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11 10 TITELSTORY VERSCHULDUNG Foto: Martina Meier FACTS 27/06 P lastikgeld hat eine Heimat. Sie liegt an der Hinte- ren Bahnhofstrasse in Aarau. Rund 1,5 Millionen Kreditkarten strömen jährlich aus dem Presswerk derTrüb AG,Tag fürTag 4110 neue Kärtchen. Seit 30. Juni werden noch mehr fabriziert. «In einem Turboakt», sagt Hertor Bauer, Marketing- und Verkaufs- leiter derTrüb AG, «haben wir die erste Lieferung Super- cardplus bereitgestellt.» Tausende folgen dieserTage; beim Basler Detailhändler Coop sind 80 000 Reservationen für Leben auf Pump 2000 Franken pro Kopf: So hoch sind die Schulden, die wir wegen unserer Konsumlust angehäuft haben. Die Wirtschaft tut alles, damit der Schuldenberg wächst. Von Sibylle Veigl,Andreas Güntert und Christof Moser FACTS 27/06

TITELSTORY 10 11 VERSCHULDUNG Leben - Sitext · mit drei Eingaben zum schnellen Kon-sumglück. Drück jetzt – zahl später. Das Gleiche bei Post-Finance, die ab Septem-ber das Bezahlen

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Foto: Martina Meier FACTS 27/06

Plastikgeld hat eine Heimat. Sie liegt an der Hinte-ren Bahnhofstrasse in Aarau. Rund 1,5 MillionenKreditkarten strömen jährlich aus dem PresswerkderTrüb AG,Tag fürTag 4110 neue Kärtchen. Seit30. Juni werden noch mehr fabriziert. «In einem

Turboakt», sagt Hertor Bauer, Marketing- und Verkaufs-leiter der Trüb AG, «haben wir die erste Lieferung Super-cardplus bereitgestellt.» Tausende folgen dieserTage; beimBasler Detailhändler Coop sind 80 000 Reservationen für

Lebenauf Pump

2000 Franken pro Kopf: So hoch sind die Schulden,die wir wegen unserer Konsumlust angehäuft haben. DieWirtschaft tut alles, damit der Schuldenberg wächst.

Von Sibylle Veigl, Andreas Güntert und Christof Moser

FACTS 27/06

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Foto: AKGFACTS 27/06

(SLV) erstmals mehr Leasing-Abschlüssemit privaten als mit gewerblichen Kundengetätigt. Für zwei Milliarden Franken ha-ben Herr und Frau Schweizer im letztenJahr Autos geleast; fast 60 Prozent aller259 426 letztes Jahr neu zugelassenen Per-sonenwagen auf Schweizer Strassen ge-hören der Bank.

Früher galt: Schulden sind wie Zahn-schmerzen. Sie tun weh und machen einschlechtes Gewissen. Also spricht man

nicht darüber. Ein Überbleibsel der pro-testantischen Arbeitsethik, die die Wertedes Bürgertums prägte. Die Generationdes Zweiten Weltkriegs hatte zusätzlich die Weltwirtschaftskrise der Dreissiger-jahre und den Mangel während und nachdem Krieg erfahren. Sparen für schlech-te Zeiten lag ihr im Blut. Unter Wirt-schaftswunder und kulturellen Revoltender Sechziger- und Siebzigerjahre verlorneben der Sexualität auch die Konsum-

lust ihr Tabu. Heute gilt: ein Auto in derGarage, das eines Diplomaten würdig ist.Auch wenn man davon nur die Räder be-sitzt. Ein Designer-Sofa aus edlem Leder.Es steht zwar in der heimischen Stube,gehört aber der Bank. Gegenüber der Fern-seher – zur Untermiete. Am Überfluss willjeder teilhaben. In Anlehnung an Descar-tes Satz «Ich denke, also bin ich» definiertsich der heutige Mensch immer mehr über«Ich kaufe, also bin ich». Ein gelungenes

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FACTS 27/06

die erste Kreditkarte der Schweiz ohneJahresgebühr eingegangen.

400 000 bis 500 000 dieser Billig-Kre-ditkarten will Coop unters Volk bringen,die Migros rechnet für ihre Karte, die imHerbst auf den Markt kommen soll, mitähnlichen Zahlen für die ersten drei Jah-re. «Das wird das Kreditkartengeschäftin der Schweiz grundlegend verändernund popularisieren», verspricht Coop-Chef Hansueli Loosli.

