reinicke [1999]

    Hans-Jrgen Krahl wurde am 20. Februar 1970 in Hannover beerdigt. Er war bei einem Autounfall umsLeben gekommen. Wenige Wochen darauf lste sich der Sozialistische Deutsche Studentenbund inFrankfurt auf. Dieses verbandspolitische Ende des SDS hing mit dem Tode Krahls nicht direkt zusammen,dennoch war mit beiden Ereignissen die Epoche von Studentenbewegung und Revolte, von Theorie undRevolution zu Ende gegangen, die nachhaltig die zweite Hlfte des Jahrhunderts prgte. Whrend RudiDutschke als Berliner Rdelsfhrer auch Jugendlichen noch bekannt ist, so ist Hans-Jrgen Krahl wohlauch durch seinen frhen Tod weniger in der Erinnerung geblieben. Unzweifelhaft war aber Krahl dergroe Theoretiker der Revolte. Die Geschliffenheit seiner Sprache verband sich mit einemauergewhnlichen Talent der Einheit von Agitationskraft und theoretischer Reflexion. Seine Angaben zurPerson, ein frei gehaltener Beitrag vor Gericht wegen Rdelsfhrerei bei einer Protestaktion gegen dieVerleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Prsidenten Senghor von Senegal,gehren zu den groen Reden der Epoche. Uns wird immer wieder gesagt, ihr seid deshalb nicht legitim,weil ihr nicht angeben knnt, wie die knftige Gesellschaft aussehen soll. Das sagen immer diejenigen, diemeinen, nun gebt uns erst einmal ein Rezept, und dann entschlieen wir uns vielleicht, ob wir mittun wollen.Das sagen jene Heuchler und Feiglinge, die meistens in den Redaktionen der brgerlichen Presse sitzen.Die knftige Gesellschaft kann man nicht vorwegnehmen! Wir knnen sagen, wie der technische Fortschrittin hundert Jahren aussehen wird, aber wir knnen nicht sagen, wie die menschlichen Beziehungen inhundert Jahren aussehen werden, wenn wir nicht anfangen, sie ad hoc, unter uns, im gesellschaftlichenVerkehr zu verndern. (Hans-Jrgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/Main, S. 27)

    Da Hans-Jrgen Krahl heute weniger als Dutschke im Bewutsein lebt, hngt gewi mit der Art derTheorieproduktion zusammen, die in jenen Jahren der praktischen Aktionen, der Teach-ins, derDemonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, dem aktiven Streik an den Universitten betrieben und

    namentlich von Krahl reprsentiert wurde. Auf jener Hhe der Texte von Marx und Hegel lassen sich heuteweder Vorlesungen und Reden halten, noch Parolen fr soziale Kmpfe pointieren. Dieser Verlust ist einSieg der herrschenden Zustnde. Weder in den Vereinigten Staaten, noch in Italien, noch in Frankreichfindet man Studentenfhrer, welche die intellektuelle Reife eines Dutschke oder Krahl besitzen. (AlainTouraine, Die postindustrielle Gesellschaft, 1972).

    Wie es blich ist mit Jubilen, so wurde in diesem Jahr wieder des Jahres 68 gedacht, mehr oderweniger hmisch, vielleicht gar wohlwollend, weil eben alles vorbei ist. Vom Protest, gar vonRevolte, ist in der Tat nicht viel geblieben. Es ist deshalb leicht, die Ereignisse jener 60er Jahreals Jugendbewegung abzustempeln, die dann, quasi biologisch, sich akkomodierte. Das zeigendie brgerlichen Parteien, wie die grne; oder die Jugendkultur selbst, die dem Warencharakter,gegen den sie einst protestierte, gar nicht mehr entkommen will, vielmehr im Kultus der Ware,techno-verbrmt, sich wohlfhlt. Der Nachkriegsprotest, beginnend mit der Rockbewegung der50er Jahre, mit Kerouacs On the Road oder Ginsbergs Gedicht Howl, mit den Levis-Jeans

    von James Dean, dann die Free-Speech-Bewegung in Berkeley und San Francisco, vor allemdie Civil-Rights-Bewegung, die Arbeit von SNCC (Student Non-violent Coordinating Committee)in Mississippi, schlielich die weltweiten Manifestationen gegen den US-Krieg in Vietnam hattender Jugendbewegung immer wieder neue, schlielich politische Form gegeben, hatten sie dann67 und 68 an revolutionre Bewegungen anknpfen lassen.

