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Thilo Fehmel Konflikte um den Konfliktrahmen

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Thilo Fehmel

Konflikte um den Konfliktrahmen

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Thilo Fehmel

Konflikte um den KonfliktrahmenDie Steuerung der Tarifautonomie

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1. Auflage 2010

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010

Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, ScheßlitzGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-531-17227-9

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Inhalt Einleitung .......................................................................................................... 007

I Tarifautonomie als Institution 1 Tarifsystem und Tarifautonomie: eine Abgrenzung ........................... 013 2 Tarifautonomie als institutionalisiertes Arrangement

zwischen Tarifverbänden und Staat ......................................................... 021

2.1 Institutionen als „Hort der Stabilität“ ............................................................ 021 2.2 Institutionen als dynamische Konstellationen ............................................. 025

3 cultural approach:

Bindung und Selbstbindung der Gewerkschaften .................................. 031

3.1 Institutionengründung: Entstehung und Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes .................................................................................. 031

3.2 Institutionenverfestigung: der (prekäre) Zusammenhang von Tarifhoheit und Sozialer Marktwirtschaft ............................................. 036

3.3 Institutionenflexibilität: Tarifautonomie und Verfassungsrecht ............... 043 4 calculus approach:

Tarifautonomie und das Interesse des Staates an sich selbst ................ 051

4.1 Die Bedeutung von Lohnarbeit als Prinzip .................................................. 054 4.2 Inflation als Problem für den Staat ................................................................ 060 4.3 Arbeitslosigkeit als Problem für den Staat .................................................... 067

5 Synthese: kulturalistische und utilitaristische

Anteile der Institution „Tarifautonomie“ ............................................... 079 6 Die Beeinflussung der Tarifhoheit durch staatliche Akteure ................ 085

6.1 Indikative Einkommenspolitik ....................................................................... 088 6.2 Kooperative Einkommenspolitik ................................................................... 091 6.3 Imperative Einkommenspolitik ...................................................................... 095

7 Synthese: Flexibilität des tarifautonomen Handlungsraumes ............... 101

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II Tarifautonomie als Begriff 8 Methodische Überlegungen ..................................................................... 107

8.1 „Tarifautonomie“ als instrumentalisierungs- geeigneter Begriff ............................................................................................... 107

8.2 Qualitative und quantitative Eingrenzungen des Untersuchungsfeldes ......................................................................................... 115

8.3 Konsequenzen der Eingrenzungen des Untersuchungsfeldes – Begründung der Diskurs- und Datenauswahl .............................................. 122

9 Die Funktion des Begriffs „Tarifautonomie“

bei Konflikten um die Tarifautonomie .................................................... 129

9.1 Konzertierte Aktion – die Etablierung des Begriffs „Tarifautonomie“ im politischen Raum ........................................................ 129

9.2 Neufassung des § 116 AFG – Zielkonflikt zwischen Funktions- und Handlungsfähigkeit .............................................................. 143

9.3 Lohnabstandsklauseln bei Arbeitsbeschaffungs- maßnahmen – Kompetenzstreit im Grenzgebiet von Tarif- und Sozialpolitik ..................................................................................... 173

9.4 Das Bündnis für Arbeit – „...die Bundesregierung wird sich noch stärker einschalten und trotzdem die Tarifautonomie bewahren.“ ............................................................................ 198

9.5 Ermöglichung betrieblicher Bündnisse für Arbeit per Gesetz – der schwankende Schatten der Hierarchie .................................................... 222

10 Schluss: Gesteuerte Autonomie ............................................................... 251

10.1 Institutioneller Wandel... ................................................................................. 251 10.2 ... und semantische Kontinuität ...................................................................... 259

Literatur ............................................................................................................. 263 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen ................................................... 285

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Einleitung

Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet Tarifautonomie gemeinhin das Recht der Tarifpartner, ohne staatliche Einmischung die Tauschbedingungen für ihre Mit-glieder am Arbeitsmarkt zu regeln. Diesem Verständnis entsprechend hat sich der Staat der Einmischung in die Ausgestaltung der kollektiven Arbeitsbeziehungen vollkommen zu enthalten. Ihm kommt lediglich die Aufgabe zu, einen institutio-nellen Rahmen, eben einen Konfliktrahmen, für diese autonome Regelung zur Ver-fügung zu stellen, in dem die kollektiven Arbeitsmarktakteure die widersprüchlichen Interessen ihrer Mitglieder temporär zu Interessenkompromissen verarbeiten kön-nen. Dieser durch Gesetzgebung geschaffene, selbst aber gesetzgebungsfreie Rege-lungsraum steht durch Ableitung aus dem Grundrecht auf Vereinigungs- und Koali-tionsfreiheit unter grundgesetzlichem Schutz.

Die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen durch kollektive Akteure genießt zwar Vorrang gegenüber staatlichem Interventionswillen, nicht aber absoluten Schutz: staatliches Handeln darf zur Garantie des staatsfreien Raums der Arbeitsbezieh-ungen nicht in Widerspruch geraten, es sei denn, die Ergebnisse der kollektivauto-nomen Ausgestaltung kollidieren nach Einschätzung des Staates mit anderen, gleichrangigen Grundrechten, mit deren Einhaltungsüberwachung er beauftragt ist. Durch diese Einschränkung wird aus der absoluten Autonomie der Tarifverbände eine relative Autonomie, und aus dem unbeteiligten Nebeneinander von Verbänden und Staat ein aufeinander bezogenes Interagieren. Tarifautonomie ist damit nicht mehr nur die Bezeichnung für die staatsfreie Aus-handlung von Arbeitsbedingungen. Tarifautonomie ist so zugleich auch Ausdruck für ein spezifisches Verhältnis zwischen Tarifverbänden und Staat, und in diesem relationalen Sinne wird der Ausdruck auch in diesem Buch verwendet. Tarifautono-mie ist insofern die institutionalisierte Synthese der Interessen der Verbände einer-seits und staatlicher Akteure andererseits. Für beide Seiten ist mithin das gefundene, mit „Tarifautonomie“ betitelte Arrangement ein Kompromiss, also eine Konfigu-ration, die für beide Seiten charakteristische Entlastungs-, aber auch Belastungs-effekte hat.

In der hier vorliegenden Arbeit werden in erster Linie die Effekte der Tarifau-tonomie aus der Perspektive staatlicher Akteure untersucht. Geleitet wird die Arbeit von der Annahme, dass der Staat durchaus bereit ist, sich für derartige Folgewir-kungen verantwortlich zu erklären und die damit verbundenen Kosten zu tragen,

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gerade weil diesen Belastungen auch Entlastungen gegenüberstehen. Tarifautono-mie ist so verstanden also ein Tauschverhältnis zwischen Verbänden und Staat. Wiegen aber die Folgewirkungen tarifverbandlichen Verhaltens für staatliche Akteu-re dauerhaft schwerer als seine Entlastungen, dann haben staatliche Akteure nicht nur ein Motiv, sondern durchaus auch Möglichkeiten, die Verantwortungsannahme zu verweigern und die von den Verbänden externalisierten Folgekosten in das Tarif-system zu re-internalisieren. Entsprechend ist das Verhältnis zwischen Tarif-verbänden und Staat keineswegs immer von Konsens geprägt. Denn darüber, wann eine interventionswürdige Situation vorliegt, gehen die Einschätzungen staatlicher und tarifverbandlicher Akteure in aller Regel deutlich auseinander. Und was sich aus diesem Interpretationsspielraum, was sich aus diesen unterschiedlichen Deutungen ergibt, das sind die Konflikte um den Konfliktrahmen. Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen. Teil I widmet sich dem Verhältnis von Tarifverbänden und Staat. Unter Rückgriff auf den Erklärungsansatz des Histo-rischen Institutionalismus werden zunächst die relevanten Interessen staatlicher Akteure beleuchtet, aus denen sich eine charakteristische Zielstruktur staatlichen Handelns im Hinblick auf Lohnarbeit ableiten lässt. Dieser Zielstruktur entspricht eine ambivalente Einstellung staatliche Akteure gegenüber den ihrem Selbstverständ-nis nach autonomen Tarifverbänden: Staatliche Akteure waren und sind (wenngleich nicht von Beginn an) einerseits bereit, die Gestaltungshoheit der Verbände anzu-erkennen, weil und solange sich daraus Entlastungs- und Stabilisierungswirkungen für den Staat ergeben (Kapitel 3). Staatliche Akteure sind andererseits bemüht, mehr oder weniger situativ das Handeln der Verbände zu beeinflussen, wenn sie befürch-ten, dass die subjektiv bewerteten Folgen des Verbandshandelns der Stabilität des politischen und/oder des ökonomischen Systems abträglich sind und Probleme her-vorrufen, deren Lösung die staatlichen Ressourcen überfordern und so zu Legitima-tionskrisen der staatlichen Akteure führen kann (Kapitel 4). Für die Beeinflussung bedienen sich staatliche Akteure verschiedener Instrumente, die zwar unterschied-lich wirksam sind, ihren gemeinsamen Nenner aber darin haben, dass sie mit der Autonomie der Tarifverbände, insbesondere der Gewerkschaften, kollidieren (Ka-pitel 6).