Und es wird das Leben auf Pump för-dern. Zehn Jahre hat es gedauert, bis dergesamte Schweizer Kreditkartenmarktvon2,5 auf 3,5 Millionen Stück anwuchs. MitBillig-Kreditkarten fürs Volk soll derMarkt in nur 36 Monaten noch einmal umdie gleiche Menge wachsen.

Verschuldung nimmt stetig zuSchulden machen liegt im Trend. Immermehr Schweizerinnen und Schweizer kon-sumieren mit geliehenem Geld. Sie zahlenmit Kreditkarten, nehmen Kleinkrediteauf oder leasen. In den letzten fünf Jahrensind die Schulden aus Leasing und Kon-sumkrediten von 11 Milliarden Frankenauf 14 Milliarden Franken angestiegen.Pro Kopf macht das 2000 Franken, Neu-geborene mit eingerechnet. Und die Ten-denz ist steigend, sagen Experten.

Die Offensive des Basler Grossvertei-lers fällt in eine Zeit, in der Banken, Kre-ditinstitute, aber auch Warenhäuser undFerienkonzerne immer mehr Angebotehervorbringen, die schnellen und vorerstsorglosen Konsum er-möglichen. Im Januarlancierte Kuoni fürseine Direktreisetoch-ter Netto «Ferien mitFinanzierungsmodell».Via GE Bank kann dieRechnung über 24Monatsraten abgestottert werden – zu-züglich 14,5 Prozent Jahreszins. Auch Wa-ren- und Möbelhäuser locken mit Kun-denkarten, die ebenfalls Kreditfunktionhaben: Pfister, Manor, Jelmoli, Globus,Media Markt. Die Fluggesellschaft Swissbietet sogar eine universal einsetzbare Kre-ditkarte an.

Bei den Herausgebern des Plastikgeldsherrscht Goldgräberstimmung. Vorbei istdie Zeit, als das Retailgeschäft für die Ban-ken ein Stiefkind war. Im Geschäft mitKleinkrediten, das bis zu 15 Prozent Zins-einnahmen bringt, wittern die InstituteWachstumschancen. Immer mehr Banken

steigen ins Konsum-kredit- und Leasing-geschäft ein. Die Raiff-eisenbanken mischenseit November 2004mit. Und sogar dieKantonalbanken ha-ben ihre Hemmungen

verloren: Seit April 2005 ist Cashgate aufdem Markt, eine Kooperation von vierKantonalbanken und der Valiant Bank.

Unbestrittene Marktführerin ist GE Mo-ney Bank, die auch hinter der Migros-Kre-ditkarte steht, mit einem Marktanteil beiKonsumkrediten von 60 bis 70 Prozent.Die Credit Suisse bringt es auf 20 Prozent

und die Migrosbank auf etwa 8 ProzentMarktanteil, wie Kreditexperte NormanKarrervon Mercer OliverWyman schätzt.Mit Coop arbeitet die zur Credit Suissegehörende Swisscard zusammen.

Wachstum dank KreditkartenIn Sachen Konsumkredite ist die Schweizim europäischen Vergleich ein schlafen-der Markt. Mit einer aggressiven Ge-schäftspolitik soll er nun wachgerütteltwerden. Andere Länder machen vor, wasmöglich ist: In Grossbritannien ist jederEinwohner bereits mit umgerechnet rund6000 Franken verschuldet. Experte Nor-man Karrer rechnet in der Schweiz mit ei-nem jährlichen Wachstumspotenzial von15 Prozent im Kartengeschäft und 5 bis 7Prozent bei Konsumkrediten.

Davon wollen auch die Grossverteilermit ihrer Kreditkartenoffensive profitie-ren: Werden die Karten massenhaft ein-gesetzt, sparen Coop und Migros Kostenim Bargeld-Handling, binden über die mitden Karten gekoppelten Sammelsystemezusätzlich Kunden an sich und müssen beiKreditkartenzahlungen weniger Transak-tionsgebühren abliefern als bisher.

Eine steigende Privatverschuldung aus-gerechnet in der Schweiz, wo das Sparenals Volkstugend galt: Schulden machenverliert langsam sein Stigma. Der Menta-litätswandel hat ökonomische Gründe:Die Alters- und die Gesundheitsvorsorgesind vom Staat weitgehend abgedeckt. Inexistenzielle materielle Not zu geraten istfast unmöglich geworden. Warum alsokeine Schulden machen?

