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Universität Bern Institut für Theaterwissenschaft Dr. Thomas Bühler Georg Suter Glattstegweg 82 8051 Zürich 28. Jänner 2003 strategien der programmheftgestaltung

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Universität BernInstitut für TheaterwissenschaftDr. Thomas Bühler

Georg SuterGlattstegweg 828051 Zürich

28. Jänner 2003

strategien der programmheftgestaltung

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Einleitung

Seite 2

Was ihr wolltReinhard Göber28. April 2001

Seite 3

L’isola disabitataAndreas Baesler16. April 2000

Seite 4

Das Käthchen vonHeilbronnDeborah Epstein / MarcusMislin22. September 2000

Seite 6

Was ihr wolltChristoph Marthaler17. Februar 2001

Seite 8

Berlin AlexanderplatzFrank Castorf29. März 2001

Seite 10

PolaroidsFalk Richter9. Dezember 2000

Seite 12

luzernertheater

Seiten 3 bis 7

SchauSpielHausZürichSeiten 8 bis 15

Interview mit dem Dra-maturgen Robert Koall

Seite 16

Fazit

Seite 18

strategien der programmheftgestaltung

Vergleich

Seite 7

Vergleich

Seite 15

Anhang

Seite 22

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Zu Theaterinszenierungen werden heute Programmhefte angeboten. Sie werdenrege gekauft und scheinen für das Publikum wissenswerte Informationen zuenthalten. In dieser Arbeit soll deshalb der Frage nachgegangen werden, welcheStrategien bei der Gestaltung von Programmheften verfolgt werden. WelcheAnforderungen werden an die Hefte gestellt? Gibt es Regeln, nach denen einProgrammheft aufgebaut werden sollte, oder sind der inhaltlichen und gestalteri-schen Freiheit keine Grenzen gesetzt? Was oder wer bestimmt denn überhauptForm und Inhalt?Anhand eines Vergleiches zwischen zwei Theaterhäusern sollen in dieser Arbeitzunächst grundsätzliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten verschiedener Pro-grammhefte analysiert werden. Auch die Frage, welche Zusammenhänge undVerbindungen es zwischen Programmheft und Inszenierung gibt, soll immer im Augebehalten werden. In einem Interview soll dann festgestellt werden, wie die Praxis derProgrammheftgestaltung aussieht.Abschliessend werde ich nochmals auf die untersuchten Hefte zurückschauen, dieStrategien zusammenfassen und das Feld noch ein wenig für andere Möglichkeitender Programmheftgestaltung öffnen.

Für meine Untersuchungen wählte ich einige Beispiele aus einer Fülle vonMöglichkeiten aus. Insbesondere beim Schauspielhaus Zürich kann deshalb nichtdavon gesprochen werden, dass diese Auswahl eine bestimmte Linie repräsentierenwürde, da sich die Programmhefte ganz grundsätzlich unterscheiden.Dieses Vorgehen zieht einige Konsequenzen nach sich, die nicht unbeachtet bleibensollten: Bereits beim Abschluss dieser Arbeit werden die Hefte nicht mehr «aktuell»sein, sie werden eine bestimmte Gestaltungslinie eines Hauses eventuell gar nichtmehr repräsentieren, deshalb sollen sie auch nicht allzu stark mit den einzelnenHäusern identifiziert werden.Weiters muss ich noch eine wichtige Einschränkung hinzufügen: Diese Arbeit kannnur einzelne Konzepte und Gestaltungsmöglichkeiten darstellen und diskutieren.Keinesfalls kann es meine Absicht sein, eine umfassende Darstellung aller Möglich-keiten zu bieten. Wohl aber erhoffe ich mir einen Einblick in grundlegende Strategiender Programmheftgestaltung.

Noch einige Bemerkungen zum Hintergrund, vor dem diese Arbeit steht. Sie gehthervor aus dem Proseminar «Das Programmheft. Geschichte – Konzeption –Herstellung», das Thomas Bühler im Wintersemester 2000/01 am ITW angebotenhat. In diesem Proseminar wurden von uns Studierenden auch selbst Programm-hefte entworfen, auf die ich ganz am Ende der Arbeit nochmals kurz zurückkommenwerde.

Selbstverständlich könnte man die Arbeit noch bedeutend weiter treiben. Ich kannmir vostellen, dass zum Beispiel auch Publikumsbefragungen zum Thema gemachtwürden, oder dass eine viel breitere Pallette an Heften und Häusern zu differenzier-teren Resultaten führen würde. Ebenso könnte man selbstverständlich den Untersu-chungsbereich, aus dem die Beispiele genommen werden, noch deutlich erweitern,auch ausserhalb des Bereiches des Theaters. Dies würde den Rahmen einerProseminararbeit allerdings bei weitem sprengen.

einleitung

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Bevor ich auf die einzelnen Beispiele des luzernertheaters eingehe, möchte ichfesthalten, dass sich bestimmte Gestaltungsmerkmale bei diesem Theaterhausdurch alle Hefte ziehen. Diese sollen hier gleich zu Beginn festgehalten werden:Auf der Titelseite gibt es jeweils ein Bild, das von einem Kästchen überlagert ist. DasKästchen enthält Titel und Autor, sowie den Theaternamen und (in zwei Fällen) dieAngabe der Spielzeit. (Abb. 1) Auf den folgenden zwei Seiten finden sich dieBesetzungslisten sowie die übrigen Personalangaben. Ebenfalls sind Angaben zuAufführungsdauer und -rechten zu finden. (Abb. 2)Satz und Typographie sind bei allen Programmheften des luzernertheaters gleich.Die Schrift ist einfach und ohne Serifen, der Satz ist modern schlicht. Unterschiedegibt es in der Farbwahl.

Grundinhalt des Programmheftes zur Luzerner Inszenierung von Was ihr wollt1 bildetein Reisetagebuch. Das Ensemble reiste zu Beginn der Probezeit nach Kumköy inder Türkei, um ein «exotisches Terrain aufzusuchen», wie es in der Einleitung heisst.Auf mehreren Seiten finden sich im Programmheft Auszüge aus den Tagebücherndes Ensembles. Es sind Ausführungen über das Ferien- und Probeleben der

1 Programm des luzernertheater 00/01: William Shakespeare, «Was ihr wollt», Redaktion:Ann-Marie Arioli, Konzept und Gestaltung: Velvet Creative Office GmbH, Luzern

luzernertheater

was ihr wollt

Abb. 1:Titelblatt des Programmhefteszu Was ihr wollt

Abb. 2: Seiten 1 und 2 des Programmheftes zu Was ihr wollt

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SpielerInnen. Grundsätzlich geht es dabei um die Frage, wie man sich an einemfremden Ort fühlt. Ähnlich wie im Stück Viola an einen ihr völlig unbekannten Ortkommt, trifft auch das Ensemble auf seiner Reise auf exotische Orte.

Nach den Besetzungslisten findet sich eine Zusammenfassung des Stücks, anwelche eine ganz kurze Interpretation anschliesst. Es folgt ein platzintensiverReisebericht der Kumköy-Reise und Shakespeares Sonette 20 und 24, ins Deutscheübersetzt.Auf zwei weiteren Seiten folgen zwei Texte. Als erstes ein Auszug aus Jan KottsBitteres Arkadien, in dem es insbesondere um die schwierige Liebe auf Illyrien geht.Als zweiter Text ist Das bittere Geheimnis der Billy Typton von Diane W.Middlebrook abgedruckt. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die sich als Mannverkleidet, um Zugang zu einem typisch männlichen Beruf zu haben. Dieser Mann,Billy, hat sogar mehrere Frauen, die nie etwas von dieser «Besonderheit» bemerkten.Der Text ist im Zusammenhang mit dem Stück informativ. Er kann das «blinde»Verhalten der Liebenden im Stück ein wenig näher bringen und nachvollziehbarmachen, gibt aber eher wenige Hintergründe, was sich im zwischenmenschlichenBereich abspielt.