    Gerade werden in Europa vier Levis-Fabriken geschlossen. Die Jugendlichen ziehen nachgefftemodische Jeans vor. Diese Randnotiz mag nicht weiter auffallen im Tempo von Derivatenhandelund Investmentkartellierungen. Es hat aber mit dieser Notiz aus der Time und mit diesen Hoseneine eigene Bewandtnis: Jeans waren Arbeitshosen, die von Goldgrbern oder von

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    Farmarbeitern getragen wurden. Sie verkrperten gerade als sie sich die Freizeit eroberten immer noch die materielle Welt der Arbeit gegen die brgerliche der Konsumtion und autoritrerMchte. In der amerikanischen Brgerrechtsbewegung trugen die freedom-fighters Jeans,Militrstiefel und US-Feldjacken, vorab nicht der Uniformierung wegen, sondern weil dieseKlamotten in den US-Army-and-Navy-Surplus-Geschften billig gekauft werden konnten. Es wardie proletarische Feldausrstung. Im Niedergang der Jeansfabrikation weist sich somit nicht nurein verndertes Modeverhalten aus; vielmehr unterliegt diesem die eingebte freiwilligeKnechtschaft der Jugend an Ware und Konsum. Protest, Revolte, als Elemente einerJugendkultur und -bewegung sind der blinden Anpassung ans Schlecht-Endliche gewichen.

    So haben in der Tat die letzten 30 Jahre einen enormen Wandel zu einer Integration sozialerGruppen und Klassen hervorgebracht. Im Sommer 1964 studierte ich in St. Francisco; die erstenBerichte kamen von der Brgerrechtsbewegung aus Mississippi in den Norden; in schwarzenKirchen sangen wir die ersten Brgerrechtslieder. Die Bewegung organisierte sich, die groenDemonstrationen begannen gegen Diskriminierung, fr Arbeitspltze; dann die Free-Speech-Movement; der groe Marsch nach Washington. Mit SNCC arbeitete ich dann in Mississippi,mute schlielich nach zweimaliger Verhaftung verschwinden und trampte zu Land und zuWasser zurck nach Frankfurt. Ich trat umgehend in den SDS ein (Sozialistischer DeutscherStudentenbund); ein noch berschaubarer Verein mit Mitgliederausweis und Kassenwart. Am

    selben Abend, es war im Mai 1965, trat Helmut Richter ein, der heute die SOVA (SozialistischeVerlagsauslieferung) leitet und Hans-Jrgen Krahl. Die Bewegung aus den USA kam herber, dieteach-ins begannen, die ersten Raubdrucke erschienen, der Kampf gegen den Vietnamkriegsetzte ein. Man organisierte und theoretisierte. Die Beschaulichkeit der Adorno-Seminare ndertesich; Studienrte, Grfinnen und Assistenten gerieten auf die Hinterbnke. Die Verlage zogennach und in Windeseile wurden politisch-konomische Texte wieder zugnglich, wie neuproduziert. Im Frankfurter SDS waren alle mglichen Fraktionierungen zuhause, Links-Sozialdemokraten, Trotzkisten, DKP, dann Maoisten, usw. Ein Spezifikum unterschied dann dochdie theoretische Produktion von der praktischeren in Berlin oder der eher an der klassischenArbeiterbewegung sich orientierenden in Hamburg: Dies war die Hegelaneignung durch diekritische Theorie der Frankfurter Schule in Verbindung mit den Pariser Manuskripten (Marx) unddem Kapital. Der historische Materialismus wurde als die Theorie sich emanzipierendenSelbstbewusstseins angeeignet; die Entfremdungsproblematik im Kontext von Verdinglichung,

    Wert und Fetisch rezipiert und damit Marx aktualisiert zur Herrschaftsgegenwart desSptkapitalismus.

    In dieser revolutionstheoretischen Vereinigung von historischem Materialismus undkonomiekritik konnte eine Form des Angriffs gefunden werden; und es ist zumal das groeVerdienst von Hans-Jrgen Krahl, da dieser theoretische Ansatz sich stets praktisch bestimmte.Er selbst hat wenig publiziert. Erst nach seinem Tode, im Februar 1970 durch einen Autounfall,wurden seine Haupttexte in Konstitution und Klassenkampf, Verlag Neue Kritik, zugnglich. Indiesem Buch wird immer noch die rhetorische Kraft Krahls lebhaft sprbar, so in jener groenRede Angaben zur Person, 1969 gelegentlich eines Gerichtsprozesses wegen Rdelsfhrerei.Wir machen solange individuelle und vereinzelte Bildungsprozesse mit allen Entstellungen undNarben durch, solange wir entweder Mitglieder der herrschenden Klasse oder der