Teil II erarbeitet die Funktion des Begriffs „Tarifautonomie“ bei diesen Beein-flussungsbemühungen staatlicher Akteure. Die Betonung politischer Sprache als Instrument politischer Steuerung schließt zum einen an das polit-linguistische Kon-zept der Leitvokabel an, die hinreichend abstrakt sein muss, um als sprachlicher Ausdruck einer Institution auch dann zu bestehen, wenn diese Institution mehr oder weniger gravierenden Wandlungen unterliegt (Buchstein, Jörke 2003). Ein der-artiger Fokus ist zum anderen kompatibel mit den Prämissen des Historischen Insti-tutionalismus. Nur eine historisch-institutionalistisch ausgerichtete Langzeitperspek-tive bietet die Möglichkeit, Veränderungsprozesse und Kontinuitäten in den Blick

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zu bekommen (Thelen 2002; 2004). Nur so lässt sich das Wechselspiel von Diskurs und Struktur sichtbar machen und zeigen, wie einzelne Diskurse strukturverändern-de Wirkung entfalten, indem sie die Handlungsbedingungen von Akteuren und damit das Verhältnis von Staat und Tarifverbänden modifizieren; und wie diese geänderten Strukturen in der Folge wieder den Möglichkeitsraum späterer Diskurse vorgeben, mit denen dann wiederum bestehende Strukturen an aktuelle Erfor-dernisse angepasst werden usw.

In Kapitel 8 werden zunächst einige Überlegungen zur Bedeutung von Sprache bei politischer Steuerung angestellt und methodische Probleme der Datengewin-nung, -verarbeitung und -validität erörtert. Anschließend werden die Motive und möglichen Methoden der Beeinflussung gewerkschaftlichen Handelns durch staat-liche Akteure zu einer Typologie zusammengefasst, die als Grundlage für die wei-tere empirische Untersuchung dient. In dieser (Kapitel 9) wird dann das Zusam-menspiel von institutionellem Wandel und semantischer Kontinuität exemplarisch vorgeführt. Anhand von fünf Einfluss-Episoden wird einerseits gezeigt, dass und warum jeweils genau staatliche Akteure eine Einwirkung auf gewerkschaftliches Handeln für geboten hielten. Andererseits wird herausgearbeitet, wie diese Einwir-kungsversuche durch die Instrumentalisierung des Begriffs „Tarifautonomie“ flan-kiert wurden, um die Kollision des staatlichen Steuerungsanspruchs mit dem Auto-nomie-Anspruch der Verbände zu verbergen. In der Summe lässt sich zeigen, wel-che Rolle der Staat beim Wandel des bundesdeutschen Tarifsystems spielt und in-wiefern der Rückgang der Geltungskraft tarifverbandlicher Normsetzung auch die Folge staatlichen Handelns ist.

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I Tarifautonomie als Institution

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1 Tarifsystem und Tarifautonomie: eine Abgrenzung

Das deutsche Tarifsystem steht in der Kritik. Deutlich wird dies unter anderem daran, dass auch die Tarifautonomie auf den Prüfstand gestellt wird (Zohlnhöfer 1996; BMWA 2004c). Aufgrund ihrer engen inhaltlichen Verwandtschaft werden beide Begriffe oft synonym verwendet. Oft gewinnt man den Eindruck, dass in der öffentlichen Kom-munikation von Tarifautonomie gesprochen wird, wenn vom Tarifsystem und insbe-sondere vom Konstrukt der Sozialpartnerschaft zwischen den Organisationen der Ar-beitgeber und der Arbeitnehmer die Rede sein soll. Gleichwohl gibt es Unterschiede zwischen dem Tarifsystem und der Tarifautonomie: Die Tarifautonomie als empi-risches Phänomen setzt ein Tarifsystem voraus. Das Tarifsystem hingegen muss nicht zwingend autonom sein. Diese Hierarchie – keine Tarifautonomie ohne Tarifsystem – macht es erforderlich, Überlegungen zur Tarifautonomie einige Bemerkungen zum Tarifsystem voranzustellen.

Handlungsraum / Regelungsbereich

Funktion des Tarifsystems ist die kollektive Gestaltung von Arbeitsbeziehungen. Ar-beitsbeziehungen sind soziale Verhältnisse zwischen lohnabhängigen Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern. Dass die Verkaufs- und Anwendungsbedingungen der Ar-beitskraft verhandlungs- und regelungsbedürftig sind, hat seine Grundlage im indus-triellen Konflikt, also dem Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitneh-mern, der in der abstrakten Gegenüberstellung von „Kapital“ und „Arbeit“ zum Aus-druck kommt. Freilich gehören zu den Verkaufs- und Anwendungsbedingungen nichtselbständiger Arbeit nicht nur Fragen der unmittelbaren Entlohnung (also des Preises) der Arbeit, sondern sehr umfänglich auch weitergehende Aspekte wie Ar-beitszeit-, Arbeitsschutz- oder Zulässigkeitsbedingungen, die mit dem materiellen Be-griff „Tarif...“ („Preis...“) kaum ausreichend erfasst werden.

Der Gegensatz von „Kapital“ und „Arbeit“ markiert zugleich die Grenze des Tarifsystems. Einerseits werden Preise für selbständige, freiberufliche und ähnliche Ar-beit nicht innerhalb des Tarifsystems vereinbart. Andererseits strahlt die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen nichtselbständigen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf Bereiche außerhalb des Tarifsystems aus. In diesem Sinne hat die Austragung des in-dustriellen Konflikts externe Effekte, also Folgen außerhalb des Tarifsystems. Rege-lungs- und Wirkungsbereich des Tarifsystems sind also nicht kongruent.

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Duale Kollektivität Auch wenn die Aushandlung und Gestaltung von Arbeitsbedingungen letztlich immer nur auf das individuelle Arbeitsverhältnis zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber angewendet werden kann, so ist doch im deutschen Tarifsystem diese Aushandlung zu einem beachtlichen Teil kollektiven Akteuren vorbehalten. Gewerk-schaften und Arbeitgeberverbände sind die dominanten Akteure bei den Verhand-lungen über die Verkaufsbedingungen. Folgerichtig ist die vorherrschende Form der Festschreibung der Verhandlungsergebnisse zwischen beiden Seiten der Verbandsta-rifvertrag. Das Tarifsystem ist in dieser Hinsicht vor allem ein Tarifvertragssystem.

Die Dominanz kollektiver Akteure darf freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass diese letztlich Zusammenschlüsse und damit Interessenvertreter von Individuen sind, deren Arbeitsverhältnisse im einzelbetrieblichen Kontext verankert sind. Die vertraglich fixierten Ergebnisse des verbandlichen Handelns manifestieren sich grundsätzlich erst in der einzelvertraglichen Anwendung und bewirken so eine erheb-liche Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten der betrieblichen Akteure. Ver-bandlich verantwortete Tarifverträge sind abhängig von ihrer Akzeptanz bei den Ak-teuren in den Betrieben. Diese strukturelle Abhängigkeit der Verbände von der Ak-zeptanz auf betrieblicher Ebene zwingt sie, die dort vorfindbaren Interessen und Be-dürfnisse stets mit in den Blick zu nehmen.

Auch im einzelnen Betrieb können Interessen aggregiert und kollektiviert wer-den. Betriebs- bzw. Personalräte vertreten die Anliegen der Belegschaft gegenüber dem Management eines Unternehmens, aber auch die Interessen gegenüber einer überbetrieblich wirkenden Gewerkschaft. Betriebsräten kommt damit die bedeutsame Funktion der Schnittstelle zwischen der Gewerkschaftsorganisation und den Beschäf-tigten in den Betrieben zu.

Somit erfolgt die Repräsentation der Arbeitnehmerinteressen in zwei unter-schiedlichen Arenen (Schmidt 2005: 38f.). Zum einen verhandeln und vereinbaren die kollektiven Akteure Gewerkschaften und Arbeitgeberverband die „Verkaufsbedin-gungen“ der Arbeitskraft (Müller-Jentsch 1997: 195). Diese Akteure sind ihrem Wesen nach überbetrieblich strukturiert: Es gibt in der Bundesrepublik keine Betriebsgewerk-schaften (mehr). Die überbetriebliche Struktur der deutschen Gewerkschaften (Bran-chengewerkschaften, nicht Richtungsgewerkschaften) korrespondiert dabei mit ihrem Bemühen, auch die Verhandlungsergebnisse überbetrieblich umzusetzen (Flächen-tarifverträge). Die Vielzahl von Arbeitgeberverbänden spricht dafür, dass die Über-betrieblichkeit von Tarifverträgen (oder vielleicht auch nur die Überbetrieblichkeit der Aushandlung von Tarifverträgen) auch auf Arbeitgeberseite auf Interesse stößt.

Zum anderen regeln die Akteure Betriebsrat und Management die konkreten „Anwendungsbedingungen“ der Arbeitskraft im einzelnen Betrieb (Müller-Jentsch 1997: 195).

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Konfliktaustragung Die Interessengegensätze von Kapital und Arbeit werden im Rahmen des Tarifsys-tems von kollektiven Akteuren in einen Kompromiss gebracht und dieser befristet in Vertragsform gegossen. Hierin liegt die Befriedungsfunktion von Tarifverträgen: Für die Dauer der Geltung dieser Verträge sind die Interessenkonflikte eingefroren. In der Befristung von Tarifverträgen kommt aber bereits zum Ausdruck, dass Kompromisse beim Interessenkonflikt von Kapital und Arbeit immer wieder aufs Neue ausgehan-delt, gleichsam nachverhandelt werden müssen. Nicht immer führen diese Verhand-lungen sofort zu einem für beide Seiten akzeptablen Ergebnis. Um der eigenen Forde-rung Nachdruck zu verleihen, sind Arbeitskämpfe als legitimes Mittel der Konfliktaus-tragung anerkannt. Beschäftigte verweigern mit Streiks ihre Arbeitsleistung, Arbeit-geber können mit Aussperrungen reagieren. Auch wenn Arbeitskämpfe zwingend am Ort der individuellen Arbeitsverträge, also in einzelnen Betrieben ausgetragen werden, so sind doch nur die Gewerkschaften als überbetriebliche Akteure zur Organisation von Streiks legitimiert, nicht aber Betriebsräte. Konflikte werden damit ausschließlich auf der Verbandsebene ausgetragen, wenngleich sie freilich zuweilen nur die Arbeits-bedingungen eines einzigen Unternehmens zum Gegenstand haben können. Das Ta-rifsystem wird so zur Arena der Konfliktaustragung.

