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selbstverständlich hat jeder vernunftbegabte Athlet den notwen- digen Respekt vor demjenigen, der sich einer anderen Sportart verschrieben hat. Der Turner erkennt bei- spielsweise neidlos die Leistungen eines Dis- kuswerfers an, die Eiskunstläuferin weiß um die Anstrengungen einer Tennisspielerin. Einerseits. Andererseits gibt es Sportler, die dermaßen beseelt sind von ihren Wettkampf-Anstren- gungen, dass sie „ihre“ Sportart in ihrem Ansehen weit oberhalb anderer Aktivitäten ansiedeln – dass sie in ihrem tiefsten Inneren, anders formuliert, andere Sportarten eher be- lächeln. So schauen Handballer und Eisho- ckeyspieler eher mitleidsvoll auf Basketballer, wenn diese sich über zu viel Härte unter ihren Körben beschweren. Wasserballer und Triath- leten wiederum werden Golfspieler eher für beschwingte Spaziergänger halten, Schwim- mer quittieren die Bezeichnung ihrer Kollegen an den Schachbrettern als Sportskameraden wohl mehrheitlich mit Kopfschütteln. Ich gestehe: Auch ich als ehemaliger Hand- und Wasserballer zähle zur Gruppe derjenigen, für die nur einige wenige Leibes- übungen „echter“ Sport sind. Bei der Lektüre eines Textes in dieser wissen|leben-Ausgabe kam ich jedoch (einmal mehr) ins Grübeln. Universitätspfarrer Traugott Roser machte sich vor einigen Monaten auf den Pilgerweg in Richtung Santiago de Compostela (Sei- te 2). Mal davon abgesehen, dass allein die Marschstrecke von rund 800 Kilometern mit bis zu 1.400 Höhenmetern auch mir Respekt abverlangt, gibt es diesen einen Satz in seinen Ausführungen, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht: „Wer in der kargen Hochebene Meseta stundenlang allein und ohne Schat- ten auf einer geraden Schotterpiste seinen Gedanken hinterherhängt, mag auf die eine oder andere Untiefe in der eigenen Biogra- fie stoßen.“ Nach diesen Worten habe ich ein sehr konkretes, eindrucksvolles Bild vor Augen, das meine bisherige Meinung übers vermeintlich entspannende Wandern gehörig ins Wanken bringt. Zumal Traugott Roser versichert, dass jeder Pilger mindestens ein- mal weint – vor Glück. Diese Erfahrung ist mir sowohl auf dem Handballfeld als auch im Becken nie vergönnt gewesen ... Ihr Norbert Robers (Pressesprecher der WWU) Liebe Leserinnen und Leser, Redaktion: Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der WWU Münster | Schlossplatz 2 | 48149 Münster | Tel. 0251/83-22232 | [email protected] | www.uni-muenster.de/unizeitung Unterwegs auf dem Jakobsweg Rektorat würdigt besonderes Engagement Ein Pionier der Zeitforschung 800 Kilometer zu Fuß durch Nordspanien – ein Erlebnis- bericht von Universitätspfarrer Traugott Roser. Seite 2 Beim Neujahrsempfang hat das Rektorat den Lehr-, Gleichstel- lungs- und Studierendenpreis vergeben – drei Porträts. Seite 3 Sozialwissenschaftler Jürgen P. Rinderspacher verbindet den Blick auf die Uhr mit menschli- chen Lebensthemen. Seite 7 Euro für das Stipendienprogramm Pro- Talent eingeworben. 889.200 DIE ZAHL DES MONATS Die Stabsstelle Universitätsförderung und die Fachbereiche der WWU ha- ben für das laufende Förderjahr U niversitäten schaffen Wissen. So vielfältig wie die Arten des Wissens sind die Formen, in denen es wissen- schaftlich erzeugt und erworben, vertieft und weiterentwickelt wird. Einzelne Fakten, seien es Ergebnisse naturwissenschaftlicher Beob- achtung oder historischer Forschung, stellen eine Art des Wissens dar. Weiterentwick- lungen von eorien oder ihre Entfaltung in interdisziplinärer Zusammenarbeit sind andere Arten wissenschaftlich generierten Wissens. Aber auch praktisches Know-how ist für Wissenschaft zentral. Ob es darum geht, Methoden oder Geräte bei Experimen- ten sachgerecht einzusetzen, oder um die zielführende Gründung eines Start-ups oder die Entwicklung technischer Produkte: e- oretisches Wissen und die Kompetenz, wis- senschaftlich angeleitet zu handeln, greifen ineinander. Als Universität vermehrt die WWU un- ser Wissen auf wissenschaftlicher Basis. Sie versteht sich zugleich als gesellschaftliche Institution. Daraus leitet sie die Pflicht ab, Verantwortung für die Gesellschaft zu über- nehmen, indem sie Fragen der Gesellschaft aufgreift und sich den Herausforderungen stellt, welche die Gesellschaft an die Wissen- schaft heranträgt. Für die Bewältigung dieser Aufgaben ist Wissenstransfer entscheidend. Er findet in vielfältiger Form innerhalb der Universität statt: Disziplinäres Wissen wird in interdis- ziplinärer Forschung über die Fachgrenzen transferiert. Lehre ist in ihrem Kern ebenfalls Wissenstransfer. Auch der Transfer in die Gesellschaft, heute gerne als dritte Mission der Wis- senschaft gedacht, besteht wesentlich darin, wissen- schaftliche Ergebnisse be- reitzustellen. Der Begrenzung von „Wissenstransfer“ auf Transfer stellt die WWU eine integrati- ve Konzeption entgegen. Die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens ist zentraler Bestandteil aller Säulen wissenschaftlicher Tätigkeit: Forschen, Lehren und Transfer. Als gemeinsames Element nutzt die WWU Wissenstransfer, um die drei Säulen zu einem integrierten Konzept exzellenter Wissen- schaft zu verbinden. Seine Formen sind so vielfältig wie die Arten des Wissens. Ob Aus- gründungen, Technologietransfer, neue Un- terrichtsmethoden oder die Publikation von Forschungsergebnissen: Stets haben wir es mit wissenschaftlich generiertem Wissen zu tun. Die Gestalt des Transfers hängt davon ab, welches Wissen welcher Zielgruppe in welchem Kontext vermittelt werden soll. Die Beforschung von Wissenschaftskommunika- tion und die wissenschaftliche Auswertung von Transferaktivitäten stellt deshalb eine wichtige Rückkopplung des Wis- senstransfers in Forschung und Lehre dar. Transfer ist keine Einbahnstraße. Um ih- rer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden zu können, muss Wissenschaft Trans- fer als Dialog mit der Gesellschaft denken. Die WWU sieht in der Integration partizipa- tiver Elemente in Forschung und Lehre eine wesentliche Herausforderung und Chance zugleich. Es gilt, gesellschaftliche Fragestel- lungen aufzugreifen und Wissensbestände der Gesellschaft zu heben. Dabei müssen wissenschaftliche Methoden und Standards die Grundlage solcher partizipativen Forma- te bleiben. Aber die Beteiligung der Bürge- rinnen und Bürger sollte sich keineswegs da- rauf beschränken, Daten für die Forschung bereitzustellen. An der Schnittstelle von Universität und Gesellschaft wird die sach- und zielgrup- pengerechte Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse immer die Hauptaufgabe blei- ben. Die vielen Formen des Wissens und der dialogische Charakter von Wissenstransfer erfordern und ermöglichen es jedoch, ihn komplexer zu verstehen. Die WWU erkennt in der Realisierung einer integrierten Kon- zeption von Wissenstransfer großes Poten- zial: in Forschung und Lehre; und für die Übernahme von gesell- schaftlicher Verantwor- tung. Prof. Dr. Michael Quante ist Prorektor für Internationales und Transfer an der WWU. Mehr zu diesem ema lesen Sie auf Seite 6. „Transfer ist keine Einbahnstraße“ Ein Gastbeitrag von Prorektor Michael Quante über das neue Dossier „Wissenstransfer an der WWU“ D er Klimawandel, die Vermüllung der Meere, schwindende landwirt- schaftliche Nutzflächen und zur Neige gehende fossile Rohstoffe: Die welt- weiten ökologischen Herausforderun- gen sind groß. Unumstritten ist, dass sich die heutige erdölbasierte Wirt- schaftsform wandeln muss – hin zu einer nachhaltigen Nutzung nachwach- sender Rohstoffe: der Bioökonomie. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat deshalb das Wis- senschaftsjahr 2020 diesem Thema gewidmet. Wie können wir nachhal- tig leben, Ressourcen schonen und gleichzeitig unseren Lebensstandard sichern? Wie können Wissenschaft und Technologie uns dabei unterstützen? Auch Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftler der WWU beschäftigen sich mit Aspekten der Bioökonomie. Mehr lesen Sie auf Seite 4. Bioökonomie im Fokus: Strategien für eine grüne Zukunft Foto: Romolo Tavani - stock.adobe.com KURZNACHRICHTEN BIBELMUSEUM: Das Ende vergangenen Jahres wiedereröffnete Bibelmuseum der WWU erfreut sich schon in den ersten Wochen großer Beliebtheit in der Öffent- lichkeit. Der 1.000. Besucher sei kürzlich begrüßt worden, berichtet Kustos Dr. Jan Graefe. Am 4. Februar startet die neue Aus- stellung „Geschichte der Bibel“. Mehr als 1.500 Exponate veranschaulichen, wie sich die Bibel und ihre textliche Überlieferung entwickelt haben. Als weiteres Novum gibt es ab sofort immer sonntags um 15 Uhr eine kostenfreie öffentliche Führung. SPORTLEREHRUNG: Zahlreiche Stu- dierende des Hochschulsports der WWU erbrachten im Jahr 2019 herausragende sportliche Leistungen. Bei der diesjährigen Sportlerehrung zeichnete das Rektorat 80 Athletinnen und Athleten in der Studio- bühne aus – sie alle belegten bei nationalen und internationalen Wettkämpfen in den Individualsportarten die Plätze eins bis sechs beziehungsweise in den Mannschaftssport- arten die ersten drei Ränge. omas Lilge, der sich seit Jahrzenten im Hochschulsport engagiert, erhielt den Ehrenamtspreis. UNIVERSITÄTSGESELLSCHAFT: Mit 47.600 Euro fördert die Universitätsgesell- schaft Münster in diesem Jahr zwölf Projekte an der WWU. Während einer Feierstunde übergab Vorstandsvorsitzender Dr. Paul-Jo- sef Patt mit Vertretern des Vorstands und des wissenschaftlichen Beirats die symbolischen Schecks an die Fördermittelempfänger, da- runter das Leuchtturmprojekt „Lernroboter im Unterricht“. Hinzu kommen weitere Projekte von Studierendeninitiativen sowie aus den Bereichen Forschung und Lehre, Kunst und Kultur. AUSZEICHNUNG: Dr. Christopher Jung ist für seine Dissertation an der Wirt- schaftswissenschaftlichen Fakultät mit dem „Andreas-Dombret-Promotionspreis 2019“ geehrt worden. Der Preis ist mit 2.000 Euro dotiert und wird jährlich an jene Dissertation vergeben, die in heraus- ragender Weise theoretisches Wissen mit konkretem Nutzen für die wirtschaftliche Praxis und für die Gesellschaft verbindet. In seiner Arbeit widmet sich Christopher Jung der Anpassungsfähigkeit von Unter- nehmen, auch „Agilität“ genannt. Foto: WWU - P. Wattendorff Februar / März 2020 | 14. Jahrgang, Nr. 1

„Transfer ist keine Einbahnstraße“

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selbstverständlich hat jeder vernunftbegabte Athlet den notwen-digen Respekt vor demjenigen, der sich einer anderen Sportart verschrieben hat. Der Turner erkennt bei-spielsweise neidlos die Leistungen eines Dis-

kuswerfers an, die Eiskunstläuferin weiß um die Anstrengungen einer Tennisspielerin. Einerseits.

Andererseits gibt es Sportler, die dermaßen beseelt sind von ihren Wettkampf-Anstren-gungen, dass sie „ihre“ Sportart in ihrem Ansehen weit oberhalb anderer Aktivitäten ansiedeln – dass sie in ihrem tiefsten Inneren, anders formuliert, andere Sportarten eher be-lächeln. So schauen Handballer und Eisho-ckeyspieler eher mitleidsvoll auf Basketballer, wenn diese sich über zu viel Härte unter ihren Körben beschweren. Wasserballer und Triath-leten wiederum werden Golfspieler eher für beschwingte Spaziergänger halten, Schwim-mer quittieren die Bezeichnung ihrer Kollegen an den Schachbrettern als Sportskameraden wohl mehrheitlich mit Kopfschütteln.

Ich gestehe: Auch ich als ehemaliger Hand- und Wasserballer zähle zur Gruppe derjenigen, für die nur einige wenige Leibes-übungen „echter“ Sport sind. Bei der Lektüre eines Textes in dieser wissen|leben-Ausgabe kam ich jedoch (einmal mehr) ins Grübeln. Universitätspfarrer Traugott Roser machte sich vor einigen Monaten auf den Pilgerweg in Richtung Santiago de Compostela (Sei-te 2). Mal davon abgesehen, dass allein die Marschstrecke von rund 800 Kilometern mit bis zu 1.400 Höhenmetern auch mir Respekt abverlangt, gibt es diesen einen Satz in seinen Ausführungen, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht: „Wer in der kargen Hochebene Meseta stundenlang allein und ohne Schat-ten auf einer geraden Schotterpiste seinen Gedanken hinterherhängt, mag auf die eine oder andere Untiefe in der eigenen Biogra-fie stoßen.“ Nach diesen Worten habe ich ein sehr konkretes, eindrucksvolles Bild vor Augen, das meine bisherige Meinung übers vermeintlich entspannende Wandern gehörig ins Wanken bringt. Zumal Traugott Roser versichert, dass jeder Pilger mindestens ein-mal weint – vor Glück. Diese Erfahrung ist mir sowohl auf dem Handballfeld als auch im Becken nie vergönnt gewesen ...

Ihr

Norbert Robers (Pressesprecher der WWU)

Liebe Leserinnen und Leser,

Redaktion: Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der WWU Münster | Schlossplatz 2 | 48149 Münster | Tel. 0251/83-22232 | [email protected] | www.uni-muenster.de/unizeitung

Unterwegs auf dem Jakobsweg

Rektorat würdigt besonderes Engagement

Ein Pionier der Zeitforschung

800 Kilometer zu Fuß durch Nordspanien – ein Erlebnis-bericht von Universitätspfarrer Traugott Roser. Seite 2

Beim Neujahrsempfang hat das Rektorat den Lehr-, Gleichstel-lungs- und Studierendenpreis vergeben – drei Porträts. Seite 3

Sozialwissenschaftler Jürgen P. Rinderspacher verbindet den Blick auf die Uhr mit menschli-chen Lebensthemen. Seite 7

Euro für das Stipendienprogramm Pro-Talent eingeworben.

