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University of Zurich Zurich Open Repository and Archive Winterthurerstr. 190 CH-8057 Zurich http://www.zora.uzh.ch Year: 2007 Reise ohne Wiederkehr. Von Venedig nach Paris - der Komödienautor Carlo Goldoni wurde vor 300 Jahren geboren Güntert, Georges Güntert, Georges. Reise ohne Wiederkehr. Von Venedig nach Paris - der Komödienautor Carlo Goldoni wurde vor 300 Jahren geboren. In: Neue Zürcher Zeitung, 24 February 2007, p.71-72. Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich. http://www.zora.uzh.ch Originally published at: Neue Zürcher Zeitung, 24 February 2007, p.71-72.

University of Zurich - UZH€¦ · Das Werk von Carlo Goldoni, dessen Ge-burtstag sich am 25. Februar zum 300. Male jährt, lebt bis in unsere Gegen-wart – wenn auch nur dank einzelnen

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University of ZurichZurich Open Repository and Archive

Winterthurerstr. 190

CH-8057 Zurich

http://www.zora.uzh.ch

Year: 2007

Reise ohne Wiederkehr. Von Venedig nach Paris - derKomödienautor Carlo Goldoni wurde vor 300 Jahren geboren

Güntert, Georges

Güntert, Georges. Reise ohne Wiederkehr. Von Venedig nach Paris - der Komödienautor Carlo Goldoni wurde vor300 Jahren geboren. In: Neue Zürcher Zeitung, 24 February 2007, p.71-72.Postprint available at:http://www.zora.uzh.ch

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Originally published at:Neue Zürcher Zeitung, 24 February 2007, p.71-72.

Güntert, Georges. Reise ohne Wiederkehr. Von Venedig nach Paris - der Komödienautor Carlo Goldoni wurde vor300 Jahren geboren. In: Neue Zürcher Zeitung, 24 February 2007, p.71-72.Postprint available at:http://www.zora.uzh.ch

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Originally published at:Neue Zürcher Zeitung, 24 February 2007, p.71-72.

nzz 24.02.07 Nr. 46 Seite 71 li Teil 01

Reise ohne WiederkehrVon Venedig nach Paris – der Komödienautor Carlo Goldoni wurde

vor 300 Jahren geborenVon Georges Güntert

Das Werk von Carlo Goldoni, dessen Ge-burtstag sich am 25. Februar zum300. Male jährt, lebt bis in unsere Gegen-wart – wenn auch nur dank einzelnenKomödien. Seine Erfolge im heimatlichenVenedig halfen dem Komödienautor inParis nicht viel, wo er 1793 resigniert starb.

Vielleicht war es ein Fehler, dass Goldoni imFrühjahr 1762 die Einladung an die PariserComedie-Italienne annahm und seiner VaterstadtVenedig, in der er zu Ruhm und Ehre gelangt war,für immer den Rücken kehrte. Von der Übersied-lung in die französische Hauptstadt hatte er sichdie Krönung seiner Laufbahn erhofft. Er sah sichjedoch einer Welt gegenüber, die weder seineSprache noch seine Dramaturgie verstand und inder er sein Talent nicht weiter entfalten konnte.

MÜHSAL UND ENTTÄUSCHUNGAn der Comedie-Italienne war insofern eine neueLage entstanden, als diese kurz zuvor aufgrundeines königlichen Dekrets mit der Opera-Co-mique hatte fusionieren müssen. Das Ensemble,das Goldoni dort leiten sollte, verweigerte ihm dieBereitschaft zur Zusammenarbeit. Die Schau-spieler waren, nach dem Usus der Commediadell'Arte, auf ihre feste Rolle fixiert und wolltenkeine langen Texte auswendig lernen, mit der Be-gründung, diese seien für das französische Publi-kum ohnehin nicht verständlich. Goldoni musstezusehen, wie seine Stegreifkomödie «Harlekinsverlorenes und wieder gefundenes Kind» in Fon-tainebleau vor versammeltem Hof durchfiel, weildie Truppe Spässe aus dem «Cocu imaginaire»hineingemischt hatte. «Ich hatte nicht mit meinenSchauspielern in Italien zu tun; hier war ich nichtHerr, wie ich es dort gewesen war», notiert er inseinen Memoiren.