    unorganisierten, in sich zerrissenen Arbeiterklasse sind, in der jeder Einzelne gezwungen ist,seine Haut zu Markt zu tragen; wir machen solange entstellte und verzerrte Bildungsprozessedurch, solange wir vereinzelt sind und nicht organisiert, solange wir uns den Ideologien derherrschenden Klasse und des kapitalistischen Maschinenparks unterwerfen mssen. In demAugenblick aber wird unser Bildungsproze ein kollektiver, nicht im Sinne der Vernichtung vonIndividualitt, sondern berhaupt erst in der Herstellung von Individualitt, so wie ermetaphysisch im Hegels Phnomenologie des Geistes, materialistisch in Marxens Kapital undpsychoanalytisch in den Theorien Freuds formuliert ist, indem wir diese Gesellschaft als eintotales Ausbeutungssystem durchschauen, in dem die produktive Lebensfhigkeit derMenschennatur verkmmert. Wir machen Bildungsprozesse durch, die berhaupt erst

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    Individualitt wieder herstellen und da, was Individualitt ist, in einem emanzipativen Sinnerekonstruieren, indem wir uns im praktischen Kampf gegen dieses System zusammenschlieen.(Konstitution und Klassenkampf, S. 28f.)

    Die Bildungsprozesse beinhalten den emanzipativen Kampf um herrschaftsfreie Verkehrsformenwie die ihr zugehrige strategische Reflexion als revolutionre Theorie des Sptkapitalismus.Hierfr war magebend, da einmal das Kapitalverhltnis sein Ende gerade angesichts seinerpraktisch mglichen Abschaffbarkeit (S. 252) in die Lnge zu ziehen schien; zum Andern, dadie Klasse der Lohnabhngigen (noch nie) mehr Klasse an sich (war) als gegenwrtig. (S. 253)Natrlich traf diese Perspektive die Aktualitt und Nicht-Aktualitt der Revolution gleichermaen,nachhaltiger noch das heutige Dilemma im Wildwuchs des Derivatenkapitalismus. Deshalb bleibtdie Insistenz der theoretischen Versuche jener Jahre unabdingbares Desiderat: Die Kritik derpolitischen konomie weiterzutreiben als erkenntnistheoretische Selbstreflektion daseienderAbstraktionen der gesellschaftlichen Totalitt.

    Diese Intention kritisierte zugleich die Frankfurter Schule. Die kritische Theorie wie sie in denfrhen Aufstzen Horkheimers, dann mit Adorno in der Dialektik der Aufklrung formuliert war ber sich hinauszutreiben durch die Resurrektion der Kritik der politischen konomie als

    revolutionre Selbstreflektion des Sptkapitalismus, diese transzendierende Kritik wird schonweit vor dem praktischen Protest der Demonstrationen, Uni-Besetzungen, des aktiven Streiksusw. von 68 greifbar. Im Wintersemester 1966/67 bereits hielt Krahl ein Referat im Adorno-Seminar, Zur Wesenslogik der Marxschen Warenanalyse, das als Exempel fr diesen Typusvon Theoriebildung, der Einheit von konomiekritik und Formanalyse, gelten kann. Die Theoriegeht dabei gem des Marxschen Selbstverstndnisses den Kategorien der brgerlichenGesellschaft nach, wobei sie zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritikdesselben (Marx) betreibt. Hierzu verhalf wesentlich die Wiederentdeckung des MarxschenRohentwurfs, die Grundrisse der Kritik der Politischen konomie von 1856/57. Der Einflu desRohentwurf auf die Theorieproduktion jener Zeit ist gar nicht hoch genug einzuschtzen. Er warvon den kritischen Theoretikern unbeachtet geblieben und obendrein vom Ost-Marxismus, wieauch die Pariser Manuskripte, als toter Hund betrachtet wurden. Schlielich hatte AlfredSchmidt in seiner Doktorarbeit Der Naturbegriff in der Lehre von Karl Marx die Grundrisse

    herangezogen und eine Mnchener Gruppe, ich glaube es war die Subversive Aktion, sich andie Lektre gemacht. 1965 standen einige Exemplare in der damaligen Universittsbuchhandlungan verschwiegener Stelle fr DM 6,80. Bald konnte der Nachfrage durch diese DDR-Ausgabe von1953 nicht mehr entsprochen werden, und die Europische Verlagsanstalt druckte nach. Dieauergewhnliche Bedeutung des Rohentwurf lag darin, da Marx seine Methode gleichsamoffen praktizierte und die Kategorien, also die gesellschaftlichen Existenzbestimmungen, dieDaseinformen der brgerlichen Gesellschaft, umfassender wiedergab, als dann in den Kapital-Bnden. So werden hier die Universalitt der Bedrfnisse, Fhigkeiten, Gensse,Produktivkrfte etc. der Individuen (Rohentwurf, S. 387) thematisiert und, was bei Hegel derGeist vollzieht, der Totalitt des Individuums zugeschrieben, das in der absoluten Bewegungdes Werdens ist (Rohentwurf, S. 387). Kurz, durch die Lektre des Rohentwurf wurden diephilosophischen Dimensionen der Marxschen Theorie vitalisiert sowie konomistischeVerkrzungen, die der Lektre der Kapital-Bnde in der Dogmengeschichte zugrunde lagen,