889.200889.200

DIE ZAHL DES MONATS

Die Stabsstelle Universitätsförderung und die Fachbereiche der WWU ha-ben für das laufende Förderjahr

Universitäten schaffen Wissen. So vielfältig wie die Arten des Wissens sind die Formen, in denen es wissen-

schaftlich erzeugt und erworben, vertieft und weiterentwickelt wird. Einzelne Fakten, seien es Ergebnisse naturwissenschaftlicher Beob-achtung oder historischer Forschung, stellen eine Art des Wissens dar. Weiterentwick-lungen von Theorien oder ihre Entfaltung in interdisziplinärer Zusammenarbeit sind andere Arten wissenschaftlich generierten Wissens. Aber auch praktisches Know-how ist für Wissenschaft zentral. Ob es darum geht, Methoden oder Geräte bei Experimen-ten sachgerecht einzusetzen, oder um die zielführende Gründung eines Start-ups oder die Entwicklung technischer Produkte: The-oretisches Wissen und die Kompetenz, wis-senschaftlich angeleitet zu handeln, greifen ineinander.

Als Universität vermehrt die WWU un-ser Wissen auf wissenschaftlicher Basis. Sie versteht sich zugleich als gesellschaftliche Institution. Daraus leitet sie die Pflicht ab, Verantwortung für die Gesellschaft zu über-nehmen, indem sie Fragen der Gesellschaft

aufgreift und sich den Herausforderungen stellt, welche die Gesellschaft an die Wissen-schaft heranträgt.

Für die Bewältigung dieser Aufgaben ist Wissenstransfer entscheidend. Er findet in vielfältiger Form innerhalb der Universität statt: Disziplinäres Wissen wird in interdis-ziplinärer Forschung über die Fachgrenzen transferiert. Lehre ist in ihrem Kern ebenfalls Wissenstransfer. Auch der Transfer in die Gesellschaft, heute gerne als dritte Mission der Wis-senschaft gedacht, besteht wesentlich darin, wissen-schaftliche Ergebnisse be-reitzustellen.

Der Begrenzung von „Wissenstransfer“ auf Transfer stellt die WWU eine integrati-ve Konzeption entgegen. Die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens ist zentraler Bestandteil aller Säulen wissenschaftlicher Tätigkeit: Forschen, Lehren und Transfer. Als gemeinsames Element nutzt die WWU Wissenstransfer, um die drei Säulen zu einem integrierten Konzept exzellenter Wissen-schaft zu verbinden. Seine Formen sind so

vielfältig wie die Arten des Wissens. Ob Aus-gründungen, Technologietransfer, neue Un-terrichtsmethoden oder die Publikation von Forschungsergebnissen: Stets haben wir es mit wissenschaftlich generiertem Wissen zu tun. Die Gestalt des Transfers hängt davon ab, welches Wissen welcher Zielgruppe in welchem Kontext vermittelt werden soll. Die Beforschung von Wissenschaftskommunika-tion und die wissenschaftliche Auswertung

von Transferaktivitäten stellt deshalb eine wichtige Rückkopplung des Wis-senstransfers in Forschung und Lehre dar.

Transfer ist keine Einbahnstraße. Um ih-rer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden zu können, muss Wissenschaft Trans-fer als Dialog mit der Gesellschaft denken. Die WWU sieht in der Integration partizipa-tiver Elemente in Forschung und Lehre eine wesentliche Herausforderung und Chance zugleich. Es gilt, gesellschaftliche Fragestel-lungen aufzugreifen und Wissensbestände der Gesellschaft zu heben. Dabei müssen wissenschaftliche Methoden und Standards

die Grundlage solcher partizipativen Forma-te bleiben. Aber die Beteiligung der Bürge-rinnen und Bürger sollte sich keineswegs da-rauf beschränken, Daten für die Forschung bereitzustellen.

An der Schnittstelle von Universität und Gesellschaft wird die sach- und zielgrup-pengerechte Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse immer die Hauptaufgabe blei-ben. Die vielen Formen des Wissens und der dialogische Charakter von Wissenstransfer erfordern und ermöglichen es jedoch, ihn komplexer zu verstehen. Die WWU erkennt in der Realisierung einer integrierten Kon-zeption von Wissenstransfer großes Poten-zial: in Forschung und Lehre; und für die Übernahme von gesell-schaftlicher Verantwor-tung.

Prof. Dr. Michael Quante ist Prorektor für Internationales und Transfer an der WWU.

Mehr zu diesem Thema lesen Sie auf Seite 6.

„Transfer ist keine Einbahnstraße“Ein Gastbeitrag von Prorektor Michael Quante über das neue Dossier „Wissenstransfer an der WWU“

Der Klimawandel, die Vermüllung der Meere, schwindende landwirt-

schaftliche Nutzflächen und zur Neige gehende fossile Rohstoffe: Die welt-weiten ökologischen Herausforderun-gen sind groß. Unumstritten ist, dass sich die heutige erdölbasierte Wirt-schaftsform wandeln muss – hin zu einer nachhaltigen Nutzung nachwach-sender Rohstoffe: der Bioökonomie. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat deshalb das Wis-senschaftsjahr 2020 diesem Thema gewidmet. Wie können wir nachhal-tig leben, Ressourcen schonen und gleichzeitig unseren Lebensstandard sichern? Wie können Wissenschaft und Technologie uns dabei unterstützen? Auch Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler der WWU beschäftigen sich mit Aspekten der Bioökonomie.

Mehr lesen Sie auf Seite 4.

Bioökonomie imFokus: Strategien für eine grüne Zukunft

Foto: Romolo Tavani - stock.adobe.com

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NBIBELMUSEUM: Das Ende vergangenen Jahres wiedereröffnete Bibelmuseum der WWU erfreut sich schon in den ersten Wochen großer Beliebtheit in der Öffent-lichkeit. Der 1.000. Besucher sei kürzlich begrüßt worden, berichtet Kustos Dr. Jan Graefe. Am 4. Februar startet die neue Aus-stellung „Geschichte der Bibel“. Mehr als 1.500 Exponate veranschaulichen, wie sich die Bibel und ihre textliche Überlieferung entwickelt haben. Als weiteres Novum gibt es ab sofort immer sonntags um 15 Uhr eine kostenfreie öffentliche Führung.

SPORTLEREHRUNG: Zahlreiche Stu-dierende des Hochschulsports der WWU erbrachten im Jahr 2019 herausragende sportliche Leistungen. Bei der diesjährigen Sportlerehrung zeichnete das Rektorat 80 Athletinnen und Athleten in der Studio-bühne aus – sie alle belegten bei nationalen und internationalen Wettkämpfen in den Individualsportarten die Plätze eins bis sechs beziehungsweise in den Mannschaftssport-arten die ersten drei Ränge. Thomas Lilge, der sich seit Jahrzenten im Hochschulsport engagiert, erhielt den Ehrenamtspreis.

UNIVERSITÄTSGESELLSCHAFT: Mit 47.600 Euro fördert die Universitätsgesell-schaft Münster in diesem Jahr zwölf Projekte an der WWU. Während einer Feierstunde übergab Vorstandsvorsitzender Dr. Paul-Jo-sef Patt mit Vertretern des Vorstands und des wissenschaftlichen Beirats die symbolischen Schecks an die Fördermittelempfänger, da-runter das Leuchtturmprojekt „Lernroboter im Unterricht“. Hinzu kommen weitere Projekte von Studierendeninitiativen sowie aus den Bereichen Forschung und Lehre, Kunst und Kultur.

AUSZEICHNUNG: Dr. Christopher Jung ist für seine Dissertation an der Wirt-schaftswissenschaftlichen Fakultät mit dem „Andreas-Dombret-Promotionspreis 2019“ geehrt worden. Der Preis ist mit 2.000 Euro dotiert und wird jährlich an jene Dissertation vergeben, die in heraus-ragender Weise theoretisches Wissen mit konkretem Nutzen für die wirtschaftliche Praxis und für die Gesellschaft verbindet. In seiner Arbeit widmet sich Christopher Jung der Anpassungsfähigkeit von Unter-nehmen, auch „Agilität“ genannt.

Foto: WWU - P. Wattendorff

Februar / März 2020 | 14. Jahrgang, Nr. 1

Im Heizverteilungsraum der Universität Münster am Orléans-Ring ist es auch im Januar angenehm warm. Überall verlaufen große silberne Heizungsrohre, an

denen Ventile und Rädchen in unterschiedlichen Größen und Farben angebracht sind. Plötzlich dreht sich eines der blauen Rädchen an den Rohren. „Jetzt passt das Ver-teilungssystem gerade automatisch das Heizverhalten in einem der Gebäude an. Das passiert zum Beispiel, wenn es dort gerade zu warm wird“, weiß Julia Strietholt. Sie kennt sich aus – seit Dezember 2012 arbeitet sie als Ener-giemanagerin an der WWU.

In ihrem Büro wird schnell klar, warum sie sich für diesen Beruf entschieden hat. An den Wänden hängen große Bilder von wild bewachsenen, grünen Bergen – ein Hinweis darauf, dass gutes Energiemanagement nicht nur Kosten spart, sondern auch die Belastungen für das Klima reduziert. Daher engagiert sich Julia Strietholt, die direkt nach ihrem Studium als Umweltingenieurin bei der WWU anfing, in der „Allianz für Klimaschutz“ der Stadt Münster. „Als Mitglied dieses Zusammenschlusses von Unternehmen aus dem Münsterland, verpflichtet sich die WWU zu einer jährlichen Kohlendioxid-Bilanz, die ich verfasse“, erklärt sie.

Julia Strietholts Alltag besteht hauptsächlich darin, die Energiebilanz der WWU kontinuierlich zu verbes-sern. „Da wir vor allem Mieter und nicht Eigentümer der Gebäude sind, liegt mein Augenmerk auf Einsparungen durch die Betriebstechnik“, erläutert sie. So sind zum Bei-spiel Seminarräume mit sogenannten Präsenzmeldern aus-gestattet. Diese sorgen dafür, dass die Lüftung und Hei-zung nur arbeiten, wenn sich Personen in den Räumen aufhalten. Der kleine Haken: „Durch die Präsenzmelder sparen wir viel Energie ein, sie sind aber leider auch der

Grund, warum es beim Betreten mancher Räume zu-nächst etwas stickig ist“, erläutert die 33-Jährige.

Doch das ist nicht die einzige Möglichkeit zur Ener-gieeinsparung. Von ihrem Arbeitsplatz aus kann sie na-hezu alle Heizungen, Lüftungen und Kälteanlagen in den Gebäuden der WWU kontrollieren und einstellen. Außerdem sieht sie, ob die Energietechnik funktioniert oder ob einzelne Komponenten wie Wärmerückge-winner, die die warme Abluft in Gebäuden wieder der Zuluft zuführen, einen Fehler haben. Findet sie einen solchen Fehler, wendet sie sich an die Techniker aus der jeweiligen Abteilung, die das fehlerhafte Teil repa-rieren oder austauschen. „Häufig ist das eine Art De-tektivarbeit“, betont sie. „Ich kann zwar sehen, dass etwas nicht richtig funktioniert. Welches Teil dieses Problem allerdings genau auslöst, müssen wir häufig vor Ort herausfinden.“

Nicht nur durch ihre Arbeit, auch insgesamt ist die WWU auf einen sparsamen Energieeinsatz be-dacht. Gleichwohl sieht Julia Strietholt beim Ener-giemanagement noch Entwicklungspotenzial. Dabei profitiert sie auch davon, dass immer mehr Beschäftigte und Studierende für das Thema sensibilisiert sind und ihr Spartipps geben. „Es gibt ein großes Interesse an den Themen Nachhaltigkeit und Energiemanagement“, un-terstreicht sie. Auch die Wissenschaftler vom Institut für Landschaftsökologie unterstützen die Energiemanagerin. „Sie schicken mir regelmäßig die Daten ihrer Wettersta-tion auf dem Institutsdach. Durch diese Informationen weiß ich zum Beispiel, wie viele Stunden die WWU im Jahresdurchschnitt ihre Gebäude kühlen muss.“

Auch privat achtet Julia Strietholt auf ihre Energiebi-lanz. „Zu Hause schaue ich mir an, wie viel Energie wir

monatlich verbrauchen. Mehr sparen können wir aktuell aber leider noch nicht, da mein Mann und ich ein Haus aus dem Jahr 1912 gekauft haben.“ Aktuell ist die Familie mit der Renovierung be-schäftigt – inklusive einer zusätzlichen Dämmung. Denn: Verbesserungsmöglichkeiten gibt es immer. Jana Haack

Mit einem Stück Mohnkuchen im Gepäck besuchen Mitarbeiter der Stabsstelle Kommunikation und Öf-fentlichkeitsarbeit für jede Ausgabe Universitätsbe-schäftigte, um mit ihnen über die Besonderheiten ihres Arbeitsplatzes zu sprechen.

... Julia Strietholt, Energiemanagerin an der WWU

Auf ein Stück mit ...

Julia Strietholt

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Ein Forschungsfreisemester ist eine fei-ne Sache. Man kann sich zum Beispiel Zeit nehmen, um ein wissenschaft-

liches Projekt ordentlich vorzubereiten. Ich als Wissenschaftler mit Schwerpunkt „Spi-ritual Care“ beschäftige mich mit Seelsor-ge in schwierigen Lebensphasen. Da lag es nahe, mich dem Thema dort zu nähern, wo sich gegenwärtig viele Menschen mit ihrer Spiritualität auseinandersetzen: auf dem al-ten Jakobsweg, dem „Camino Francés“, in Nordspanien. Ich marschierte also los, einer „grounded theory-Methodik“ im wortwört-lichen Sinn folgend: Theoriebildung durch Bodenverhaftung und Feldbeobachtung, aber ohne vorab formulierte Hypothese. Und Vor-annahmen musste ich so oder so verwerfen. Aber der Reihe nach.

Die Bodenhaftung liegt in der Natur der Sache. Wer mit neuen Wanderstiefeln mar-schiert, weiß, dass er mit den Gliedmaßen mit unmittelbarem Bodenkontakt metho-disch sauber arbeiten muss. Also ließ ich mir Einlegesohlen passgenau anfertigen, da meine (zu Reisebeginn) etwas über 90 Kilogramm Körpergewicht den Füßen einiges abverlan-gen. Das tägliche Einschmieren der Füße mit Hirschtalg sorgt für weitere Belastbarkeit. Einmal vergaß ich das morgendliche Ritual und holte mir prompt eine üble Blase, die drei Tage lang für einen schmerzhaften und „unrunden“ Gang sorgte.