Die grossen Literaten, deren Werke Goldonimit Bewunderung gelesen hatte, begegneten ihmmit Misstrauen. Diderot, dem einige Jahre zuvorder Vorwurf gemacht worden war, seine Komödie«Le fils naturel» sei ein Plagiat von Goldonis «Ilvero amico», war ihm nicht wohlgesinnt. Rous-seau, der seit 1770 in Paris lebte, empfing ihn zu-nächst freundlich in seiner Wohnung, wollte abernicht glauben, dass Goldoni nun auch eine franzö-sische Komödie («Le bourru bienfaisant») ver-fasst habe und dass sich die Comedie-Francaisefür so etwas interessiere. «Kehren Sie nach Italienzurück, dort erwartet man Sie», sagte er überheb-lich zu dem damals Dreiundsechzigjährigen, «inIhrem Alter versucht man nicht mehr, in einerandern Sprache zu schreiben.» Goldoni wagte esnicht, Rousseau das Stück zu zeigen, weil er fürch-tete, der überempfindliche Schriftsteller könnteden unwirschen Charakter des Hauptdarstellersals Verunglimpfung seiner Person deuten.

Einzig Voltaire, der durch sein überschwäng-liches Lob viel dazu beigetragen hatte, Goldonisinternationales Ansehen zu festigen, stand weiter-hin zu ihm. Voltaire lebte jedoch nicht in Paris,sondern in Ferney bei Genf, wo er erwartet hatte,dass Goldoni (der die Route über Marseillewählte) die Reise zu einem Besuch bei ihm nutzenwürde. Von Ferney aus verfolgte er dessen An-

kunft in der Hauptstadt und wollte von seinendortigen Korrespondenten wissen, wie der Italie-ner reüssiere. Als der hochbetagte Voltaire 1778selber nach Paris kam, um anlässlich der Auffüh-rung seiner Tragödie «Irene» eine letzte Apo-theose entgegenzunehmen, unterliess er es nicht,Goldoni freundlichst zu empfangen und sich mitihm in aller Öffentlichkeit auf Italienisch zu unter-halten. Tags darauf war im «Journal de Paris» zulesen, Voltaire habe dem Venezianer die Ehre er-wiesen, weil er ihn als «le restaurateur de la bien-seance et du bon gout en Italie» betrachte.

Trotz dieser Sternstunde war das Leben Gol-donis in Frankreich von Mühsal und Enttäu-schungen gezeichnet. Neben gelegentlichen Er-folgen blieb es ihm nicht erspart, vor leeren Sälenspielen zu müssen. Auch gelang es ihm nicht, sei-nen eigenen Theaterstil durchzusetzen. Dass erim hohen Alter seine Privatbibliothek veräussernund eine Stelle als Italienischlehrer am Hof an-nehmen musste, spricht nicht für den Erfolg sei-ner Frankreichreise. Mit dem Ausbruch derRevolution bot auch das Leben in Versailles keineSicherheit mehr. Der halbblinde Dichter, demdurch die Entscheidungen des Revolutionsratesvon 1792 die königliche Pension vorübergehendgestrichen wurde, starb in Armut und wurde ver-mutlich in einem Massengrab beigesetzt.

DIE MEMOIRENIn Paris schreibt der bald Achtzigjährige an seinenMemoiren. Das Werk erscheint 1787, wenigeJahre nach Rousseaus Autobiografie, in französi-scher Sprache. Wer darin ein psychologisch ver-tieftes Porträt des Autors sucht, wird enttäuscht.Der Blick des Schreibenden richtet sich nicht nachinnen, sondern auf das Oberflächliche, Anekdoti-sche. Gewiss mangelt es in diesem Lebensberichtnicht an humorvoll geschilderten Szenen: Goldonisieht die Welt als Bühne und vermag vielen Be-gegnungen eine vergnügliche Seite abzugewinnen.Er neigt jedoch zur Biederkeit und bevorzugteinen heiteren Plauderton, so dass man Hugo vonHofmannsthal beistimmt, wenn er Goldoni nichtnur eine «dichterische Hand», sondern auch die«Eingeweide eines Philisters» zuschreibt.