Autonom sind die Verbände im so beschriebenen Tarifsystem im Verhältnis zum Staat; durch ihr Recht und ihren Anspruch auf Selbstbestimmung werden sie gegen-über dem Staat zu tarifautonomen Akteuren. Ich ordne damit die relative Verhand-lungs- und Gestaltungsfreiheit der Tarifverbände gegenüber ihren Mitgliedern, also die mehr oder weniger weit reichende Unabhängigkeit der kollektiven Akteure von den Einzelinteressen in den Betrieben, nicht der Tarifautonomie zu. Zwar lässt sich die Tarifautonomie als das überbetrieblich-verbandliche Element arbeitspolitischer Selbst-regulierung ohne weiteres auch als „eine grundsätzliche regulative Schranke gegenüber der individuellen Vertragsfreiheit (Privatautonomie) und konkurrierenden Gestaltun-gen im Rahmen der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungsordnungen“ (Les-senich 2003a: 250) begreifen. Allerdings kann sich eine rechtsverbindliche Kompe-tenzverschiebung zwischen den Ebenen Tarifautonomie, Betriebsautonomie und Pri-vatautonomie nur durch gesetzgeberisches Handeln vollziehen, geht also insoweit notwendig auf staatliches Handeln und damit auf eine Änderung des Kompetenzver-hältnisses von Tarifverbänden und Staat zurück.1 Änderungen des Verhältnisses von

1 Damit zeige ich zugleich an, dass ich mich den Debatten über die Stärkung der Privatautonomie indi-

vidueller Arbeitsmarkt-Akteure in ihrem Verhältnis zu Tarifverbänden (vgl. Rüthers 2002) nicht oder nur insoweit zuwenden werde, wie diese Debatten sich auf staatliches Handeln bzw. Forderungen da-nach beziehen. Von den hier untersuchten Konflikten scheint mir dies vor allem für die Frage der Erleichterung betrieblicher Bündnisse für Arbeit zuzutreffen (Kapitel 9.5).

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tarif-„autonomen“, betriebs-„autonomen“ und privat-„autonomen“ Akteuren, die sich innerhalb bestehender rechtlicher Rahmungen vollziehen, stellen sich demzufolge als Wandel des Tarifsystems, nicht aber als Wandel der Tarifautonomie dar.

Es hat sich eingebürgert, das Recht der Tarifverbände auf abwesende Fremdbe-stimmung bei der kollektiven Gestaltung von Arbeitsbedingungen absolut zu setzen (vgl. exemplarisch: Hesselberger 2000). Darauf aufbauende Definitionsversuche zur Tarifautonomie beziehen sich in aller Regel auf die konstitutionelle Festschreibung der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit in Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Artikel berechtigt einerseits zur Bildung von Vereinigungen, die auf die Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gerichtet sind. Er schützt andererseits diese Ver-einigungen vor Bestrebungen, ihren Handlungs- und Gestaltungsspielraum einzugren-zen. Die Kurzformel für dieses Grundrecht auf wirtschafts- und arbeitsbezogene Ge-staltungsfreiheit von zu diesem Zweck gebildeten Verbänden lautet Tarifautonomie.

Dennoch ist das Aushandeln von Arbeitsbedingungen keineswegs vollkommen in das Belieben der Tarifverbände gestellt. Wir begegnen dem paradox anmutenden Umstand, dass die Tarifverbände zur autonomen Ausgestaltung der Arbeitsbeziehun-gen auf Rahmenbedingungen angewiesen sind, die nur der Staat zur Verfügung stellen und aufrechterhalten kann. Um tarifautonom agieren zu können, sind die Tarifverbän-de auf staatliche Ermöglichung angewiesen. Das Selbstbestimmungsrecht der Verbän-de gegenüber dem Staat geht also einher mit einer zumindest partiellen Staatsabhän-gigkeit; in diesem Sinne einer regulierten Selbstregulierung haben wir es mit teilauto-nomen Akteuren zu tun.

Dieses Bedingungsverhältnis von Verbänden und Staat wird in der Literatur als ein Raum beschrieben, in dem kollektive Akteure autonom die Verkaufsbedingungen der Arbeitskraft verhandeln und vereinbaren (Müller-Jentsch 1995) und dessen Gren-zen der Staat setzt (Müller-Jentsch 1995; 1997; 2003a). Sichtbar wird diese Abhängig-keit der Tarifautonomie von staatlicher Rahmensetzung in Fragen ihrer zwei Haupt-merkmale: der rechtlichen Privilegierung und der rechtlichen Verbindlichkeit tarifau-tonom, also verbandlich erzielter Kompromisse.

Rechtliche Privilegierung

In rechtlicher Hinsicht ist die Tarifautonomie Element eines dreigliedrigen Systems. Neben den kollektiven Akteuren der Tarifautonomie haben nicht nur im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes betriebliche Akteure Einfluss auf die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen in ihrem Zuständigkeitsbereich. Auch die individuellen Parteien des Arbeitsvertrages haben im Rahmen der so genannten Privatautonomie die Mög-lichkeit, Arbeitsbedingungen vertraglich auszugestalten. Wie groß diese jeweiligen Handlungsräume sind, ergibt sich aus ihrem hierarchischen Verhältnis zueinander: Pri-vatautonom kann nur ausgestaltet werden, was nicht Gegenstand einer Betriebs-

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vereinbarung ist und auf Betriebsebene kann nur vereinbart werden, was nicht in die Regelungs- und Rechtsetzungskompetenz der überbetrieblich organisierten tarifauto-nomen Akteure fällt.

Wenn dieses enge Bedingungsverhältnis zwischen Tarifautonomie, Betriebsver-fassung und Privatautonomie im Wesentlichen durch jeweilige gesetzliche Vorgaben legitimiert und eingeschränkt wird (Tarifvertragsgesetz, Betriebsverfassungsgesetz und diverse Arbeitsgesetze), dann sind gesetzgebende staatliche Akteure bei der Unter-suchung des Systems der Arbeitsbeziehungen unweigerlich mit einzubeziehen. Bereits in statischer Perspektive wird so die Begrenztheit der jeweiligen Handlungsautonomie, auch die der Tarifverbände, deutlich: Gesetze eröffnen nicht nur Handlungsmöglich-keiten, sondern beschränken sie auch.

Rechtliche Verbindlichkeit

Die Tarifautonomie gilt als kollektives Normsetzungsverfahren. Die Verhandlungs-ergebnisse zwischen den Verbänden sind für ihre Mitglieder unmittelbar verbindlich. Die Verbände sind damit in einem Ausmaß zur Rechtsetzung befugt, dass sonst üb-licherweise dem Staat vorbehalten bleibt: Tarifautonomie ist die Privilegierung der Verbände zur Gestaltung von Gesetzesrecht mittels Tarifvertrag.2 Hugo Sinzheimer, der spiritus rector des deutschen autonomen Tarifsystems, sprach schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts von den Tarifverbänden als „private Gesetzgeber objektiver Rechtsnormen für Arbeitsverhältnisse“ (Sinzheimer 1907: 81). Durch vier Aspekte wird diese Normsetzungsbefugnis noch verstärkt (vgl. Rose 2006: 33ff.): Erstens dür-fen Arbeitgeber, die durch ihre Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband einem überbetrieblichen Tarifvertrag unterliegen oder die mit einer Gewerkschaft einen betrieblichen Tarifvertrag abgeschlossen haben, nicht in Einzelvereinbarungen mit ihren (gewerkschaftlich organisierten) Mitarbeitern zu deren Lasten vom Tarifvertrag abweichen (Günstigkeitsprinzip). Zweitens ist es Betriebsräten verwehrt, Abmachun-gen mit Arbeitgebern zu treffen, wenn diese einem mit einer Gewerkschaft abge-schlossenen Tarifvertrag unterliegen und in diesem Vertrag zu der fraglichen Materie eine Abmachung getroffen wurde (Tarifvorrang). Drittens gilt ein Tarifvertrag auch über seine vereinbarte Geltungsdauer hinaus, solange er nicht durch eine andere Abmachung ersetzt wird (Nachwirkung). Und viertens unterliegen Arbeitgeber einem

2 Dies ergibt sich insbesondere aus dem Tarifvertragsgesetz (TVG, Hervorhebungen von mir):

§ 1 Abs. 1: Der Tarifvertrag regelt die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie be-triebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können. § 4 Abs. 1: Die Rechtsnormen des Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen.

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Tarifvertrag in jedem Fall während dessen gesamter Geltungsdauer, auch wenn sie während der Geltungsdauer aus dem vertragschließenden Arbeitgeberverband ausge-treten sind (Nachbindung).

