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Uber die Notwendigkeit einer dreifachen Fragestellung bei der systematischen Erfassung yon Psychosen. Von Kurt Schneider. (Aus der psychiatrischen Klinik der Universit~t K61n [Direktor: Prof. G. Ascha//enburg].) (Eingegangen am 22. Februar 1924.) Diagnostizieren heil~t: die spezielle Seinsweise eines krankhaften Vorganges oder Zustandes auf Grund seiner Symptome erschliel~en. Die stillschweigende Voraussetzung dabei ist, dab gleiche Symptome gleiche Ursachen haben. Es gibt weiter eine Diagnose, die sich damit begnfigt Streckendiagnose zu sein, d. h. nur den Sitz der Ursache eines Symptoms zu erfassen, ohne fiber seine spezielle atiologische, physiologisehe oder morphologische Seinsweise, ja ohne fiber eine etwa noeh anderswo im K6rper zu suchende primdre Erkrankung etwas auszusagen. So kann man etwa einen Rindenherd auf Grund einer Lahmung diagnostizieren ohne Stellung zu der Frage zu nehmen, ob der Proze[~ arteriosklerotischer oder luetischer Genese und Natur ist, so kann man eine Thalamuserkrankung diagnostizieren, ohne ihre ~tiologische oder morphologische Natur ins Auge zu fassen, ja ohne zu behaupten, dab der primare Sitz der Krankheit der Thalamus ware. Im Hintergrund der ganzen Diagnostik, auch der symptomatologischen Streckendiagnostik, steht die zum mindesten potentielle Nachprfifbar- keit, der pathologiseh-anatomische Beweis. Wendet man diesen Begriff der Diagnostik auf die Psychiatrie an, so w~re es Aufgabe einer psychiatrischen Diagnostik, aus seelischen St6rungen, aus pathopsychologischen Symptomen, einen Krankheits- vorgang oder -zustand bestimmter Art zu erschliel~en, oder -- als Streckendiagnostik, die dann immer auf das Gehirn abzielt -- die zu den pathopsychologischen Symptomen ffihrende erkrankte Gehirn- gegend festzulegen. Diese Diagnostik richtet sich immer aufs K6rper. liche, denn in einer m6gliehen immateriellen Seelensubstanz ware ein Krankheitsvorgang oder -zustand nur bildlich denkbar. Es gibt also iiberhaupt ]ceine psychiatrische Diagnostik im strengen Sinn, sondern man treibt medizinische, als Streckendiagnose stets neurologische, Dia- gnostilc mit Hil/e psychiatrischer Be]unde.

Über die Notwendigkeit einer dreifachen Fragestellung bei der systematischen Erfassung von Psychosen

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Page 1: Über die Notwendigkeit einer dreifachen Fragestellung bei der systematischen Erfassung von Psychosen

Uber die Notwendigkeit einer dreifachen Fragestellung bei der systematischen Erfassung yon Psychosen.

Von Kurt Schneider.

(Aus der psychiatrischen Klinik der Universit~t K61n [Direktor: Prof. G. Ascha//enburg].)

(Eingegangen am 22. Februar 1924.)

Diagnostizieren heil~t: die spezielle Seinsweise eines krankhaften Vorganges oder Zustandes auf Grund seiner Symptome erschliel~en. Die stillschweigende Voraussetzung dabei ist, dab gleiche Symptome gleiche Ursachen haben. Es gibt weiter eine Diagnose, die sich damit begnfigt Streckendiagnose zu sein, d. h. nur den Sitz der Ursache eines Symptoms zu erfassen, ohne fiber seine spezielle atiologische, physiologisehe oder morphologische Seinsweise, ja ohne fiber eine etwa noeh anderswo im K6rper zu suchende primdre Erkrankung etwas auszusagen. So kann man etwa einen Rindenherd auf Grund einer Lahmung diagnostizieren ohne Stellung zu der Frage zu nehmen, ob der Proze[~ arteriosklerotischer oder luetischer Genese und Natur ist, so kann man eine Thalamuserkrankung diagnostizieren, ohne ihre ~tiologische oder morphologische Natur ins Auge zu fassen, ja ohne zu behaupten, dab der primare Sitz der Krankheit der Thalamus ware. Im Hintergrund der ganzen Diagnostik, auch der symptomatologischen Streckendiagnostik, steht die zum mindesten potentielle Nachprfifbar- keit, der pathologiseh-anatomische Beweis.