Zumal das Sparen seit den Neunziger-jahren massiv an Attraktivität eingebüssthat. Die Globalisierung hat weltweit zu tie-fen Zinsen und zu einem inflationsfreienWachstum geführt. Das Resultat für diedurchschnittlichen Erwerbstätigen: DerLohn stagniert, dafür ist Schulden machenbillig geworden.

Oder, wie Teenager heute in Anlehnungan die MTV-Auto-Kultserie «Pimp MyRide» sagen: Pump my ride. Die Schwei-zer verschulden sich munter, wenns umsneue Fahrzeug geht. Im Jahr 2005 wurdengemäss Schweizerischem Leasingverband

Die Schuld und deren Sühne ist ein Bei-spiel für den Pragmatismus in der Mensch-heitsgeschichte: Schulden zu haben warjahrhundertelang ein Verbrechen, das mitdem Tod bestraft wurde. Humanistischeund ökonomische Überlegungen führtendann im Laufe der Zeit zu Recht stattRache.

Der Schuldbegriff tauchte bereits 1500vor Christus im babylonischen Recht auf.Das moderne Rechtssystem basiert jedochauf dem Obligationenrecht der Römer.«Obligatio» ist die Verpflichtung, «ligare»heisst «binden». Letzteres war 450 vorChristus im wörtlichen Sinn zu verstehen:Wer seine Schulden nicht bezahlen konn-te, wurde gefesselt und hingerichtet – sosteht es im Zwölftafelrecht («Leges duo-decim tabularum») geschrieben, eine inRom entstandene Gesetzessammlung aufzwölf hölzernen Tafeln. Der erste huma-nistische Entwicklungsschub führte imzweiten Jahrhundert vor Christus dazu,dass ein Schuldnervon seinem Gläubigerals Sklave an einen anderen Volksstammverkauft werden konnte. Dieser Schrittwar auch ökonomischen Überlegungengeschuldet: Wer den Schuldner umbrach-te, konnte nur seine Rachegelüste befrie-digen,wer ihn verkaufte, hatte einen Erlös.

Die weitere Entwicklung führte unterdem Einfluss des griechischen Rechts zurSchuldknechtschaft: Der Schuldner behieltseine Rechtspersönlichkeit, musste aberbeim Gläubiger seine Schuld abarbeiten.An drei aufeinander folgenden Tagen wur-de der Schuldner zudem auf dem Markt-

platz präsentiert und die Schuld ausgeru-fen. Der Sippe des Schuldners sollte so dieMöglichkeit geboten werden, die Schuldenzu bezahlen und den Schuldner aus derKnechtschaft auszulösen.

Die Schuldknechtschaft hielt sich bis insMittelalter hinein. Im «Sachsenspiegel», ei-nem überlieferten Rechtsbuch aus dem14. Jahrhundert, werden dem Schuldnerweitere Rechte zugesprochen: Fesselungist weiter erlaubt, anderweitige Qual ver-boten. Der Gläubiger musste den Schuld-knecht halten «wie sein eigenes Gesindel»,das heisst, er musste ihm Kost und Logis

bieten. Schuldknechtschaft existiert ineinigen Ländern bis heute: In Indien wirddiese Form der Schuldabzahlung «boun-ded labour» genannt, in Lateinamerika«peonaje» (Knechtschaft).

Schuldhaft 1874 abgeschafftIm späten Mittelalter, zu Beginn derfrühen Neuzeit, als die Obrigkeit damit be-gann, Gefängnisse zu bauen, setzte sich inEuropa nach und nach der Schuldturmdurch. Im Schuldturm wurde der Schuld-ner eingesperrt, bis ihn Verwandte oderFreunde mit der Bezahlung der Schuldbefreiten. Der Gläubiger warverpflichtet,den Eingesperrten mit Essen zu versorgen.In der Schweiz wurde die Schuldhaft mitderVerfassungsrevision von 1874 endgül-

tig abgeschafft, fortan wurde dasVermögen zur Schuldentilgungherangezogen. Parallel dazutauchten auch die ersten Ab-zahlverträge auf. Unternehmerwollten neue Käuferschichtenerschliessen und propagiertenden Erwerb von Nähmaschinenund anderen Geräten (meist fürdie Heimarbeit) mit Ratenzah-lungen. Die Bedingungen warenhart: Wer auch nur eine einzigeRate in Rückstand geriet, muss-te die Ware zurückgeben, ohnebereits bezahlte Beträge zurück-zuerhalten.