Der Gesetzgeber hat aber nicht nur die Funktion, mittels so genannter Ausge-staltungsgesetze einen rechtlichen Rahmen für ein teilautonomes Tarifsystem bereit-zustellen (Butzer 1994: 378f.), sondern er ist auch mit einer Vielzahl von Einzel-gesetzen selbst an der Ausgestaltung von Arbeitsbedingungen beteiligt. Solche gesetz-lichen Normen stellen im Allgemeinen unmittelbar auf die Regelung der beiden ande-ren Kompetenzbereiche (Betriebsverfassung, Privatautonomie) ab, tangieren hier-durch aber mittelbar zugleich die Ausdehnung des tarifautonomen Raumes. Insofern lässt sich auch das rechtliche Verhältnis der tarifautonomen Verbände zur betriebli-chen und individuellen Ebene letztlich auf ein Bedingungsverhältnis zwischen tarifau-tonomen Verbänden und dem Staat reduzieren. Aus dieser Perspektive ist die Tarifau-tonomie der verbleibende Teil des die Arbeitsbeziehungen betreffenden Regelungs-raumes, nachdem der Staat mittels so genannter Schrankengesetzgebung (Wiedemann 1995: 681ff.) Regelungskompetenzen an sich gezogen oder anderen Kompetenz-ebenen zugewiesen hat und auf den die Tarifverbände Regelungsanspruch erheben.3 Erst so erschließt sich voll und ganz die verbreitete Definition, der zufolge Tarifauto-nomie ein staatlicherseits gewährter Freiraum zur kollektiven Aushandlung der Ar-beitsbedingungen ist (Müller-Jentsch 1997: 202). Damit teilt sich der gesamte Rege-lungsraum der Arbeitsbeziehungen in einen Bereich, in dem tarifautonome Akteure verbindlich normsetzend agieren können (Normsetzungsprärogative der Verbände, vgl. Butzer 1994: 379ff.) und in einen Bereich, in dem der Staat gesetzgeberisch agie-ren kann, aber nicht muss, und ihn so den betrieblichen Akteuren überlässt (Abb. 1). Tarifautonomie ist nicht ein für allemal festgelegte und absolute Staatsfreiheit beim Aushandeln der Arbeitsbedingungen durch Verbände. Tarifautonomie ist ein – prinzi-piell veränderbares – Kompetenzverhältnis zwischen Tarifverbänden und Staat.

3 Insofern stellt z.B. das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen keine Kompe-

tenzkonkurrenz zwischen Gesetzgeber und Tarifverbänden dar: Rechtsverordnungen nach diesem Gesetz kommen gerade nur dann in Frage, wenn für die fragliche Regelungsmaterie tarifvertragliche Bestimmungen nicht existieren (§§ 1 Abs. 2 und 8 Abs. 2). Im Übrigen kann dieses Gesetz bis auf weiteres nur als theoretisches Beispiel dienen: es wurde seit seiner Verabschiedung im Jahr 1952 noch nicht angewandt. Allerdings gelangt es in jüngster Zeit im Zuge der Diskussion um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zu einiger Popularität.

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Abbildung 1: Staatlicher und tarifautonomer Regelungsraum

Dieses abstrakte Schema lässt sich im Grunde auf alle Regelungsmaterien im Bereich der Arbeitsbeziehungen und -bedingungen anwenden. Es zeigt sich, dass Tarifautono-mie insgesamt letztlich die Summe ist, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aus der Zusammenführung aller Regelungsräume ergibt, in denen Verbände gegenüber dem Gesetzgeber ein Vorrecht haben, die Arbeitsbeziehungen verbindlich gestalten zu können. Allein die kaum überschaubare Anzahl solch konkreter Regelungsgegen-stände und damit Regelungsräume macht es schwer, Tarifautonomie und vor allem die Grenzen der Tarifautonomie in toto zu bestimmen. Angemessener erscheint es da-her, zu einem bestimmten Zeitpunkt und auf einen jeweils konkreten Regelungs-gegenstand bezogen den tarifautonomen Raum zu benennen.

Konflikte um den Konfliktrahmen „Tarifautonomie“ bezeichnen also nicht konkrete Konflikte zwischen Tarifverbänden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Aus-gestaltung von Arbeitsbedingungen. Vielmehr haben sie die Tarifautonomie selbst, ihre sach- oder akteursbezogene Ausdehnung oder ihre Auswirkungen, zum Inhalt. Konflikte um den Konfliktrahmen „Tarifautonomie“ sind somit in letzter Konse-quenz Konflikte um die Regelungskompetenzen von Verbänden und Staat. An den diesbezüglichen Debatten nehmen keineswegs nur verbandliche und staatliche Akteu-re teil. Die vorliegende Arbeit will ihren Fokus jedoch richten auf die „Kompetenz-konkurrenz“ von Verbänden und Staat und auf ihr jeweiliges Konfliktverhalten.

Konflikte um Regelungskompetenzen haben die Größe von Regelungsbereichen und Handlungsräumen zum Gegenstand. Konflikte treten hervor, wenn Uneinigkeit darüber besteht, wo die Grenze zwischen verbandlichem und staatlichem Regelungs-raum sinnvollerweise zu ziehen ist. Dabei ist das Bild des Handlungsraumes durchaus mehrdeutig: es meint die räumliche Ausdehnung tarifautonomer Befugnisse im enge-ren Sinne, etwa die Ausprägung der dualen Kollektivität und ihre Bedeutung für die Überbetrieblichkeit verbandlichen Wirkens, also das Verhältnis von Gewerkschaft und Betriebsrat/ Belegschaft im „Sozialraum Betrieb“ (Kuhlmann 2004) ebenso wie im weiteren Sinne die Ausdehnung der jeweiligen Regelungsbefugnisse bezüglich einer konkret beschreibbaren Regelungsmaterie, also etwa des Anteils der Gesetzgebung am möglichen Gestaltungsspielraum.

Konflikte um die Aufteilung von Regelungskompetenzen sind insofern immer auch Konflikte um die rechtliche Privilegierung und um die Verbindlichkeit tarifauto-

Regelungsraum insgesamt

Raum, in dem Staat alleinige Rechtsetzungsbefugnis hat

Raum, in dem die Verbände tarifautonom agieren können

Grenze

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nomer Aushandlungsergebnisse gegenüber Vereinbarungen, die ohne Verbandsbetei-ligung einzelbetrieblich oder individuell getroffen werden. Solche Konflikte können zu Konflikten über die Handlungsfähigkeit der beteiligten Akteure generell führen. Das gilt vor allem für verbandliche Akteure, deren Handlungsfähigkeit auf der frei-willigen Folgebereitschaft ihrer Mitglieder beruht (Kropp 1999). Dies ist der Grund, weshalb auch vergleichsweise „kleine“ und unbedeutende Konfliktgegenstände zuwei-len ein Konfliktausmaß annehmen, das außenstehenden Beobachtern als überhöht er-scheint. Es ist weniger ein konkreter Regelungsgegenstand, sondern vor allem die Sorge um die eigene Handlungsfähigkeit, die verbandliche und staatliche Akteure im-mer wieder zu Auseinandersetzungen um die Tarifautonomie motiviert.

Konflikte um die Tarifautonomie sind ein Indiz für die Unzufriedenheit mit dem Status Quo eines Kompetenzverhältnisses; sie stehen dafür, dass die Folgen des ein-mal gefundenen Kompetenzarrangements mindestens eine der beteiligten Seiten nicht mehr befriedigen, sei es, weil sich Interessenlagen verschoben haben oder weil sich die Leistungsfähigkeit des Arrangements gewandelt hat. Doch auch wenn solche Konflik-te beobachtbar sind, so erweist sich doch die Tarifautonomie als soziales Konstrukt als ausgesprochen stabil. Keineswegs endet jeder singuläre Konflikt um die Tarifauto-nomie in ihrer Änderung oder gar Aufhebung. Zwei Schlussfolgerungen sind denkbar und zu überprüfen: entweder besitzt die Tarifautonomie als grundsätzliches Kompe-tenzverhältnis zwischen Staat und Verbänden eine beachtliche Beharrungs- und fort-dauernde Durchsetzungskraft, der einzelne Konflikte nichts Bestandsgefährdendes anhaben können. Oder das Konstrukt der Tarifautonomie ist in einer Weise flexibel und anpassungsfähig, dass es Interessenverschiebungen integrieren kann, ohne als grundsätzliche Leitidee und Ordnungsvorstellung daran Schaden zu nehmen. Es wird sich zeigen, dass beides zutrifft: Tarifautonomie ist ein institutionalisiertes und zu-gleich anpassungsfähiges Kompetenzarrangement zwischen Verbänden und Gesetz-geber. Dies gilt es in den nächsten Abschnitten zu belegen.

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2 Tarifautonomie als institutionalisiertes Arrangement zwischen Tarifverbänden und Staat

2.1 Institutionen als „Hort der Stabilität“ In der politischen Öffentlichkeit hat sich die Verwendung des Begriffs „Tarifautono-mie“ im Singular etabliert. Offensichtlich symbolisiert der Begriff mehr als nur eine konkrete (von vielen möglichen konkreten), auf eine bestimmte Regelungsmaterie (von vielen möglichen Regelungsmaterien) bezogene Kompetenzstruktur zwischen Staat und Verbänden. Zugleich fällt auf, dass der Begriff“ ohne weitere Erklärung ver-wendet wird. Tarifautonomie scheint ein selbstverständlicher, sich selbst erklärender gesellschaftlicher Tatbestand zu sein. Es ist zu vermuten, dass der Begriff „Tarifauto-nomie“ sich in einem Maße verselbständigt hat, das der Tarifautonomie den Charakter einer „black box“ verleiht: Die Vielschichtigkeit des sozialen Konstrukts „Tarifauto-nomie“ wird bei seiner Erörterung nicht reflektiert. Das macht es plausibel, aus insti-tutionentheoretischer Perspektive nach seinem Charakter zu fragen.