Autobiografen erzählen ihr Leben, um dieNachwelt auf die Bedeutung ihrer Eigenleistunghinzuweisen. Memoirenschreiber sind ausserdemZeugen ihrer Epoche. Die «Memoires de M. Gol-doni, pour servir a l'histoire de sa vie et a celle deson theatre» genügen zeitweise beiden Ansprü-chen, sind aber in der Hauptsache eine Geschich-te seines Theaters. Das dreiteilige Werk – es han-delt vom Werdegang des Komödiendichters, vomglücklichen Gelingen der ihm wichtigen Theater-reform und von seinen Erfahrungen in Frankreich– ist von unterschiedlicher Qualität. Am anschau-lichsten wirken die ersten hundert Seiten überGoldonis Elternhaus, seine Erziehung und seinefrühe Berufung zum Theaterautor. Die veneziani-sche Kindheit erscheint in nostalgischer Verklä-rung: Tatsächlich lebte Carlos Vater wegen einesnachzuholenden Medizinstudiums jahrelang vonder Familie getrennt, um deren finanzielle Ver-hältnisse es zudem nicht besonders gut stand.

In Künstler-Autobiografien sind Hinweise aufdie frühe Begabung des Protagonisten die Regel.Mit acht Jahren, so behauptet Goldoni, habe er sein

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erstes Stück entworfen. Machiavellis «La Mandra-gola», damals eine verbotene Lektüre, und dieKomödien Molieres seien ihm zu grundlegendenliterarischen Erfahrungen geworden. Unvergesslichist die Episode von Carlos Flucht aus dem Domini-kanerkolleg in Rimini, von wo aus der Vierzehn-jährige per Schiff mit einer Schauspielertruppenach Chioggia zu seiner Familie zurückkehrt. EineZeitlang betätigt er sich als Schreiber in der An-waltskanzlei seines Onkels, benutzt aber jede Ge-legenheit zum Kontakt mit Schauspielern.

Seine künstlerische Neigung steht indes imWiderspruch zu den Erwartungen der Gesell-schaft. Nach dem Tod des Vaters muss Carlo sei-ner Mutter versprechen, das angefangene Jura-studium zu beenden und Rechtsanwalt zu wer-den. Er übt diesen Beruf nur zeitweise aus undsetzt sich bald wegen eines leichtfertig abgegebe-nen Heiratsversprechens nach Mailand ab. In dendortigen Bibliotheken sucht er nach Theater-stücken, findet aber zu seinem Erstaunen kaumitalienische Texte: Der reiche Komödienschatzdes 16. Jahrhunderts scheint vergessen zu sein.Solche Bemerkungen dienen auch dazu, Goldonisgrösstes Verdienst, die Ersetzung des Stegreif-theaters durch die neue italienische Textkomödie,hervorzuheben. In den folgenden Jahren zieht ermit einer Wandertruppe von Stadt zu Stadt.

In Genua lernt er seine zukünftige Frau Nico-letta, die Tochter eines Notars, kennen. Auch dieBegegnung mit dem grossen Mimen Antonio Sac-chi, für den er später das Harlekin-Stück «Der Die-ner zweier Herren» schreiben wird, erfolgt wäh-rend dieser Lehr- und Wanderjahre. 1734 wird ervom Eigentümer des venezianischen Theaters SanSamuele, dem Adligen Grimani, als Autor enga-giert. In dieser Eigenschaft muss er noch lernen,dass seine wahre Begabung die des Komödien-schreibers ist. Sein erster Heimerfolg, die Komödie«Momolo cortesan» (Der Lebemann), wird ihn er-mutigen, diesen Weg zu beschreiten.

Die degenerierte Commedia dell'Arte, in derzur dürftigen Unterhaltung der Zuschauer stetsdie gleichen Gemeinplätze abgehandelt wurden,war Goldoni zuwider. Diese Art Spektakel ent-sprach weder dem rationalistischen Zeitgeistnoch den Ansprüchen des aufgeweckten städti-schen Publikums, an das er sich richten wollte.Die neue Komödie sollte dieses Publikum nicht inirgendwelche ferne Phantasiewelten entführen,sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit, in deres lebte, kritisch beleuchten. Dadurch sollte siezugleich unterhaltend und belehrend wirken.