Hypothese 1: übervölkerter Weg?Eine der Vorannahmen war, dass der Ja-

kobsweg seit Hape Kerkelings Bestseller „Ich bin dann mal weg“ von Pilgern übervölkert ist. Tatsächlich steigen die Zahlen seit Jahren kontinuierlich an. 2018 waren über 320.000 Menschen unterwegs. Den größten Anteil haben die Spanier (45 Prozent), gefolgt von Italienern und Deutschen (jeweils rund acht Prozent). Von überbevölkert oder gar Mas-senströmen von Pilgern kann man übrigens nicht sprechen. Bei frei wählbaren Tages-touren verläuft es sich. Es gibt Etappen, auf denen man kaum einen anderen Menschen sieht. Neue Hypothese: Den Jakobsweg geht man allein, aber man ist nie allein.

Hypothese 2: nur religiös Motivierte?Meine zweite Vorannahme war, dass vor

allem religiöse Menschen diesen in der Fröm-

„Jeder Pilger weint einmal – vor Glück“Der evangelische Universitätspfarrer Traugott Roser berichtet über seine Erfahrungen beim Wandern des Jakobswegs

migkeitsgeschichte des Christentums so wichtigen Weg gehen. An einem der ersten Tage meinte ein Mitpilger: Wer nach Jeru-salem pilgert, findet Gott. Wer nach Rom pilgert, findet die Kirche. Wer nach Santiago pilgert, findet sich selbst. Auf dem Weg be-gegnete ich neben Christen auch Buddhisten, Juden und Muslimen. In meinen fieldnotes (man könnte es Tagebuch nennen) habe ich Folgendes vermerkt:

Viele der Pilgernden eröffnen ihre Erzäh-lungen mit der Selbstauskunft, sie seien nicht religiös. Religiös ist dann gleichbedeutend mit „kirchlich verbunden“. Einer sagte: „christ-lich, aber nicht katholisch“, er war aus Italien – wenn wundert das, wenn man nur den Va-tikan vor Augen hat. Die Kirche hat sogar die Pilger*innen verloren. Auf dem Camino kann man schon nachvollziehen, warum das so ist. Man kommt an vielen beeindruckenden Kir-

chen vorbei, nur ein Teil davon ist geöffnet. Ker-zen anzünden kann man nur elektronisch, die LED-Lämpchen leuchten dann hinter einem Plexiglaskasten. Zur Andacht lädt das nicht ein. In kaum einer der Kirchen gibt es ein geistliches Angebot. Glück hat man, wenn es am Abend mal eine Messe gibt. Dabei sind täglich zwi-schen 100 und 200 Pilger in den Orten. Und vielen ist das Herz schwer oder geht das Gemüt vor Glück über. Viele Kirchen ignorieren den steten Strom aus aller Welt. Ein Stempel im Pil-gerpass reicht als spirituelles Angebot nicht aus, den kriegt man in jeder Kneipe.

Hypothese 3: Tränen gehören dazu?Zu den Vorannahmen gehörte auch, wie

ich in jedem Buch zum Jakobsweg vorher las, dass jeder irgendwann einmal auf diesem Weg weint. Das mag man sich erklären als Resultat der körperlichen und/oder der psy-

chischen Anstrengungen. An manchen Tagen geht es über bis zu 1400 Höhenmeter auf und ab, für Flachlandpilger ist das durchaus eine

Viereinhalb Wochen war Prof. Dr. Traugott Roser zu Fuß in Nordspanien auf dem „Camino Francés“, dem alten Jakobsweg, unterwegs. In allen Orten erhalten Pilger Stempel für ihren Pilgerpass. So weisen sie am Ende des Weges nach, dass sie die Strecke tatsächlich zurückgelegt haben, um ihre offizielle Pilgerurkunde zu bekommen. Die Jakobsmuschel ist das wichtigste Erkennungszeichen der Pilger. Foto: WWU - MünsterView

Herausforderung. Manche Füße, Schienbei-ne und Schultern sind entsprechend arg ge-schunden und schmerzen erheblich. Tränen können auch Resultat der gnadenlos zermür-benden Auseinandersetzung mit sich selbst sein. Wer in der kargen Hochebene Meseta stundenlang allein und ohne Schatten auf ei-ner geraden Schotterpiste seinen Gedanken hinterherhängt, mag auf die eine oder andere Untiefe in der eigenen Biografie stoßen. Ir-gendeinen Grund muss es ja haben, dass der Camino früher als Bußleistung verordnet wurde.

Am Ende der 800 Kilometer hat man so ziemlich alles durchgearbeitet, wofür man zu Hause ein Jahr Analyse und Supervision bräuchte. Auch das kann zum Heulen sein. Meine Erfahrung war aber vielmehr, dass ich permanent von Schönheit überwältigt wur-de.

Das klingt ein wenig kitschig, aber so ist es: Ich war überwältigt von der Schönheit der Landschaften und der Städte mit ihren grandiosen Kulturgütern. Am schönsten aber sind die Menschen, die gastfreundlichen Hospitalleros, die Einheimischen, wenn sie auch dem 125. Pilger am Tag noch „Buen camino!“ zurufen und mit Wasser, Weintrau-ben und frisch gebackenen Pfannkuchen ver-sorgen. Ein Mitpilger sagte: „Zu Hause, aus der Zeitung und dem Radio höre ich so viel Negatives. Hier lerne ich nur gute Menschen kennen.“ Da können einem schon die Tränen kommen. Neue – religionspsychologisch zu verifizierende – Hypothese: Jeder Pilger weint mindestens einmal, und zwar vor Glück.

Santiago de Compostela

Ponferrada LeónBurgos Logroño

Pamplona

Saint-Jean-Pied-de-Port

SPANIENPORTUGAL

FRANKREICH

Der alte Jakobsweg führt von Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich durch Nordspanien bis nach Santiago de Compostela und ist rund 800 Kilometer lang. Grafik: WWU - Designservice

Medium · Rosenstraße 5–6 · Telefon 46000

IMPRESSUM

Herausgeber:Der Rektor der WestfälischenWilhelms-Universität Münster

Redaktion:Norbert Robers (verantw.)Julia HarthStabsstelle Kommunikation undÖffentlichkeitsarbeit der WestfälischenWilhelms-Universität MünsterSchlossplatz 2 | 48149 MünsterTel. 0251 83-22232Fax 0251 [email protected]

Verlag:Aschendorff Medien GmbH & Co. KG

Druck:Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. KG

Anzeigenverwaltung:Aschendorff Service Center GmbH & Co. KGTel. 0251 690-4690Fax: 0251 690-517/18

Die Zeitung ist das offizielle Organ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Der Bezugspreis ist im Jahresbeitrag der Uni-versitätsgesellschaft Münster e.V. enthalten.

Februar / März 202002 | U N I W E L T

Sie wollen es Studierenden ermöglichen und erleichtern, sich mit dem Thema „Frauen in der Theologie“ auseinan-

derzusetzen. Nein, mit „geschlechtssensib-ler Theologie“, verbessert Theologin Verena Suchhart-Kroll. Mit diesem Ziel starteten die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeits-stelle für Theologische Genderforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät sowie die Leiterinnen, die beiden Professorinnen Dr. Marianne Heimbach-Steins und Dr. Judith Könemann, ihr Vorhaben Teach Tank „Lehr-bausteine Gender in Theologie“.

Mit dem Projekt und dem Fokus auf Hochschullehre einerseits und auf Theologie andererseits werde eine Lücke im Angebot an Lehrmaterialien geschlossen, betont Judith Könemann. „In den Lehrbausteinen sollen Fragen von Geschlechtergerechtigkeit in der Theologie didaktisch umgesetzt werden, um Studierende für diese Themen zu sensibili-sieren und ihnen mehr Angebote in diesem Bereich zu machen.“

Es gehe zum Beispiel um Fragen, wie Gottesvorstellungen gendergerecht gedacht werden könnten, welche Bedeutung die Re-alisierung von Geschlechtergerechtigkeit in Pastoral- und Religions-Pädagogik habe und nach welchen ethischen Kriterien Geschlech-tergerechtigkeit in Kirche und Gesellschaft zu bestimmen sei. „Durch die Entwicklung und Aufbereitung dieser Lehr- und Lernbausteine soll die Thematisierung von und die Sensibi-lisierung für Fragen der Geschlechtergerech-tigkeit in der Theologie erhöht werden“, be-tonen die drei Verantwortlichen.

Zurückgreifen kann das Team auf einen reichhaltigen Fundus an Lehrmaterialien ver-gangener Jahrzehnte, „die wir zusammenfüh-ren werden“, berichtet Verena Suchhart-Kroll. „Das geht zurück bis in die Anfänge der Pro-fessur für theologische Frauenforschung. Ziel ist es, praxiserprobte Materialien, Methoden, Themenvorschläge und Sitzungsgestaltungen für eine große Anzahl von Formaten und Disziplinen in der katholischen Theologie zu entwickeln.“

Sie sollen so aufbereitet werden, dass alle Dozenten der Fakultät diese analog und di-gital nutzen können. „Im ‚Learnweb‘ haben alle Interessierten Zugriff auf die Unterlagen. Letztlich soll dies auch verwandten Fach-bereichen hilfreiche Anregungen bieten“, betont Marianne Heimbach-Steins. „Diese Breitenwirkung in die Universität insgesamt ist uns besonders wichtig.“

Juliane Albrecht

Rektorat zeichnet besonderes Engagement aus

Freuen sich über die Auszeichnungen: Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins, Verena Suchhart-Kroll und Prof. Dr. Judith Könemann (Gleichstellungs-preis), Dr. Matthias Freise (Lehrpreis), Eva Janke, Katharina Zipf und Lasse Kieft (Studierendenpreis) (von links nach rechts). Foto: WWU - Peter Leßmann

Als die WWU Dr. Matthias Freise im Jahr 2009 zum Akademischen Rat am Institut für Politikwissenschaft

ernannte, stand für ihn sofort fest: „Ich werde mich vor allem für eine gute Lehre engagie-ren – für einen möglichst hohen Praxisbezug beispielsweise.“ Den gebürtigen Hessen trieb dabei in erster Linie der Befund um, dass die politikwissenschaftlichen Master-Studiengän-ge der WWU im Vergleich zu den Bachelor-Programmen weniger nachgefragt waren. Aus einem nachvollziehbaren Grund. Mit Blick auf mögliche Berufseinstiegs-Jobs bewarben sich die Master-Interessenten vorrangig dort, wo die „politische Musik“ spielt – an den Standor-ten der Parteien und Stiftungen, in Berlin und in den Landeshauptstädten.

„Wir mussten gegensteuern“, betont Mat-thias Freise. „Mit einer verstärkten Interna-tionalisierung wie unserem Kooperations-studiengang mit dem französischen Institut ,Sciences Po Lille‘ beispielsweise und mit dem Ansatz des Forschenden Lernens, den nur for-schungsstarke Universitäten anbieten können.

Mit beiden Ideen liegen wir genau richtig.“ Matthias Freise hatte damit seinen beruflichen Schwerpunkt gefunden – die Verzahnung von Forschung und Lehre im Politik-Studium. Be-sonders großen Wert legt er dabei darauf, dass die Erkenntnisse der Studierenden einen prak-tischen Nutzen haben, dass sie also „nicht für die Tonne“ forschen. Für die Arbeiterwohl-fahrt (Awo) analysierten die Studierenden beispielsweise mit einem selbstentwickelten Fragebogen und auf Basis zahlreicher Inter-views und Besuche die Altersstruktur ihrer Kreisverbände – die Awo hat seitdem eine ver-gleichsweise präzise Vorstellung davon, wie es ihr gelingen könnte, bundesweit mehr junge Mitglieder zu gewinnen.

Die Studierenden ziehen trotz des höheren Aufwands mit Begeisterung mit. Sie lernen Forschungsmethoden kennen, sie erfahren von den Auftraggebern viel Wertschätzung, und sie knüpfen erste Kontakte zu potenziel-len Arbeitgebern. Selbstverständlich stünden für sie, unterstreicht Matthias Freise, auch herkömmliche Seminare zur Wissensvermitt-

lung auf dem Lehrplan. „Beide Ansätze sollte man nicht gegeneinander ausspielen – sie soll-ten sich vielmehr ergänzen.“

Sein großes Engagement zugunsten der Lehre und vor allem zugunsten des For-schenden Lernens zeigt sich auch darin, dass Matthias Freise 2014 das Zertifikat „Hoch-schuldidaktik – Professionelle Lehrkompe-tenz für die Hochschule“ bekam und 2018 die Monografie „Forschendes Lernen in der politikwissenschaftlichen Hochschullehre“ veröffentlichte. Und er hat reichlich Ideen für eine Weiterentwicklung dieser Strategie. Die gesamte Universität könnte sich beispielswei-se einer umfassenden Leitfrage verschreiben („Wie können wir nachhaltig leben?“) und möglichst viele unterschiedliche Institute – von der Theologie bis zu den Geowissenschaf-ten – dazu animieren, mit ihren Studierenden dazu zu forschen und zu lernen. Schließlich gibt es seiner Überzeugung nach auch noch viele Möglichkeiten, das Forschende Lernen fächerübergreifend zu praktizieren. „Ich bleibe am Ball“, verspricht er. Norbert Robers

Missverständnisse mit Behörden, un-bezahlte Handyrechnungen oder Streitigkeiten mit dem Vermieter:

Es gibt viele Fälle, in denen Menschen fach-kundige juristische Unterstützung benötigen. Doch nicht alle können sich aus finanziellen oder persönlichen Gründen eine Beratung leisten. Die Law Clinic Münster schafft Ab-hilfe: Seit 2017 engagieren sich 46 Studieren-de der WWU ehrenamtlich in dem Verein und bieten kostenfreie Rechtsberatung an. „Neben dem sehr theoretischen Jurastudium ist die Vereinsarbeit eine tolle Vorbereitung auf die Berufspraxis. Durch den direkten Klientenkontakt erweitern wir unseren fachli-chen und sozialen Horizont“, erklärt der Vor-standsvorsitzende Lasse Kieft.

Wer Unterstützung von den Studierenden erhalten möchte, muss sich zunächst an einen der Wohlfahrtspartner des Vereins wenden. „Der erste Kontakt läuft über die Diakonie oder die Caritas. Dadurch gewährleisten wir einen organisierten Ablauf und kommen den Datenschutzauflagen nach, da es sich häufig um sensible Informationen handelt wie etwa Rechnungen oder Sozialbezüge“, betont Vor-standsmitglied Katharina Zipf. Geht ein Kon-taktformular bei der Law Clinic ein, nehmen die Studierenden eine erste Einschätzung vor und entscheiden, ob sie das Anliegen bearbei-ten dürfen. Denn eines ist ebenso klar: Die Mitglieder des Vereins dürfen keine strafrecht-lichen Vorwürfe annehmen oder eine Vertre-tung vor Gericht übernehmen.