Wendet man diesen Begriff der Diagnostik auf die Psychiatrie an, so w~re es Aufgabe einer psychiatrischen Diagnostik, aus seelischen St6rungen, aus pathopsychologischen Symptomen, einen Krankheits- vorgang oder -zustand bestimmter Art zu erschliel~en, oder -- als Streckendiagnostik, die dann immer auf das Gehirn abzielt -- die zu den pathopsychologischen Symptomen ffihrende erkrankte Gehirn- gegend festzulegen. Diese Diagnostik richtet sich immer aufs K6rper. liche, denn in einer m6gliehen immateriellen Seelensubstanz ware ein Krankheitsvorgang oder -zustand nur bildlich denkbar. Es gibt also iiberhaupt ]ceine psychiatrische Diagnostik im strengen Sinn, sondern man treibt medizinische, als Streckendiagnose stets neurologische, Dia- gnostilc mit Hil/e psychiatrischer Be]unde.

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Medizinische Diagnostik mit Hilfe psychischer Symptomatologie zu treiben, ist in der Tat bis zu einem gewissen Grade mSglich, doch ist eine eindeutige Gesetzlichkeit nirgends auffindbar. Dies kSnnte einmal erkenntnistheoretische Grfinde haben, denn ,,zwisehen" Ursache und Symptom liegt das Problem yon Leib und Seele, das Neuropathologie und Psychopathologie auf immer auseinanderhalt und die Psychiatrie daran hindert, ]emals eine einheitliehe Wissenschaft zu werden. Alle Einzelwissenschaften grfinden sich auf logisehe und erkenntnistheore- tische Voraussetzungen, und alle mfinden schlie~]ich ins Metaphysische. Aber wahrend man sich bei ihnen allen begniigen kann, nach den philo- sophischen Grundlagen anzu/angen und vor den philosophischen Aus- blicken au/zuhgren, ist das bei der Psychiatrie anders: hier liegt mitten drin ein philosophisehes, empirisch unl6sbares Problem. Es kSnnte aber auch nur daran liegen, da[t entweder unsere physiologischen oder unsere psyehologischen Methoden oder beide noeh zu grob sind, um Gesetze linden zu lassen. Dal3 z. B. ein paralytischer Hirnprozel3 einmal ein expansives, das andere Mal ein depressives Zustandsbild zur Folge hat, kgnnte daran liegen, dalt wir die paralytisehen Prozesse nach Art und Sitz noeh nicht geniigend spezifizieren kSnnen. Da[3 versehiedene infektiSse Gehirnkrankheiten anscheinend dieselben deliriSsen Bilder zur Folge haben, kSnnte daran liegen, da~ die psychologische Analyse dieser Bilder noch nieht fortgeschritten genug ist. Ferner kSnnte man, wozu man heute neigt, im Beispiel der Paralyse auf der kSrperlichen Seite den anlagema~igen Bau und die Funktion des Gehirns, auf der psyehologischen die befallene PersSnlichkeit fiir die Verschiedenheiten der psychotischen Bilder verantwortlich machen. Und endlich kSnnte man im Beispiel der Delirien ein Mittelglied annehmen und denken, da~ wir lediglieh die akute Gehirnvergiftung (einerlei weleher ~tiologie und Art) erfassen, also ,,Streekendiagnose" treiben.