Auf der letzten Seite sehen wir das Foto eines Mannes, der mit einem Koffer imMeer steht, wir kennen ihn aus der Inszenierung. Abgedruckt sind Bild- undTextnachweise, sowie ein Text über Shakespeare von Heiner Müller.Die Fotos des Programmheftes stammen von der Reise in die Türkei. Sie zeigen –meist in Ausschnitten – einmal (als Touristen) posierende SchauspielerInnen, einandermal alltägliche Szenen.

Beim Programmheft zu Joseph Haydns L’isola disabitata (Die wüste Insel)2 sind dieBild- und Textnachweise auf der dritten Seite gleich nach den Besetzungslistenangegeben. Darauf folgt eine ausführliche Zusammenfassung der Handlung mitAngabe der Arien jeder Szene.Ein längerer interpretatorischer Text der Dramaturgin Nadja Kayali widmet sichanhand von Textausschnitten dem Thema der Insel in Verbindung mit Haydns Oper.Diese Interpretation dient dem Verständnis der Oper und der Inszenierung. Es wirdklarer, weshalb bestimmte Reduktionen vorgenommen wurden. Auch wird die Operin einen historischen Zusammenhang gerückt. Das Fortgehen und Zurückkommenvon Männern wird untersucht und die Rolle der Frau dabei (jene Rolle, die in derOper thematisiert wird) wird dargelegt.

Ebenfalls von der Dramaturgin verfasst ist der letzte Text des Heftes. Unter demTitel Haydns Insel wird das Leben des Komponisten vor dem Hintergrund derInselthematik kurz dargestellt. Geschildert werden die beiden «Inseln» in seinemLeben: Der Esterhazysche Hof und England, das Gefühl der Eingeschlossenheit amHof und jenes der Freiheit in einem fremden Land. Der Inhalt der Isola disabitata istjedoch früher entstanden und hat somit wohl kaum einen direkten Zusammenhang

2 Programm des luzernertheater 99/00, Joseph Haydn, «L’isola disabitata», Redaktion:Nadja Kayali, Konzeption und Gestaltung: Velvet Creative Office GmbH Luzern

l'isola disabitata

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mit der Inselsituation, in der sich Haydn auf Schloss Esterhaza befand. Der Text derDramaturgin versucht vielmehr, die Insel, die sich ja durch das ganze Programmheftzieht, auch hier konsequent zu theamtisieren.

Zwischen diesen Texten finden sich Bilder der Inszenierung, sowie Gedichte undLiedtexte zu Themen des Stücks (Weggehen, Zurückkommen, Flucht aus Zwängen,Die Brautfahrt von Eichendorff, Neue Liebe, neues Leben von Goethe) (Abb. 3). Esfolgt ein Text aus der Bild-Zeitung über einen Verschwundenen Ehemann undPenelope weint von Inge Merkel. Letzterer Text handelt von einer «ganz gewöhn-lichen Ehe», von zwei Frauen (Penelope und Eurykleia), die über Odysseus reden,der Penelope verlassen hat und nun wieder zurückgekehrt ist. Der Text ist so demStück sehr ähnlich.Am Ende des Heftes wird das Ensemble vorgestellt. Alle müssen auch auf die Frageantworten, welche 3 Dinge oder Personen sie auf die berühmte «einsame Insel»mitnehmen würden.Auf der hintersten Umschlagseite befindet sich das einzige Inserat des Programm-heftes: Eine Firma, die über das Internet Privatinseln verkauft!

Insbesondere in den Texten der Dramaturgin wird das Programmheft zu einerErläuterung der Inszenierung. Das Verständnis der Inszenierung soll erleichtertwerden, indem durch das Programmheft ein Hintergrundwissen vermittelt wird.Weiters zeigt das Heft in den Gedichten und weiteren Texten, wie sich das Motivdes getrennten Liebespaares durch die gesamte Literatur zieht. Das Heft eröffnetdamit auch weitere Perspektiven und Betrachtungsweisen dieser Thematik.

Abb. 3:Inszenierungsfoto und Liedtextvon Marius Müller Westernhagen

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Als Programmheft3 mit vergleichsweise viel Text erscheint das Heft der Inszenierungvon Kleists Käthchen von Heilbronn.Den ersten drei Seiten folgt ein Text «zur Inszenierung». Mit Hilfe von Zitaten Kleistsund anhand des Textes wird eine mögliche Lesart des Stücktextes erklärt. Derdarauf folgende kuze Text nimmt Bezug auf den Inhalt des Stücks. In wenigenZügen fasst er die Handlung zusammen und spricht die wichtigsten «Stationen» desWetter vom Strahl an. Am Ende des Textes wird in zwei eher interpretatorischenSätzen erläutert, welches die grossen Themen der Handlung im Stück sind.Über drei Seiten erstreckt sich anschliessend ein Glossar. Anhand einzelner Begriffewerden einzelne «Requisiten» des Stückes und der Inszenierung erklärt und ihresymbolische Bedeutung wird erläutert. Es ist eine interessante Art und Weise, aufbestimmte Themen des Stücks einzugehen und deren Wichtigkeit für das Stück unddamit auch für die Inszenierung zu verdeutlichen. Insbesondere dann, wenn dieThemen in der Inszenierung symbolisch umgesetzt werden, wenn das Stück auch andiesen Begriffen «aufgehängt» wird.Die folgenden Seiten bringen den Autor näher. Zunächst abgedruckt ist ein kurzerAuszug aus einem Brief Kleists an seine Schwester. Er beschreibt darin die Vorteileeines Lebensplans, ohne den er sich ein Leben kaum vorstellen könne.Auf den folgenden Seiten ein Porträtbild des Autors und daneben eine tabellarischeAuflistung seiner wichtigsten Lebensdaten.Auf der letzten Seite befinden sich die Text- und Bildnachweise sowie dasImpressum. Bemerkenswert ist, dass die Namen der AutorInnen der einzelnen Textedes Programmheftes erst hier erwähnt werden.

Farblich ist das Heft in Gelb und Schwarz gehalten. Für Abbildungen wurden Bildervon Johann Heinrich Füssli und Malcom Godwin sowie Gemälde aus Kleists«Familienalbum» verwendet. Ausserdem sind Fotos mit Ritterrüstungen abgebildet.Die Bilder folgen einerseits der Thematik des Übersinnlichen, sie zeigen Alpträume(Nachtmahr) oder Engel, andererseits jener der Ritterschaft. Beides Themen, die inKleists Stück und insbesondere auch in der Inszenierung einen hohen Stellenwerteinnehmen.

Es ist hier ein ganz starker erklärender Anspruch zu erkennen. Das Heft enthält keineTexte ohne direkten Zusammenhang zum Stück oder zur Inszenierung. Alle Texteversuchen, das Stück oder die Inszenierung klarer und verständlicher zu machen.Auch die abgedruckten Bilder weisen im visuellen Bereich auf die Ursprünge derInszenierung hin. Während des Aufführungen war ich persönlich sehr froh um dieseHinweise und Erklärungen, da Stück und Inszenierung sonst wohl schwer verständ-lich wären.

3 Programm des luzernertheater 00/01, Heinrich von Kleist «Das Käthchen von Heilbronnoder die Feuerprobe», Redaktion: Viola Hasselberg, Konzeption und Gestaltung: VelvetCreative Office GmbH, Luzern

das käthchen von heilbronn

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Zunächst widme ich mich hier dem Thema der Form in den LuzernerProgrammheften. Wie schon weiter oben erwähnt, ist die Form aller Programmheftedes luzernertheaters gleich. Sie ist dem Corporate Design des Hauses angepasst,das sich auch sonst beim luzernertheater auf der ganzen Linie konsequentdurchzieht: Plakate, Monatsprogramme, Saisonprogramme, Website und eben dieProgrammhefte unterliegen dem gleichen Grundmuster. Ein Blick ins Impressum derProgrammhefte bestätigt diese Feststellung, erscheint doch bei Konzeption undGrafik immer dieselbe Firma.