DIE THEATERREFORMDer zentrale Teil von Goldonis Memoiren widmetsich seiner grossen Leistung, der Theaterreformvon 1750/52, die bald einmal gegen Rivalen undNeider verteidigt werden musste. In der Person desTheaterdirektors Girolamo Medebach, mit dessenTruppe Goldoni seit 1747 am Teatro Sant'Angelozusammenarbeitete, hatte er den idealen Partnergefunden, um seine Pläne für eine Theaterreformzu verwirklichen. In früheren Zeiten war derAutor bloss Lieferant der Stücke gewesen undhatte die Schauspieler gewähren lassen. Ganzanders der Dramaturg Goldoni: Er kennt die Aus-drucksfähigkeit jedes einzelnen Schauspielers undschreibt ihm die Rolle auf den Leib.

So kann das entstehen, was Goldoni Charak-terkomödie nennt. Er wählt das Ambiente unddie dazu passende Sprache zumeist aus der ihmbekannten Welt, sei es nun die der Gondolierioder die der venezianischen Köchinnen. ZumLustspiel «Le Massere» (Die Köchinnen) be-merkt er: «Der Gegenstand dieses Stücks ist ausder niedrigsten Klasse der bürgerlichen Gesell-

schaft genommen, doch die Natur zeigt in allenStänden interessante Leute und zu rügende Las-ter.» Noch bedient sich Goldoni nur gelegentlichdes Dialekts, vor allem dort, wo dies die Rolle sel-ber erfordert. Er bemüht sich gleichzeitig um einfür das komische Theater geeignetes, überall ver-ständliches Italienisch, was seiner Truppe erlaubt,auch in andern Städten erfolgreich aufzutreten.

In der neuen Komödie, die sich auf einen ver-bindlichen Text stützt, erinnern einzelne Rollennoch immer an jene des Stegreiftheaters. Auchwenn Brighella oder Smeraldina ihre Masken all-mählich ablegen, haben sie in ihrer Funktion nochlange nicht ausgespielt. Nur Pantalone wandeltsich vom Geizhals und lächerlichen Lüstling zumumsichtigen Bürger, der die Werte des neuen Ge-sellschaftsdiskurses verkörpert.

Eines der besten Stücke der Reformzeit, «Lalocandiera» (Die Wirtin), nach der Protagonistinauch «Mirandolina» genannt, wurde eigens fürdie kokette Maddalena Marliani geschrieben. DasStück hat bis heute an Aktualität nichts einge-büsst, weil es den Kampf der Geschlechter insze-niert. Der listigen Mirandolina gelingt es, einenerklärten Weiberfeind von der Anmut und derIntelligenz der Frauen zu überzeugen. Ihre Ver-führungsstrategie besteht nicht aus verwirrendenIntrigen, sondern entstammt ganz ihrer (ins Thea-tralische gesteigerten) weiblichen Natur. Ein klei-nes Zuviel an Koketterie und Berechnung genügt,um den Cavaliere di Ripafratta von MirandolinasQualitäten zu überzeugen. Sie hält ihm ihr feins-tes Leinen unter die Augen, verwöhnt ihn miteinem köstlichen Gericht und trinkt mit ihm ge-niesserisch ein Glas Burgunder, wobei sie es nichtunterlässt, klug und charmant über die Frauen zusprechen und, wo es ihr ratsam scheint, demMann nach dem Munde zu reden.

Mirandolina spielt die Rolle der Verführerinbis an die Grenze des Zulässigen: Das Spiel endetdann, wenn der Cavaliere seine Niederlage zugibtund sich die Wirtin wieder in ihre kleinbürger-liche Arbeitswelt zurückzieht. In «La locandiera»reflektiert Goldoni seine eigene dichterischeÜberzeugungskunst und damit auch die Ästhetikder neuen Komödie, deren fiktive Welt sich vonder Natur nicht radikal unterscheidet. Nur lächer-liche Figuren wie die beiden Primadonnen diesesStücks glauben, das Theater und der Alltag seienvöllig verschiedene Welten. Goldoni sieht dasVerhältnis von Natur und Kunst anders: So wieMirandolina ihren weiblichen Charme und ihreIntelligenz im Spiel noch steigert, ohne ihre Iden-tität aufzugeben, so soll die menschliche Natur imTheater zu ihrer vollen Ausdruckskraft gelangen.