Institutionen sind der Inbegriff von Stabilität, Beharrung und Dauer (Lessenich 2003b: 277). Im sozialwissenschaftlichen Sinn sind sie objektivierte und normierende Handlungsordnungen (Rehberg 1994: 56), die umso stabiler sind, je selbstverständli-cher sie als strukturierender Teil der Lebenswelt anerkannt, unhinterfragt oder gar un-erkannt bleiben (Soeffner 1998: 276). Sie sind „Hort der Stabilität in der Vielfalt sozia-ler Aktionen und Beziehungen, sie sichern Kontinuität in der Abfolge der Situatio-nen“ (Göhler 1997: 21). Für den institutionellen Charakter der Tarifautonomie spricht bereits, dass sie ein auf Dauerhaftigkeit angelegtes Konstrukt ist. All ihre genannten Kennzeichen können sinnvoll nur in ihrer relativen Dauerhaftigkeit zur Geltung kommen. Das gilt für die garantierte Freiheit kollektiven Handelns von staatlichen Zwangsmaßnahmen im Geltungsbereich der Arbeitsbeziehungen ebenso wie für eine Gesetzgebung zur detaillierten Ausgestaltung dieser Verfassungsgarantien. Auch die beschriebene Privilegierung kollektiver Akteure hinsichtlich ihrer Rechtsetzungsbefug-nis erscheint nur sinnvoll, wenn man den Regelungskompetenzen dieser Akteure Dauerhaftigkeit zuschreibt. Nicht zuletzt spricht aber auch die Einbindung der Tarif-verbände in die Interessensformationen auf betrieblicher Ebene für Dauerhaftigkeit im Sinne von Berechenbarkeit: autonomes Handeln der Verbände ist ohne wiederhol-te Rückkopplung an die betriebliche Ebene nicht denkbar, was zwangsläufig zur Ver-festigung dieser Beziehungen führt (vgl. Scharpf 2000a: 233). Das gilt in gleicher

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Weise auch für die Beziehungen zwischen kollektiven Arbeitsmarktakteuren und dem Staat.

Dennoch ist mit dem Befund, dass ein wesentliches Merkmal des Konstrukts „Tarifautonomie“ seine Permanenz ist, noch nicht viel gesagt. Dauerhaftigkeit ist ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium einer Institution. Unter dem Label „Tarifautonomie“ gestalten verbandliche und staatliche Akteure geordnet, strukturiert und unter Anwendung von Verfahrensregeln ihre Sozialbeziehungen. Agieren im Rahmen der Tarifautonomie hat Ordnungsmuster etabliert, an denen sich nicht nur die Verbände im System der Arbeitsbeziehungen orientieren, sondern auch staatliche Ak-teure bei der Nutzung ihrer Interventionsbefugnisse. Da diese Ordnungsmuster mehr-heitlich durchgesetzt oder aber von ihnen zumindest soweit anerkannt sind, dass sie bei Handlungsentscheidungen berücksichtigt werden (müssen), handelt es sich um in-stitutionelle Ordnungsmuster und Strukturierungen der erwähnten Sozialbeziehungen.

Lepsius (1995a: 394) bezeichnet als Institution jede Form der sozialen Strukturie-rung, die einen gesellschaftlichen Wertbezug handlungsrelevant werden lässt. Institu-tionen sind damit mehr als bloße, auf Dauer gestellte Einrichtungen, die in einem spe-zifischen Problembezug den Handlungsraum von Akteuren umgrenzen. Als Ord-nungsmuster strukturieren sie Sozialbeziehungen auf Basis gesellschaftlicher verfestig-ter Bedürfnisstrukturen (Schelsky 1970: 17) und entlang daraus abgeleiteter allgemein anerkannter Werte und Normen, die ständiger Infragestellung entzogen sind. Institu-tionen vollbringen somit Orientierungs-, Regulierungs- und Relationierungsleistungen.

Als Ordnungs- und Handlungsrahmen für konkrete Situationen bedürfen Insti-tutionen normativer Geltungsbegründungen. Ihre orientierende Funktion liegt in der Auf-rechterhaltung bestimmter Vorstellungen sozialer Ordnung (Lessenich 2003a: 43); In-stitutionen sind Garanten kollektiv anerkannter Normen (Soeffner 1998: 282). Derar-tige Ansprüche werden symbolisch vermittelt als Leitidee dargestellt. Es sind diese sym-bolvermittelten Leitideen, die sozialen Konstruktionen ihren institutionellen Charakter verleihen (Rehberg 2002). Je tiefer Leitideen, also grundlegende Werte und Ordnungs-vorstellungen, von Angehörigen einer Referenzgruppe, den institutionellen Adres-saten, verinnerlicht werden und je mehr sie in der Folge als legitim anerkannt werden, desto stärker prägen sie die Orientierungs- und Handlungsmuster dieser Akteure. Erst durch die Internalisierung von Leitideen erfolgt die Objektivierung von Ordnungs-mustern und Handlungsrahmen, das heißt, deren Befreiung von beständiger, situativer Infragestellung. Leitideen sind dann nicht mehr beliebig veränderbar (Stölting 1999).

Institutionen dienen der Rationalisierung von Leitideen, also gleichsam der Übersetzung grundlegender Werte, Normen und Ordnungsvorstellungen in konkrete Handlungsvorgaben (Lepsius 1997a). Hierin liegt die regulierende Funktion von Institu-tionen. Eine Institution, so die implizite Rechtfertigung durch Bezug auf Leitideen, steht als wertebezogene Handlungsvorgabe für etwas Überpersönliches und Übersitu-atives, in das sich ein konkreter und aktueller Status einer Sozialbeziehung von kon-kreten Akteuren eingruppieren lässt. Institutionen vollbringen also Abstraktions- und

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damit zugleich gewichtige Entlastungsleistungen. Sie typisieren soziale Situationen und steigern damit für beteiligte Akteure die Wiedererkennbarkeit konkreter Situationen, stabilisieren also Erwartbarkeit (Rehberg 2002). Damit verbunden sind jedoch zu-gleich auch Prozesse der Objektivierung und Entsituierung von Sozialbeziehungen (Rehberg 1990: 139): Die Wahrnehmung einer konkreten Situation wird von Akteuren mit typischen sozialen Situationen abgeglichen und bei Übereinstimmung in einem Ordnungsarrangement bewältigt, das eine als handlungsrelevant empfundene Institu-tion bereit stellt. Wenn eine konkrete Situation einem bestimmten Typ von Situation zuordenbar ist, dann hat man sich in typischer Weise zu verhalten. Situationstypisch verhält sich, wer sein Handeln an Werten ausrichtet, die in Form von Leitideen als be-wahrens- bzw. erstrebenswert durchgesetzt und im günstigsten Fall allgemein aner-kannt sind und deren Geltung durch das Verhalten in der konkreten Situation tangiert wird. Je weniger dabei die Möglichkeit anderer möglicher Ordnungsarrangements er-wogen wird, desto institutionalisierter ist dieser Ordnungsrahmen.

Die darin anklingende Möglichkeit, dass institutionalisierte Handlungsrahmen sowohl im Zeitverlauf als auch im Verhältnis zu anderen Institutionen mal stärker, mal schwächer wirksam sind, erklärt sich aus der Vielzahl von Ideen und Interessen. Auf welche Leitideen sich die Trägerakteure einer Institution berufen, und was den Handlungsvorgaben einer Institution entsprechend als wünschenswert gilt, ist das Er-gebnis von Aushandlungsprozessen und Interessenvermittlung; Leitideen und darauf aufgebaute Institutionen sind insofern immer „Kampfprodukt und eine Synthese von Widersprüchlichem“ (Rehberg 2002: 49). In pluralistisch-demokratisch organisierten Gesellschaften ist die Konkurrenz von Leitideen der Normalfall. Es ist durchaus vor-stellbar, dass in ein und derselben Referenzgruppe Leitideen dominant sind, deren Ra-tionalisierungen zu Zielkonflikten, zu einem System von Leitdifferenzen (Rehberg 1994: 69) führen. Üblicherweise lösen gesellschaftliche Akteure derartige Konflikte nicht durch Aufgabe einer der betroffenen Leitideen, sondern durch Vermittlung. In diesem Sinne sind Institutionen Bedürfnis- und Funktionssynthesen (Schelsky 1970: 19; Hervorh.i.O.). Eine wesentliche Aufgabe von Institutionen ist es also, nicht auflösbare Spannungen in nicht-systemgefährdendes Verhalten umzulenken und damit zu ent-schärfen (Schelsky 1970: 24). Prominentes Beispiel für solche Vermittlungen ist in der Bundesrepublik die Verknüpfung zweier Leitideen („Kapitalismus“ und „Sozialstaat-lichkeit“) zur vermittelten Leitidee der „sozialen Marktwirtschaft“ (Lepsius 1995a: 399). Das Beispiel zeigt zugleich eine Grundeigenschaft von Leitideen, und damit ein Grundproblem der Institutionenanalyse: Oft ist es gerade das Unbestimmte, Ausle-gungsfähige, Interpretationsoffene einer Leitidee, das ihr Stabilität verleiht (Rehberg 1994: 68). Wenn es aber bereits schwierig oder gar umstritten ist, die Kerninhalte von Leitideen wie „Kapitalismus“ oder „Sozialstaatlichkeit“ punktgenau zu bestimmen, muss sich diese Unbestimmtheit notwendig auf die daraus abgeleiteten Institutionen ebenso übertragen wie auf abgeleitete Leitdifferenz-Systeme und deren Institutionen. Auch verschiedene Institutionalisierungsformen ein und derselben Leitidee können