    kritisiert. Der historische Materialismus als Theorie der brgerlichen Gesellschaft erhielt durch dieFormanalyse, also die Genealogie der objektiven Daseinsformen wie Arbeit oder Wert, neuedenuziatorische Schrfe. Krahl formulierte damals: Die Kritik der politischen konomie klrt dievon den individuellen Produzenten selbst eingegangenen Produktionsverhltnisse auf, die dieallgemeine Selbstbewegung des Kapitals verdunkelt. Mit der materialistischen Darstellung derWarenform des Produkts lassen sich idealistische Begriffswelt, also Kant oder Hegel, wie auchdie Existenzbestimmungen des Kapitalismus gegenwrtige Verdunkelung, neue Ideologie,Setzungen der vielen Kapitalien (Marx) ausweisen im Sinne des Verhltnisses des Werts zuseinem Tauschwert als das (Verhltnis) von Wesen und Erscheinung (Konstitution undKlassenkampf, S. 44). Formanalytisch kann Krahl zu Kantens Kritik des ontologischen

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    Gottesbeweises verzeichnen: Wenn Kant anmerkt, es knne zum logischen Prdikate allesdienen, was man will, sogar das Subjekt kann von sich selbst prdiziert werden; denn die Logikabstrahiert von allem Inhaltlichen, so vollzieht sich diese formallogische Abstraktiongesellschaftlich real in der Differenz des Wertes gegen die qualitative Bestimmung derGebrauchswerte. Die Prdikation des Subjekts von sich selbst erscheint als die desgesellschaftlichen Subjekts, der Vergegenstndlichung einer von aller Naturbasis gelstenabstrakten Arbeit in der Geldform der Ware, die den gesellschaftlichen Individuen schlielich alsihr dinglich auer ihnen existierendes Gemeinwesen erscheint. (S. 53)

    Mittlerweile ist dieses Gemeinwesen (Marx) nicht nur auerhalb der Menschen existierendeMystifikation, vielmehr in Produktion und Psychen eingegangen. Das industrielle Kapital unddiesem als Sptkapitalismus galt die Kritik der 60er und 70er Jahre ist mittlerweile unter dieHerrschaft seines verdinglichten Produkts, des Finanzkapitals, gerckt. Dies erfordert erweiterteAnalyse; aber auf dieser Tendenz insistierte bereits Krahls Augenmerk: Die menschlicheRevolution, die Emanzipation der Gattung, ist nicht mehr mglich ber die personalisierendeEnthllung der herrschenden Klasse, die immer berwuchert wird von den Apparaten, die ihreHerrschaft aufrecht erhalten; sie ist nur mglich ber eine Denunziation der Dinge, des imSptkapitalismus produzierten Schunds, in denen die Verhltnisse sich kristallisieren. WennEntfremdung und Verdinglichung heute Kategorien sind, deren Gltigkeit fr den Kapitalismus

    zweifelhaft wird, so mu das notwendig in einer wesentlichen Vernderung der Warenformgesucht werden. Deren Elemente, Gebrauchswert und der an dessen Naturalform usurpativerscheinende Wert, mssen in eine qualitativ vernderte Konstellation getreten sein. DieWarenform, in der der Gebrauchswert tendenziell schon stets abstirbt, die zur Allegorie wird, trgtdie Tendenz zur Zersetzung in sich. Ohne diese wre die immanente Krisentendenz deskapitalistischen Akkumulationsprozesses, sich selbst zu unterbrechen, nicht mglich gewesen.Das Stadium der immanenten Selbstzersetzung der Warenform zugunsten des totalitrenTauschs ist erreicht, nicht nur hat endgltig die Verpackung ber das Produkt gesiegt, derGebrauchswert ist zerstrt wir konsumieren Reklame, wir essen und trinken und ernhren unsdoch davon (Nivellation des Marktes). Wir mssen die Dinge denunzieren, um die Menschenfr deren Genu zu befreien. Die Dinge aber, die keine sind, sind die Institutionen objektiverUngeist. Auch der Begriff der Charaktermaske wurde ausgelscht, hinter den Masken steckenkeine Gesichter mehr; dieser Marxsche Begriff des zur Funktion seines produktiven