Ende des 19. Jahrhundertswurden Abzahlverträge gesetz-lich geregelt – und der Kauf aufKredit von findigen Unter-nehmern auf Konsumgüter wieMöbel oder Kleidungsstückeausgedehnt. Christof Moser

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200520042003200220012000

SCHULDENBERG Ausstehende Verpflichtungen an Konsum-krediten und Leasing, in Millionen Franken

Quelle: Zentralstelle für Kreditinformation FACTS-Grafik

Konsumkredite Leasing

«Sachsenspiegel» um 1315: Rechte für Schuldner.

Von Schulden geknechtet Tod, Sklaverei, Haft: Wer nicht zahlen konnte, dem ging es schlecht.

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ENDE DER SCHULDENSPIRALEZahl der Privatkonkurse in der Schweiz

Quelle: Creditreform FACTS-Grafik

FERIEN KANN MANIN 24 MONATSRATENABSTOTTERN – MITHAPPIGEM ZINS.

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Foto: Martina Meier FACTS 27/06

Leben wird am materiellen Besitz undKonsum gemessen, der Status am Merce-des, an der Gucci-Handtasche oder derB&O-Stereoanlage abgelesen. In unsererGesellschaft gilt: Wer nichts hat, ist nichts.

Ohne schlechtes GewissenBei den Beratungsstellen ist man erstaunt,wie offen und ohne jedes schlechte Ge-wissen Jugendliche in Umfragen über ih-re Schulden Auskunft geben. Ein Viertelaller jungen Erwachsenen zwischen 18und 25 Jahren leben über ihren finanziel-len Verhältnissen, lautete das Fazit einerStudie derAG fürWerbemedienforschung(Wemf). Shoppen ist fürTeens und Twensdie wichtigste Freizeitbeschäftigung. Mar-ken sind eine emotionale Heimat und einSymbol, um sich abzugrenzen und gleich-zeitig dazuzugehören. Eine Studie derHochschule für Sozialarbeit Bern besagt,dass 17 Prozent der Jugendlichen kauf-süchtig sind. Das heisst,sie leiden unter einemZwang, irgendwelcheDinge zu kaufen, diesie nicht wirklich brau-chen. Weitere 47 Pro-zent kaufen unkont-rolliert, beispielsweiseaus Frust. Über alle Altersgruppen wird inder Schweiz von 270 000 Kaufsüchtigenund 1,9 Millionen Kaufsuchtgefährdetenausgegangen.

Die Unternehmen fördern den Kredit-rausch nach Kräften – mit immer neuenAngeboten: Vor wenigen Tagen zeigtender Kreditkartenriese Visa und die Tele-komfirma Sunrise, wie man künftig perHandy und Kreditkarte einkaufen kann:mit drei Eingaben zum schnellen Kon-sumglück. Drück jetzt – zahl später. DasGleiche bei Post-Finance, die ab Septem-ber das Bezahlen von Online-Einkäufenüber das Handy anbietet. Die Migrosbankofferiert neu den «Online-Privatkredit mitSofort-Feedback»: Schnell im Internet he-rausfinden, ob man kreditwürdig ist – unddann gleich Geld bestellen. «Ich bin einfach an den Schalter gegan-gen», legt die GE-Money-Bank-Werbungeiner lächelnden Frau in den Mund. Coop

verspricht mit seiner Karte «mehr Freiheitfür mich und dich».

Diese Freiheit ist trügerisch. Die Mit-arbeitenden von Betreibungs- und Kon-kursämtern, Schuldenberatungen undSozialämtern können ein Lied davon sin-gen. Bei ihnen stranden diejenigen, die inder vermeintlichen Freiheit Schiffbruch erlitten haben.

20 000 Pfändungen mehr1,32 Millionen Pfändungen wurden im Jahr2005 schweizweit gezählt, 20000 mehr alsim Vorjahr. Die Privatkonkurse, für vieleder einzige Ausweg aus der Schuldenfalle,erreichen seit mehreren Jahren Rekord-stände, im Jahr 2005 waren es 5714, einFünftel mehr als im Jahr 2000. Auch diesesJahr zeichnet sich ein neuerRekord ab: VonJanuar bis Mai wurden so viele Privatkon-kurse gezählt wie seit zehn Jahren nichtmehr, während der Trend bei den Firmen-

konkursen dank Wirt-schaftsaufschwung indie entgegengesetzteRichtung zeigte.