Bedingt durch die bestimmende Gestaltungslinie gibt es also wenig gestalterischeParallelen zwischen dem Programmheft und den Inszenierungen. Durch die Formwird keine der Inszenierung entsprechende Atmosphäre aufgebaut. Inhaltlichdagegen wird zum Beispiel beim Heft zu Was ihr wollt nur noch eine Atmosphäreaufgebaut. Nicht, dass das Heft ohne Zusammenfassung auskäme, aber sonstfinden sich keine Texte, welche die Inszenierung erklären würden. Im Heft zu L’isoladisabitata wird mit Hilfe der Gedichte, Liedtexte und Kurzgeschichten tendenzielleher eine Atmosphäre aufgebaut. Hier geht es auch um die Stimmung und nicht nurum das intellektuelle Verstehen von Inszenierung und Oper. Doch die Demonstrationder vielfältigen Verwendungen der Thematik scheint mir gleichzeitig auch eine klareund wenig oder gar nicht auf das Emotional-Atmosphärische abzielende Strategie.Im Gegensatz dazu kommt insbesondere beim Käthchen von Heilbronn einerklärender Zug klar zum Ausdruck.

Inhaltlich gesehen, finden wir also die beiden Pole der erklärenden und deratmosphärischen Programmhefte. Während das Heft des Käthchen von Heilbronnein stark erklärendes ist, liefert Was ihr wollt kaum Erklärungen zum Stück oder zurInszenierung, erzeugt aber viel Stimmung zum Inhalt (Exotik, Fremde etc.). Das Heftder Isola disabitata liegt hier zwischen den beiden Polen.Ich habe die Programmhefte als Produkte betrachtet und habe das ebenbeschriebene Spannungsfeld aufgrund der Analysen aufgespannt. Noch nichtbeachtet habe ich die Überlegungen, die im Entstehungsprozess eines Heftes ange-stellt werden mussten. Ich stelle mir vor, dass Kleists Stück schlicht und einfachnach mehr Erklärungen verlangt. Es verwendet z.B. den Ehrbegriff, der heute imVerständnis Schwierigkeiten bereitet. Dazu kommt die Darstellung einer ritter-lichenGesellschaft, deren Themen und Werte heute kaum mehr bekannt sind. Bei Was ihrwollt hingegen kann man davon ausgehen, dass sowohl Stück als auch Autorgenügend bekannt sind, und man darf auch von einer gewissen «zeitlosen»Gültigkeit der Themen ausgehen.

Beim Heft zu L’isola disabitata habe ich festgestellt, dass ein Programmheft auchintertextuelle Bezüge liefern kann. Damit kann es das Spektrum der möglichenSichtweisen auf eine Thematik öffnen, indem es auch die Sicht anderer Autorenaufzeigt. Je nach Textauswahl kann damit auch eine Verankerung des Themas inGesellschaft und Geschichte aufgezeigt werden.

vergleich

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Beim Programmheft der Zürcher Inszenierung von Was ihr wollt4 scheint es auf denersten Blick verfehlt, von einem Heft zu sprechen, vielmehr handelt es sich um einProgrammbuch. Gleich zu Beginn stellt sich in unserer Analyse die Frage, wieausführlich ein Programmheft sein sollte und welches die wirklich nötigen Inhaltesein könnten.

Die Umschläge des Programmhefts (ich nenne es nun trotzdem so) sind aus rechtschwerem, glänzend beschichtetem Papier, der Rücken ist mit Jahrgang und Titelbedruckt: Dieses Büchlein ist fürs Büchergestell gemacht, es ist genauso Lese- wieBegleitbuch.Auf allen vier Umschlagseiten sehen wir Fotos: Sie zeigen die Personen des Stücksbzw. die SchauspielerInnen, ihre Köpfe sind jeweils verdeckt oder ausserhalb desFotorandes. (Abb. 4) Irritiert blättert man weiter.

Im Innern des Büchleins befinden sich auf den ersten Seiten die Besetzungslisten,sowie eine Kürzestzusammenfassung des Stückes von Stefanie Carp. Auf denfolgenden Seiten finden sich Sonette Shakespeares und das Gedicht Das trunkeneSchiff von Arthur Rimbaud. Weiters folgen Bilder der Inszenierung. Im vorderen Teil

4 Programmheft zu «Was ihr wollt», Herausgegeben von der Schauspielhaus Zürich AG,Zeltweg 5, 8032 Zürich; Saison 2000/01; Redaktion, Konzeption und Gestaltung: StefanieCarp

was ihr wollt

Abb. 4:Titelblatt des Programmhefteszu Was ihr wollt

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befinden sich also jene Teile und Angaben, die man als Publikum erwartet. DieBilder und die Sonette ziehen sich auch weiter durch das Programmheft.Es folgt eine ausführliche Interpretation des Stücks von Harald Bloom. Beim Lesenwird vieles der Inszenierung klarer, man versteht das Inszenierungskonzept besser.Der Text Blooms bietet auch jenen Menschen, die das Stück zum ersten Mal sehen,oder sich bisher nie intensiver mit ihm befasst haben, eine gute Möglichkeit einerLesart des Stückes. Eher aussergewöhnlich für ein Programmheft ist die Länge vonBlooms Aufsatz, der sich über mehr als 20 Seiten erstreckt. Es ist unwahrscheinlich,dass dieser ganze Text vor einer Aufführung gelesen wird. Es muss also davonausgegangen werden, dass das Publikum diesen Interpretationsansatz erst nachdem Stück (wenn überhaupt) kennen lernt.

Ein weiterer, fast ebenso ausführlicher Text von Jan Kott widmet sich unter demTitel Bitteres Arkadien insbesondere dem Thema der Androgynität bzw. desGeschlechtertausches. Dieser Text bietet weit weniger Zugänge zu MarthalersInszenierung als jener von Bloom. Er bietet wenige zu deren Verständnis wichtigeInformationen. Vielmehr wird über Traditionen und Hintergründe des PhänomensAndrogynität informiert. Gleich wie der Text von Bloom wird wohl auch dieser kaumvor einer Aufführung gelesen, zumal er weiter hinten im Heft abgedruckt ist.Interessant sind aber insbesondere die Ausführungen zur Verkleidung Violas, derenRolle zur Zeit Shakespeares von einem jungen Mann gespielt werden musste:

«Ein Knabe hat ein Mädchen gespielt, das einen Knaben spielte, dann ist derKnabe wieder zum Mädchen geworden, das sich wieder in einen Knabenverwandelte. Viola hat sich in Cesario verwandelt, dann wurde aus CesarioViola, die sich in Sebastian verwandelte.»

Als letzte Texte finden sich weitere zum Thema «Androgyn», welches sich spürbarauch durch die gesamte Inszenierung zieht. In kürzeren Zitaten verschiedenerAutorInnen wird deren Sicht auf dieses Thema bzw. dessen Auftreten in der Literaturaufgezeigt.

Es stellt sich die Frage, wie informativ dieses Programmbuch wirklich ist. DieBeschränkung auf zwei Texte und das Thema Androgynität scheint für den Umfangdes Buches doch recht stark. Ausserdem erhält man durch die Prominenz vonBlooms Text den Eindruck, man hätte bereits einen grossen Teil der Inszenierungverstanden. Im Vergleich mit der Inszenierung selbst schränkt das Programmheft dieMöglichkeiten, als Zuschauer selbst zu interpretieren, somit eher ein.

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Das Programmheft zu Frank Castorfs Inszenierung von Berlin Alexanderplatz5

erzeugt auf den ersten Blick einen besonderen Eindruck. Es ist mit Ringen gebundenund hat als Umschlagsseiten Fotos, die Details der Bühne und insbesondereSpirituosenflaschen zeigen. Das Papier mit den Texten ist ziemlich schwer, dieSchrift darauf ist rot und einfach. Das ganze Heft erscheint als eine Mischungzwischen einer ziemlich aufwändigen Produktion (Ringheftung, Papier, Glanzfotos)und einer einfachen, ja rauhen Typographie, Darstellung und Fotografie. (Abb. 5)

Der Inhalt ist in vier Teile geteilt. Zunächst finden sich unter dem Titel BerlinAlexanderplatz Alfred Döblin die Besetzungslisten, sowie die Angaben der weiterenMitarbeiterInnen und der Sponsoren.