    Privateigentums herabgesetzten Individuums ist polemisch an der Ideologie von dessenAutonomie, der der privaten Persnlichkeit, orientiert. Die gibt es nicht mehr ebenso wieAnpassung zur Mimesis ausgehhlt wird. Destruktion des Ichs. (S. 84)

    Die Menschen werden nicht mehr angepat; sie produzieren bewut die Formen ihrerAnpassung. Dies verdoppelt die Mystifikation, die im klassischen Ideologiebegriff steckt, der vomnotwendig falschen Bewutsein ausgeht. Im anything goes, den multiplen Modernen oderPostmodernen, dem beliebigen Zugriff auf Medienspektakel oder den mystischen Kollisionenvon Weltbanken stecken Ideologien der Ideologielosigkeit, Abstraktionen, deren Basiskategoriezwar noch der Wert ist, der indessen von verselbstndigten Formen des Mehrwerts, vonFinanzkapital und Zins, zur abgeleiteten Qualitt gemacht wurde. So hat sich die Genealogie derFormen weiter abstraktifiziert. Gerade deshalb bleiben jene wesenslogischen Bestimmungen der

    Kapital-Lektre Krahls keine zeitverhafteten Diskussionsfragmente eines bertalentiertenJungphilosophen. Es sind erforderliche Versuche, die rasanter werdenden Subsumtionsprozesseunter das Kapital zu bestimmen. Es gibt hinter den unmittelbaren Erscheinungsformen desGeldes und der Produkte ein Wesen, so Krahl in: Bemerkungen zum Verhltnis von Kapital undHegelscher Wesenslogik (in: Aktualitt und Folgen der Philosophie Hegels, Hg. Oskar Negt,Frankfurt, 1970). Dieses Wesen ist der Wert, eine existierende Abstraktion. Ich kann den Wertzwar nirgends sehen, hren, fhlen, schmecken, er hat keine empirische Wahrnehmbarkeit, aberer subsumiert unter sich die Gebrauchswerte. Der Wert reduziert im gesellschaftlichen Verkehrdie konkreten Dinge auf die bloe Abstraktion des Werts. Wert ist dabei die Abstraktion von denkonkreten Gebrauchswerten, Individuen, Bedrfnissen und Interessen; Wert ist also Repression.

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    (S. 142) Aus dem Wertbegriff erschliet sich somit das Kapital-verhltnis als negative Ontologie;an den weiteren Spezifikationen dieser Ontologie gem der Verlaufsform ihrer Produziertheitmte sich die Kritik nun exponieren.

    Diese Emphase auf Formanalyse hatte eine eigene mittlerweile kaum noch auffindbare kritische Sensibilitt geschaffen, die von Georg Lukacs Verdinglichungstheorie, der Rettung einermarxistischen Philosophie bei Karl Korsch oder Ernst Blochs dialektischem System der Utopiesich zumal durch die Insistenz auf der Fortbestimmung des historischen Materialismus alskonomiekritik unterschied, also der Formanalyse. In der Negativen Dialektik (1966) erwhnteAdorno am Rande einen damals unbekannten Autor. Zum Prinzip der Transzendentalitt bei Kantfgt er an: Alfred Sohn-Rethel hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, da in ihm (demtranszentendalen Prinzip Kantens; H.R.) der allgemeinen und notwendigen Ttigkeit des Geistesunabdingbar gesellschaftliche Arbeit sich birgt. (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik,Frankfurt am Main 1966, S. 176). Sohn-Rethel hatte nur am Rande 1936 mit Adornokorrespondiert, zudem nur drei kleine Texte nach dem Kriege verffentlicht; doch verfhrte derKontext der Adornoschen Erwhnung also die Wertabstraktion zu einer groen Entdeckung:1970 wurde Geistige und Krperliche Arbeit verffentlicht, ein Buch das dem Verhltnis vonBasis und berbau durch die Formanalyse der Ware konomiekritisch Substanz gab. Sohn-Rethels geheime Identitt von Warenform und Denkform (S. 9) fand gut vorbereitete und

    kongruierende Aufmerksamkeit. Das nchste Jahrzehnt der Theorieproduktion war zu einemguten Teil irgendwie der Konjektur von Formanalyse und konomiekritik geschuldet. Ich hatte mitWare und Dialektik (1974) kritisch-loyal gekontert; Tillman Rexroth verband dieFormanalyse mit der Warensthetik.