Trotz dieser praktischen und theoretischen Begrenztheit medizi- nischer Diagnostik mit Hilfe psychiseher Symptome gibt es bekannt- lich eine Gruppe von Krankheiten, bei deren Diagnose man sieh ihrer bedienen kann, so eine Reihe von Gehirnprozessen und Gehirnintoxi- kationen, auf psychiseher Seite die ,,organischen Psychosen" und deli- ri6sen Zust~nde. Diese Symptome sind weitgehend unspezifisch. Man neigt sehr dazu, dies zu iibersehen, denn in den kSrperlichen Ausdruck des Seelischen hinein mischt sich Neurologisehes: Demenz und schmie- rende Spraehe, Beschaftigungsdelir und Zittern verbinden sieh zu einem Bild. K5nnte man das nur Ausdruekspsychologische aus ihm los- 15sen, ware es fiir den Krankheitszustand noch weit unspezifiseher als es uns so schon erscheint. Bei dieser ganzen Diagnostik ist das Psycho- logisehe lediglich tin Hilfsmittel. Im Zweifelsfalle sind wir stets geneigt, uns auf den kSrperlichen Befund zu verlassen und ihm zu glauben.

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Alle Systematik orientiert sich hier nach dem K5rperlichen. Auch beachten wir nur gewisse allgemeine Formen unter mSglichster Ver- nachlassigung des Individuellen, denn unser psychologisehes Erfassen wird ffir diese diagnostischen Zwecke um so unbrauchbarer, je tiefer die Analyse ist. So geht andererseits unter dem Gesichtspunkt der ,,Krankheitseinheit" die feinere Psychopathologie mit Notwendigkeit zugrunde.

Die Idee und Arbeitshypothese der Krankheitseinheit nimmt an: gleiche J~tiologie, gleiche k5rperliche und seelisehe Symptome, gleicher seelischer und kSrperlicher Ausgang, gleicher Obduktionsbefund. Bei Vernachlassigung der /eineren Psychologie konnte die Paralyse als Beispiel dienen; sie wurde Vorbild und Programm fiir einen Arbeitsplan yon Jahrzehnten. Bei den Psychosen im engeren Sinne gelang es bisher nicht, zu einer Diagnose im Sinne des Erfassens eines Krankheitspro- zesses mit Hilfe psychischer Symptome vorzudringen. Man ist bis heute gen6tigt, bei einer Gruppierung und Systematik der psychischen Symptome, also ganz im Psychiatrischen zu bleiben. Versagte hier die Anwendungsm6glichkeit der groflen Krankheitseinheit, so suchte man wenigstens zu einer lcleinen Krankheitseinheit zu kommen, die ihre Forderung dahin einschrankte: gleiche seelische Symptome, gleicher seelischer Verlauf. So entstanden die Gruppen des manisch-depressiven Irreseins und der Dementia praecox. Die Rechnung stimmte so welt, dab diese kleinen Krankheitseinheiten alle ffiihere Systematik an Handlichkeit fibertrafen und flit die gegenseitige Orientierung und den taglichen Gebrauch schleehthin unentbehrlich wurden. Es blieb jedoch ein Rest yon Fallen, der nicht ohne Zwang eingereiht werden konnte; die Deckung wurde nie ganz erreicht. Man versuchte diesen Rest zu zwingen, indem man je nach Neigung das Gewicht tells mehr auf die Symptome, tells mehr auf den Verlau] legte, wodurch das bekannte Schwanken der zahlenmal3igen Verteilung entstand. Andere nahmen Mischungen an und wieder andere stellten neue kleine Krankheits- einheiten auf, yon denen sich keine hielt und einbfirgerte. Dal~ man manisch-depressive und schizophrene Bilder auch bei den allerverschie- densten organischen Psychosen und Intoxikationen land, st6rte vollends. So kam es zu einer Krise in der klinischen Systematik, der sich niemand verschliel3en konnte. So verstarkte sich die seit langem yon Hoche 4) vertretene Forderung zur Rfickkehr zu den Symptomenkomplexen, der zuletzt selbst Kraepelin 6) Zugestandnisse machte. Wenn es auch sehr wfinschenswert ware, wenn einmal jemand systematisch an die Aus- arbeitung der Lehre yon den Symptomenkomplexen ginge, so seheint sie doch nicht geeignet, jene beiden grol~en klinischen Formenkreise zu ersetzen. Sie sind als grobes Orientierungsmittel unersetzlich und genfigen zur klinischen Effassung der allermeisten Falle. Da, wo sic