Der darauf folgende Teil trägt den Titel Döblins Berlin und ist dem Berlin der 1920erJahre gewidmet. In einem Text von Lothar Trolle geht es um Döblins Genauigkeit,genauer darum, wie Döblins Roman gelesen oder verstanden werden kann.Im Text Berlin, die unsichtbare Stadt schildert Döblin selbst, wie er die Stadt sieht.Die Monotonie, die er beschreibt scheint auch in Bert Neumanns Bühnenbild einebedeutende Rolle zu spielen: Neumanns Containerlandschaft nimmt das Thema dertoten, kalten Stadt ganz konkret auf und überhöht ihre unmenschliche Wirkung. DieStadt als Menge von Bauten ist nicht lebendig, doch die «Energie, Lebendigkeit undTapferkeit dieses Menschenschlages hier» bringen das Leben.Weiters folgen Texte Döblins zur Liebe, zur Berlinerin und zum Alexanderplatz,nachdgedruckt aus deutschen Zeitungen von 1922 und 1929.

5 Programmheft zu «Berlin Alexanderplatz»; Herausgegeben von der Schauspielhaus ZürichAG, Zeltweg 5, 8032 Zürich; Saison 2000/01; Redaktion Bruno Hitz; Konzeption, Gestaltung,Satz: Cornel Windlin

berlin alexanderplatz

Abb. 5: Umschlag-Innenseite, Seite 1

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Der dritte Teil behandelt unter dem Titel Arzt und Dichter das Leben Alfred Döblins.Im ersten Text Merkwürdiger Lebenslauf eines Autors schildert Döblin, wie er vomArzt zum Schriftsteller wurde, und wie er eigentlich immer lieber Arzt war, und nichtAutor.Besonders erwähnenswert scheint mir, dass es keine «kurze Einführung in Lebenund Werk Döblins» gibt. Um sich einen Eindruck des in Theaterkreisen nicht geradebekannten Autors zu verschaffen liest man sich durch drei Texte auf elf Seiten.

Abschliessend widmet sich Teil vier den Texten zu «Berlin Alexanderplatz».Zunächst ein Text von Alfred Döblin, in dem er (als Beitrag zu einer «Rundfrage beiKünstlern und Artisten» um die Jahreswende 1928/29) kurz den Inhalt des RomansBerlin Alexanderplatz beschreibt und schildert, was ihn im Hinblick auf diesen Romanbesonders beschäftigt hat. Auf der fogenden Seite ist ein Brief Döblins an denLiteraturhistoriker Julius Petersen abgedruckt, der das Buch seinen Studenten zur«Kritik» weitergeleitet hat. Im Brief erläutert Döblin seinen Schreibstil undinsbesondere den Schluss des Werkes, das er als zweibändiges geplant hatte.Einen – nicht expliziten – Bezug auf diesen Brief nimmt Döblin auch im folgendenNachwort zu einem Neudruck, wo er erwähnt, dass ihm vorgeworfen worden sei, erhabe Joyce imitiert. In diesem Text schildert Döblin den Inhalt des Romanes undliefert seine Hintergrundgedanken dazu. Er ordnet ihn auch in die Reihe seineranderen Werke ein und erzählt etwas über die Entstehungs- und Veröffentlichungs-geschichte.

Die Texte sind kürzer aber zahlreicher als bei Was ihr wollt. Sie bieten Informationenund Hintergründe zum Stück. Nur wenige beziehen sich jedoch direkt auf das Stück.Die Texte stellen vielmehr Beziehungen zu textexternen Themen her. Berlin soll nichtnur als Handlungsort des Dramas erkannt werden, sondern als Stadt, die Döblin alsVorbild und Quelle diente. Der Bühnenraum wurde als Lebensraum für dieSchauspielerInnen gebaut, in dem sie die fünfstündigen Aufführungen «durchleben»können. Parallel dazu belebt dieses Programmbüchlein das Berlin in den Köpfen desPublikums und macht vieles verständlicher und gegenwärtiger.Es fehlen die interpretatorischen Texte, welche die Inszenierung «erklären». DieZusammenhänge zwischen der Stadt Berlin, zwischen aktuellem Zeitgeschehen odergeschichtlichen Ereignissen und der Inszenierung müssen selbst hergestellt werden.Es gibt auch keine Zusammenfassung, die Handlung muss selbst aufgenommenwerden. Interpretatorische Texte gibt es nur zum Roman Berlin Alexanderplatz undnicht zum Inszenierungstext, der speziell für diese Inszenierung angefertigt wurde.

Die 50 Meter breite Bühne verunmöglicht, dass alle im Publikum das Gleiche sehen,Mehrfachlesbarkeit wird damit unvermeidbar. Auch das Programmheft nimmt diesesCollageartige ein wenig auf. Es bietet Texte aus dem Umfeld der Inszenierung, liefertaber von vorneherein wenig Verbindungen.In erster Linie geht es darum, eine Stimmung, eine Atmosphäre zu erzeugen. DasPublikum soll miterleben und nachempfinden können. Es geht um ein eheremotionales Verstehen und kein intellektuelles.

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Das Programmheft zu Polaroids6 beinhaltet sehr zahlreiche knappe Ausführungen.Ensprechend wurde die Analyse etwas ausführlicher als bei den anderen Heften.

Die vorderste und hinterste Umschlagseite des Heftes zu Polaroids zeigen, aussen inFarbe, innen in Schwarz/Weiss jene «Abzüge» mit den farbigen Streifen, die alserstes aus einer Polaroidkamera kommen, wenn man einen neuen Film einlegt.

Auf den ersten Seiten (nach den Inseraten) findet sich gross in roter und violetterFarbe (wie Schlagzeilen) der Stücktitel und der Name des Autors. Davon durch eineschwarze Fläche getrennt die Besetzungslisten.Die Typographie dieser Seite zieht sich durch das ganze Programmheft. Die Titel und«Schlagzeilen» sind jeweils farbig und kursiv gedruckt, die Fliesstexte sind in violett(Titel) und blau gehalten und ziemich klein geschrieben.Das Programmheft wirkt durch die gross geschriebenen Titel und die Farbe grell,wegen des dünnen Papiers und der einfachen Schrift, aber auch einfach.Eine Besonderheit bilden die fehlenden Fotos. An derer Stelle stehen graue Flächen,mit Angaben zum Bild: Quelle, Titel, Fotograf und die URL, wo das Foto im Internetbetrachtet werden kann. (Im Anhang dieser Arbeit sind die beschriebenen Fotos – wovorhanden – ausgedruckt.)

Zu den Inhalten lässt sich grundsätzlich festhalten, dass das Heft, so dünn es aufden ersten Blick sein mag, äusserst viele Informationen zur Inszenierung und zumStück bietet. Gleich nach den Besetzungslisten finden sich Auszüge aus dem Text-buch, einzelne Statements der Figuren, die deren Weltanschauung auf knappe Artund Weise darzustellen vermögen.Auf der folgenden Seite beginnt ein längerer Abschnitt, der sich auf dieVergangenheit der Figuren Nick und Helen bezieht. Auszüge aus Projekt RAF undWie alles anfing, einem Buch über Revolutionen und Terrorismus, bringen denLesenden die früheren Einstellungen der beiden Charaktere näher. Bezeichnender-weise wurden aus Projekt RAF nur Schlagzeilen abgedruckt. Die Dogmen werdendadurch spürbar, Botschaften werden auf wenige Worte reduziert.Der Figur des Grossindustriellen Jonathan und ihrer Weltanschauung sind diefolgenden Seiten gewidmet. Durch Texte über und von George Soros, sowie einerIllustration und einem Foto wird ein der Figur ähnlicher Mensch näher gebracht. DieTexte sind so gewählt, dass während des Lesens kaum eine Wertung der PersonSoros’ gemacht werden kann. Ähnlich wie im Stück lässt seine Haltung weder als gutnoch als schlecht bezeichnen, es fehlen die nötigen Massstäbe.Die noch bleibenden Figuren Tim, Nadia und Victor kann man in den nächstenTexten wiedererkennen. In Texten aus dem Internet werden Erklärungen zur«Spasskultur» abgegeben. Eine Seite ist jenen Drogen gewidmet, die unter demBegriff «Ecstasy» bekannt sind. Auf einer weiteren Seite sind Texte zu denTeletubbies abgedruckt, deren heile Welt geradezu als Vorbild für die Forderungnach dem nicht mehr endenden Spass erscheint. Illustriert werden diese Texte mitInternet-Bildern, die die einzelnen Teletubbie-Figuren zeigen.