Ist ein Fall von der Law Clinic angenom-men, wird er von einem Team bestehend aus zwei Studierenden und einem Rechtsanwalt, der die Nachwuchsjuristen ehrenamtlich be-rät, bearbeitet. Nicht jeder Fall hat ein Happy End, unterstreichen die drei Vorstandmitglie-der. „Auch wenn wir vielen Menschen helfen, gibt es genauso viele Fälle, die für die Klienten nicht gut ausgehen. Dadurch lernen wir das richtige Leben eines zukünftigen Richters, Anwalts oder Strafverteidigers kennen“, er-gänzt Eva Janke, die ebenfalls zum Vorstand gehört.

„Wir freuen uns riesig über die Auszeich-nung durch das Rektorat und fühlen uns in unserer Arbeit bestätigt. Das Geld nutzen wir, um uns weiter zu professionalisieren. Dazu möchten wir hochkarätige Personen einladen, die aus der juristischen Berufspraxis berich-ten. Wir konzipieren dazu eine Vortragsreihe ‚Feierabend‘, die für alle Interessierten offen ist“, sagt Lasse Kieft.

Kathrin Kottke

Das Rektorat der WWU hat beim Neujahrsempfang drei Universitätspreise verliehen. Dr. Matthias Freise erhielt den mit 30.000 Euro dotierten Lehrpreis, mit dem herausragende und innovative Leistungen in Lehre, Prüfung, Beratung und Betreuung von Studierenden ausgezeichnet werden. Der mit 20.000 Euro dotierte Gleichstellungspreis ging an das Projekt Teach Tank „Lehrbausteine Gender in Theologie“ der Arbeitsstelle

für Theologische Genderforschung der Katholisch-Theologischen Fakultät. Die Law Clinic Münster – Studentische Rechtsberatung e.V. erhielt den mit 7.500 Euro dotierten Studierendenpreis. Mit der Auszeichnung unterstützt das Rektorat das große ehrenamtliche Engagement der Studierenden und stärkt damit soziale oder kulturelle Belange im Umfeld der WWU. Wir stellen die Preisträger vor.

Lehrpreis:

Forschendes Lernen als Leitkonzept im Studium

Studierendenpreis:

Juristische Hilfefür Bedürftige

Gleichstellungspreis:

Gott gendergerechtdenken

Neujahrsempfang 2020

Bis auf den letzten Platz gefüllt war die Aula beim Neujahrsempfang des

Rektorats. In seiner Festrede wies Rek-tor Prof. Dr. Johannes Wessels vor allem auf den erfolgreichen Start der beiden WWU-Exzellenzcluster, „Religion und Politik“ sowie „Mathematik Münster“, und auf die umfangreichen Transferleis-tungen der WWU hin. An den Beispielen der WWU-Museen, der intensiven Wis-senschaftskommunikation sowie des geplanten Musik-Campus‘ und des Cam-pus‘ der Religionen erläuterte er, wie die Universität Münster ihre Verpflichtung zum Dialog mit der Gesellschaft wahr-nehme. Als herausragende Erfolge aus dem Jahr 2019 hob er die Gründung des „Exzellenz Start-up Centers“ und die Zu-sage für die Ansiedlung der Batteriefor-schungsfabrik hervor. nor

Mehr Fotos: http://go.wwu.de/k08rl

Verpflichtung zum Dialog mit der Gesellschaft

Foto: WWU - Peter Leßmann

Die WWU plant ein „Gipfeltreffen“: In Kooperation mit den Initiato-ren des Internationalen Preises des

Westfälischen Friedens soll es in diesem Jahr erstmals einen „Münster summit“ geben. Die Planungen sehen vor, dass es an den Tagen vor der Preisverleihung im September eine Reihe von Veranstaltungen geben wird, die sich an den von der UNO festgelegten Nachhaltig-keitszielen orientieren und auf die jeweiligen Preisträger zugeschnitten sind – beispielsweise Lesungen, Konzerte oder Podiumsdiskussio-nen. „Wir wollen mit unserem Programm alle Sinne ansprechen“, versprach Prof. Dr. Micha-el Quante, Prorektor für Internationales und Transfer, beim Neujahrsempfang.

Der mit 100.000 Euro dotierte Preis besteht aus zwei gleichwertigen Kategorien: Er wird an Persönlichkeiten oder Repräsentanten von Staaten sowie an Jugendliche oder Jugend-

gruppen vergeben, die durch ihr Handeln und ihre Friedensarbeit zum Vorbild geworden sind. Stifter des Preises ist die Wirtschaftliche Gesellschaft für Westfalen und Lippe e.V. Für das Programm rund um die Jugendgruppe plant die WWU eine intensive Einbindung der Studierendeninitiative „Münster Univer-sity International Model United Nations“ (MUIMUN).

In den vergangenen Jahren zählten bei-spielsweise der König von Jordanien, Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt und Daniel Barenboim zu den Geehrten – auf Seiten der Jugendgruppen wurden die Aktion Sühnezei-chen, Children for a better world e.V. und die Gemeinschaft junger Malteser ausgezeichnet. „Wir freuen uns darauf, dass wir diesen heraus-ragenden Preis wissenschaftlich und öffentlich sichtbar begleiten dürfen“, unterstrich Rektor Prof. Dr. Johannes Wessels. nor

Wissenschaftliche Veranstaltungsreihe zum Friedenspreis

„Münster summit“:Ein Programm für alle Sinne

Februar / März 2020 U N I W E L T | 03

04 | F O R S C H U N G & P R A X I S

Chemiker lassenBor-Atome wandern

KURZGEMELDET

Organische Moleküle mit Atomen des Halbmetalls Bor zählen zu den

bedeutendsten Bausteinen für Synthese-produkte, die nötig sind, um Arzneimit-tel und landwirtschaftliche Chemikalien herzustellen. Bei den in der Industrie eingesetzten Stoffumwandlungen geht allerdings häufig die wertvolle Bor-Einheit verloren, die in einem Mole-kül ein anderes Atom ersetzen kann. Organischen Chemikern um Prof. Dr. Armido Studer ist es gelungen, die Anwendungsmöglichkeiten von indus-triell verwendeten Bor-Verbindungen, sogenannten Allylboronsäureestern, zu erweitern. Die Forscher stellen Kohlen-stoff-Kohlenstoff-Kupplungen vor, bei denen die Bor-Einheit von einem Koh-lenstoffatom zum Nachbaratom „wan-dert“ und eine zweite Kupplung ermög-licht. Schrittweise können die Chemiker einzelne Bausteine von Molekülen im Grundgerüst einbauen.Chem; DOI: 10.1016/j.chempr.2019.12.022

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Dinosaurier starbenwegen Asteroiden

Waren es Vulkanausbrüche oder ein Asteroideneinschlag, der die

Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren aussterben ließ? Ein Forscherteam unter Leitung der Yale University hat einen Be-weis für die Theorie des Meteoritenein-schlags vorgelegt. Auch Wissenschaftler der Institute für Mineralogie und Pla-netologie der WWU waren beteiligt. Als Grundlage dienten Bohrloch-Proben aus einer Tiefsee-Expedition in Neufund-land, die 2015 an der WWU geoche-misch untersucht wurden. Die Forscher wiesen eine sogenannte Iridium-Ano-malie nach, die sich auf einen Asteroi-deneinschlag vor 66 Millionen Jahren zurückführen lässt. Jetzt rekonstruierte das internationale Team globale Tem-peraturen, untersuchte Fossilienfunde und Modelle des Kohlenstoffkreislaufs. Das Fazit: Die Umweltauswirkungen der massiven Vulkanausbrüche in der indischen Region Dekkan müssen lange vor dem Ende der Kreidezeit aufgetreten sein und konnten daher nicht zum Mas-senaussterben beitragen.Science; DOI: 10.1126/science.aay5055

Ein Blick in die Zeitung genügt: Die Menschheit sieht sich vom Klimawan-del bis zum Plastikmüll mit ungeheu-

ren ökologischen Krisen konfrontiert, die ein Merkmal eint – fossile Rohstoffe wie Erdöl, die direkt oder indirekt zu den Katastrophen beitragen. Denn ihre Nutzung als Energieträ-ger setzt Treibhausgase wie Kohlendioxid frei, während konventionelle Kunststoffe ebenfalls aus dieser endlichen Ressource produziert werden. Ein Umdenken ist unumgänglich, und die Bioökonomie könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten.

Aber was steckt dahinter? „Die Bioökono-mie hat viele Facetten, zielt grundsätzlich aber darauf ab, Wirtschaftssysteme nicht mehr auf fossile Energieträger, sondern auf erneuere Ressourcen zu basieren“, sagt Prof. Dr. An-dreas Löschel, der an der WWU den Lehr-stuhl für Mikroökonomik innehat, insbeson-dere die Energie- und Ressourcenökonomik. Über die Herausforderungen und Chancen der Bioökonomie möchte wiederum das Bun-desministerium für Bildung und Forschung (BMBF) informieren und hat das Wissen-schaftsjahr 2020 diesem Thema gewidmet.

Wie also lässt sich eine solch umfassende Transformation gestalten? „Als wichtigste Aufgabe sehe ich die Kreislaufwirtschaft, in der Produkte aus nachwachsenden Rohstof-fen hergestellt und auch wieder biologisch abbaubar sind, wenn sie nicht direkt recycelt werden können“, sagt Prof. Dr. Bodo Philipp vom Institut für Molekulare Mikrobiologie und Biotechnologie der WWU. „Auch die Erzeugung von Biogas aus ohnehin anfallen-den Abfallstoffen gehört dazu.“ Bodo Philipps eigene Forschung beschäftigt sich mit einem weiteren bioökonomischen Ansatz – der mi-krobiellen Müllabfuhr. „Es geht dabei um ein Verfahren, um im Abwasser Arzneimittelrück-stände durch Mikroben abzubauen“, sagt der Mikrobiologe. „Dieses steht aber noch ganz am Anfang und bedarf noch weitreichender Forschung.“

Die Entwicklung zukunftsträchtiger Tech-nologien ist jedoch nur eine Hürde auf dem Weg zur Bioökonomie. Vielfach fehlt es auch an gesellschaftlicher Akzeptanz, weil der ziel-gerichtete Einsatz biologischer Helfer maß-geschneiderte Mikroben erfordert – sprich: Gentechnik. „Bei der Erzeugung sogenannter Plattformchemikalien als Ausgangsmaterial für andere Produkte werden zum Teil bereits gentechnisch veränderte Mikroorganismen eingesetzt“, so Bodo Philipp. „Das ist anders bei der Herstellung von Biogas und der Zer-setzung von Schadstoffen, weil hier Mikroben freigesetzt werden könnten.“

Wer künftig also das Potenzial bioökono-mischer Verfahren für neue nachhaltige Ver-fahren ausschöpfen und dabei auf Mikroorga-nismen setzen will, wird sich daher wohl auch mit neuen Anwendungen der Gentechnik

„Bioökonomie hat viele Facetten“Wissenschaftsjahr 2020: Große Herausforderungen für Politik, Gesellschaft und Forschung

Regenerative Energieträger wie Wind, Sonne und Biogas sind ein zentraler Bestandteil einer künftigen Kreislaufwirtschaft, in der Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt werden und auch wieder biologisch abbaubar sind. Foto: lassedesignen - stock.adobe.com

auseinandersetzen müssen. Einen möglichen Rahmen dafür bietet das seit November für drei Jahre laufende und vom BMBF geförder-te BIOCIVIS-Projekt an der WWU. Denn hier werden Bürgerinnen und Bürger sowie andere gesellschaftliche Akteure, die Politik und auch Unternehmen gleichberechtigt in einen Dialog eingebunden.

Zusammen mit Bodo Philipp wird das in-terdisziplinäre Projekt von Prof. Dr. Doris Fuchs geleitet, die den Lehrstuhl für Internati-onale Beziehungen und Nachhaltige Entwick-lung an der WWU innehat sowie das Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (ZIN) leitet. „Bioökonomie meint viele Din-ge und wir müssen differenziert herangehen“, sagt sie. „Das betrifft uns alle: In der For-schung ist ebenso viel zu tun wie in der Politik und der öffentlichen Diskussion.“ Konkret bedeutet das, dass die Forscher im Rahmen von BIOCIVIS Szenarien für bioökonomi-sche Prozesse vorbereiten, die Bürgern in Fo-ren neutral präsentiert und dann zur Diskussi-on gestellt werden. „Wir möchten wissen, was für die Menschen akzeptabel oder eben auch unannehmbar ist“, sagt Doris Fuchs. „Wich-tig ist auch, unter welchen Bedingungen sich diese Einschätzung verändert.“

Das Wissen und die Wertvorstellungen der Bürger ernst zu nehmen, ist dabei ein zent-raler Baustein. „Wir sagen nicht, dass wir es besser wissen als die Gesellschaft“, betont Do-

ris Fuchs. „Unser Anliegen ist, die Werte der Menschen zu akzeptieren und einzubeziehen, so dass man am Ende auch zu unterschiedli-chen Positionen kommen kann.“ Die sich aber verändern: Die öffentliche Wahrnehmung ist dynamisch, so dass Akzeptanz entstehen und auch wieder schwinden kann.

Die Diskussionen im Rahmen von BIOCI-VIS liefern damit wichtige Einblicke, die den Weg zur biobasierten Wirtschaft erleichtern, aber auch ihre gesellschaftlichen Grenzen aufzeigen können. Gleichzeitig hängt diese Entwicklung von einer entsprechenden Wis-senschaftspolitik ab, die wiederum entschei-dend von der öffentlichen Wahrnehmung beeinflusst wird. Und eines ist klar: „Ohne Technologien, etwa die Bioenergie, wird es nicht gehen“, sagt Andreas Löschel, der sich als Ökonom selbst mit den Märkten für fossile Energieträger beschäftigt.

Die Ablösung von Erdöl, Erdgas und Kohle durch Bioenergie, insbesondere in Kombinati-on mit der Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid, sowie durch synthetische Kraft- und Brennstoffe, spielt dabei eine wichtige Rolle – wie auch der Preis des Wandels. „Die Kosten des Übergangs lassen sich drastisch re-duzieren, wenn wir alle Optionen nutzen“, sagt Andreas Löschel. „Manche technologischen Möglichkeiten werden in Deutschland bislang aber nicht genutzt, sind nicht akzeptiert oder sogar verboten.“ Susanne Wedlich

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Viele der archäologischen Funde sind eine Überraschung. Seit 1997 erfor-schen Altertumswissenschaftler der

Forschungsstelle Asia Minor im Seminar für Alte Geschichte der WWU die antike Stadt Doliche und das Zentralheiligtum des Iup-piter Dolichenus. Die archäologischen Hin-terlassenschaften des Ortes im Südosten der Türkei erzählen zahlreiche bislang unbekann-te Geschichten über die historische, religiöse und kulturelle Entwicklung zwischen Taurusgebir-ge und nordsyrischer Hochebene vom frü-hen 1. Jahrtausend vor Christus bis in die Kreuzfahrerzeit des 11. und 12. Jahrhunderts nach Christus hinein.