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konkurrieren. „Sozialstaatlichkeit“ als Leitidee lässt sich auf verschiedenen Wegen in-stitutionalisieren: etwa durch unmittelbare staatliche Verantwortlichkeit für soziale Si-cherung oder mittels selbstverantwortlicher Konfliktlösung durch gesellschaftliche Akteure innerhalb staatlich gesetzter Handlungsräume. Aus dem Mit-, Neben- und Gegeneinander von Leitideen ergibt sich die Institutionenordnung als Merkmal (von Teilbereichen) einer Gesellschaft. Einem Verständnis von Tarifautonomie als Be-standteil der Institutionenordnung der Bundesrepublik Deutschland liegt damit impli-zit die Annahme zugrunde, dass Tarifautonomie als Resultat von Interessenkämpfen die Konkretisierung einer oder mehrerer Leitideen und deren Überführung in Verhal-tensnormen ist. Lepsius (1990: 71ff.) zufolge sind Betriebsräte-, Mitbestimmungs- und Tarifvertragssystem drei miteinander verbundene Ebenen der Institutionalisierung der Austragung des industriellen Konfliktes. Das Kollektivvertragswesen ist damit Be-standteil der heterogenen institutionellen Ausformung des Regelungssystems der Ar-beitsbeziehungen, dessen verhaltensleitende Ordnungsideen sich insgesamt in der so-zialen Marktwirtschaft, der Sozialstaatlichkeit und der Sozialpartnerschaft von Ge-werkschaften und Arbeitgeberverbänden manifestieren (Lepsius 1990: 76; vgl. auch Lessenich 2003b). Aus dem Konflikt der beiden Leitideen „kapitalistische Rentabili-tät“ und „Sozialstaatlichkeit“ hat sich ein „ständiger Institutionenkampf [entwickelt], dessen Austragung im Tarifvertragswesen wiederum zur Institutionalisierung der Leit-idee selbstverantwortlicher Vertragsschließung zwischen den Tarifparteien geführt hat“ (Lepsius 1995a: 399).

Indem Institutionen vergleichsweise dauerhaft Handlungen vorstrukturieren und soziale Beziehungen regulieren, strukturieren und stabilisieren sie zugleich soziale Hierarchien und Positionengefüge. Hierin liegt die relationierende Funktion von Institu-tionen. Innerhalb institutioneller Arrangements haben Akteure spezifische Rollen inne, und nicht selten werden sie durch ihre institutionelle Einbettung auf diese spezi-fische(n) Rolle(n) reduziert. Zur komplexitätsreduzierenden Entsituierung durch insti-tutionelle Arrangements kommt also eine ebenso komplexitätsreduzierende Entsub-jektivierung hinzu. In diesem Sinne sind Institutionen objektivierte soziale Bezieh-ungen (Strünck 2000: 44). Sie bieten Akteuren die Möglichkeit, unaufwändig ihre je-weilige Position in einer typischen konkreten Situation zu bestimmen. Sie geben vor, worüber, wie und mit welchen Mitteln Akteure in einer solchen Situation miteinander agieren können. Sie „formen die Interaktionsorientierungen von Akteuren in sozialen Handlungskonstellationen – und bewirken damit die Ausbildung institutionsbedingt aufeinander bezogener, relationaler Akteursidentitäten“ (Lessenich 2003a: 50). Von Vorteil ist diese Komplexitätsreduktion aufgrund der daraus resultierenden Verhal-tens- und Erwartungssicherheit (Rehberg 2002). Akteure werden sich bei ihren Hand-lungsentscheidungen an diesen institutionell verfestigten Strukturen orientieren. Be-züglich des eigenen Verhaltens reduziert dies Entscheidungskosten, das Verhalten von Interaktionspartnern ist berechenbar. Nachteilig kann sich diese Autonomisierung der Institution auswirken, wenn sie den Blick auf attraktivere Gestaltungsmöglichkeiten

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sozialer Beziehungen verstellt oder aber durch die Art der Handlungsstrukturierung externe Effekte erzeugt, die einschränkend auf Handlungsmöglichkeiten von Akteu-ren außerhalb des institutionalisierten Ordnungsrahmens wirken (Lepsius 1995a: 397). Das heißt: Aus der Institutionalisierung von Handlungsmustern können sich nicht nur Ent-, sondern auch Belastungen ergeben (Rehberg 1990: 135).

Für institutionelle Adressaten, also die den institutionalisierten Verhaltenserwar-tungen ausgesetzten Akteure, attraktiv oder zumindest von ihnen dauerhaft akzeptiert sind institutionelle Arrangements somit dann, wenn sie hinsichtlich der Gestaltung von Sozialbeziehungen einerseits genügend Erwartungssicherheit bieten können und andererseits einen ausreichend flexiblen Handlungsraum bieten. Zudem ist die Stabili-tät einer Institution abhängig davon, ob außerhalb des institutionellen Handlungskon-textes in ausreichendem Maß Anerkennungsbereitschaft vorliegt, ob also externe Ak-teure bereit sind, die möglicherweise entstehenden Kosten institutioneller Externali-sierungen zu übernehmen. Da aber die Interessen von institutionell eingebetteten wie auch von externen Akteuren auch von sozialen Entwicklungen außerhalb dieses insti-tutionellen Arrangements beeinflusst werden, sind Bedürfnisveränderungen nicht aus-zuschließen. Sich ändernde Interaktionsorientierungen (Hall 1986: 19) konfrontieren derart unter Umständen auch die Trägerakteure einer Institution mit veränderten Er-wartungen der institutionellen Adressaten. Das kann dazu führen, dass auch bereits etablierte Institutionen zu verstärkter Legitimitätsbehauptung und zu erneuerten Funktions- und Bedürfnissynthesen gezwungen sein können, sollen sie nicht insge-samt an Strukturierungsmacht verlieren. Hierin liegt das dynamische Element einer jeden Institution. Institutionen ändern sich nicht so schnell wie Bedürfnisse der in und mit ihnen agierenden Akteure. Aber Institutionen sind auch längst nicht so statisch, wie gelegentlich suggeriert wird.

2.2 Institutionen als dynamische Konstellationen Von sozialwissenschaftlichem Interesse sind insofern vor allem Institutionalisierungs- und ggf. Deinstitutionalisierungsprozesse. Dabei muss die Institutionenanalyse histo-risch gesättigt (Weinert 1997: 89) sein: Es geht darum, Institutionen als Resultat, aber auch als Gegenstand politischer Konfliktaustragungsprozesse zu begreifen. Institutio-nenwandel ergibt sich aus der Veränderung des Verhältnisses von institutioneller Effizienz und sozialer Legitimität im Zeitverlauf. Erst diese Perspektive erlaubt es, institutionellen Wandel jenseits von Beharrung und Niedergang als pfadabhängig, in-krementell und kumulativ zu erfassen (Lepsius 1997a, Thelen 2004). Institutionen-analyse kann sich daher nicht mit der Betrachtung bestehender Formen vorgefun-dener Institutionen begnügen. Sie muss notwendig die Geschichte eines institutio-nellen Arrangements in den Blick nehmen, also seinen Ursprung, seine Reproduk-tionsfähigkeit und seine Fähigkeit der Anpassung an sich ändernde Umwelten.

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In einem für die Institutionenforschung wegweisenden Aufsatz identifizieren Hall und Taylor (1996) zwei grundsätzliche, weitgehend getrennt voneinander entstan-dene Erklärungsansätze für Entstehung, Persistenz und Wandel von Institutionen: zum einen eine rationalistisch-utilitaristische Institutionentheorie (Rational Choice-In-stitutionalismus) und zum anderen eine soziologisch-konstruktivistische Institutionen-theorie (Soziologischer Institutionalismus). Ihrer Auffassung nach können beide An-sätze einiges zur Erklärung von politischen Institutionen beitragen, weisen aber zu-gleich auch Erklärungsdefizite auf. Diese Defizite lassen sich überwinden durch Ver-bindung beider Ansätze zum überwölbenden, eklektizistischen Ansatz des Histori-schen Institutionalismus (vgl. Steinmo et al. 1992; Thelen 2002). Die beiden in ihn ein-geflossenen Erklärungsansätze bezeichnen Hall und Taylor (1996: 939) als calculus approach und als cultural approach.