6 Programmheft zu «Polaroids»; Herausgegeben von der Schauspielhaus AG, Zeltweg 5,8032 Zürich; Redaktion und Übersetzungen: Stephan Wetzel; Konzeption und Gestaltung:Cornel Windlin, Urs Lehni

polaroids

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Auf den weiteren Seiten gibt es nun Texte, die sich allgemeineren Fragestellungenund Themen zuwenden.Zunächst findet man ein Telefoninterview mit dem Autor Mark Ravenhill, bei dem erüber seine Stücke und die Hintergründe dazu Auskunft gibt. Ravenhill erklärt vieles,sowohl was Stücke betrifft, als auch Dinge aus seinem Umfeld. Ein im Interviewerwähnter Text, den Ravenhill für die New York Times als Provokation geschriebenhatte, ist weiter hinten im Programmheft abgedruckt.In einem Gegensatz dazu stehen die darauf folgenden Fotos und Texte in der Mittedes Heftes. Von einer Internetseite wurden Namen und Fotos von jungen Russenabgebildet, die für 200 Dollar getroffen werden können, ähnlich wie Viktor im Stück,den Tim sich «downgeloadet» hat. Abschliessend werden ebenfalls in farbiger,grosser Schrift weitere mögliche Angebote dieses Services aufgelistet.

Eine Erklärung zum «Lazarus-Syndrom», an dem Tim leidet, gibt es ebenfalls. Nebeneinem ganzseitigen Benetton-Werbefoto eines sterbenden Aidskranken sind einigeNamen von «Cocktails» zur Behandlung von AIDS abgedruckt. Die darauf folgendenSeiten zeigen kurz die Problematik des sogenannten Lazarus-Syndroms, das beiAidskranken auftritt, deren Leben durch die Medikamente verlängert wurde. DieserText und der dazugehörige Zeitungsbericht aus dem Internet dienen demVerständnis für Tims Entscheidung, seine Medikamente nicht mehr zu nehmen.Auch der Text des im Stück gesungenen Liedes I love my... ist im Programmheftabgedruckt. Dazu eine Liste von Buchtiteln der Autorin des Liedtextes. Es handeltsich dabei um Bücher, die das positive Denken und «Selbstheilung» propagieren.Die weiteren Texte und Bilder bieten einen möglichen Hintergrund, vor dem dasStück und die Inszenierung betrachtet werden können. Texte Margret Thatchers undBilder eines Bergarbeiterstreiks illustrieren die Situation, als Helen und Nick nochRevolutionäre waren. Ein Textauszug aus Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfeschafft einen Bezug zu einem anderen Stück, das sich mit dem Thema beschäftigt,

Abb. 6: Aus dem Programmheft zu Polaroids: Auf der rechten Seitezwei «Bilder»

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welche Möglichkeiten einem das Geld bietet. Dieses Thema bildet (auch gemässdem Interview mit Ravenhill) einen wichtigen Hintergrund für Polaroids.Auf einer weiteren Doppelseite werden die «musikalischen Zutaten» zum Stückaufgeführt. Diese Doppelseite ist für musikalisch Interessierte äusserst spannend, daman die Angaben zur im Theaterstück verwendeten Musik und Geräusche sonstregelmässig vermisst.

Noch etwas allgemeiner wird es den folgenden Seiten, wo ein Text aus Kindlersneuem Literaturlexikon abgedruckt ist. Der Text handelt von Ernst Tollers Hoppla, wirleben!, jenes Stück, das auch von Ravenhill im Interview erwähnt wird.Die letzten Seiten zeigen ein (grosses, farbiges) Zitat aus Michel HouellebecqsElementarteilchen sowie eine Liste der World's Top 100 Economies, 1995, die in derInszenierung ebenfalls vorkommt, wobei auch Bruttosozialprodukte von Staatenaufgeführt sind.Auf der letzten Seite ist das Inhaltsverzeichnis sowie eine Kurzbiographie des Autorsund das Impressum abgedruckt.

Es ist interessant, dass in diesem Programmheft keine vom Künstlerteamgeschriebenen Texte vorkommen. Es enthält auch keine Interpretationen, weder vonder Dramaturgie, noch von jemand anderem. Wie bereits festgehalten, werden dieCharaktere durch «externe» Texte näher gebracht. Dadurch werden die Figuren inder Realität verankert, das Stück erhält einen Bezug zur Welt, die wir im Fernsehenund in der Zeitung tagtäglich erleben. Es scheint nicht nötig zu sein, erklärende,interpretative Texte anzufügen, alltägliche Texte zeigen die Alltäglichkeit undSelbstverständlichkeit des Themas auf.Doch trotz der fehlenden «theoretischen» Texte ist das Programmheft auch ein erklä-rendes, pädagogisches. Es versucht, dem Publikum einiges zu erklären, was sonst inder Inszenierung nicht verstanden würde. Einige Erklärungen sind für das Verständ-nis des Stückes wichtig (z.B. jene zum «Lazarus-Syndrom») andere sind nützlicheHintergrundinformationen die weit über das «Atmosphärische» hinausgehen.

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Vergleicht man die drei betrachteten Hefte, so mögen sich auf den ersten Blick dasHeft von Was ihr wollt und jenes von Berlin Alexanderplatz ähneln. Schaut manjedoch genau hin und liest man sich durch, erscheint Berlin Alexanderplatz mehrÄhnlichkeiten mit Polaroids zu haben.Diese beiden Programmhefte bieten kaum Informationen zum Stück an sich. Wich-tiger sind die Hintergründe. So werden verschiedene Sichtweisen möglich gemacht,und es wird gezeigt, dass die Inszenierung auf verschiedene Art und Weiseverstanden werden kann. Natürlich wird das Verstehen durch das Verwendenbestimmter Informationen in gewisse Bahnen gelenkt, doch grundsätzlich bleibenmögliche Interpretationen offen. Diese Tatsache wird dadurch verstärkt, dass in denHeften keine Texte der Dramaturgie vorkommen. Nirgends wird erklärt, wie etwasverstanden werden soll, oder was sich die Künstlerinnen und Künstler zurInszenierung überlegt haben. Die Gedankengänge, die hinter der Inszenierungstehen könnten, müssen vom Publikum selbst vollzogen werden.Gleichzeitig sollen aber die Unterschiede gerade dieser beiden Hefte nicht unbeach-tet bleiben. Insbesondere, weil bei Berlin Alexanderplatz vor allem mit Stimmungenund Atmosphäre gearbeitet wird, während bei Polaroids durchaus ein starkerinformativer Anspruch besteht.

Ich möchte nicht behaupten, dass das Programmheft von Was ihr wollt in einemtotalen Gegensatz dazu steht und keine Freiheit in den Möglichkeiten der Interpre-tation zulässt. Dennoch erklären die abgedruckten Texte die Inszenierung zu einemgrossen Teil. Vieles erscheint beim Lesen nach besuchter Aufführung klarer undverständlicher. Ich persönlich hatte nach der Lektüre gar das Gefühl, dasProgrammheft nehme der Inszenierung etwas von ihrer Atmosphäre und ihrerUnbestimmtheit. Ein Programmheft kann durchaus auch zuviel Erklärungen geben,man könnte in diesem Fall bereits von «Belehrungen» sprechen. Dies muss indiesem Fall aber durchaus nicht zutreffen. Das Heft von Was ihr wollt zeigt danebennämlich auch die Möglichkeit eines von der Inszenierung ziemlich losgelösten unddeshalb recht eigenständigen Programmheftes. Wohl sind viele im Heftbeschriebene Überlegungen auch in der Inszenierung zu erkennen, diese bietet abernoch andere Zugänge und löst sich weit von Shakespeares Stück.