Der Althistoriker Prof. Dr. Engelbert Winter ist seit Beginn der Arbeiten an den Untersuchungen beteiligt. Texte, Karten, Interviews, Fotos und

Grafiken: Die neue Multimedia-Reportage „Von der Antike bis in die Gegenwart ein Ort der Verehrung“ der WWU bietet einen um-fassenden Einblick in die Forschungsarbeit der Grabungsexperten. kk

Die Multimedia-Reportage kann mit einem Angebot von Adobe angeschaut werden:> go.wwu.de/mmrdoliche

Multimedia-Reportage: Experten forschen in Doliche

Säuberung einer hellenistischen Mauer in einer Sondage auf dem Ke-ber Tepe, dem antiken Siedlungshügel von Doliche. Foto: Peter Jülich

WISSENSCHAFTSJAHR

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) richtet ge-meinsam mit der Initiative „Wissen-schaft im Dialog“ seit dem Jahr 2000 die Wissenschaftsjahre mit dem Ziel aus, die Menschen stärker für Wissen-schaft zu interessieren und den gesell-schaftlichen Dialog über Forschung zu fördern. Das Wissenschaftsjahr 2020 stellt die Bioökonomie in den Mittel-punkt und soll erste Schritte hin zu einer biobasierten Wirtschaftsweise greifbar machen. Dazu werden zahlrei-che Diskussions- und Mitmachforma-te veranstaltet, konkrete Projekte ge-fördert und das Ausstellungsschiff MS Wissenschaft auf Reise durch Deutsch-land und Österreich geschickt. > www.wissenschaftsjahr.de/2020

Mit „TheoPodcast“ startet die Ka-tholisch-Theologische Fakultät der

Universität Münster ein neues Format, um theologische, kirchliche und gesellschaft-liche Themen einer breiten Öffentlichkeit nahezubringen. Das von Initiator Ludger Hiepel, wissenschaftlicher Mitarbeiter von Dekan Prof. Dr. Clemens Leonhard, als „neuer Theologietransfer in die Gesellschaft“ bezeichnete Angebot läuft seit dem 22. Janu-ar. Im Anschluss gehen acht Podcast-Folgen online, unter anderem zu den Themen Nach-haltigkeit in der Bibel und zur kirchlichen Si-tuation in der Ukraine.

Die einzelnen Beiträge, die künftig 14-täg-lich erscheinen sollen, sind zwischen zehn und zwanzig Minuten lang. Interessierte fin-den Themen und Zugriffswege unter folgen-dem Link:> www.uni-muenster.de/FB2/theopodcast

Theologie-Podcastfür die Öffentlichkeit

Es gibt wohl kaum ein Format in der Wissenschaftskommunikation, das Forschern so viel Raum gibt, über ihre

Arbeit zu sprechen, wie ein Podcast. Denn gehört wird er meist dann, wenn sich die Zeit nicht anderweitig nutzen lässt – beispiels-weise im Auto, auf Zugfahrten oder beim Joggen. Um dieses Potenzial zu nutzen, hat die WWU-Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit im Herbst einen eige-nen Wissenschaftspodcast unter dem Titel „WWU-Cast – wissen.leben.hören“ veröf-fentlicht. Bisher gab es vier Folgen, die auf der Website sowie auf Spotify, Apple Podcasts und Deezer zu finden sind und auf die jeweils mehrere Tausend Hörer zugriffen.

In der ersten Folge war Prof. Dr. Mar-tin Winter, Leiter des MEET Batteriefor-schungszentrums, zu Gast, der über die Herausforderungen in der Batterieforschung sprach. Es folgte Prof. Dr. Guido Hertel, der erläuterte, in welchen Bereichen Erkenntnis-se aus der Organisations- und Wirtschafts-psychologie hilfreich sein können. Sabine Schlacke, Professorin für Öffentliches Recht, bewertete im Podcast das Klimaschutzpaket

der Bundesregierung aus rechtswissenschaft-licher Perspektive. Wieso die katholische Kir-che in einer Systemkrise steckt und welche Gegen-Maßnahmen notwendig sind, erklär-te Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf.

Ab Februar erscheinen neue Folgen des WWU-Casts. Alle bisherigen Folgen sind auf der WWU-Webseite zu finden. sp> go.wwu.de/wwucast

Neue Folgen ab Februar

Im Podcast der WWU kommen Forschende aus unterschiedlichen Disziplinen zu Wort. Foto: WWU - Sophie Pieper

Zeitreise zurück bis ins 1. Jahrtausend vor Christus

WWU-Cast:Wissenschaft zum Hören

Februar / März 2020

Politik in der digitalen Gesellschaft. Zentrale Problemfelder und For-schungsperspektiven, 332 Seiten, 39,99 Euro. Von Jeanette Hofmann, Norbert Kersting, Claudia Ritzi und Wolf J. Schünemann (Hg.).Die Bedeutung der Digitalisierung für Politik und Gesellschaft ist ein hochak-tuelles Themenfeld, das immer stärker auch politikwissenschaftlich beforscht und gelehrt wird. Die Beiträge des Ban-des versammeln dazu programmatische Positionen, welche zentrale Aspekte und Perspektiven der sozialwissen-schaftlichen Digitalisierungsforschung darstellen und diskutieren. Hierzu zäh-len unter anderem Forschungsfelder aus den Bereichen Partizipations- und Parteienforschung, Governance der Digitalisierung, methodische Reflexio-nen über Computational Social Science und die Analyse von Demokratie und Öffentlichkeit unter den Bedingungen der Digitalisierung. Dieser erste Band der Reihe ist online frei zugänglich.> http://go.wwu.de/5wvuf

Narzissmus in der Musiktherapie.Der narzisstische Musikgenuss in der Musiktherapie auf geschlos-sen psychiatrischen Stationen, 620 Seiten, 36,70 Euro. Von Eva Terbuyken-Röhm.In dieser Dissertation wird untersucht, wie Narzissmus und narzisstischer Mu-sikgenuss in der Musiktherapie wirken und in einer Musiktherapiemethode für die Akutpsychiatrie mit einem offenen Setting die Stationsatmosphäre positiv beeinflussen. Die theoretische Basis bildet eine eigene Definition von nar-zisstischem Musikgenuss. Den prakti-schen Bezug stellen Fallanalysen aus der Musiktherapie in der Akutpsychiatrie, Liedanalysen und eine Mitarbeiterbe-fragung dar. Das Ergebnis der Studie zeigt, dass der Erfolg dieser Musikthe-rapiemethode in den Wirkweisen und dem zielgerichteten Einsatz von narziss-tischem Musikgenuss begründet liegt. Das Buch ist in der WWU-Schriften-reihe erschienen und frei zugänglich.https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:6-44129761656

Nachdem das Desaster des Arabischen Frühlings den modernen Mythos der Revolution zunächst hatte ver-

blassen lassen, blüht er angesichts der jüngs-ten Welle von Massenprotesten in zahlreichen Ländern wieder auf. Zurück geht er vor allem auf Karl Marx. Weil die ausgebeuteten Mas-sen nichts zu verlieren hätten als ihre Ketten, lautete die These des Kapitalismus-Kritikers und Gesellschafts-Theoretikers, würden sie die herrschende Klasse auf Kurz oder Lang zwangsläufig von ihrem Thron stürzen. Ironi-scherweise stürzten die Massen im deutschen „Wendejahr“ 1989 ausgerechnet jene vom Thron, die ihre Macht mit den Lehren von Marx, Engels und Lenin legitimierten. Beim Blick in die Geschichte müssen wir aber fest-stellen, dass die Massen nur selten ihre Herr-scher verjagten. Daher ist der Mythos der Revolution in aller Regel vor allem eins: zu schön, um wahr zu sein.

Der Grund dafür liegt in den tiefen Macht-strukturen von Diktaturen begründet. De-ren teuflische Logik will es, dass unter allen Gruppen, die einem Diktator gefährlich wer-den können, die breite Masse des Volkes ganz weit hinten rangiert, weit abgeschlagen von den engsten Vertrauten des Diktators, den Mitgliedern der Regierung, seinen Beratern und Geheimdienstchefs sowie den Generälen und Polizeikommandeuren. Die Masse des Volkes dagegen ist in der Regel gefangen in einer schwer entrinnbaren Struktur. Wer im-mer es wagt, sich gegen den Diktator zu wen-den, bevor es eine hinreichend große Masse anderer nicht bereits tut, muss schlimmste Konsequenzen fürchten. Das begründet ein Henne-Ei-Problem: Ohne protestierende Massen traut sich keiner aus seinem Versteck, doch wenn sich keiner aus seinem Versteck wagt, gibt es keine protestierenden Massen.

Revolutionen hatten seltenfreiheitliche Gesellschaftenzur Folge.

Aber kann das angesichts der zahlreichen Massenproteste, die wir in jüngster Zeit be-obachten, wirklich ein ernsthaftes Problem sein? Es kann. Denn erstens beobachten wir Massenproteste fast immer nur in vergleichs-weise liberalen Diktaturen oder in Zeiten vor-übergehender Liberalisierungen, aber niemals in Diktaturen wie jene Hitlers, Stalins, Maos oder Kim Jong Uns. Zweitens nehmen wir nur von solchen Protesten Notiz, die tatsäch-lich stattfinden, und natürlich niemals von jenen, die trotz schlimmer Unterdrückung niemals stattgefunden haben. Zwar sind alle

Zu schön, um wahr zu seinThomas Apolte über den modernen Mythos der Revolution

Während des Arabischen Frühlings gehen tausende tunesische Demonstranten im Januar 2011 auf die Straßen der Hauptstadt Tunis, um den Rücktritt des Präsidenten zu fordern. Foto: dpa - Lucas Dolega

Proteste eine Folge von Unzufriedenheit. Aber der Umkehrschluss gilt nicht. Statistiker nennen den Effekt sample selection, und der suggeriert uns, dass Unzufriedenheit Mas-senproteste erzeugt, obwohl das nur in den wenigsten Fällen so ist. Weltweit regieren gut 100 Diktatoren, die alle mehr oder weniger ausbeuterisch sind, aber nur in einer Hand-voll davon formieren sich Massenproteste.

Wo sie doch vorkommen, hat der Zufall eine Reihe von begünstigenden Faktoren zusammenfügt. Selbst dann aber überstehen die meisten Diktaturen die Massenproteste. Wenn sie schließlich doch kollabieren, dann hat dies stets dieselbe Ursache: Angesicht der Massenproteste wenden sich die Vertrauten des Diktators, die Generäle und die Polizei- und Geheimdienstchefs, vom Diktator ab, so wie beispielsweise in der DDR und in Rumä-nien 1989 oder in Ägypten 2011. Das tun sie aber keineswegs immer: In vielen Fällen blei-ben sie loyal, wie in Peking im Frühjahr 1989 oder in Venezuela im vergangenen Jahr. In diesen Fällen nützen Massenproteste nichts.

Damit sie entstehen und Wirkung ent-falten, müssen zwei eher unwahrscheinliche

Dinge zusammenkommen. Erstens muss das Volk das Henne-Ei-Problem der Revo-lution überwinden, was nur selten gelingt. Sollte es doch gelingen, müssen zweitens die Sicherheitskräfte in der Folge der Pro-teste dem Diktator ihre Loyalität aufkündi-gen, was wiederum eher die Ausnahme ist. Aber selbst dann hat die Revolution nur ein Machtsystem zerstört und ein Machtvakuum hinterlassen, in das allzu gern Organisationen wie der Islamische Staat oder rücksichtslose Machtmenschen wie Weißrusslands Präsident Lukaschenko stoßen. Ein neues und besseres System kann eine Revolution dagegen von sich aus nicht schaffen. Hierzu spöttelte der irische Schriftsteller Oscar Wilde: „Die Revo-lution ist die erfolgreiche Anstrengung, eine schlechte Regierung loszuwerden und eine schlechtere zu errichten.“ Leider steckt viel Wahrheit darin. Denn Revolutionen hatten selten freiheitliche Gesellschaften zur Folge. Die USA sind ebenso eine Ausnahme wie die Revolutionen von 1989. Schauen wir nach Weißrussland, nach Russland, in den Kau-kasus oder nach Zentralasien, so verblasst ein großer Teil des Zaubers von 1989 gleich

wieder – vom Arabischen Frühling ganz zu schweigen.

Der Mythos der Revolution ist leider eine Romantisierung, das mögen selbst Fachwis-senschaftler oft nicht akzeptieren. Wer es aber akzeptiert, dem eröffnet das Studium von Re-volutionen tiefe Einsichten in die Logik der Macht von Menschen über Menschen, aber leider auch diese Einsicht: Wir haben die Be-dingungen zur Entstehung liberaler Demo-kratien bis heute nicht richtig verstanden. Am ehesten können wir sie als glückliche histori-sche Fügungen sehen. Daher sollten wir die Demokratie hüten, wo immer wir sie haben. Denn wo sie einmal verloren ist, wird sie so leicht nicht zurückzuholen sein.

Thomas Apolte ist Professor für Ökonomi-sche Politikanalyse am Centrum für Interdis-ziplinäre Wirtschafts-forschung der WWU. Kürzlich erschien sein neuestes Buch „Der My-thos der Revolution“. Foto: WWU - Laura Schenk

So unscheinbar Pflanzensamen für man-che Betrachter sind, so außergewöhnlich sind ihre Eigenschaften. Im trockenen

Zustand können sie über Jahre ihre Energie speichern. Ein beeindruckendes Beispiel ist der „Super Bloom“ im US-amerikanischen Death-Valley-Nationalpark, wo Samen, die über Jahrzehnte in der heißen Wüste überdau-ert haben, nach Regen schlagartig keimen und einige Monate später zu einem seltenen Blüh-spektakel führen. Der Samen bewahrt dabei einen fertig geformten Embryo, der erst mit dem Wachsen fortfährt, wenn die Bedingun-gen ideal dafür sind. Das kann in Extremfällen sogar erst Jahrhunderte später so weit sein.

Kontrolliert wird dieser Vorgang durch verschiedenste Hormone. Über die Prozesse, die die Hormone überhaupt erst wirken las-sen, war bisher sehr wenig bekannt. Wie wird die Energie im Samen verfügbar gemacht? Wie kann der Energiestoffwechsel früh und effizient gestartet werden? Diesen Fragen ist jetzt ein internationales Forscherteam unter Leitung von Prof. Dr. Markus Schwarzländer von der WWU nachgegangen.