Angesichts der un-zähligen Kreditmög-lichkeiten ist der Kon-sument mehr denn je

gefordert, kompetent mit dem Geld um-zugehen. Doch damit ist er schnell über-fordert. Aus der Verschuldung wird dieÜberschuldung. Die monatlichen Kre-ditraten werden zum Korsett, wenn derLohn plötzlich nicht mehr reicht, weil sichdie Lebensumstände verändert haben.Scheidung, Arbeitslosigkeit, die Geburteines Kindes, Invalidität – und schonschnappt die Schuldenfalle zu. Bei denSchuldenberatungen klopfen diejenigenan, die nicht mehr ein und aus wissen. Vondurchschnittlich 50 000 Franken Schuldenerdrückt sind etwa bei der Schuldenbera-tung Luzern die Ratsuchenden. Über dieHälfte von ihnen hat Privatkreditschul-den, geht aus einer Erhebung des Dach-verbands Schuldenberatung hervor. Über-schuldet werden kann jeder: «Es betrifftalle, durch alle Altersgruppen und Natio-nalitäten», sagt Charly Gmür, Leiter derSchuldenberatung Luzern.

WEGE AUS DERSCHULDENFALLEVor dem Kreditentscheid● Brauche ich den Kredit wirklich? ● Wie nötig ist die gewünschte

Anschaffung, falls nicht genügend Bares vorhanden ist?

● Was kostet mich das ganz genau? Was vom monatlichen Einkommenproblemlos übrig bleibt, markiertdie Obergrenze einer Spar- oderKreditrate – aber nur, wenn gesamt-jährliche Verpflichtungen wieSteuern, Versicherungen usw. ein-gerechnet sind. Aufgepasst: Tren-nung oder Scheidung – oder auchNachwuchs – können das monatli-che Budget massiv beeinflussen.

● Wie vergleiche ich richtig? ImInternet* gibt es Werkzeuge, diehelfen, die tatsächlichen Kosteneines Konsumkredits zu errechnenund zu vergleichen.

In der Schulden-Bredouille● Keine neuen Kredite: Klingt soeinfach und ist so entscheidend: Nieneue Kredite aufnehmen, um alteSchulden abzutragen. Nie.

● Schulden ordnen: Schuldenbergsichten, Prioriäten** setzen: ZuerstSchulden abtragen, die die existen-ziellen Grundbedürfnisse betreffen:Mietzins, Heizung, Telefon, Kran-kenkassenprämien, Alimente.

● Sanierungskonzept, Stundung:Mittels Online-Hilfe oder Schulden-berater*** ein Sanierungskonzepterarbeiten, nachrangige Schuldenzu stunden versuchen.

● Privatkonkurs: Ende schlecht,alles gut? Nein. Wer Privatkonkursanmeldet, erklärt damit die persön-liche Zahlungsunfähigkeit. Wasnicht heisst, dass alle Schulden wegsind. Nach Abschluss des Konkurs-verfahrens bestehen die Schuldenin Form von unverzinslichen Kon-kursverlustscheinen weiter. Diesind aber nur betreibbar, wenn dieverschuldete Person zu «neuemVermögen» gekommen ist. NeueSchulden lassen sich normal ein-treiben. * Konsumkredit-Vergleich: www.comparis.ch. Infosmit Schuldentest, Zinsrechner, Musterbriefen. ** Unterscheidung verschiedener Schulden-Dringlichkeiten.*** Übersicht Schuldenberatungsstellen:www.schulden.ch. Beratung für junge Konsumenten:www.maxmoney.ch. Kurse für den Umgang mitSchulden: www.schuldenhotline.ch ›

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IM SCHNITT HABENRATSUCHENDE 50 000 FRANKENSCHULDEN.

FACTS 27/06

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Foto: Martin Parr/MagnumFACTS 27/06

Die Statistiken zeigen ein anderes Bild.«Ziel klar verfehlt», sagt Schuldenexper-te Charly Gmür. Als «zahnlos» kritisiertKonsumentenschützerin Sommaruga dasGesetz, gegen das sie heftig opponiert hat-te. Zahnlos, weil die Bankenlobby extre-men Einfluss nahm, um auch weiterhinmöglichst viele Kredite vergeben zu kön-nen, und obwohl mit der Informations-stelle für Konsumkredit eine zentrale Da-

tenbank geschaffen wurde, wo alle Kre-dite von den Kreditgebern gemeldet wer-den müssen.