Es kann hier erkannt werden, dass sich die meisten Programmhefte im Span-nungsfeld zwischen Erklären und Atmosphäre befinden. Wenn ich von denbetrachteten Hefte auch auf alle übrigen schliesse, so komme ich zum Schluss,dass man das ganze Spektrum finden kann, von rein erklärenden Heften (Was ihrwollt ist bestimmt sehr nahe an diesem Pol) über erklärend-atmosphärische(Polaroids) bis hin zu jenen Heften, die nur noch auf nicht-stückspezifische Hinter-grundinformationen und Atmosphäre setzten (in diese Richtung bewegt sich BerlinAlexanderplatz).Selbstverständlich ist die Frage, für welche Strategie man sich entscheidet voneiniger Bedeutung. So ist es vorstellbar, dass Inszenierungen, die für das Publikumbei blossem Zuschauen unverständlich sind, erst durch die Lektüre des Programm-heftes einen ersten Zugang erhalten.

vergleich

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In der bisherigen Analyse stellten sich viele Fragen. Um diese zumindest teilweise zubeantworten, führte ich ein Interview mit Robert Koall, Dramaturg am Schauspiel-haus Zürich.

Wer bestimmt das grafische Aussehen eines Programmheftes? Wie frei ist manin der Gestaltung? Muss man sich einer Corporate Identity unterwerfen?

Am Schauspielhaus gab es mit der neuen Intendanz einen grossen Bruch. Dasgrafische Aussehen ist klar auch Sache der Dramaturgie, also von Stefanie Carpund uns Dramaturgen. Mit Cornel Windlin hatten wir ausserdem einen sehrkünstlerischen Grafiker. Von seiner Seite ist die grundsätzliche Linie gekommen,die ständig wechselnden Schriften zum Beispiel, oder auch die Idee, mit demLogo zu spielen. Er hat das alles zusammen mit der Dramaturgie entwickelt unddann einem ausführenden Grafiker übergeben.Obwohl Dramaturgie und Grafiker sehr bestimmend sind, haben wir natülich aucheine Corporate Identity, sie ist halt etwas verspielter und ungewöhnlicher. Meistsind diese klarer und leichter wiederzuerkennen, es wird sogar Format, Farbigkeitund Umfang von Programmheften vorgeschrieben.

Wie präzise plant man das Heft überhaupt? Kann man manchmal auch einfachmachen, wozu man gerade Lust hat und was man spannend findet?

Der Publikumswille ist uns schon sehr wichtig. Hier in Zürich zum Beispiel wünschendie Zuschauer eher Basisinfos, solche, die man auch selbst nachschlagen könnte,wenn man möchte. Das hat mich etwas überrascht, wir hätten ruhig auch eineetwas «konservativere» Linie einschlagen können.Grundsätzlich können wir aber selber entscheiden, was wir machen wollen unddas tun wir auch. Im Moment sind wir immer noch am lernen, was das Publikumsich wünscht.

Was muss unbedingt in einem Programmheft enthalten sein? Gibt esRichtlinien oder «ungeschriebene Gesetze» über die Ausführlichkeit undGrösse eines Programmheftes?

Bei uns und bei den meisten anderen Häusern steht meist im Vornherein fest, dasseine Synopsis, die Besetzungsliste und je nachdem auch eine Biographie desAutors enthalten sein sollte. Bei bekannten Künstlern finde ich eine Biographieaber eher überflüssig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich persönlich gerneauch Aufführungsfotos in einem Programmheft habe. So wird das Heft auch zumErinnerungsstück und zu etwas, das man aufhebt. Leider führen solche Fotos imProduktionsprozess aber häufig zu Schwierigkeiten. Bei uns braucht die Druckereizum Beispiel viel Zeit für die Produktion und die Fotos können ja erst kurz vor derPremiere gemacht werden.

Soll ein Programmheft das Stück und die Inszenierung erklären? Wie stark istes eine qualitative Frage, ob man eine Inszenierung erklären muss, odernicht?

interview mit robert koall, dramaturg

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Hierzu habe ich ein Beispiel. Das Heft zu «Rave»7 habe ich in totaler Unkenntnis desPublikums gemacht. Heute würde ich da vieles ganz anders machen. Dieses Heftwar kaum erklärend. Wir hätten aktiver werden müssen, um die Zuschauer auf dieAufführung vorzubereiten. Die sind mit totalem Unverständnis dagesessen. Dahätte man mehr machen können.Ich glaube, es gibt Aufführungen, bei denen atmosphärische Hefte gut geeignetsind, weil man sonst viel kaputt machen könnte. Bei «Winter»8 zum Beispielmüssen immer gewisse kleine Geheimnisse bestehen bleiben, über die manstolpern muss. Dort gab es denn auch ein dünnes, atmosphärisches Programm-heft, weil die Zuschauer ohne Vorkenntnis reingehen sollten.

Wie wichtig sind Bezüge zur InszenierungEin Programmheft ist immer klar an die Inszenierung gebunden.

Wie viel Zeit verwenden Sie für die Herstellung eines PH?Das ist ganz unterschiedlich. Wir machten schon Hefte innerhalb einer Woche.

Meistens hat man vier bis fünf Wochen Zeit dafür.

Wie viel Eigenarbeit darf vom Publikum verlangt werden (z.B. fehlende Bilder,die vom Internet geholt werden müssen)? Ist es vorstellbar, ein Arbeitsheftals Programmheft abzugeben?

Bei «Polaroids» war das eher ein künstlerisches Mittel. Grundsätzlich würde ichsagen, dass es umso besser ist, je weniger sich das Publikum zurücklehnen kann.Ein Arbeitsheft wäre also bestimmt auch ein interessantes Konzept. Zurücklehnenkann man sich vor dem Fernseher.

Weshalb hat man am Schauspielhaus von der freien Gestaltung in der erstenSaison auf eine einheitliche in der zweiten Saison gewechselt?

In der ersten Saison war die Gestaltung immer von vielen Faktoren abhängig. Wirhatten zum Beispiel eine ganz andere Konzeption, wenn wir ein Stück eines nochunbekannten Autors spielten, als bei der fünfhundertsten Shakespeare-Inszenierung. Davon hing sehr viel ab.Dazu kam, dass die Programmhefte manchmal innerhalb einer Woche entstehenmussten. Es kam auch vor, dass ein Textabdruck vorgesehen war und der Verlagdas kurzfristig verbot. So eindeutig lässt sich diese Frage also nicht beantworten.In der Dramaturgie versuchten wir eine Linie durchzuziehen: Wir versuchten, keinereinen «Sekundär-Reader» mit den üblichen Inhalten zu machen. In der erstenSpielzeit haben wir diese Linie durchgezogen und wir waren bestrebt, imProgrammheft auch etwas Künstlerisches zu bieten. In der zweiten Saisonmussten wir dies aus Spargründen aufgeben. Was blieb, ist jedoch das Bestreben,möglichst neue Texte abzudrucken, die nicht in jeder Bibliothek stehen und auchauch ohne unser Heft gelesen werden können.

7 «Rave» wurde am Schauspielhaus Zürich in der Saison 00/01 uraufgeführt, Premiere am20. Januar 2001. Die Theaterfassung folgt der gleichnamigen Erzählung von Rainald Goetz.Regie: Christina Paulhofer, Dramaturgie: Robert Koall8 «Winter» von Jon Fosse, Regie: Jossi Wieler, Dramaturgie: Robert Koall

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Am Ende dieser Arbeit, nach all den Analysen, soll nun eine Synthese folgen. Ich willdie festgestellten Strategien nochmals zusammenfassend darstellen und beurteilen.Beginnen werde ich mit formalen Aspekten und werde dann auf das Inhaltliche zusprechen kommen. Gleichzeitig und Anschliessend will ich mich fragen, was dasFestgestellte für die praktische Arbeit am Programmheft, für Aufführungsanalyseund Produktionsdramaturgie bedeuten kann.Durch die ganze Arbeit zog sich eine Unterteilung in Form und Inhalt. Auch wenn sieerst am Ende explizit erwähnt wird, liegt sie doch auch den Analysen merklich zuGrunde. Ich bin mir bewusst, dass diese Zweiteilung – so alt sie sein mag – auchProbleme mit sich bringt. Ich möchte hier erwähnen, dass ich es perönlich alsoptimal erachten würde, wenn Form und Inhalt einem gemeinsamen Konzeptentspringen und nicht das Eine aus dem Anderen.