Mithilfe neuartiger fluoreszierender Bio-sensoren beobachteten die Wissenschaftler in den lebenden Zellen von Samen sowohl den Energiestoffwechsel als auch den sogenann-ten Redox-Stoffwechsel, der auf Basis von Schwefel passiert. Das Ergebnis: Wenn die Samen in Kontakt mit Wasser kamen, baute sich der Stoffwechsel innerhalb von Minuten

Neue Einblicke in das Wunder der KeimungMolekulare Schalter regeln, wie Pflanzensamen gespeicherte Energiereserven umsetzen

Keimende Mungbohnen-Samen. Foto: Bettina Richter

auf, und die „Kraftwerke“ der Zellen (Mito-chondrien) aktivierten ihre Atmung. Darüber hinaus fanden die Forscher heraus, welche molekularen Schalter umgelegt werden, um effizient Energie freisetzen zu können – den sogenannten Thiol-Redox-Schaltern kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu.

„Man kann den Prozess mit dem Verkehrs-system einer Stadt vergleichen. Bevor die

Rush-Hour, also die Keimung, losgeht, bei der viele Stoffwech-selprodukte auf die ‚Straße‘ gelangen, soll-ten morgens die Am-peln und Leitsysteme eingeschaltet werden – und das überneh-men hier die Thiol-Redox-Schalter“, er-klärt Erstautor Dr. Thomas Nietzel. Er führte einen Großteil der Experimente als Postdoktorand am In-stitut für Biologie und Biotechnologie der Pflanzen durch. „In der Zukunft könnte man darüber nachden-ken, wie solche Schal-ter biotechnologisch genutzt werden kön-

nen“, sagt Markus Schwarzländer. Die Ergeb-nisse könnten zum Beispiel für die Landwirt-schaft relevant sein, wenn Saatgut einerseits lange haltbar, andererseits aber auch synchron und möglichst ohne Verluste keimen soll. Die Studie ist in der Fachzeitschrift „PNAS“ er-schienen. Svenja Ronge

DOI: 10.1073/pnas.1910501117

Wer als Jugendlicher kriminell wird, bleibt es in der Regel nicht sein Leben lang. Wissenschaftler

der Universitäten Münster und Bielefeld wi-dersprechen nach einer Langzeitstudie dem Vorurteil „einmal kriminell, immer krimi-nell“. Die von der Deutschen Forschungsge-meinschaft über knapp 20 Jahre geförderte Untersuchung ist in Deutschland die einzige und international eine der wenigen Langzeit-untersuchungen, die delinquentes Verhalten vom späten Kindes- bis ins frühe Erwach-senenalter in den Blick nimmt.

Soziale Benachteili-gungen, familiäre Ge-walt, ein schlechtes Schulklima oder der Konsum von Gewaltme-dien haben zwar kaum eine direkte Wirkung auf ein mögliches straffälli-ges Verhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Allerdings haben diese Fakto-ren häufig zur Folge, dass die Betroffenen die Begehung von Gewalttaten als harmlos anse-hen und ihre Zeit mit entsprechend auffäl-ligen Freunden verbringen – dies wiederum steht in einem deutlichen Zusammenhang mit der Begehung von Straftaten. Das sind zwei der wichtigsten Ergebnisse der Studie

„Kriminalität in der modernen Stadt“ unter der Leitung des münsterschen Kriminologen Prof. Dr. Klaus Boers und des Bielefelder So-ziologen Prof. Dr. Jost Reinecke.

Diebstahl oder einfache Gewaltdelikte sind demnach im späten Kindes- und mitt-leren Jugendalter nicht ungewöhnlich: Von den befragten Jungen gaben 28 Prozent im Kindesalter und 25 Prozent der Jugendlichen an, solche Taten begangen zu haben. Bei den Mädchen waren es mit 22 und 14 Prozent et-was weniger. Ab dem Ende des Jugendalters wurden die allermeisten nicht mehr straf-fällig. „Dieser starke Rückgang der Jugend-kriminalität ist normal und ein Erfolg einer regulär verlaufenden Erziehung und Soziali-sation“, betont Klaus Boers.

Von 2002 bis 2019 befragten die Wissen-schaftler in Duisburg rund 3.000 Personen zwischen dem 13. und 30. Lebensjahr zu-nächst jedes Jahr und später alle zwei Jahre nach selbst begangenen Delikten sowie nach Einstellungen, Werten und Lebensstilen. Die Angaben und Daten der Studie beziehen sich zwar auf Duisburg, sind aber auf andere Großstädte übertragbar. nor

Klaus Boers, Jost Reinecke (Hg.): Delinquenz im Altersverlauf. Erkenntnisse der Langzeitstu-die Kriminalität in der modernen Stadt. Müns-ter: Waxmann-Verlag 2019.

Wissenschaftler legen Langzeitstudie vor

Klaus Boers Foto: privat

Jugendkriminalitäterledigt sich oft von allein

NEUERSCHEINUNGENAUSDER WWU

F O R S C H U N G & P R A X I S | 05Februar / März 2020

Münster

NEUES DOSSIER

Citizen Science – auf Deutsch „Bürgerwissenschaft“ – ist ein Baustein des Wissens-

transfers an der WWU. Die Bürger sollen aktiv an der universitären Forschung beteiligt werden – sei es durch die Generierung von Frage-stellungen, die Entwicklung eines Projekts oder durch das Sammeln und die Auswertung von Daten. Die „senseBox“, ein Bausatz für stationäre und mobile Messgeräte, ist ein Beispiel für ein Citizen-Sci-ence-Projekt an der WWU. In den vergangenen Jahren stellten Bürger weltweit mehr als 5.500 Messstationen auf und erhoben Milliarden von Umwelt- und Wetterdaten wie Luftdruck, Temperatur sowie UV-Strahlung. Die Daten sind in der Internetkarte „openSenseMap“ frei abrufbar. „Die senseBox ist ein Do-It-Yourself-Bausatz, der neben dem Aufbau eines photonischen Sensornetzes für die Bürgerwissenschaft vor allem auch die Faszination für photonische Techno-logien in der breiten Öffentlichkeit fördert“, erläutert Dr. Thomas Bartoschek, Leiter des senseBox-Projekts und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geoinformatik. Auch hunderte Schulen und Hochschulen nutzen mittlerweile die senseBox in den MINT-Fächern. kn

Forschung und Lehre der Gesellschaft näherbringenWas zeichnet den Wissenstransfer an der WWU aus? Drei unterschiedliche Beispiele aus der Hochschulpraxis

An der WWU ist fast jeder vierte der rund 45.000

Studierenden in einem Lehramtss tudiengang eingeschrieben – damit gehört die Universität Münster zu den größten lehrerausbildenden Hoch-schulen in Deutschland. Als Vermittler wissen-schaftlicher Inhalte nehmen Lehrer in ihren Unterrichtsfächern eine zentrale Rolle ein – auch weil sie eine wissenschaftsorientierte Haltung vorleben. Deshalb sind die Lehrkräfte von morgen ein weiteres Beispiel für den Wissenstransfer an der WWU. Der Austausch zwischen Universität und Schule findet dialogisch statt: Zum einen absolvieren Lehramtsstudierende ein Praxissemester an einer Schule. Dadurch ha-ben sie seit Februar 2015 die Möglichkeit, Unterrichtserfahrung zu sammeln und Fragen aus der Schulpraxis mit Methoden der fachdidaktischen und bildungswis-senschaftlichen Forschung zu bearbeiten. Zum anderen können Lehrkräfte durch eine Abordnung an die WWU ihre Schulerfahrungen in Wissenschaft und Lehre einbringen. „Es ist ein Gewinn für beide Seiten, sich aktiv zu vernetzen. Sowohl unsere Studierenden als auch die Lehrkräfte profitieren davon“, betont Prof. Dr. Martin Stein, wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Lehrerbildung. kn

Die Beratung und Unterstüt-zung bei Ausgründungen ist eine weitere Säule des Wis-

senstransfers an der WWU. Die Uni-versität Münster möchte mit vielen Maßnahmen ein gründungsaffines Kli-ma schaffen, um Forschungsergebnisse in die Wirtschaft zu transferieren. Mit dem „ESC@WWU“ (Exzellenz Start-up Center) entsteht mit Partnern eine Plattform für Gründungen von wis-sens- und technologiebasierten Unter-nehmen. Gefördert wird das Projekt durch die Initiative „Exzellenz Start-up Center.NRW“ des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Wirtschaft, In-novation, Digitalisierung und Energie. Die WWU ist eine von sechs Univer-sitäten, die in den kommenden fünf Jahren rund 20 Millionen aus dem mit 150 Millionen Euro ausgestatten Geldtopf erhält. „Wir wollen die Potenziale für Ausgründungen konzentrieren und mit innovativen Ansätzen umsetzen“, betont Projektleiter Prof. Dr. Thorsten Wiesel vom Marketing Center Münster der WWU. Es sollen unter anderem fünf Entrepreneurship-Professuren ein-gerichtet werden. Weitere Bestandteile sind der Ausbau des Beratungs- und Coaching-Angebots für Gründungswillige, das Ideen- und Talente-Scouting sowie die Schaffung von Lehr- und Qualifizierungsangeboten. kn

Annette Barkhaus vom Wissenschaftsrat über die Herausforderungen der Forschungsvermittlung in der deutschen Hochschullandschaft„Transfer ist nicht etwas für den Feierabend“

Seit einigen Jahren gewinnt der Wissens-transfer an deutschen Hochschulen immer mehr an Bedeutung und wird

zunehmend als wissenschaftliche Leistung anerkannt. Die Forschungsvermittlung in die Gesellschaft findet auf ganz unterschied-lichen Wegen statt und ist als dialogischer Prozess zu verstehen. Kathrin nolte sprach mit Dr. annette BarKhaus, der stellvertre-tenden Leiterin der Abteilung Forschung des Wissenschaftsrats, über die Herausforderun-gen des Wissenstransfers für deutsche Hoch-schulen und Forschungseinrichtungen.

Der Wissenschaftsrat hat im Jahr 2016 das Positionspapier „Wissens- und Technolo-gietransfer als Gegenstand institutioneller Strategien“ veröffentlicht. Was verstehen Sie unter dem Begriff Transfer?Der Wissenschaftsrat versteht unter Transfer einen interaktiven, multidirektionalen Pro-zess. Transfer ist keine Einbahnstraße aus der Hochschule oder Forschungseinrichtung he-raus in Richtung Gesellschaft, sondern auch umgekehrt in die wissenschaftliche Einrich-tung hinein. Zugleich hat der Wissenschafts-rat einen weiten Transferbegriff erarbeitet, der Wissen – also die Gesamtheit der wissen-schaftlich erarbeiteten Erkenntnisse – und Technologien umfasst.

In Ihrem Vorwort haben Sie bereits vor drei Jahren festgestellt, dass der Transfer von

Wissen in Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik immer stärker in den Fokus wissenschaftspolitischer Aufmerksamkeit gerückt ist. Welchen Stellenwert nimmt der Wissenstransfer in der deutschen Hoch-schullandschaft Ihrer Beobachtung nach mittlerweile ein?Gesellschafts- und wissenschaftspolitisch ist dieser Stellenwert seit 2016 deutlich ge-stiegen und wird – so meine Prognose – in Zukunft aus zwei Gründen noch weiter stei-gen. Erstens besteht die Notwendigkeit, ge-sellschaftliche Herausforderungen anzugehen und Wissen als Grundlage für Innovationen zu generieren. Der zweite Grund, der sich im Jahr 2016 erst in Ansätzen abgezeichnet hat, ist die Diagnose einer fragiler werdenden Demokratie. In diesem Zusammenhang trägt die Wissenschaft die Verantwortung dafür, informierte Entscheidungen für die Bürger vorzubereiten und das Vertrauen in ihre Ar-beit zu stärken. Das sagt sich leicht, ist heute in der Praxis – Stichwort ,Expertenskepsis‘ – aber eine Herausforderung.

Wie können Hochschul- und Forschungs-institutionen diese Aufgabe meistern?Hochschulen und Forschungseinrichtungen haben bereits große Anstrengungen unter-nommen, Transfer als eine Dimension ihrer wissenschaftlichen Arbeit ernst zu nehmen. Transfer ist ein integraler Bestandteil wis-senschaftlichen Arbeitens und nicht allein

etwas für den Feierabend. Derzeit vollzieht sich ein Wandel in der Wissenschaftsland-schaft: Transferarbeiten werden zunehmend als wissenschaftliche Leistung anerkannt und können sich damit günstig auf die Reputation auswirken. Denn die Übersetzungsarbeit, die die Wissenschaftler erbringen, oder der Dia-log mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren benötigt Zeit und Ressourcen, die

bereitgestellt werden müssen und dann nicht länger zum Beispiel für Forschungsarbeiten zur Verfügung stehen.

Vor welchen Herausforderungen stehen die wissenschaftlichen Einrichtungen im Umgang mit ihrer gesellschaftlichen Ver-antwortung?Eine Herausforderung für Universitäten und Forschungsinstituten liegt darin, eine kohä-rente Transferstrategie für die gesamte Ein-richtung zu erarbeiten – gerade im Fall einer Volluniversität wie der WWU. Eine solche Strategie kann einer Institution nicht von oben übergestülpt werden. Vielmehr sollten die jeweiligen Potenziale erkannt und konkre-te Umsetzungsmaßnahmen entwickelt wer-den. Nach Auffassung des Wissenschaftsrats sollten Forschung, Transfer und Lehre dabei ineinandergreifen. Gerade in Zeiten der be-reits angesprochenen fragiler werdenden De-mokratie liegt eine weitere Herausforderung darin, sich auf Regeln guter Transferpraxis in den unterschiedlichen Handlungsfeldern wie Wissenschaftskommunikation, Beratung und Anwendung zu verständigen. Diese Regeln sind notwendig, um das Vertrauen der Bür-gerinnen und Bürger in die Wissenschaft zu stärken. Dabei spielen auch Fragen der Trans-parenz – zum Beispiel über die Finanzierung von Forschungsprojekten – eine wichtige Rolle. Bereits für Nachwuchswissenschaftler sollte es selbstverständlich werden, Transfer-

leistungen zu erbringen und dafür – ebenfalls eine Herausforderung – wissenschaftliche Anerkennung erringen zu können. Auf die-sen Feldern gibt es in Deutschland Nach-holbedarf. In der US-amerikanischen und asiatischen Hochschullandschaft gehören Transferaktivitäten schon in das Portfolio und wirken sich reputations- und karriereförder-lich aus.

Wie lauten Ihre Empfehlungen, um den wachsenden Erwartungen gerecht zu wer-den? Wie sollten die Institutionen und der einzelne Forscher die Transferaktivitäten verankern?Unsere Empfehlung lautet: Macht euch stra-tegisch auf den Weg und schafft Unterstüt-zungsstrukturen für alle Wissenschaftler! Jede Universität, jede Forschungseinrichtung, aber auch jede Forscherin und jeder Forscher sollte auf der Grundlage des eigenen Potenzials den individuellen Weg finden. Nicht jedes einzel-ne Forschungsprojekt birgt schon gleich ein Transferpotenzial. Die Position des Wissen-schaftsrats ist vielmehr, eine eigene institu-tionelle Strategie zu erarbeiten, die Verant-wortung für Transfer auf der Leitungsebene zu verankern und Transferaktivitäten je nach Fach, Potenzial und Forschungseinheit diffe-renziert zu fördern. Dazu braucht es Unter-stützungsstrukturen und Ressourcen – zentral und dezentral. Diese zu schaffen und bereit-zustellen, ist Aufgabe der Leitung.