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nicht genfigen und vollends da, wo auch das Vorliegen yon im iiblichen Sinne ,,organischen Psychosen" in Betracht gezogen werden muft, bleibt nur iibrig, nach folgenden 3 Gesichtspunkten gesondert zu fragen: 1. Ist eine Diagnose (in dem oben umschriebenen stets somatischen Sinne) mSglich ? 2. Wie ist der (psychische) Zustandstypus ? 3. Wie ist der (psychische) Verlau/stypus ?

1. Die Diagnose. l~ber ihre verschiedene Wertigkeit ist schon oben einiges gesagt worden. Dies sind Probleme der allgemeinen Patho- logie. Wir sehen in dem Gehirn das Organ, das -- zum allermindesten als Er/olgsorgan -- die psychische StSrung bedingt. Dementsprechend kann man Irrimdire Gehirnkrankheiten yon sekunddren Gehirnkrank- heiten (auftere und inhere Vergiftungen) unterscheiden. Zu der ersten Hauptgruppe wiirden gehSren : Commotio cerebri, Tumor cerebri, Hydro- cephalus, Paralyse, arteriosklerotische und senile Gehirnkrankheiten, zu der zweiten Gruppe Infektionen und Intoxikationen aller Art, Ur~mie, Kretinismus. Besonderer ErSrterung bedarf die Frage: Ist Epilepsie eine Diagnose oder nicht ? Zweifellos ist sie es nicht, sie ist immer ein Symptom, zum Teil bekannter, zum Tell unbekannter primarer oder sekundarer Gehirnkrankheiten. Aber sie ist immerhin ein somatisches Symptom, und es wird so in einigen Fallen erlaubt sein, sich dieses Symptomes, das stets auf eine Gehirnkrankheit hinweist, als einer vor- laufigen Diagnose zu bedienen.

Alle diese aufgezahlten Namen und noch viele mehr sind Diagnosen. Keine Diagnosen sind manisch-depressives Irresein und Dementia prae- cox; denn diese Bezeichnungen gehen nicht auf Somatisches, sondern bezeichnen psychologische Tatbestande. Dies fiihrt auf K6rtkes 5) leider zu wenig beachtete Forderung einer Doppelsystematik. Es scheint vSllig richtig, daI3 die somatisehe Reihe der Frage: ,,Was ist richtig ?" die psychologische Reihe aber der Frage: ,,Wie sollen wit es nennen ?" untersteht. Nur hat KSrtke~), vorzeitig verfiihrt durch serologische Befunde und Theorien Fausers, angenommen, es gabe einen Morbus dementiae praeeocis und einen Morbus maniaeo-depressivus, denen neben Neurosen und Fallen yon psychischer Gesundheit die entsprechen- den Psyehosen zugeordnet waren. Dies ist Theorie. Wir wissen weder, ob es nicht verschiedene Morbi dementiae praecocis und verschiedene Morbi maniaeo-depressivi gibt, noch ob es nicht fiir beide Psychosen nur einen Morbus gibt, so dal~ derselbe Morbus -- vielleicht je nach dem Gehirnzustand -- einmal eine Dementia praecox, das andere Mal ein manisch-depressives Irresein zur Folge hat. Wir wissen nichts, und es scheint daher besser, an Stelle dieser vorzeitigen und verfriihten Morbi ein _Fragezeichen zu setzen. DaB auch Schwachsinnszustande und die psychopathischen PersSnlichkeiten keine Diagnosen sind, sei trotz der Selbstverstiindlichkeit erwahnt. Gerade die Schwaehsinnszustande mit

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ihren mitunter somatisch greifbaren so sehr verschiedenen Ursachen zeigen dies aufs deutliehste, und die Lehre yon den psychopathischen PersSnlichkeiten bleibt noch immer ganz im Psychischen.