    Ein zweiter Zug begleitet diese formanalytische Radikalisierung der konomiekritik, und dieswar die praktische Kritik der Revolte, zumal am klassischen Organisationstypus. Die Kritik derpolitischen konomie zeigt worauf der West-Marxismus, also Korsch und Lukacs, stetsverwiesen hatten den Kapitalismus als historisches Phnomen: aus dem Aspekt seinerrevolutionren Aufhebbarkeit. Mit dieser Kritik sind natrlich in keiner Weise dieKonstitutionsbedingungen einer Subjektivitt mitgegeben, welche die praktische Negationallererst wird durchfhren knnen. Der konomismus des Kapital bietet vorerst den naturhaften

    Objektivismus der kapitalistischen Verlaufsform der Gesellschaft; Subjektivitt, also nur in ihrerNegativitt, als variables Kapital. Deshalb warten die drei Kapital-Bnde auch mit keinerutopischen Perspektive auf; es gibt kein Meer aus Limonade, wie bei Fourier. Aus derDenunziation der orthodoxen Parteien, mit einem Klassenbewutsein aus der Kommandowarte,thematisiert sich gleichwohl Marcuses Schriften belegen dies chronologisch dieKonstituierung emanzipatorischer Subjektivitt. Diese wiederum beleuchtet die Bedeutung auchErnst Blochs oder Wilhelm Reichs zur Selbstbestimmung des antiautoritren Bewutseins. Sovehement die konkrete Utopie sich irgendwie politische Lebensform schaffen wollte Marcusesprach von der neuen Sinnlichkeit so sehr waren auch die Schranken einerIntellektuellenbewegung mitgedacht, zumal in der Behutsamkeit vor Dogmatisierungen. Krahl hatauf jener emanzipatorischen Seite der Organisation stets beharrt; aber viel mehr als Tendenzenlassen sich nicht aufzeigen. Krahl versetzt lediglich: Je berflssiger Arbeit wird, umsoherrschaftsfreiere Organisationsstrukturen mu die revolutionre Bewegung annehmen.

    (Konstitution und Klassenkampf, S. 196 f.)

    Genau dies geschah nicht: Der Selbstauflsungsproze des SDS sowie der staatlicheRepressionsapparat sicher auch ein Leerlaufen der Revolte produzierte

    kaderhafte Organisationsformen wie deren clandestine Zuspitzungen. Zugleich bereiteten die70er Jahre konomische Vernderungen vor, die den Begriff des Sptkapitalismus vorderhandobsolet machten.

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    Man knnte ans Ende dieser Phase der theoretischen und praktischen Kritik am Kapitalverhltniswie dem orthodoxen Marxismus mit Krahl zwei natrlich verbleibende Markierungen setzten:Einmal die Insistenz auf sich befreiender Subjektivitt. Wissenschaftlicher Sozialismus, will ersozialrevolutionre Phantasie erzeugen und potentielles Klassenbewutsein produzieren helfen,mu gerade die Formulierung der konkreten Utopie leisten.(S. 310) Zum Andern dieBestimmung von konomiekritik: Wenn sich nun das Verhltnis des Staates zur Wirtschaftdadurch verndert hat, da der Staat selbst ein Produktionsfaktor und ein elementarer Regulatordes konomischen Prozesses geworden ist, wenn sich also dieses Verhltnis von Politik undkonomie, in dem sich ja schlielich die Klassen, wie sie an sich selber beschaffen sind,konstituieren, gendert hat, wie hat sich dann die Klassenlage sowohl der Kapitalisten als auchder Lohnabhngigen an sich selber verndert? (S. 260)

    In den gegenwrtigen Zeitluften, so sei nur kurz hierzu angemerkt, ist die konkrete Utopie jeproduziert und vermarktet. Die Formulierung von Utopie mte gegen sie selber sich explizieren.Weiter hat in Krahls Argumentation der Staat konomisch- kategoriellen Status; dies war dannGegenstand der vielen Staatstheorien, die aus dieser berbewertung erwuchsen. Heute ist derStaat zurckgedrngt auf Verwaltungsbedrfnisse des Kapitals. Da die Steuern, d.h. seineUnterhaltung, tendenziell dem variablen Kapital zufallen, fungiert der Staat als Gratisprofittrger

    des Kapitals. Schlielich hat sich in der Tat die Klassenlage gendert; indessen nicht zurumfangslogischen Potenzierung proletarischen Bewutseins (auch als Unbewutes!); sondern istzum Derivat der Zirkulation geworden; es ist formbestimmt und aufgehoben durch denDienstleister.