Im Rahmen des calculus approach wird der instrumentelle, utilitaristische Charakter des Verhaltens von Akteuren betont. Akteure haben ein festes Set von Präferenzen, und ihr Verhalten ist instrumentell an diesen Präferenzen ausgerichtet. Sie agieren entsprechend strategisch und kalkulieren bewusst sowohl die Folgen ihres Verhaltens als auch die Verhaltensweisen anderer Akteure. Institutionen entstehen dieser Lesart zufolge als Möglichkeit der Überwindung von Dilemmata, die auftreten, wenn in interaktiven Zusammenhängen alle Akteure mit dem Ziel der Nutzenmaximierung ihre Präferenzen verfolgen. In solchen Situationen sichern Institutionen kooperatives Verhalten der beteiligten Akteure ab und statten sie mit Sicherheit über gegenwärtiges und zukünftiges Verhalten anderer Akteure aus. Dauerhaft sind Institutionen, wenn sie aus Sicht relevanter Akteure mehr Nutzen hervorbringen als andere institutionelle Lösungen, wenn sie also ein Nash-Gleichgewicht zur Überwindung kollektiver Dilem-mata herstellen und aufrechterhalten. Hall und Taylor (1996) schreiben diesem Institu-tionenverständnis einen hohen Erklärungswert zu. Zugleich machen sie auf die Gren-zen eines solchen Verständnisses der Entstehung und Verfestigung von Institutionen aufmerksam. Zum einen kritisieren sie den impliziten Funktionalismus eines solchen Verständnisses, weil es die Möglichkeit ineffizienter Institutionen definitionsgemäß ausschließt. Zum anderen erachten sie ein solches Verständnis als intentionalistisch und voluntaristisch, da es impliziert, dass Institutionen als Mittel strategischer Kalkula-tion willentlich in und außer Kraft gesetzt werden können. Damit wird das im Zusam-menhang mit Institutionen stets mitlaufende Element der Verhaltensrestriktion und des bedingten Handlungszwangs deutlich relativiert, wenn nicht gar aufgehoben.

Erst in Verbindung mit den theoretischen Annahmen des cultural approach, also der Betonung der kulturellen Anteile einer Institution können die Defizite rein ratio-nalistischer Erklärungen überwunden werden. Diesem kulturalistischem Ansatz zufol-ge geben Institutionen nicht nur vor, wie sich ein Akteur verhalten sollte, sondern sie bestimmen auch den Rahmen, innerhalb dessen ein Akteur in einem gegebenen Kon-text überhaupt Handlungsmöglichkeiten wahrnimmt. Daraus folgt, dass Institutionen nicht nur die Handlungsstrategien, sondern auch die zugrunde liegenden Handlungs-

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präferenzen selbst beeinflussen. Das Verhalten von Akteuren ist entsprechend nicht vollständig strategisch, sondern wird begrenzt von deren individueller Weltsicht, ist geprägt von Routinen und vertrauten Verhaltensmustern zur Erreichung individueller Ziele und ist abhängig von Situationsdeutungen und -interpretationen. Insofern sind Institutionen nicht nur formale Regeln und Prozeduren, sondern auch Symbolsysteme und moralische Schablonen zur Rahmung menschlichen Verhaltens, die als Filter für Interpretationen dienen. Anders als im rationalistisch-kalkulatorischen Ansatz haben Institutionen damit auch das Potential, die Identität und das Selbstbild eines Akteurs zu beeinflussen. Und ebenfalls anders als im calculus approach leitet sich aus den An-nahmen des cultural approach die Möglichkeit ab, dass Institutionen entstehen, weil durch sie das Handeln relevanter Akteure legitimiert werden kann, auch wenn dieses Handeln für andere Akteure von Nachteil bzw. in der Gesamtbetrachtung ineffizient ist (Hall, Taylor 1996: 949). Die in dieser Möglichkeit von Ineffizienzen implizit mit-gedachten Machtungleichgewichte zwischen relevanten Akteuren bieten zugleich die Erklärung für die Persistenz von Institutionen. Sie bestehen, gerade weil viele ihrer Konventionen sich nicht ohne weiteres von einzelnen Akteuren ändern lassen. Sub-stantielle Änderungen einer Institution bzw. Abweichungen von Entwicklungspfaden ergeben sich damit in der Regel aus außergewöhnlichen Ereignissen, so genannten critical junctures, die zu Verschiebungen von Machtverhältnissen und Durchsetzungs-chancen führen.

In der Zusammenführung des calculus approach, der Akteursverhaltens als stra-tegisch-kalkulierend beschreibt, und des cultural approach, der die Bedeutung von Routinen, Symbolen, Ideen und Machtverhältnissen für Akteursverhalten betont, ent-wickeln Hall und Taylor (1996: 955) eine Form von Akteurshandeln, dass innerhalb gewisser Schablonen strategisch sein kann. Sie messen jedoch nach wie vor den ratio-nalistischen Erklärungsanteilen, die sich auf die mögliche Effizienz einer Institution beziehen, einen großen Stellenwert zu.

An diesem Punkt setzt Piersons (2000b) Kritik an. Auch er schließt keineswegs aus, dass Institutionen zweckmäßige Konsequenzen für jene Akteure haben können, die diese Institution erschaffen haben. Allerdings hält er die Auffassung, Institutionen seien das Ergebnis intentionaler und weitsichtiger Entscheidungen zielgerichteter, in-strumenteller Akteure, für zu simpel – und zwar selbst unter der kulturalistischen Ein-schränkung, dass von den institutionalistischen Effekten nicht alle beteiligten Akteure in gleicher Weise profitieren: Zum einen haben „institutionelle Designer“ nur selten einen so langen Zeithorizont, dass bereits bei der Erschaffung einer Institution ihr Wandel mit einkalkuliert, gleichsam vorprogrammiert werden kann. Institutioneller Wandel entzieht sich somit weitgehend dem Erklärungsmuster weitsichtiger, ziel-gerichteter Planung. Zum anderen steigt mit zunehmender sozialer Komplexität auch die Wahrscheinlichkeit unintendierter institutioneller Effekte, so dass die sichtbaren institutionellen Effekte weder intendiert noch antizipiert sein müssen. Aus diesen kog-nitiven Einschränkungen ergibt sich die Frage nach der Existenz und Persistenz von

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„Institutionen mit nichtfunktionalen Wurzeln“ (Pierson 2000b: 493). Oft, so Pierson, folgt die Beantwortung dieser Frage der Argumentationsfigur des emergenten Funk-tionalismus, also der Vorstellung, dass eine Institution dauerhaft Geltungskraft entfal-ten kann, weil sie im Laufe ihres Bestehens für beteiligte Akteure funktional wurde (Pierson 2000b: 486). Auch diese Denkfigur ist Pierson (2000b, 2000a) zufolge unter-komplex, da sie die vielschichtige Veränderungsresistenz von Institutionen zu wenig in den Blick nimmt: Diese Resistenz ergibt sich oft aus einem spezifischen Grün-dungsdesign, mit dem andere mögliche institutionelle Alternativen für die Zukunft ausgeschlossen werden sollen. In der Regel mit der Intention, in aktuell noch unbe-kannten Kontexten die Handlungsmöglichkeiten späterer Nachfolger zu beschränken, beschränken sich politische Akteure durch die Schaffung einer politischen Institution zugleich oft selbst, zum Beispiel durch schwer veränderbare konstitutionelle Fest-schreibung von institutionellen Arrangements. Verstärkt werden können institutio-nelle Veränderungsresistenzen einerseits durch die erwähnten kognitiven Grenzen der Akteure und die daraus abzuleitenden begrenzten Fähigkeiten der Selbst-Korrektur (Pierson 2000b: 489f.), andererseits durch „increasing returns“ (Pierson 2000a): Je länger institutionelle Verpflichtungen bestehen, umso höher sind die Kosten eines Abweichens von eingespielten Entwicklungspfaden, und zwar selbst dann, wenn un-intendierte Konsequenzen sichtbar werden oder sich Präferenzen beteiligter Akteure ändern. Das begrenzt ihren Handlungsraum.

Dieser fundamentalen Kritik Piersons am impliziten Funktionalismus vieler In-stitutionen-Erklärungen ist zwar entgegenzuhalten, dass sie selbst einseitig im rationa-listischen Argumentationsbereich des calculus approach verbleibt. Zu wenig nimmt er die Erweiterung kulturalistischer Erklärungsansätze in den Blick, die darin besteht, dass Akteure nicht nur ihr Verhalten, sondern auch ihre Präferenzen an gegebene Institu-tionen anpassen und selbst das Wirken dieser Institutionen im Laufe der Zeit deshalb für angemessen erachten können, weil sie unter den gegebenen einschränkenden Um-ständen zu optimalen Effekten führen. Dessen ungeachtet ist Piersons Hinweis für die Institutionanalyse von großer Bedeutung. Keineswegs kann man per se davon aus-gehen, dass es Institutionen gibt und dass sie überdauern, weil sie funktional sind. Zu-mindest sollten bei Erklärungsversuchen zu Entstehung und Wandel von Institu-tionen funktionalistische Prämissen ersetzt werden durch funktionalistische Hypothesen; und diese funktionalistische Hypothesen sollten ergänzt und kontrastiert werden mit Hypothesen, die auf mögliche nichtfunktionale Wurzeln von Institutionen abheben (Pierson 2000b: 493ff). Das erfordert zwingend nicht nur eine Überwindung eines rein funktionalen Denkens, sondern auch eine intertemporale Betrachtung der Ent-wicklung von Institutionen.