Der Versuch, zur Diagnose zu kommen, mu] das Bestreben der Psychiatrie bleiben. Diese Arbeitsrichtung bindet sie unlSsbar an die Medizin. Von dieser Seite allein ist auch eine Therapie der Psychosen zu erwarten. Ohne somatische Gesichtspunkte und Ziele ist Psychiatrie Pathopsychologie und keine i~rztliche Wissensehaft.

Man wird darum dem Psychiater nicht verbieten, auch Pathopsyehologie zu treiben, schon deshalb, weil er allein fiber das empirische Material verffigt. Und as ist unsachlich, vorwiegend pathopsychologisch arbeitenden Psychiatern vorzu- weffen, sie hielten andere Richtungen ffir nebensachlich und wertlos. Man ver- wechselte methodische Arbeitstrennung mit praktisch-~rztlichen Trennungen. Man tat so, als ob diese Psychiater ihren Reflexhammer und ihre Pupillenlampe zerschlagen und ihre Punktionsnadel weggeworfen h~tten. Das ist genau dasselbe, wie wenn man vorwiegend serologisch oder anatomisch arbeitenden Psychiatern vorwiirfe, sie explorierten oder begutachteten ihre Kranken nicht mehr. Eine ,,reine" Psychiatrie als Methode, als Forschungsgebiet, hat vSllige Berechtigung. Ich meinte fibrigens, was durchweg iibersehen wurde, urspriinglich damit die Lehre von den psychopathischen PersSnlichkeiten und Psychoneurosen. Diese Fassung war ungesehickt, und wenn man von ,,reiner Psychiatrie" reden will, so tut man es besser in dem oben bezeichneten methodologischen Sinne, d.h. so wie man yon ,,reiner Psychologie" redet, womit man eine Psychologie meint, die Seelisches ohne Beriicksichtigung kSrperlicher Vorg~nge studiert.

2. Der Zustandstypus. Er trifft sich mit dem, was Hoche 4) im Gegen- satz zu den psychisehen Elementarsymptomen (z. B. Sinnestiiuschungen, Wahnideen) ,,Einheiten zweiter Ordnung" genannt hat, also mit dem, was man auch Symptomenkomplexe heist. Es gibt gewisse typische Bilder, die von jeher aufgefallen sind, und die auch in allen Psychiatrien wiederkehren. Im einzelnen ist es willkfirlich, wie viele Zustandstypen man aufstellen will, ja selbst das, ob man noch yon Einzelsymptom oder schon yon Zustandstypus reden will. Es ist nun eine Tatsache, daIt diese Zustandstypen nur dann praktisch verwendbar sind, wenn ihnen eine gewisse Spielweite und Verschwommenheit gelassen wird. Sobald man sie begrifflich schiirfer fassen will, werden sie fiir die prak- tische Psychiatrie unbrauchbar, weil sie in lauter kleine Gruppen zerfallen. Hier scheint im Gegensatz zu der nicht scharf genug zu fassen- den Typologie der pathopsyehologischen Einzelsymptome das zu Recht zu bestehen, was Ziehen 9) einmal tadelnd so ausdriickte : ,,Es ist, als ob die ,klinisehe' Psychiatrie einen Freibrief fiir schloddrige Begriffe gi~be." Was die Anwendung dieser Symptomenkomplexe so sehr erschwerte, war der stets gemachte Versuch, das Schizophrene a]s eigenen Zustands- typus neben die anderen zu stellen. Auf diese Weise kommt man nie zu praktisch brauchbaren Einheiten. Es ist ]ceine Frage, daft alle die au/zuz~ihlenden Zustandstypen schizophren und nichtsehizophren vor-