    Dies sind Vernderungen, die gleichwohl die gestellten Fragen in der Theorie fortsetzen. DieEndpunkte der Marxschen konomiekritik, aktiengesellschaftliche Unternehmensform undtechnologisch kapitalfixiertes Maschinensystem, reichen zur Bestimmung der reellen Subsumtiondes Lebens unter das Kapital nicht mehr aus. In Fr Krahl (Merve Verlag, Berlin, 1973) hatte ichauf den Fortgang der Logik des Kapitals verwiesen und es sei kuriosittenhalber angefgt zwei Verlaufsrichtungen der Theorie pointiert: Die Theorie mu den vernderten Bedingungendes Kapitalverhltnisses seit der Marxschen Kritik nachgehen, konomiekritisch die

    Kapitalformen bestimmen und untersuchen, wie sich angesichts der kapitalistischenFormbestimmungen die Formen proletarischer Subjektivitt gewandelt haben; wie sichWarenformen, Kapitalformen, Klassenkampfformen im entfalteten Kapitalismus je zu ihremBegriff in der Marxschen Theorie verhalten. Dies erfordert die revolutionre Einheit von Denkenund Handeln, die Einheit von Analyse, Aufklrung und Aktion. Intention auf dieGebrauchswertseite nach Magabe ihrer jeweiligen Formbestimmtheit heit: Untersuchung derMomente von Nicht-Identitt in der Praxis, dem Alltagsleben des Proletariats, welche das Kapitalmitproduzieren mu, will es sich weiter entfalten: Kooperationsformen, Revoltformen der WareArbeitskraft, deren sie bedarf, um sich als Lohnarbeiter reproduzieren zu knnen gegen dieAvancen des Kapitals, die Exploitationsschranken anzuheben; Qualitten wie Glck und Leid, diesich der Quantifizierung zum Warencharakter, der Taylorisierung nach Arbeitszeitnormensperren. (S. 68 f.)

    Diese programmatischen Strnge mssen sich durch den Verlauf des Kapitalganges zwar nichtrevidieren, aber die Perspektive wird eine andere. Wenn was ehemals als konkret-utopischerInhalt sich in den Poren der Gesellschaft als neue Sinnlichkeit, Freiheit, das Schne etc. entfaltenwollte wenn dies zur Konsumtion und die Bedrfnisse lockend produziert wird, dann kmediesen Rumen zur Konsumtion logisch der Status negativer Utopie zu. Ebenso mte derKapitalstatus von Derivaten und Investmentfonds die Negativitt des variablen Kapitalsexplizieren, zumal dies hiee, da heute Kritik nur negativistisch sein kann, um sich selbstbewutdes Scheins zu entschlagen, als gbe es noch direkte Stege oder Strickleitern zum Wahren.Dieses Wahre als das soziale Ganze ist reines Artefakt. Zugespitzt liee sich ausmachen, da

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    die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital und die Herrschaft des relativen Mehrwerts mitden entsprechenden industriellen Pathologien erst mit dem groen Angriff auf das variableKapital vollends eintritt, den wir heute mit dem Legitimationsfetisch Globalisierung erleben. Dietendenzielle Abschaffung des variablen Kapitals, also des Proletariats, koinzidiert allererst mit derHhe der Marxschen Analyse. Erst hier entfaltet sich die Dialektik von Aufklrung undUmnachtung als materielle Vernunftkritik anhand der Selbstbewegung der Kategorien. DieUmnachtung ist global, Aufklrung ihr nicht-identisches Derivat. Die spezifisch kapitalistischeForm produziert je neue Bedingungen der Herrschaft des Kapitals ber die Arbeit, bis zu derentendenzieller Aufhebung. Erst in dieser Epoche des Abweiterlegens entfaltet sich die Klassizittder Marxschen Analyse.

    Mit dieser globalen Strategie geht die Epoche zuende, deren erster groer Zeuge Thomas Moruswar, dessen utopischer Blick diese Negativitt konomisch bestimmte. Nunmehr vollzieht sicheine zweite ursprngliche Akkumulation. In dieser werden die Produktionsmittel des neuenReichtums unmittelbar zur Konsumtion der Konsumtion produziert. Der Dienstleister als Resultatund Mittel der zweiten ursprnglichen Akkumulation ist bereits jener Lurch, den Horkheimer undAdorno vorausahnen und den beispielsweise Jacques Attali, der Prsident der EuropischenBank fr Reconstruction and Development in London als loser in the coming World Order indie Verwertungsbestnde der Globalisierung aufnimmt. Die zweite ursprngliche Akkumulation

    produziert diese Losers, denen durch eine bermacht von Informationen, Lauten und Bildern dieScheinautonomie des universellen Konsumenten mit der Freiheit globalen Einsatzes alsReservearmist immer unmerklicher eingeblut wird. Der Kapitalismus selber produziert sich alsnichtkapitalistisches Milieu, wie das variable Kapital als Reservearmee. Sie ist als Werkzeugeingeplant, ebenso wie die gigantische Sicherheitsindustrie zu ihrem Schutz. Der Fortschrittproduziert seinen eigenen Vorkapitalismus; die Menschen werden in den freiwilligenDienstleisterwelten wieder Menschenmaterial wie fr die Heeresfhrung oder Werkzeuge wie inden Rechnungsbchern der Kameralistik vor dem Aufkommen der politischen konomie. So wirddas grte Elend sich dann herstellen, wenn es keines mehr gebt.