Für Unvorhergesehens gibt es kein SzenarioDie Kritikpunkte der Schuldenberater:Kreditgeber sind nicht verpflichtet, vonden tatsächlichen Ausgaben auszugehen,sondern vom betreibungsrechtlichen Exis-

tenzminimum und einer Laufzeit des Kre-dits von drei Jahren. Bei Leasingverträgenwird im Gesetz so gerechnet, als ob dasAuto ohne Nummer auf dem Parkplatzstünde. Anfallende Kosten wie Motor-fahrzeugsteuer, Prämien für die Vollkas-koversicherung oder Reparaturen spielenin der Budgetierung keine Rolle. Und: FürUnvorhergesehenes wie etwa eine Schei-dung sieht das Gesetz kein Szenario vor.

16TITELSTORYVERSCHULDUNG

Fotos: Salvatore di Nolfi/Keystone, Spech/laif, Lange/laif FACTS 27/06

Budgetberater, Sozialvorstände warnenvor amerikanischen Zuständen. Damitmeinen sie eine Volkswirtschaft, die bisunters Dach verschuldet ist. Nicht nur deramerikanische Staat, sondern auch derUS-Privatbürger spart keinen Rappenund ertrinkt in einem Meervon Schulden.Dem stehen zwar die privaten Vermögenentgegen, die in den USA insgesamthöher sind als der Schuldenberg. Aber dasGeld ist ungleich verteilt. Das Ergebnis:Über zwei Millionen Amerikaner sindpleite.

Banken erhalten ihr GeldDabei sind Schulden volkswirtschaftlichbetrachtet sinnvoll. Ohne Schulden gäbees 60 Prozent der Autos nicht auf denStrassen und schon gar keine Bautätigkeit.Schulden sind ein Motor derWirtschaft –solange sie sich in vernünftigem Rahmenbewegen.

Wenn nicht, wird es problematisch. Ir-gendwann muss der Einzelne seine offe-nen Rechnungen bezahlen. Dabei folgtder Schuldner dem Weg des geringstenWiderstands. Zuerst werden die Steuernnicht gezahlt, dann die Krankenkasse,dann die Miete. Kredite gegenüber denBanken werden zuerst beglichen. Weil die-se den grössten Druck aufsetzen.

Die Zeche zahlt die Gemeinschaft:«Überschuldung muss immer die Allge-meinheit berappen», sagt SP-Nationalrätinund Konsumentenschützerin SimonettaSommaruga. Etwa bei den Krankenkas-sen: Jährlich leiten sie über 400 000 Be-treibungen ein. Das ausstehende Prämien-volumen wird auf mindestens 300 bis 400Millionen Franken geschätzt. Den Kassenentstehen zusätzliche Verwaltungskostenvon über 40 Millionen Franken, «mit stei-gender Tendenz», wie Peter Marbet sagt,Leiter Politik und Kommunikation beimKrankenkassenverband Santésuisse. DieMehrkosten tragen alle Versicherten, dieihre Prämien bezahlen.

Inzwischen ist ein Streit zwischen Kran-kenkassen und Gemeinden entstanden,wer für offene Rechnungen der Kranken-kasse aufkommen muss, wenn der Versi-cherte zahlungsunfähig ist. Das Problem:Enden Betreibungen für nicht bezahlteKrankenkassenrechnungen mit Verlust-scheinen, so werden diese üblicherweisevon der Gemeinde, also der öffentlichen

Hand, beglichen. Doch nicht alle Ge-meinden tun dies, da die gesetzlicheGrundlage dafür fehlt. Über das weitereVorgehen will Santésuisse im Juli ent-scheiden.

Immer mehr Schuldenfallen, steigendePrivatkonkurse, Kosten für die Allge-meinheit: All das hätte eigentlich dasKonsumkreditgesetz (KKG) vermeidensollen, das vor drei Jahren in Kraft trat.

DerAmerican Way of Life ist längst in denAmerican Way of Debt gemündet. JederAmerikaner ist zuallererst ein «consumer»mit der Pflicht und dem Verlangen, sichjeden Wunsch möglichst sofort zu erfül-len. Kredit und Kreditkarten machensmöglich. Im Schuldenparadies Amerikabesitzen 144 Millionen Einwohner – alsofast die Hälfte der Bevölkerung – 1,14 Mil-liarden Plastikkarten, also jeder acht Stückim Schnitt. Nur ein Drittel der Kunden be-zahlt die monatliche Kreditkarten-Rech-

nung vollständig. Insgesamt liegt die Ver-schuldung der Privathaushalte bei 2200Milliarden Dollar, 650 Milliarden davonschulden sie den Kreditkarten-Unterneh-men. Im Schnitt schleppt jeder Amerika-ner, Neugeborene und Greise mitgezählt,7400 Dollar Kreditkartenschuld mit sichherum. «Das ist irre, vor allem wenn manbedenkt, dass die Zinsen bei durch-schnittlich 18 Prozent angekommen sind»,stöhnt Suze Orman, Talkmasterin, Best-sellerautorin und Rednerin fürs Pekuniä-

re, die in ihrerwöchentlichenFernsehshow auf CNBCihren Zuschauern vor allemdas Einmaleins des Kredit-karten-Schuldenabbaus ein-hämmert.