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kommen k6nnen. Dies gilt selbst fiir die exogenen Reaktionsformen, sogar fiir den Korsakoffsehen Symptomenkomplex unter ihnen. Es kann hier nicht daran gedacht werden, naher zu umschreiben, was unter dieser schizophrenen Fgrbung zu verstehen w~re. Man wird sich an die Bleulersehen ~) Grundsymptome halten, wozu noeh jenes subjektive aber in Wirklichkeit wichtigste Merkmal kommt, das man am besten als mangelhaften oder fehlenden Rapport bezeichnet. Es scheint mir nicht zweifelhaft, da~ wir uns beim Finden solcher schizophrener Fi~r- bungen noch viel zu sehr yon heterogenen Gesichtspunkten, wie Ana- mnese, Verlauf, Inhalte, leiten lassen und nicht rein die psychologische Struktur betrachten. In der Lehre von den Zustandstypen ist die Frage nach dem Schizophrenen also eine Unter/rage. Sehon deshalb miissen die Zustandstypen etwas verschwommen bleiben, was natiirlich nicht hindert, dai~ man sie sich im Einzelfalle namentlich zu prognostischen Zwecken genau auf das etwa Schizophrene ansieht. Es zu einer Kategorie der psychiatrischen Systematik zu machen, ist schon wegen der Subjektiviti~t dieses Symptoms bedenklich.

Die einzelnen Zustandstypen, die also alle sehizophren und nicht- schizophren vorkommen kSnnen und aul~erdem, und zwar in beiden Gestalten, anseheinend aueh bei allen Diagnosen, sind ihrem psycho- logischen Aufbau nach sehr verschieden. Einmal enthalten sie zum Teil vielerlei Einzelsymptome, zum Teil nur wenige, ja nur ein einziges, weshalb auch der Ausdruck Symptomenkomplex oder Syndrom vermieden wurde. Und diese Einzelsymptome stammen wieder aus so verschiedenen psychologischen Kapiteln, da{~ eine Vergleiehbarkeit nur selten mSglich ist, wenig sich ausschlieBende Gegensatzpaare dabei herauskommen und daher aueh Kombinationen mSglich sind. Aus prak- tischen Griinden scheint es mir richtig, da, wo der Name allein auch eine ,,Krankheit" bedeuten k6nnte, das Wort ,,Zustandstypus" hinzu- zusetzen; man redet also besser yon ,,paranoischem Zustandstypus" als yon ,,Paranoia", wi~hrend man heute wohl ohne Bedenken yon ,,Stupor" und ,,Halluzinose" reden kann.

Die Zustandstypen sind: Amentia, Delirium, Erregung (Tobsucht), Pseudodemenz, der manische, depressive, paranoische, katatonische Zu- standstypus, Stupor, besonuene Halluzinose, der Korsako//sche Zustands- typus und die Demenz. Dauerzust~nde im Sinne der Variationen menschlichen Wesens wie gewisse Schwachsinnszust~nde und die psyehopathischen PersSnlichkeiten kann man, wenn man will, auch dazu rechnen. Es sei noch bemerkt, dai] die Aufstellung eines eigenen Zustandstypus ,,D~mmerzustand" nicht notwendig ist, da er entweder als Delirium oder als Stupor oder als irgendein anderer Zustandstypus erscheint.