An dieser Grundanordnung einer Untersuchung im Sinne des Historischen Institutio-nalismus wird sich das weitere Vorgehen der vorliegenden Arbeit orientieren. Zu-nächst beleuchte ich den Gründungskontext der Institution „Tarifautonomie“. Ich

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werde zeigen, inwiefern insbesondere die Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes einen Kompromiss darstellt, der wesentlich auf das Wirken der amerikanischen Be-satzungsmächte zurückgeht, denen an der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Struk-turen gelegen war und die zu diesem Zweck die in Weimarer Tradition stehenden staatskorporatistischen Ambitionen der zuständigen deutschen Behörden ebenso zurückwiesen wie die Sozialisierungs- und Gemeinwirtschaftsvorstellungen großer Teile der Gewerkschaften (Kapitel 3.1). Im Weiteren schildere ich die Verfestigung der Institution „Tarifautonomie“ (Kapitel 3.2). Diese Institutionalisierung ergibt sich nicht nur aus der zunehmenden Akzeptanz der Tarifautonomie infolge der Fest-schreibung der Koalitionsfreiheit im Grundgesetz. Sie ist vor allem auch im Zusam-menhang zu sehen mit der Durchsetzung der Konzeption der „Sozialen Marktwirt-schaft“. Insgesamt ist hier zu zeigen, dass durch die Anbindung der Tarifautonomie an das Konstrukt der „Sozialen Marktwirtschaft“ die Gewerkschaften trotz vorhan-dener Skepsis subtil gezwungen waren, bei ihrem Handeln die Dominanz marktwirt-schaftlicher Strukturen anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund verloren in der weite-ren Entwicklung die zentralistischen und staatskorporatistischen Präferenzen der rele-vanten staatlichen Akteure der „Gründerjahre“ der Bundesrepublik bald an Bedeu-tung. Schließlich werden die verfassungsrechtlichen Mechanismen beleuchtet, die dazu führen, dass die Institution Tarifautonomie trotz ihrer Verfestigung anpassungs-fähig an sich ändernde Verhältnisse und Interessenstrukturen ist (Kapitel 3.3).

An diese Ausführungen anschließend untersuche ich dann, inwieweit Effekte der Tarifautonomie mit Interessen staatlicher Akteure vereinbar sind. Ich unterstelle also nicht von vornherein, dass die Dauerhaftigkeit der Institution Tarifautonomie, in Pier-sons Terminologie, ein Beleg ihrer „Funktionalität“ ist. Vielmehr gehe ich von der Möglichkeit aus, dass einige Effekte des tarifverbandlichen Handelns für staatliche Akteure Entlastungs-, andere hingegen Belastungswirkungen haben können. Damit prüfe ich also funktionalistische Hypothesen (Pierson 2000b: 493). Ein geeigneter analytischer Bezugspunkt dafür ist das Konzept des Interesses des Staates an sich selbst (Kapitel 4). Dieser Untersuchungsschritt hat das Ergebnis, dass die Institution „Tarifautonomie“ zu Effekten führt oder führen kann, die den Interessen staatlicher Akteure zuwiderlaufen (Kapitel 5). Daraus leitet sich das Bedürfnis staatlicher Akteure ab, auf die Bedingungen, Inhalte und Grenzen tarifautonomer Regulierung der kollek-tiven Arbeitsbeziehungen in ihrem Sinne einzuwirken. Diese Einwirkungsbemü-hungen staatlicher Akteure werden als institutionelles Flexibilitätsmanagement vorge-stellt und die diesbezüglichen Möglichkeiten systematisiert und zu Hypothesen verar-beitet (Kapitel 6), die dann im Weiteren an fünf Fallbeispielen überprüft werden.

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3 cultural approach: Bindung und Selbstbindung der Gewerkschaften

3.1 Institutionengründung: Entstehung und Verabschiedung des Tarifvertragsgesetzes

Die bis heute im Wesentlichen unverändert gebliebenen gesetzlichen Grundlagen der Tarifautonomie verdanken ihre Existenz zweier Spezifika der jüngeren deut-schen Geschichte. Sie sind Folge einer spezifischen Konstellation von Kontinuität und Innovation, in deren Summe die Tarifautonomie in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich ein Unikum darstellt (Pyhel 2004; Avilés 2004). Einerseits gab es in der Weimarer Republik, also dem Deutschland der Zwischenkriegszeit, be-reits eine Tendenz zum freien Tarifrecht (Homburg 2000; Zippelius 1999: 130; Grevelhörster 2000: 41), wenngleich die Gestaltung der Arbeitsbedingungen staat-lichen Eingriffen in Form der Zwangsschlichtung ausgesetzt blieb (Preller 1978: 509ff.; Schönhoven 2003: 48ff.). Nur vor dem Hintergrund dieser Tendenz zur Staatsfreiheit des Tarifsystems in der Zwischenkriegszeit ist die Nachkriegsentwick-lung des Verhältnisses von Tarifverbänden und Staat verstehbar. Andererseits stellte die Niederlage Deutschlands im 2. Weltkrieg und die sich anschließende, vorüber-gehende politische Kontrolle Westdeutschlands durch die westlichen Alliierten ein Möglichkeitsfenster und eine Bruchstelle (in institutionalistischer Terminologie: ein critical juncture) der historischen Entwicklung dar, die in deutlichem Kontrast stand zur politisch-institutionellen Kontinuität in anderen Ländern.

Seit Mai 1946 hatte in der amerikanischen Besatzungszone eine Verordnung über Abschluss und Inhalt von Tarifverträgen Geltung, die Gewerkschaften und Arbeitgeber(verbände) zur Vereinbarung von Verträgen über Löhne und andere Arbeitsbedingungen ermächtigte. Wesentliche Intention dieser Verordnung war die Wiederzulassung von Tarifverbänden nach dem Betätigungsverbot während der Zeit des Nationalsozialismus. Die rechtliche Wirksamkeit dieser Verordnung war allerdings sehr gering; sie kollidierte mit dem seit Kriegsende geltenden und mit der Direktive Nr. 14 des Alliierten Kontrollrates vom Oktober 1945 untermauerten Lohnstopp. Diese Direktive Nr. 14 verknüpfte darüber hinaus die Wirksamkeit eines Tarifvertra-ges mit dem Zustimmungsvorbehalt der deutschen Arbeitsämter und mit der Regis-trierung bei der zuständigen deutschen Arbeitsbehörde (Richardi, Thiel 2001: 177).

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Als organisatorische Nachfolger des Reichsarbeitsministeriums und Vorläufer des 1949 gegründeten Bundesministeriums für Arbeit (vgl. Schmuhl 2003: 361-365; Schulz 2005a: 20) waren das Zentralamt für Arbeit in der britischen Zone (ZfA) und später die Verwaltung für Arbeit des wiedervereinigten Wirtschaftsgebietes (VfA) für den Entwurf einer Nachfolgeregelung der Alliierten Direktive zuständig. Dort hatte man eine Regelung des Tarifvertragsrechts im Auge, die sich an den entsprechenden Normen der Zwischenkriegszeit und – mit Ausnahme des Lohnstopps, der im No-vember 1948 aufgehoben wurde – an den Vorgaben der Kontrollratsdirektive Nr. 14 orientierte. Diesem Modell zufolge hätten Tarifverträge nur durch die Eintragung in ein Tarifregister nach materieller Prüfung der registerführenden Behörde Gültigkeit erlangen können (Nautz 1991: 142ff., 179). Dieses Tarifrecht sollte zudem – ebenfalls in Anlehnung an die Regelungen der Zwischenkriegszeit – ergänzt werden um eine staatsinterventionistische Schlichtungsgesetzgebung.

Die Umsetzung einer solchen Gesetzgebung konnte in dieser Phase der extrem dynamischen Nachkriegsentwicklung freilich nicht im Interesse der Tarifpartner sein – und zwar der Gewerkschaften wie der Arbeitgeberverbände gleichermaßen (Bührer 2006: 21). Mit der Intention, dem Verwaltungsentwurf zuvorzukommen, legten die Gewerkschaften daher in enger Abstimmung mit den Arbeitgebern ein Gegenkonzept zum Modell der ZfA/ VfA vor, das als Gesetzentwurf über die SPD im November 1948 in die parlamentarische Debatte eingebracht wurde und nahezu unverändert als Tarifvertragsgesetz im April 1949 in Kraft trat (vgl. Nipperdey 1949). Offensichtlich war es den federführenden Akteuren in den zuständigen Arbeitsverwaltungen trotz eigener fortgeschrittener Entwurfsarbeiten nicht gelungen, ihre Regelungsvorstellun-gen durchzusetzen.

Dennoch war die in das Tarifvertragsgesetz mündende Gewerkschaftsinitiative keineswegs die Machtdemonstration gegenüber schwachen staatlichen Akteuren, als die sie aus heutiger Sicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Verständigung auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorausgegangen waren heftige Auseinandersetzun-gen im Gewerkschaftslager über die Grundziele zukünftigen Wirkens (Schmidt 1971 passim). Die Gewerkschaften waren zutiefst gespalten in der Frage der anzustreben-den Wirtschaftsordnung; es standen sich gegenüber einerseits Verfechter einer weit reichend sozialisierten, staatlich geplanten Wirtschaft mit ausgedehnten gewerkschaft-lichen Mitbestimmungsrechten, jedoch entsprechend stark eingeschränkter Tarifver-tragsfreiheit und andererseits Befürworter einer uneingeschränkten Tarifautonomie unter grundlegender Anerkennung eines freien Wirtschaftslebens (Nautz 1991: 188f.). Noch im Frühjahr 1947 hatte die erstgenannte Position durchaus Aussicht auf Durch-setzung: im Winter 1946/47 war die sich ohnehin nur langsam entwickelnde west-deutsche Wirtschaft „vollständig und nachhaltig“ (Abelshauser 2004: 115) zusammen-gebrochen, es kam zu – nicht zuletzt gewerkschaftlich organisierten – Hungermär-schen, Unruhen und Arbeitskämpfen. In den westlichen Besatzungszonen herrschte „so etwas wie eine sozialistische Grundstimmung“ (Schneider 2000: 261).