DIE LETZTE VENEZIANISCHE EPOCHEVoltaire verehrte in Goldoni den «Sohn undMaler der Natur». Was dieser jedoch zur Zeit derTheaterreform anstrebte, war eine Poetik desverosimile, der glaubhaft wirkenden Konvention.Einzelne Rollen, von den Dienern bis zum Lie-bespaar, und die nach aristotelischem Muster ge-baute Fabel waren konventionell konzipiert undgehorchten einer streng vorgeschriebenen Regie.In seinen späten Meisterwerken übertrifft derDichter sich selber, weil er nun nicht mehr dasverosimile, sondern das verum darzustellen ver-sucht. Zu diesem Zweck bringt er Darsteller vol-ler Leidenschaft auf die Bühne, die durch ihreVitalität Dynamik ins Geschehen bringen.Gleichzeitig verzichtet er auf eine allzu intrigen-reiche Handlung. Auch die Regie tritt zurück: Siezeigt sich noch am ehesten in der Choreographie,im Rhythmus der Bewegungen, Worte und Ges-ten. Das Kunstprinzip ist diesen Werken einge-schrieben, es ist immanent geworden.

Begabten Regisseuren unserer Zeit, ich denkevor allem an Giorgio Strehler, ist es gelungen, die-

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sen Goldoni sichtbar zu machen. In dem vonStrehler meisterhaft inszenierten Stück «Lebaruffe chiozzote» (Raufhändel in Chioggia), dasunter den streitsüchtigen und dennoch immerwieder zur Versöhnung bereiten Fischern vonChioggia spielt, werden die Abwesenheit derRegie und die Ohnmacht der Obrigkeit themati-siert. Die Welt dieser Fischer bewegt sich von sel-ber und ruht in sich selbst. So wie das Volk vonChioggia seinen eigenen Lebensgewohnheitenfolgt, so gehorcht das Werk der ihm innewohnen-den Ordnung. Die Handlung an sich ist unbedeu-tend. Anlass zum ersten Wortgefecht ist eine ge-backene Kürbisschnitte, eine «zucca barucca»,wahrhaftig eine solche Wenigkeit, dass sie schonbeim Ausbruch des Streites wieder vergessen ist.Die neue Perspektive hat eine Bevorzugung desDialektes zur Folge, wobei jedoch zu beachten ist,dass Goldonis erste Dialektstücke noch in Versengeschrieben sind und dass er bis zuletzt nicht aufdas Italienische verzichtet.

Die Hinwendung zum einfachen Volk, dieschon im poetischen Stück «Il campiello» (Derkleine Platz) beobachtet werden kann, enthältgleichzeitig eine desillusionierte Haltung gegen-über dem Bürgertum, auf das sich Goldoni wäh-rend seiner Reform gestützt hatte. In einem seinergenialsten Werke, der 1761 entstandenen «Villeg-giatura-Trilogie», zeigt er uns eine bürgerliche Ge-sellschaft ohne echte Werte. Zwar spielt die Trilo-gie in Livorno und nicht in Venedig, doch ist sie fürdas italienische Bürgertum repräsentativ. AllesModische wird nachgeahmt, alles Neue muss her,ohne dass nach der Herkunft der Mittel gefragtwird. Jede Art Zerstreuung ist willkommen, wennsie dazu dient, die Zeit totzuschlagen.

Nur die junge, lebensfrohe Giacinta – die, ob-wohl mit Leonardo verlobt, sich während derSommerfrische in einen andern verliebt, sich zu-letzt aber doch auf ihr Versprechen besinnt, weilsie sich selber treu bleiben will –, nur sie reift indieser oberflächlichen Umgebung zur selbst-bewussten Frau heran. Der Ausklang der Trilogieist von Resignation überschattet. Nicht nur Gia-cinta, auch Goldoni weiss, dass diese Gesellschaftnicht reformfähig ist und dass sein Theater dieaufklärende Funktion im eigenen Land nicht er-füllen kann. Die eigentliche Motivation seinerReise nach Paris ist in diesem und in andern Stü-cken der letzten Venediger Jahre schon enthalten.Georges Güntert war bis zu seiner Emeritierung Ordinarius fürromanische Sprache an der Universität Zürich.