    Man kann also mit den Vernderungen, welche die letzten zwanzig Jahre gebracht haben, nichtmehr, wie Marcuse noch 1967 in Das Ende der Utopie, (Berlin 1967, S. 117). davon ausgehen,

    da in einer Negation als konkrete Alternative selbst schon das Positive steckt. Derliebenswerte Schlachtruf, die Phantasie an die Macht, knnte heute Monster in die Welt setzen.

    Diese bergangszeit, sei sie als spter Sptkapitalismus, dritte oder vierte Moderne bezeichnet,erprobt den Stillstand in Permanenz. Standortbestimmungen und Lagerbildungen, alle Konsens-Unwrter suggerieren neue Ewigkeiten. Wenn Abstraktionen realisieren, Wirklichkeit zerstrenheit, dann feiern die Lufte einen Sieg der Affirmation. Der mainstream selbst verpackt sich inKritik, um diese mundtot zu machen. Ehemals aufs Ganze gehende Kategorien, wieKulturbetrieb, werden heute affirmativ gehandelt. Der multiple akademische Dienstleisterunterzieht sich dem Musikmanagement, dem Gesundheitsmanagement, demBetriebsmanagement, dem Tourismusmanagement, dem komanagement, gar demKulturmanagement mit Magisterabschlu als Kulturwirt. Kant insistierte noch auf der Wirtbarkeit

    der Erde fr das Heraufkommen des ewigen Friedens. Diese allgemeine Hospitalitt sperrt sichgegen jedes Management von Menschen. Jene Wirkbarkeit ist Totalittskategorie, bei Kant indem schnen sinnlichen Glanze, da die Erde rund ist, folglich jeder Mensch gleiche Hospitalittauf dem Erdenrund genieen drfe. Sie schliet deshalb Herrschaft aus.

    Die gegenwrtige Theoriebildung mte die Verschiebung der Basiskategorien reflektieren. DieOntologik des Kapitals war stets die Ebene zweiter Natur, also eine entfremdet produzierte. IhreKategorien von Ware, Wert, Kapital waren die Schlsselbegriffe zur Darstellung und Entlarvungdieser Gesellschaft, mithin der Ideologiekritik und Entzauberung der ideologischen Formen der

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    vielen Kapitalien, also Zins, Rente und Arbeitslohn, der trinitarischen Formel; diese gehrt, wieMarx ausdrcklich formuliert, dem monopolisierten Erdball an. Diese Stufe der Kapitalexpansionsetzt nun die genetisch zweiten Kategorien als logisch erste. Das neue Gehuse der Kapitallogik,von der die Entschleierung ausgehen mu, sind nun die wesenslogischen Kategorien deszinstragenden Kapitals, Rentenfonds und entsprechend formbestimmten variablen Kapitals. DieHospitalittshoffnung Kantens durchs Erdenrund ist damit endgltig produzierter Schein, dritte inNatur.

    Stets sind Utopien okkupierte Terrains. Ausmalungen sind Machtergreifungen. So belt es derliebenwrdige Morus bei der Sklaverei und einem wenn auch gemigten Imperialismus.Marx hatte das Reich der Freiheit im Rohentwurf, wo es hingehrt, zurecht in Parenthesegesetzt. Selbst Fourier, der Kommunist der schnen Sinnlichkeit, lt nicht umstandslos dasMeer zu Limonade werden; er bedenkt immerhin eine negative Dialektik der Zivilisation. Lafargueverficht, jedermann zu verbieten, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten. Entschieden fragt ernun nach: aber wie soll man von einem durch die kapitalistische Moral korrumpierten Proletariateinen mnnlichen Entschlu erlangen (Lafrague, Recht auf Faulheit, Frankfurt/Main, 1966, p.48). Diese erkenntnistheorietische Frage betrifft heute das Erdenrund und seine Dienstleister. DieTheorie ist deshalb von dem Paradoxon geleitet, jenes Niemandsland umso besser zu erkennen

    je weniger es ihr bekannt ist.

    1 Vortrag gehalten an der Roten-Ruhr-Universitt (Bochum), 1998

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