Die Aufstellung und Handhabung solcher rohen Zustandstypen,

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die fiber alle Versehiedenheit der Schulen hinweg allgemein bekannt und anschaulich sind, geht gewissermal3en in anderer Richtung als die zur AuflSsung der Systematik ffihrende strukturanalytische und erbpsychia- trische Richtung, die dafiir aber allein dem Wesen des Einzelfalles gerecht wird. Auch die erbpsychiatrische Richtung fiihrt nicht zu einem psychologischen System der Psychosen; denn was erbbiologisch verwandt ist, braueht keineswegs aueh psychologisch verwandt zu sein. .~hnliches gilt selbst innerhalb der somatischen Reihe: Gieht und Dia- betes mSgen erbbiologisch verwandt sein, als phgnotypisehe Gebilde sind sie durchaus etwas Verschiedenes. Nicht dasselbe, was fiir die strukturanalytische und erbpsychiatrische Richtung gilt, gilt auch fiir die ph~inomenologische: Sie scheint zu Zustandstypen fiihren zu kSnnen, die fiberaus spezifiseh auch im Hinblick auf Verlgufe sind, wie die vitale Depression. Bostr6m a) hat daher keinesfalls recht, wenn er meint, diese ,,reine Psychiatrie" komme ,,ihren Grundsi~tzen gemgl~ kaum ftir praktisehe klinische Zweeke in Betracht, ja man kann sagen, eine derartige Anwendung liegt auch nicht in ihrem Programm". Dal3 die phiinomenologische Riehtung trotzdem fiir die praktisehe Gruppie- rung der Einzelfiille yon sehr begrenztem Wert ist, leitet sich aus der meist vorhandenen UnmSglichkeit ihrer Anwendung ab.

3. Der gerlau/stylaus. Wenn auch in sehr vielen Fgllen sich Zustands- typus und Verlaufstypus zu einer klinischen Einheit zusammenfiigen, lehrt doch die Erfahrung, dal~ beide grunds~itzlich zu trennen sind. Dies verlangen namentlich die schizophrenen Farbungen. Die prak- tische Erfahrung fordert, dab man zwisehen Zustands- und gerlau]s- schizophrenie trennt. Es ist beim Fehlen einer Diagnose in unserem Sinne vSllig Geschmackssaehe, ob man bei einer Zustandsschizophrenie, die nicht zu einer Verlaufssehizophrenie wird, yon einem schizophrenen Reaktionstypus im Sinne Poppers s) oder von einer, evtl. exogen ausgelSsten, und geheilten Schizophrenie reden will. Nicht nur vSllige tIeilung nach schizophren gefi~rbten Zustandstypen kommt vor, sondern auch die Entwicklung eines psychotischen oder pseudopsychopathisehen Dauerzustandes ohne schizophrenes Geprgge.

Die oberste Fragestellung bei der Betrachtung der Verlgufe ist stets: Entwiclclung bzw. Reaktion einer PersOnlichkeit oder Psychose. Bei der Psychose ist wieder zu scheiden zwischen heilender Phase und dem irreparablen Prozel 3. Die Phase kann akut oder schleichend auftreten, und sie kann einmalig sein oder periodisch. Die Perioden kSnnen homogen (wie bei periodischen Depressionen) oder heterogen (wie beim wSrtlich genommen manisch-depressiven Irresein) vorkommen. Die Perioden kSnnen so eng liegen, dab homogene oder heterogene Wellen auftreten. Unter den Prozessen unterseheidet man die unter Umstgnden eruptiv [MagenauT)] auftretenden psychotischen Dauerzust~inde ohne Weiter-

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entwicklung und, vorwiegend sozial wertend, den Abbau und den Umbau. Abbau und Umbau kSnnen sieh kontinuierlich oder in Schi~ben vollziehen; beim Abbau kommt dann das Bild der Kaskade heraus.