Dr. Annette Barkhaus ist die stellvertretende Leiterin der Abteilung Forschung beim Wis-senschaftsrat. Foto: Wissenschaftsrat - Nierhoff

Sogar auf Deutschlands höchstem Berg – der Zugspitze – ist eine „senseBox“ aufgestellt. Foto: Sergey Mukhametov

Das Schaffen von Wissen und des-sen Transfer in die Gesellschaft ist Teil des öffentlichen Kulturguts und daher ein zentrales Ziel der Universität Münster. Ob Museen, Studium im Alter und Kinder-Uni, Gründungsförderung, Lehrerbil-dung oder Wissenschaftskom-munikation: Die WWU versteht Wissenstransfer als aktiven Aus-tausch zwischen Hochschule und Region. In einem sechsmonatigen Dossier beleuchtet die Stabsstelle Kommunikation und Öffentlich-keitsarbeit das Thema und die ent-sprechenden Herausforderungen in seinen zahlreichen Facetten.

go.wwu.de/wissenstransfer Keine Einbahnstraße: Der Wissenstransfer an der WWU findet im Austausch mit der Gesellschaft statt – sei es durch die museale Ausstellung von Sammlungen, spezielle Angebote für Kinder und Senioren, die Unterstützung von Gründern oder durch eine für die breite Öffentlichkeit verständliche Aufbereitung von Forschungsergebnissen. Grafik: GUCC grafik & film

Prof. Dr. Thorsten Wiesel leitet das „ESC@WWU“. Foto: TENSE/IWM

Schulalltag auf Probe: Im Praxissemester sammeln Lehramtsstudierende Unterrichtserfahrung. Grafik: ZfL - Designbüro Jünger

06 | D A S T H E M A Februar / März 2020

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Die 70 ist die neue 50. Dr. Jürgen P. Rinderspacher scheint nicht nur in der Zeitforschung ein Pionier sei-

ner sozialwissenschaftlichen Zunft zu sein. Denn wie ein Rentner oder Pensionär kommt einem der 71-Jährige nicht vor. Jürgen Rin-derspacher ist nach wie vor aktiv als Lehrbe-auftragter und Projektleiter am Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Und er ist Mitbegründer der 2002 aus der Taufe gehobenen „Deutschen Gesellschaft für Zeit-politik“. Er zelebriert etliche seiner „Zeit-weisheiten“ auch im Privaten – nicht nur altersbedingt, sondern auch als Essenz seiner jahrzehntelangen Forschungen in Münster und Hannover, wo er lebt, sowie in seiner Geburtsstadt Berlin.

Aber von vorn. Mitte der 1980er-Jahre veröffentlichte Jürgen Rinderspacher mit sei-ner Promotion „Gesellschaft ohne Zeit“ eines der ersten Bücher der neueren Zeitforschung. Zwei Jahre später folgte seine erste größere wissenschaftliche Schrift. Diese Erläuterungen zum Zeit-Begriff waren politisch beeinflusst, weil einige Arbeitgeber seinerzeit das arbeits-freie Wochenende zunehmend in Frage stell-ten. Der Titel seines Werks lautete folgerich-tig: „Am Ende der Woche. Zur sozialen und kulturellen Bedeutung des Wochenendes“. Bei Zeitforschern und Gewerkschaftern gilt es bis heute als ein Standardwerk zum Unter-mauern notwendiger Ruhephasen. Auch der Begriff „Zeitwohlstand“ für das vermeintliche Glück, im Vergleich zu früher mehr Zeit zu haben, geht auf den gelernten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler zurück.

Ich habe mein Hobbyzum Beruf gemacht.

Angefangen hatte alles im Wissenschaftszen-trum Berlin, wo er seit 1978 als wissenschaft-licher Mitarbeiter in der „Stressforschung“ arbeitete und eine Abhandlung über den Zu-sammenhang von Zeit und Stress fertigen soll-te. „Daraus wurde später meine Promotion“,

Ein Pionier der ZeitforschungSozialwissenschaftler Jürgen P. Rinderspacher verbindet den Blick auf die Uhr mit menschlichen Lebensthemen und zelebriert die Muße

Zeitfragen sind für Jürgen P. Rinderspacher essenziell – im Pendlerleben und in der Wissenschaft. Foto: WWU - Peter Leßmann

erzählt er. Das „Neuland“, das Jürgen Rinder-spacher damit erkundete, machte ihn schließ-lich zu einem Pionier der Zeitforschung, zum Experten für Zeitverbrauch, Zeittheorie und Zeitnot. Das ist er sehr gerne, wie er sagt, weil das Unbekannte ihn schon immer reizte. „Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht.“ Es folgten über die Jahrzehnte Abhandlungen, Artikel, Vorträge zu Themen wie „Zeit und Arbeit“, „Zeit und Elternschaft“, „Zeit und Pflege Angehöriger“ und – hochaktuell – „Zeit und Umwelt/Nachhaltigkeit“.

Neuland, das er letztlich trotz Interesses nicht eroberte, war die Politik. Gereizt hätte es den jungen „Revoluzzer“ schon. Er war Student in Berlin in den 1960er-Jahren, Juso-Mitglied, trat in die SPD ein, war Berater der IG-Metall und viele Jahre hauptamtlicher Mitarbeiter bei der Evangelischen Kirche in Deutschland. „Die Welt ist in der Wissenschaft doch besser zu verändern als in der Politik“, lautete sein Fazit. „Zudem sind der Wissenschaft weniger Grenzen gesetzt.“ Gerade beim Publizieren sei dies für ihn ein wichtiger Aspekt.

Dass in den vergangenen 20 Jahren neben dem zentralen Stichwort „Zeitwohlstand“ auch andere Fragen rund um den Faktor Zeit immer wichtiger wurden, liegt nach seiner Ansicht auf der Hand. „Im 20. Jahrhundert war in der westlichen Welt der materielle Wohlstand angewachsen. Zugleich wurde die verfügbare Zeit der Menschen trotz kürzer werdender Arbeitszeit immer knapper“, blickt Jürgen Rinderspacher zurück. Deshalb müss-ten künftig materielle und zeitliche Maßstäbe gleichermaßen angesetzt werden. Lebensqua-

lität heiße, beides in ein optimales Verhältnis zu setzen. Was das bedeutet und wie man das wissenschaftlich durchdekliniert, ist nach wie vor einer seiner Forschungsschwerpunkte.

Die Bahn ist meinzweiter Schreibtisch.

Obwohl der Ruhestand („65 war nie eine Grenze für mich“) längst erreicht ist und vielleicht auch mal ruhigere Zeiten kommen werden, scheint neues Neuland ein wissen-schaftliches Sprachrohr zu brauchen – die Umwelt. Die Probleme damit entstehen sei-ner Überzeugung nach vor allem dadurch, dass viele Menschen nicht auf die Beschleu-nigung oder die Versüßung des Lebens ver-zichten wollen. Beispielsweise mit einem Wäschetrockner, einem PS-starken Auto oder einem übergroßen Eisschrank. „Auch dabei geht es um Zeitfragen: Ich brauche län-ger, wenn ich weniger Technik einsetze. Soll etwas schneller gehen, braucht es mehr Ener-gie.“ Der Trockner, auf den der dreifache Familienvater nur früher als Extrem-Pendler angewiesen war, sei „ein triviales Beispiel für ein großes Thema“.

Einige persönliche Zeitfragen hat Jürgen Rinderspacher mit seinem Leben beantwor-tet. Sich Zeit lassen und Krankheiten aus-kurieren, sind zwei seiner Überzeugungen. Diesen Satz, gibt der passionierte Musiker mit eigenem kleinen Heim-Studio offen zu, sagt er heute deshalb so deutlich, weil er vor einigen Jahren mit einer lebensbedrohlichen Krankheit zu kämpfen hatte. Ruhephasen, bei denen ein Strandspaziergang in Dänemark schon mal zu einem „Flow“ werden kann, ge-hörten aber schon früher zu seiner Work-Life-Balance. Auch für sein Pendler-Leben gilt: Ich komme auch langsam ans Ziel. Jürgen Rin-derspacher fährt oft mit der Bahn. „Ich habe eine Bahncard 100. Die Bahn ist mein zweiter Schreibtisch“, schmunzelt er. „Insofern kann es mich sogar nach vorne bringen, wenn ich langsam bin, weil ich in Ruhe arbeiten kann.“ Juliane Albrecht

PERSONALIEN AN DER WWU

AUSZEICHNUNGEN

Prof. Dr. Ron Naaman vom Weizmann Institute of Science ist mit dem „Meitner-Humboldt-Forschungspreis“ ausgezeichnet worden, mit dem Kooperationen zwischen israelischen und deutschen Forschungsin-stitutionen gefördert werden. Am Center for Soft Nanoscience der WWU wird er eng mit der Gruppe von Prof. Dr. Helmut Zacharias zusammenarbeiten.

Privatdozentin Dr. Sabine Plonz von der Evangelisch-Theologischen Fakultät erhielt den Elisabeth-Gössmann-Preis für ihre hervorragende wissenschaftliche

Arbeit im Bereich der Frauen- und Ge-schlechterforschung. Grundlage der Aus-zeichnung ist ihre Habilitationsschrift mit dem Titel „Wirklichkeit der Familie und protestantischer Diskurs. Ethik im Kon-text von Re-Produktionsverhältnissen, Geschlechterkultur und Moralregime“. Der Preis ist mit 3.000 Euro dotiert und wird von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz verliehen.

Ingo Weiss, Abteilungsleiter des WWU-Hochschulsports, ist für seine Verdienste im Sport von Regierungspräsidentin Do-rothee Feller mit dem Bundesverdienst-kreuz am Bande ausgezeichnet worden.

Seit Jahren setzt er sich auch für Projek-te zur Prävention sexualisierter Gewalt im Sport ein. Zudem ist er Präsident des Deutschen Basketball-Bundes und Spre-cher der Konferenz der Spitzenverbände im Deutschen Olympischen Sportbund.

ERNENNUNGEN

Prof. Dr. Nora Markard von der Univer-sität Hamburg wurde zur Universitätspro-fessorin für „Internationales Öffentliches Recht und Internationaler Menschen-rechtsschutz“ am Institut für für Infor-mations-, Telekommunikations- und Me-dienrecht ernannt.

Prof. Dr. Julia Reckermann von der Universität Paderborn wurde zur Juni-orprofessorin für „Didaktik der Engli-schen Sprache“ am Englischen Seminar ernannt.

DIE WWU TRAUERT UM ...

Prof. Dr. Heinrich Schepers, gebo-ren am 24. Dezember 1925. Heinrich Schepers leitete früher die Leibniz-For-schungsstelle der WWU. Er verstarb am 1. Januar 2020.

Weitere Personalien lesen Sie online unter:> go.wwu.de/personalien

Die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Küns-te (AKW NRW) hat mit Dr. Lena

Frischlich von der WWU erstmals eine Kommuni-kationswissenschaftlerin ins Junge Kolleg aufge-nommen. Die Nach-wuchswissenschaftlerin gehört zu landesweit sie-ben neuen Mitgliedern im NRW-Kolleg. Akade-mie-Präsident Prof. Dr. Wolfgang Löwer überreichte ihnen die Auf-nahmeurkunden.

Lena Frischlich (36) forscht und lehrt am Institut für Kommunikationswissenschaft. Dort leitet sie seit 2018 die interdisziplinäre Nachwuchsforschungsgruppe „DemoRES-ILdigital: Demokratische Resilienz in Zeiten

von Online-Propaganda, Fake news, Fear und Hate speech“. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die digitalisierte Manipulation der Mei-nungsbildung – insbesondere die Inszenie-rung, Wirkung und Prävention von Online-Propaganda. Sie studierte Psychologie an der Universität Köln und promovierte dort im Arbeitsbereich Sozialpsychologie zum Um-gang mit existentiellen Ängsten in medien-vermittelten Interaktionen.

Neben einem jährlichen Stipendium der AWK in Höhe von 10.000 Euro für bis zu vier Jahre erhalten die Stipendiaten die Mög-lichkeit, sich in interdisziplinären Arbeits-gruppen unter dem Dach der Akademie auszutauschen. In das Junge Kolleg können Nachwuchswissenschaftler aller Fachrichtun-gen berufen werden, die bereits über ihre Pro-motion hinaus herausragende wissenschaftli-che Leistungen erbracht haben. jah

Lena Frischlich Foto: S. Lüdeling

Auszeichnung für herausragende Leistungen

Junges Kolleg nimmtLena Frischlich auf

Mit dem traditionellen Spatenstich haben Mitte Januar offiziell die Bauarbeiten für ein millionen-

schweres Großprojekt am Coesfelder Kreuz begonnen. Auf dem sogenannten „For-schungscampus Ost“ werden künftig zahlrei-che Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen der Universi-tätsmedizin Münster arbeiten.

„An zentraler Stelle entstehen neue, hoch-moderne Forschungskapazitäten, in denen interdisziplinäre Teams und Spitzenforscher der Medizinischen Fakultät hervorragende Bedingungen vorfinden werden“, betonte Prof. Frank Ulrich Müller, Dekan der Medi-zinischen Fakultät der Universität Münster. Bereits seit Jahren planen die Verantwortli-chen akribisch an dem Campus, der zukünf-tig zwei großen Forschungseinheiten Raum gibt. Auf dem Gelände wird zum einen das

Medizinische Forschungs-Centrum (Med-ForCe) und zum anderen das Body & Brain Institute Münster (BBIM) entstehen – in un-mittelbarer Nähe zum Universitätsklinikum Münster (UKM), dessen Tochtergesellschaft UKM Infrastruktur Management den Bau übernimmt.

Das MedForCe wird das neue Zuhause für die Institute für Virologie, Medizinische Mi-krobiologie und Hygiene der Medizinischen Fakultät. Im Body & Brain Institute sollen künftig etwa 200 Forscher auf 3.900 Qua-dratmetern Nutzfläche das Zusammenspiel von Hirn und Körperfunktionen ergründen. 70 Millionen Euro bewilligte die gemeinsa-me Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern im Juni des vergangenen Jahres für den Bau des Gebäudes. In den gesamten For-schungscampus fließen rund 200 Millionen Euro. mfm/ukm

Gesamtinvestition von 200 Millionen Euro

Spatenstich für den„Forschungscampus Ost“ Bücherankauf

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Februar / März 2020 Z E I T E N & M E N S C H E N | 07

erscheint am8. April 2020.