Aber auf Leute, wie sieOrman zu bekehren hofft, istdie wenig regulierte Kredit-karten-Branche nicht scharf:Solvente Kunden, die ihreRechnung monatlich abzah-len, heissen «deadbeats»,Ver-sager. Gesucht sind Men-schen, die jahrzehntelang aufmöglichst hohen Schuldstän-den sitzen bleiben, sich sozu-sagen um die eigene Schul-denachse drehen: die «revol-vers». Am wirkungsvollstenködern Visa & Co. mit jähr-lich 5,2 Milliarden Postwurf-sendungen – die Kreditkarteliegt, ungefragt und häufigauch ungewollt, plötzlich imBriefkasten. Neben den Kre-ditkarten-Firmen locken dieBanken, jedes Einzelhandels-unternehmen hat eigene Kar-ten, natürlich auch Yahoo,

Starbucks oder Disney, es gibt die BMWCard, die Harley-Davidson Card, Kartenin allen Farben, nach Wunsch auch mitFoto der eigenen Katze. FürTeenies emp-fiehlt sich die Buxx-Karte, denn früh übtsich, wer ein Meister im Bucks (umgangs-sprachlich für Geld) ausgeben werden will.Da werden anfangs niedrige Jahres-gebühren mit ebenso niedrigen Ein-führungszinsen versprochen, zudem gibtes Meilen, Rabatte bei Toys R Us und Kaf-fee bei Starbucks. Kein Wunder, mögendie wenigsten das Kleingedruckte überverspätetes Abzahlen oder Überziehen derLimite lesen. Besonders perfid: Der Aus-steller kann die Zinsen aus irgendeinemoder keinem Grund erhöhen. Die Folgen:2,04 Millionen Privatpersonen gingen2004 Pleite, das sind mehr als doppelt soviele wie vor zehn Jahren.

Das meiste Geld borgen sich die Ame-rikaner fürs Eigenheim, der zweitgrösstePosten sind Darlehen für Autos (von denHerstellern oft mit Sofort-Barrabatten be-worben), dicht gefolgt von Ausbildungs-darlehen. Mediziner etwa steigen in denUSA mit mindestens 100000 Dollar Schul-den für ihr Studium ins Berufsleben ein.

Die eigenen vier Wände und eine Aus-bildung haben sich in den letzten Jahrendramatisch verteuert, die Gehälter zogennicht mit. Nach Bezahlung dermonatlichenRaten für die Kredite bleibt vielen nichtsmehr übrig. Das Sparkonto kann auchnicht aushelfen: Die Sparquote in den USAist zum ersten Mal seit 1933 wieder negativ.Christian Wellervom WashingtonerThink-tank Center for American Progress bringtdie Situation in einem neuen Bericht zurSchuldensituation auf den Punkt: «Dieamerikanische Mittelklasse ertrinkt inSchulden.» Helene Laube

Shop tillyou drop:Amerika-nerinnenund Ameri-kaner sindvor allemConsumer.

Im Schnittacht Karten –und eineHypothekDie Privatverschuldung ist in denUSA gigantisch. Und gespart wirdpraktisch nichts mehr.

LeasingDie Schweizer – ein Volk von Lea-sern. 458 000 Autos auf SchweizerStrassen sind geleast. Gefragt sindobere Preisklassen wie Mercedes undLandrover. Leasing bedeutet nichtMiete: Es fällt seit drei Jahren unterdas Konsumkreditgesetz. Das heisst:Ein vorzeitiger Ausstieg kostet Geld.

KonsumkreditMit 412 317 Verträgen ist der Konsum-kredit nach dem Leasing am häufigs-ten. Die durchschnittlich ausgelie-hene Summe beträgt rund 16 000Franken. Als kreditfähig gilt man,wenn die Rückzahlung des Kreditsnicht das Existenzminimum tangiert(inklusive Steuern und Miete).