Aus der Tatsache gewisser Beziehungen zwischen diesen Verlaufs- typen und den Zustandstypen entstanden die kleinen Krankheits- einheiten manisch-depressives Irresein und Dementia praecox, ins- besondere aber dadurch, dal~ man das in unserem Sinne diagnostisch Fal~bare ausschlo] und ferner die ni~here, schizophrene oder nicht- schizophrene Struktur der Zustandstypen beachtete. Die Beziehungen der Verlaufstypen zu den Diagnosen sind zweifellos engere und unmittel- barere als zwischen den Diagnosen und den Zustandstypen, die zum mindesten in ihrer inhaltlichen, zum Teil aber wohl auch in ihrer for- malen Gestaltung yon anderen Faktoren bedingt sind. Es ist fibrigens nicht richtig, speziell aus der Diagnose ableitbare Ziige einer Psychose als ,,pathogenetische" den anderen als ,,pathoplastischen" gegeniiber- zustellen [Birnbauml)]. Unter den ,,pathoplastischen" Ziigen im Bild einer Psychose gibt es solche, die anscheinend unmittelbarer als andere durch die Krankheiten bedingt sind. --

Was nun die Handhabung dieser dreiteiligen Systematik anlangt, so wird man, trotzdem diese Fragestellung grundsdtzlich stets vorliegt, in vielen F~llen auf sie verzichten kSnnen. Bei einer durchschnittlichen Paralyse hieite die Fassung etwa so: 1. Diagnose: progressive Paralyse, 2. Zustandstypus: Demenz, 3. Verlaufstypus: kontinuierlicher ~bbau. Bei einer allt~glichen Schizophrenie hiel~e die Fassung vielleicht so: 1. Diagnose: -- ? -- 2. Zustandstypus: besonnene Halluzinose (schizo- phren), 3. Verlaufstypus: Umbau. Bei einem manisch-depressiven Irresein: 1. Diagnose: -- ? -- , 2. Zustandstypus: manisch, 3. Verlaufs- typus: heterogen periodisch.

In allen solchen mit der iiblichen Systematik fa~baren Fallen wird man sich der iiblichen kurzen Benennungen bedienen k5nnen. In allen komplizierten und zweifelhaften Fallen aber seheint es zur gegenseitigen Versti~ndigung unerl~[~lieh, die Dreiteilung durchzuffihren. So kann etwa vorkommen: 1. Diagnose: progressive Paralyse, 2. Zustandstypus: paranoiseh (schizophren), 3. Verlaufstypus: kaskadischer Abbau. Oder: 1. Diagnose: Arteriosklerose des Gehirns, 2. Zustandstypus: manisch, 3. Verlaufstypus: psychotischer Dauerzustand.

Endgtiltig kann ein Fall naturgem~tl~ erst nach Ablauf des betreffen- den Lebens erfaBt werden, obschon es sich in Anbetracht der vielen interkurrenten Erkrankungen aueh hier vielfach lediglich um einen Abbruch handelt. Man wird in vielen F~llen den Verlaufstypus nur als einen vorlgiufigen bestimmen kSnnen. Als Zeitpunkt ffir die Festlegung des Zustandstypus dient der Zeitpunkt, in dem man untersucht. Wenn

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die Z u s t a n d s t y p e n f r i ihe r a n d e r e waren , so is t es zweckm~i~ig, a u c h dies

zu v e r m e r k e n , sowei t dies n i c h t s chon im V e r l a u f s t y p u s (z. B. , , he t e rogen

p e r i o d i s c h " ) a u s g e s p r o c h e n ist .

Literaturverzeichnis. 1) Birnbaum, Der Aufbau der Psychose. Berlin 1923. - - 2) Bleuler, Dementia

praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Leipzig-Wien 1911. - - 3) Bostr6m, Klin. Wochenschr. 2, 1728. 1923. - - a) Hoche, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych- iatrie, Orig. 12, 540. 1912. - - 5) K6rtke, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie, Orig. 48, 354. 1919. - - e) Kraepelin, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie, Orig. 62, 1. 1920. - - v) Magenau, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie, Orig. 79, 463. 1922. - - s) Popper, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie, Orig. G2, 207. 1920. - - '~) Ziehen, CharitY-Ann. 3~, 113. 1908.