Was das Formale betrifft, haben wir zwei markante Strategien erkennen können:Den Entscheid für eine Linie, die mindestens eine Saison lang einheitlich bleibt, oderaber die Variation der Gestaltung von Heft zu Heft.Wie im Interview mit Robert Koall leicht festgestellt werden kann, ist die Wahl einerStrategie von verschiedensten Faktoren abhängig. Auch kann ein Corporate Designenger oder weiter gefasst werden. Beim Schauspielhaus Zürich hatte man bei denProgrammheften der ersten Saison durchaus eine solche Gestaltungslinie, allerdingsliess dieses sehr viel Raum für Veränderung und Spielereien und beschränkte sichvor allem auf Logo und Schriftzug. Sogar bei den Schriftzügen ist eigentlich einzigvorgeschrieben, dass sie aus vier verschiedenen Schriftarten zusammengesetztsind. Natürlich erkennt man dadurch ein Programmheft nicht als zu einer Reihegehörend, nur in einzelnen Fällen kann man überhaupt erkennen, dass es sich umein Programmheft des Schauspielhauses handelt.Im Fall des luzernertheater wird das einheitliche Corporate Design konsequentverwendet. Wie bereits erwähnt, erkennt man nicht nur die Programmhefte, sondernauch Plakate, Website, Flyer und Monatsprogramme auf den ersten Blick als zudiesem Theaterhaus gehörig. Es gilt hier wohl eine Gratwanderung zu vollführen,zwischen einem eher künstlerischen und einem marketingtechnischen Anspruch.Von der künstlerischen Seite mag es gewünscht sein, für jedes Programmheft undjedes Plakat ein eigenes Design zu finden. Insbesondere bei Plakaten kann diesjedoch zu einer erschwerten Wiedererkennung führen. Und nicht zuletzt muss manfinanzielle Aspekte betrachten. Wie auch Robert Koall erwähnt, haben beimSchauspielhaus in erster Linie finanzielle Fragen zum Entscheid geführt, eineeinheitliche Gestaltungslinie einzuführen.Ich will hier keine Antwort geben, ob die eine oder die andere Strategie zubevorzugen sei. Ich glaube, dies ist auch nicht möglich. Wichtig ist aber meinerMeinung nach, dass man sich für eine der Strategien entscheidet und dass man inder Analyse erkennt, dass dieser Entscheid von verschiedenen Faktoren abhängigsein kann, auch solchen, auf welche die Dramturgie keinen Einfluss hat.

Falls das Heft ein eigenständiges oder eng mit der Inszenierung verbundenesKunstprodukt ist, muss es auch ein eigenes (bzw. mit der Inszenierung verwandtes)

fazit

form

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Design haben. Ist hingegen die Identifikation mit dem Theaterhaus wichtig, so wirdman wohl eher eine gleichbleibende Linie verwenden. So ist es verständlich, dassdie Monatsspielpläne auch beim Schauspielhaus Zürich immer das gleiche Layoutaufweisen: Die Betrachterin, bzw. der Passant soll möglichst sofort erkennen, umwelche Institution es sich handelt.

Bereits in der Analyse habe ich von erklärenden und atmosphärischen Programm-heften gesprochen. Alle betrachteten Hefte konnten einigermassen in dieses Systemeingeteilt werden. Bei einigen fiel die Einteilung recht leicht, andere liessen sich nichtso einfach zuteilen. Grundsätzlich lässt sich jedoch auch im Interview mit RobertKoall erkennen, dass man sich auch innerhalb der Dramaturgie am ZürcherSchauspielhaus dieses Gegensatzes bewusst ist.Wie das Interview aber auch zeigt, findet nicht immer ein bewusster Entscheid fürdie eine oder die andere Richtung statt. Sehr wohl kann dieser Entscheid auch vonpersönlichen Vorlieben der Dramtaurgie oder der Regie abhängen. Es scheint mirplausibel, dass das grosse Gewicht der Dramaturgie und der Dramaturgin StefanieCarp bei einer Marthaler-Inszenierung (Was ihr wollt) mitunter ein Grund für denstark erklärenden Charakter des Programmheftes ist. Eine starke Verankerung derKonzepte in Theorie und Ideologie ist bei Stefanie Carp immer wieder festzustellen.Im Gegensatz zum Zürcher Heft lässt das Heft zur Luzerner Inszenierung von Wasihr wollt vieles offen und legt ein starkes Gewicht auf die Reiseerlebnisse imexotischen Land.Aus dem Interview scheint mir aber klar, dass gerade auch in diesem Punkt derPublikumswille sehr wichtig ist. Das Heft ist für ein bestimmtes Publikum gedachtund sollte nach Möglichkeit auch dessen Bedürfnisse beachten bzw. auf diesesabgestimmt sein.

Bei den Luzerner Heften habe ich festgestellt, dass gewisse Stoffe auch nachErklärungen verlangen. Klar zum Ausdruck kam dies beim Beispiel des Käthchenvon Heilbronn, das dank dem erklärenden Glossar im Programmheft verständlicherwird. Man muss wohl auch hier geradezu eine Gratwanderung vollbringen und sichfragen, wann dem Publikum zuviel erklärt wird und wann zu wenig. Einerseitsmöchte man das Publikum nicht bevormunden oder mit selbstverständlichenInformationen langweilen, andererseits konnte ich im Gespräch mit Robert Koallfeststellen, dass sich die ZuschauerInnen häufig auch Basisinfos zu Autor und Stückwünschen.Wichtig ist deshalb wohl nicht, ob man ein eher erklärendes Programmheft schafft,oder ob man auf die Atmosphäre setzt. Wichtig ist auch im inhaltlichen Bereich inerster Linie, dass man sich der verschiedenen Möglichkeiten – und vor allem auchihrer Mischformen – bewusst ist und sich je nach Stück, Inszenierung und Publikumin die eine oder andere Richtung bewegt.Wie auch Robert Koalls Bemerkungen zu Rave zeigen, ist es auch ein Zweck desProgrammhefts, das Publikum auf ein Stück und eine Inszenierung vorzubereiten.Gerne vergisst man als RegisseurIn oder DramaturgIn vielleicht, dass das Publikumviel weniger Zeit hat, um sich auf ein Stück vorzubereiten. Es kann vielleicht geradenoch vorausgesetzt werden, dass die ZuschauerInnen das Stück kennen, eineKenntnis der Inszenierung ist hingegen unmöglich. Das Künstlerteam sollte also

inhalt

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berücksichtigen, dass dem Publikum die wochenlange Vorbereitungszeit nicht zurVerfügung stand. Und sogar wenn eine dermassen lange Vorbereitung möglichgewesen wäre, bedeutet dies noch lange nicht, dass auch die ZuschauerInnen aufähnliche oder gleiche Interpretationen des Stückes gekommen wären. Ist also eineInterpretation nicht einfach zugänglich, so ist es angezeigt, das Publikum mit demProgrammheft auf die Inszenierung vorzubereiten und ihm so den Zugang zurInszenierung eventuell erst überhaupt zu ermöglichen.

Es fällt auf, dass in der Analyse kein durch und durch erklärendes Programmheftvorkam. Ein solches hätte wohl recht einfach aufgetrieben werden können, wenn ichz.B. ein Heft einer Laiengruppe aus dem Bereich des Volkstheaters mit in Betrachtgezogen hätte. Bei diesen Heften – so glaube ich aus Erfahrung behaupten zukönnen – handelt es sich meist um erklärende. Es geht ihnen darum, das Publikumzu begrüssen, die Schauspieler vorzustellen, die Spieldaten anzugeben,Parkiermöglichkeiten aufzuzeigen und das Stück zusammenzufassen. Diese Heftesind häufig sehr pragmatisch aufgebaut und bieten meist keine atmosphärischenInhalte.