DIE NÄCHSTE

Foto: WWU - Julia Harth

In den Hörsaal gehen, der Professorin zu-hören, die wichtigsten Informationen mit-schreiben: Für die meisten Studierenden

ist das selbstverständlich und kein größeres Problem. Nicht so für Pascal Geweniger. Als Kind wurde sein Augenlicht immer schlechter, im Alter von 14 Jahren erblindete er vollstän-dig. Sein Abitur machte er auf einer Schule für Menschen mit Sehbehinderung in Marburg. Seit dem Wintersemester studiert er BWL an der WWU. „Hier ist nicht alles blindenge-recht. Genau diese Herausforderung habe ich gesucht“, erzählt der 20-Jährige.

Der Start ins erste Semester verlief etwas holprig. „Mir war klar, dass nicht alles su-per wird. Schließlich bin ich der erste blinde Studierende in meinem Fachbereich“, sagt er. Selbst für Erstsemester ohne Beeinträch-tigung ist der Studienbeginn oft eine kleine Herausforderung – für Pascal Geweniger gab es ungleich mehr Hürden. Wo kann ich einen Nachteilsausgleich beantragen? Wie komme ich an eine persönliche Assistenz? Gibt es bar-rierefreie Lernmaterialien? „Alle waren sehr nett und aufgeschlossen“, erinnert er sich. Das habe ihn in seiner Entscheidung, an der WWU zu studieren, bestärkt. „Für beide Sei-ten ist es Learning by Doing. Und es klappt immer besser.“

Besonders geholfen hat ihm sein Kommi-litone Jan Lukas Plattes – beide lernten sich kurz nach Semesterbeginn kennen. Jan Lukas Plattes ist einer von aktuell elf studentischen Inklusionstutorinnen und -tutoren, die seit dem Wintersemester beeinträchtigte Kom-militonen an der WWU unterstützen, im Idealfall bereits vor Vorlesungsbeginn und in der Studieneingangsphase. Das Projekt wur-

de gemeinsam von der Koordinierungsstelle Studium mit Beeinträchtigung und der Zen-tralen Studienberatung ins Leben gerufen. „In meinem letzten Bachelor-Semester wollte ich mich gerne ehrenamtlich engagieren“, sagt Jan Lukas Plattes über seine Motivation. Als BWL-Student kennt sich der 23-Jährige am Fachbereich aus und konnte Pascal Geweni-

Für ein chancengerechtes StudiumStudentische Inklusionstutoren unterstützen Kommilitonen mit Beeinträchtigung – Neue Kurse im März

Die Inklusionstutoren Laura Schmitz-Justen (links), Clara Gutjahr und Jan Lukas Plattes (rechts) unterstützen Studierende mit Beeinträchtigungen wie Pascal Geweniger. Infomaterialien helfen ihnen dabei, andere für das Thema zu sensibilisieren. Foto: WWU - Julia Harth

Musik über den Tellerrand hinausInterdisziplinäres Format FreiSpiel an der Musikhochschule gestartet

Musik und Physik haben auf den ersten Blick nicht viel gemein-sam – doch Musikstudentin Julia

Bowkunnyi hat Ideen, wie beide Disziplinen verbunden werden können. Mit ihrer Gitarre möchte sie die Gesetze der Thermodynamik durch Musik erklären. Wie das gehen soll? Das erforscht sie im Rahmen des Projekts FreiSpiel an der Musikhochschule der Uni-versität Münster. Seit diesem Semester kön-nen Studierende dort im offenen Wahlbereich ihres Studiums an dem neu entwickelten Format teilnehmen. Das Interesse ist groß: Neben Julia Bowkunnyi verfolgen in der Pilotphase sieben weitere Musiker Ideen zu einem produktiven Austausch unterschiedli-cher Fächer.

„Das FreiSpiel-Angebot ermutigt die Studierenden, über den Tellerrand hinaus-zublicken und zu erfahren, was ihre Musik mit den Nebenfächern ihres Studiums oder sogar unterschiedlichen Fachbereichen der WWU verbindet“, erklärt Krystoffer Dreps. Mit dem Prodekan der Musikhochschule, Prof. Stephan Froleyks, und Studienkoordi-natorin Annalena Zernott hatte er das Pro-jekt im Rahmen einer Förderung durch das Fachprogramm Musik des deutschlandwei-ten Bündnisses für Hochschullehre (Lehren) entwickelt. „Ein Ziel des Musikstudiums ist es, die Selbstständigkeit und Kreativität der Studierenden zu fördern. Mit diesem Format möchten wir die Studierenden zu eigenen interdisziplinären Ideen inspirieren und vergeben dafür an den Aufwand ange-passte Leistungspunkte“, erläutert Annalena Zernott. Nach einer etwa sechsmonatigen Projektphase wird jedes FreiSpiel mit einer Performance und einem Gespräch mit den Prüfern beendet.

Die Möglichkeit, durch das Format Zeit zu finden, um die Musik mit anderen Interessen zu kombinieren, hat auch Julia Bowkunnyi überzeugt. „Ich finde es toll, dass ein frei nach eigenen Interessen erdachtes Projekt sogar mit Leistungspunkten honoriert wird. Da das Musikstudium durch viele Übungszeiten sehr zeitintensiv ist, entwickelt man leicht einen Tunnelblick.“ Noch befindet sie sich in der Recherchephase zu ihrem Projekt und muss dabei auch einen inhaltlichen Ansprech-partner für Fragen aus dem Bereich Physik finden. „Die Betreuer von FreiSpiel fungie-

ren bewusst nicht als inhaltliche Impulsgeber, sondern stehen als Ansprechpartner bei organisatori-schen Fragen zur Verfügung, da-mit wir unsere Projekte wirklich eigenständig entwickeln“, erklärt sie.

Die gedankliche Flexibilität, die die Musikstudenten durch Projekte wie FreiSpiel im Studi-um erlernen, können sie später im Berufsalltag anwenden. Denn bei weitem nicht alle Musikab-solventen besetzen später eine feste Stelle in einem Orches-ter, führt Krystoffer Dreps aus. Wahrscheinlicher sei es, dass sie nach ihrem Studium verschiede-ne Tätigkeitsbereiche – die nicht unbedingt etwas mit Musik zu tun haben müssen – miteinander kombinieren, um sich ein ausrei-chendes Einkommen zu sichern. „Das FreiSpiel-Format ist ein weiterer Baustein des Musikstu-diums, der die individuelle Profil-bildung der Studierenden fördert

und ihnen hilft, Nischen ausfindig zu ma-chen, in denen sie später arbeiten können“, ergänzt Annalena Zernott.

Mittelfristig wünschen sich die Initiatoren, dass das FreiSpiel zu einem größeren Aus-tausch zwischen den einzelnen Studienfächern beiträgt und zu einem festen didaktisch-kultu-rellen Programm der WWU wird, an dem alle Fachbereiche gleichermaßen teilnehmen kön-nen. So würden, betonen Annalena Zernott und Krystoffer Dreps, die Potenziale der Musikhochschule als Fachbereich der WWU noch besser genutzt. Jana Haack

Julia Bowkunnyi entwickelt ein ehrgeiziges FreiSpiel-Projekt. Unterstützung erhält sie dabei von Mitinitiator Krystoffer Dreps. Foto: WWU - Jana Haack

Alltagskultur hat mich schon immer fasziniert: Warum verkleiden wir uns eigentlich zu Karneval, wie

haben sich unsere Bestattungsbräuche ver-ändert, und was verbindet Einfamilienhäu-ser mit Tradition? Um genau solche Fragen geht es im Studium der Kulturanthropolo-gie. Im Fokus stehen Phänomene, die durch menschliches Zusammenleben entstehen. Das Spektrum ist vielfältig, und man stößt auf immer neue interessante Themen.

Genauso verschieden wie die Fragestellun-gen sind auch die Arbeitsmethoden – histo-rische und empirische Herangehensweisen greifen ineinander. Neben der Recherche in Archiven gehört es beispielsweise dazu, Interviews oder eine Beobachtung durchzu-führen.

Da Museen eines der häufigsten Ar-beitsfelder für Kulturanthropologen sind, haben wir an der WWU die Möglichkeit, ein Praxismodul über zwei Semester zu be-legen. In meinem Jahrgang haben wir die Gründungsgeschichte des Freilichtmuse-ums Mühlenhof in Münster aufgearbeitet und eine eigene Ausstellung konzipiert. Von der ersten Archivrecherche bis zur Auswahl der Ausstellungsposter konnten wir die Ar-beit als Museumskurator üben. Sich bereits im Studium praktisch zu beweisen, hat viel Spaß gemacht, und es ist hilfreich für die spätere Berufswahl. Das erworbene Wissen und vor allem die erlernten Methoden lassen sich später aber nicht nur in Museen anwen-den – auch Archive, Stiftungen und Verlage zählen zu möglichen Arbeitgebern.

Trisha Cisielskie (27)

„Man stößt auf immerneue Themen“Warum ich

Kulturanthropologiestudiere ...

Foto: WWU - Sophie Pieper

17.2.17.2.

TOPTERMIN !Was gibt es Neues aus der Forschung? Der Science Pub serviert Wissenschaft mit viel Vergnügen beim Zuhören und Diskutieren mit den Referenten. Am Montag, 17. Februar, ist die Kern-physikerin Raffaela Busse im Rats-keller, Prinzipalmarkt 8-10, zu Gast. Von 19.15 bis 20.30 Uhr berichtet sie unter dem Titel „Eine Nacht am geo-grafischen Südpol“ über Polarlichter, Kerosin und jede Menge Neutrinos. Der Eintritt ist frei. Veranstalter sind die Münster Graduate School of Evo-lution der WWU, der Westfälische Naturwissenschaftliche Verein, das LWL-Museum für Naturkunde und das Deutsche Jungforscher Netzwerg juFORUM e.V. > www.science-pub-muenster.de

BERATUNGSANGEBOTE

An folgenden Stellen erhalten Studierende mit Beeinträchtigung Unterstützung:• Koordinierungsstelle Studium mit Beeinträchtigung, Tobias Grunwald, Tel. 0251/83-

22015, E-Mail: [email protected], http://go.wwu.de/smb• Zentrale Studienberatung, Volker Koscielny, Tel. 0251/83-22082,

E-Mail: [email protected], www.uni-muenster.de/zsb• AStA-Referat für behinderte und chronisch kranke Studierende, Tel. 0251/83-22282,

E-Mail: [email protected], www.asta.msInformationen für Lehrende zum Thema Studium mit Beeinträchtigung und zur barriere-armen Gestaltung von Lehrveranstaltungen gibt es bei der Koordinierungsstelle Studium mit Beeinträchtigung und unter http://go.wwu.de/ksmb.

ger deshalb viele Fragen zum Studienablauf beantworten und ihm die richtigen Kontakte vermitteln.

Rund elf Prozent aller Studierenden an deut-schen Hochschulen haben eine Beeinträchti-gung, wovon nur wenige für Außenstehende auf Anhieb sichtbar sind. Rund 52 Prozent von ihnen sind psychisch beeinträchtigt, 20 Prozent haben chronische Erkrankungen. Die Bandbreite ist groß. Für die Beeinträchtigten bringt dies oft besondere Herausforderungen bei der Studien- und Prüfungsorganisation mit sich, aber auch das soziale Miteinander kann erschwert werden. Viele wollen keine „Sonder-behandlung“. Es ist ihnen unangenehm, über ihre Beeinträchtigung zu reden und Unterstüt-zung anzunehmen. „Als Inklusionstutoren ist es unsere Aufgabe, die Dozenten und andere Studierende für das Thema zu sensibilisieren“, sagt Studentin Clara Gutjahr (24), die sich am Fachbereich Philosophie engagiert. „Barriere-freies Studieren bedeutet schließlich nicht nur,

dass es neben Treppen auch eine Rampe für Rollstuhlfahrer gibt.“

Laura Schmitz-Justen, Inklusionstutorin am Fachbereich Philologie, weiß aus eigener Er-fahrung um die Schwierigkeiten. Sie trägt ein Hörgerät und braucht in der Vorlesung mög-lichst visuelle Unterstützung wie Powerpoint-Folien. Leise Sprache und starke Umgebungs-geräusche machen es ihr fast unmöglich, alle Inhalte mitzubekommen. „Viele Dozenten haben kaum Vorwissen über Beeinträchtigun-gen. Es wäre toll, wenn das Thema direkt bei der Seminarplanung bedacht würde“, sagt die 26-Jährige. Sie hat deshalb mit einigen Kom-militonen einen Arbeitskreis gegründet und in der Fachschaft, in der Orientierungswoche und bei den Lehrenden auf die Arbeit der In-klusionstutoren hingewiesen. „Es ist unsere Kreativität gefragt. Dort, wo wir Lücken se-hen, können wir aktiv werden“, ergänzt Clara Gutjahr, die beispielsweise Ideen für die barri-erefreie Gestaltung der Webseite ihres Fachbe-reichs entwickelt hat.

Unterstützt werden sie vor allem von Tobias Grunwald von der Koordinierungsstelle Stu-dium mit Beeinträchtigung. „An der WWU gibt es bereits ein gutes Beratungsangebot. Die Hemmschwelle, sich an Kommilitonen zu wenden, ist jedoch viel geringer“, erklärt er. In einer eintägigen Schulung werden die Inklusionstutoren auf ihre Arbeit vorbereitet. Zusätzlich gibt es Reflexionstage, an denen sie von ihren Erfahrungen berichten und ihre Pro-jekte und Ideen vorstellen. Am Ende des Se-mesters erhalten alle ein Ehrenamtszertifikat. Lehramtsstudierende können sich die Tätig-keit sogar als Berufsfeldpraktikum anerkennen lassen. „Es wäre toll, wenn es in jedem Fach-bereich und in jedem größeren Studiengang Inklusionstutoren gäbe. Schließlich gibt es an der WWU rund 5.000 Studierende mit Beein-trächtigung“, sagt Tobias Grunwald.

Bereits am 12. und 18. März finden die nächsten beiden Vorbereitungskurse für das Sommersemester statt, an denen bis zu 30 Studierende teilnehmen können. Interessierte können sich bis zum 4. März bei Tobias Grun-wald anmelden ([email protected]). Julia Harth

Mehr Informationen und Liste aller Inklusions-tutoren: https://go.wwu.de/inktut

Am Zentralstandort der Universitäts- und Landesbibliothek Münster ist eine neue

digitale Lerninfrastruktur für Lern- und Ar-beitsgruppen entstanden. Mit Mitteln des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW wurde ein 360 Quadratmeter großer Raum so umgebaut, dass sich zukünftig bis zu 145 Personen in Gruppen treffen können. Highlight sind fünf neue gläserne Arbeitska-binen für Gruppen von bis zu acht Personen. Alle Arbeitskabinen verfügen über eine mo-derne technische Ausstattung wie interaktive Touch-Displays und Touch-Tables.

Neue Arbeitsplätze für Gruppen

Februar / März 202008 | S T U D I U M