KREDITFORMENKreditkarten3,5 Millionen Kreditkarten sind inder Schweiz im Umlauf. Migros undCoop wollen eine weitere Million aufden Markt werfen. Ohne Gebühr undzum tiefsten Zins der Branche. DieMargen sind immer noch beträcht-lich: Die Banken selbst leihen sichdas Geld für rund 1,5 Prozent.

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Quelle: Verband Schweizerischer Inkassotreuhandinstitute FACTS-Grafik

STADT-LAND-GEFÄLLEForderungsvolumen der Inkassogesellschaften, pro Kopf, in Franken

90 bis 130 (hoch)60 bis 90 (mittel)0 bis 60 (tief)

Die Folge des Konsumkreditgesetzes ist des-halb nicht eine Einschränkung, sondernvielmehr eine Ausweitung: Banken verge-ben Kredite viel grosszügiger. Das Gesetzgaukelt den Konsumierenden eine Sicher-heit vor, die nicht gegeben ist. Bereits boomteine neue Kreditform: der so genannte Kon-tokorrentkredit, eine Art Barkredit mit Auf-stockungsoption. Denn das KKG schreibthier nur eine summarische Kreditfähigkeits-prüfung vor.

Schulden sind wieder PolitthemaDie Kreditinstitute, die das Gesetz als sehrscharf bezeichnen, bemühen sich dennochum Imagepflege: Cashgate gibt Tipps, umSchulden zu vermeiden, und GE Money be-treibt mit der Schuldenberatung Bern dieInternet-Plattform moneybasics.ch. «Wirkönnen den boomenden Konsum auf Pumpnicht bekämpfen», rechtfertigt Mario Ron-coroni, Geschäftsführer der Schuldenbera-tung Bern, die Zusammenarbeit mit der alsaggressiv geltenden amerikanischen Bank.«Wir können höchstens aufklären.» Dass

Inkassogesellschaftentreten dann auf den Plan,wenn Gläubiger ihreForderungen nicht selbsteintreiben wollen. 2005belief sich das Inkasso-forderungsvolumen auf3,7 Milliarden Franken.Aufgeschlüsselt nachKantonen und Einwoh-nern zeigt sich ein klaresStadt-Land-Gefälle. Denn:Bewohner konservativerRegionen wie Appenzelloder der Innerschweizschrecken eher vor demSchuldenmachen zurück.Aber auch die Lebens-haltungskosten sind tieferund somit das verfügbareEinkommen höher, wiedie Credit Suisse jüngst ineiner Studie ermittelt hat.

auch die für soziales Kapital stehendeMigros mit der GE Money Bank zusam-menarbeitet, kritisiert beispielsweise Si-monetta Sommaruga.

Drei Jahre nach Einführung des Kon-sumkreditgesetzes ist die Schuldenprob-lematik wieder ein politisches Thema.CVP-Nationalrätin Lucrezia Meier-Schatzfordert in einer Motion, die in der Herbst-session behandelt wird, eine Sensibilisie-rungs- und Erziehungskampagne, die vonden Kreditinstituten mitfinanziert werdensoll. Weiter sollen Lösungen ins Gesetz in-tegriert werden, die helfen, aus der Ver-schuldung herauszukommen.

Meier-Schatz moniert, dass hohe Kre-dite zu einfach erhältlich sind: «Es kann

doch nicht sein, dass man einem 21-Jäh-rigen mit einem Monatseinkommen von4200 Franken eine Finanzierungsprogno-se erstellt und ihm sagt, dass ervon einemFinanzierungsrahmen von 41 967 Frankeninklusive Zinsen ausgehen kann.»

Die grosse Wirkung hat eine kleine Ur-sache: «Zwischen 50 Rappen und zweiFranken» betrage der Materialwert einerKreditkarte, sagt Hertor Bauer vom Kar-tenhersteller Trüb. Ein Magnetstreifenund ein bisschen Plastik. Doch in den Aa-rauer Produktionsräumen werden siegehütet wie die Goldbarren in der Schwei-zer Nationalbank. PanzerglasverstärkteSchleusen, die Räume mit 150 Kamerasüberwacht. Im mehrfach gesicherten Tre-sor, der aus Sicherheitsgründen nur zuzweit betreten werden darf, lagern die gol-denen Kreditkarten.

Die Sicherheitsmassnahmen haben ei-nen guten Grund: Rohkarten sind Blan-koschecks. Aber nur diese. Bei allen an-dern folgt auf den Gebrauch irgendwanneinmal die Rechnung. ‹

KONTOKORRENT-KREDITE SIND MITSUMMARISCHER PRÜFUNG ERHÄLTLICH.