Christopher Balme schreibt in seinem Buch Einführung in die Theaterwissenschaftüber den Stellenwert des Programmheftes in der Inszenierungsanalyse:

«Der analytische Wert von Programmheften ist umstritten. Die heutigen, zumalim deutschen Theaterbetrieb anzutreffenden, buchähnlichen Publikationenhaben einen anderen Quellenwert als einfache Theaterzettel oderBesetzungslisten, aus denen sie sich entwickelt haben. Das Programmheft istdas Sprachrohr des Dramaturgen und enthält häufig eine Vielfalt anBegleitmaterial zur Inszenierung. Dieses Material reicht von programmatischenÄusserungen des Inszenierungsstabes über assoziative Texte oder Bilder (sehrbeliebt) bis hin zu wissenschaftlichen Aufsätzen, die fast nur bei Opern- undBallettinszenierungen zu finden sind. Das Programmheft in dieser Form ist dasErgebnis der Erweiterung der dramaturgischen Tätigkeit hin zurProduktionsdramaturgie, bei der Dramaturgen am Inszenierungskonzeptentscheidenden Anteil haben können. Für die Inszenierungsanalyse bietensolche Dokumente Einblick in die konzeptionelle Arbeit der Inszenierung.»9

Zunächst gilt es zu diesem Zitat festzuhalten, dass ich Beispiele der «heutigenbuchähnlichen Publikationen» untersucht habe. Obwohl viele Beispiele keinBuchformat haben, gehen sie doch deutlich über den Informationswert vonTheaterzetteln oder Besetzungslisten hinaus. Besonders scheint mir aber derSchluss des Zitates wichtig und die bisherigen Folgerungen zu bestätigen. Wie ichbei einzelnen Analysen erwähnt habe, lässt sich aus einigen Heften das Konzepteiner Inszenierung heraus- oder ablesen. Beim Zürcher Heft von Was ihr wolltwerden die Schwerpunkte sogar recht präzise erklärt. Doch auch in eineratmosphärischen Art kann ein Heft auf das Konzept der Inszenierung schliessenlassen. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Programmheft in seiner Linie zur

9 Christopher Balme, Einführung in die Theaterwissenschaft, Erich Schmidt Verlag & Co.,Berlin 22001, Seite 86

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Aufführung passt, so kann man Rückschlüsse auf Konzept und Hintergründe derInszenierung ziehen, auch ohne dass diese explizit erklärt werden. Es gilt alsosowohl auf der Seite der Aufführungsanalyse, als auch bei der Produktions-dramaturgie zu berücksichtigen, dass das Inszenierungskonzept auch imProgrammheftkonzept zur Geltung kommt. Ein dünnes Programmheft muss deshalbüberhaupt nicht heissen, dass sich die Künstler wenig überlegt haben. Vielmehrkann darin ein Konzept der Inszenierung zum Ausdruck kommen. Wie auch bei denfehlenden Bildern soll das Publikum animiert werden, selber zu denken und sichnicht zurückzulehnen. Auch ein atmosphärisches Programmheft sagt deshalb vieldarüber aus, wie die Inszenierung verstanden werden möchte. Es ist anzunehmen,dass auch diese atmosphärisch, das heisst offen und unbestimmt, sein soll.

Wenn, wie Balme sagt, das Programmheft Sprachrohr der Dramaturgie ist, darf manannehmen, dass diese ein solches Sprachrohr braucht. Dies bedeutet, dass dieDramaturgie nicht nur über die Inszenierung mit dem Publikum kommuniziert,sondern auch über Drucksachen. Dies ist in einem gewissen Grad – wie das Beispieldes Käthchen von Heilbronn gezeigt hat – durchaus sinnvoll, weil man nicht alleVoraussetzungen auf der Bühne erklären kann. Es kann jedoch im gegenüberliegen-den Extrem auch dazu führen, dass konzeptionelle, theoretische Überlegungen imSpiel nicht mehr ersichtlich sind sondern nur noch in Erklärungen.Ich denke, man darf durchaus sagen, dass das Publikum ein Interesse daran hat,auch etwas aus der wochenlangen Arbeit der Künstler mitzukriegen. Und dazu istdas Programmheft bestimmt ein hervorragendes Mittel. Die äusserst konzentrierteInszenierung kann im Programmheft erweitert werden, Gedankengänge, Hintergrün-de können erläutert werden, oder es können auch die Stimmungen der Inszenierungweiter verstärkt und begründet werden. Es besteht auch die Möglichkeit, dass einProgrammheft mit Hinweisen und Zitaten auf andere Texte zu ähnlichen Themenverweist, wie die vielseitige Literatur im Heft zu L’isola disabitata zeigt.Das Programmheft wird dadurch zu einem Führer im Theaterkunstwerk. DiesenFührer braucht es nicht in jedem Fall und man kann ihn durchaus auch weglassen.Doch wenn Theater andere Blicke auf die Welt zulassen und fördern soll, so kanndas Blickfeld durch ein gelungenes Programmheft geöffnet werden, oder der Blickund die Wahrnehmung kann in eine ungewohnte Richtung geführt werden.

Natürlich kann es nicht meine Absicht sein, hier eine bestimmte Strategie derProgrammheftgestaltung zu bevorzugen oder zu proklamieren. So muss einProgrammheft nicht zwangsläufig einem Kunstführer gleichkommen, je nachInszenierung und Publikum kann man auch künsterlisch sehr weit gehen. Entgegender Feststellung Robert Koalls wäre es wohl auch möglich, aus dem Programmheftein Kunstwerk neben der Inszenierung zu schaffen, oder ein Arbeitsheft, das dieAufgeworfenen Fragen und Themen vertieft. Die Arbeiten im Eingangs erwähntenProseminar zeigten denn beides auch ganz deutlich: Erstens resultiertenausserordentlich viele Hefte, bei denen der Zuschauer oder die Zuschauerin ganzpersönlich angesprochen wurde und sogar selbst etwas «arbeiten» musste, undzweitens liessen sich die Programmhefte ohne weiteres auch ohne dazugehörigeInszenierung herstellen.

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Im Anhang angefügt sind die untersuchten Programmhefte und Ausdrucke derBilder aus dem Programmheft zu Polaroids. Leider waren zum Zeitpunkt derEntstehung dieser Arbeit einige Bilder auf dem Internet bereits nicht mehr verfügbar.Damit die noch verfügbaren nicht mühsam gesucht werden müssen, sind sieanschliessend an das Programmheft angehängt.

Programmheft Was ihr wollt, luzernertheaterProgrammheft L’isola disabitataProgrammheft Das Käthchen von Heilbronn

Programmheft Was ihr wollt, Schauspielhaus ZürichProgrammheft Berlin AlexanderplatzProgrammheft Polaroids

Bilder Seite 11:http://www.sorostrading.com/pictures.htmlhttp://www.sorostrading.com/picture2.html

Bilder Seite 17:http://pbs.org/teletubbies/hints/int_tinky.htmlhttp://pbs.org/teletubbies/hints/int_dipsy.htmlhttp://pbs.org/teletubbies/hints/int_laalaa.htmlhttp://pbs.org/teletubbies/hints/int_po.htmlhttp://pbs.org/teletubbies/hints/inside.htmlnicht verfügbar: http://www.teletubbies.ch/

Bild Seite 28:http://www.benetton.com/press/sito/photo/benetton_camp/1992/aids_005.html

Bild Seite 31:http://www.washingtonpost.com/wp-srv/national/longterm/aids/aids1a.htm

Bilder Seite 39:oben links: nicht verfügbaroben rechts: http://www.furthervision.co.uk/projects/enem/html/enem018.htmunten links: http://www.furthervision.co.uk/projects/enem/html/enem019.htmunten rechts: http://www.guardian.co.uk/blairbabe/article/0,2763,244148,00.html

Bild Seite 40:nicht verfügbar

Bild Seite 43:http://www.glendajackson.co.uk/biography.html

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