24
Usch Luhn Blind

Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

Usch LuhnBlind

LUHN_Blind.indd 1 31.05.11 17:37

Page 2: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

DIE AUTORIN

Usch Luhn kommt aus der Steier­mark und lebt abwechselnd in Berlin und am Wattenmeer in Ost­friesland. Sie ist Kommunikations­wissenschaft lerin, unterrichtet an einer Filmschule und schreibt eigene Filmdrehbücher sowie Kinder­ und Jugendbücher.

Foto

: © A

nouk

LUHN_Blind.indd 2 31.05.11 17:37

Page 3: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

Usch LUhn

BLind

LUHN_Blind.indd 3 31.05.11 17:37

Page 4: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

cbjist der Kinder­ und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House

1. AuflageErstmals als cbj Taschenbuch September 2011Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© 2006 by Verlag Carl Ueberreuter, WienAlle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch cbj Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHEric Blomberg: »Hab keine Angst im Dunkeln« (Deutsch von Stefan Mählqvist), aus Lena Anderson (Hg.): Pflaumen für alle Kinder, C. Bertelsmann Jugendbuch, 1993.Umschlagfotos: Plainpicture (Ashley Jouhar/RF, Jean­François Bérubé/alt­6) Umschlag gestaltung: *zeichenpool, MünchenMI · Herstellung: CZSatz: KompetenzCenter, MönchengladbachDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckISBN: 978­3­570­40074­6Printed in Germany

www.cbj-verlag.de

Verlagsgruppe Random House FSC­DEU­0100Das für dieses Buch verwendete FSC®­zertifizierte Papier München Super Extraliefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

LUHN_Blind.indd 4 31.05.11 17:37

Page 5: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

Für H.E.Danke für Essen und Schlaf

LUHN_Blind.indd 5 31.05.11 17:37

Page 6: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

LUHN_Blind.indd 6 31.05.11 17:37

Page 7: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

nachtschwärmer

LUHN_Blind.indd 7 31.05.11 17:37

Page 8: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

LUHN_Blind.indd 8 31.05.11 17:37

Page 9: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

Merle fliegt.Den günstigen Aufwind nutzend steigt sie mit

ihrem Drachenflieger über den Stoppelacker hoch hinauf bis unter die Wolken. Ihre Arme bewegt sie dabei so elegant wie ein Schmetterling seine Flügel.

Sanft wird sie von der lauen Luft davongetragen. Tief unter sich entdeckt sie einen Wasserfleck. Sie lässt sich übermütig in eine Böe fallen. Plötzlich reißt der Himmel auf und gleißende Morgensonne blendet sie.

Jäh verliert Merle die Kontrolle über ihren Luft­vogel.

Orientierungslos trudelt sie abwärts und kreuzt einen tanzenden Libellenreigen, bevor sie kopfüber im dunklen See versinkt.

LUHN_Blind.indd 9 31.05.11 17:37

Page 10: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

LUHN_Blind.indd 10 31.05.11 17:37

Page 11: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

11

1

Die Nacht ist fast schwarz. Kein Stern leuchtet. Ein kühler Luftzug streicht über Merles Haar.

Merle schießt kerzengerade hoch. Verstört fühlt sie ihrem Albtraum hinterher. Sie fährt mit den Händen suchend über die Matratze, ertastet er­leichtert das Kopfkissen und drückt es fest ans Ge­sicht. Vertrauter Geruch durchströmt ihre Nase.

Sie saugt ihn tief ein.Ein Fensterhaken, der sich durch den Windstoß

gelöst hat, scheppert gegen die Hauswand. Der Fensterflügel pendelt nun quietschend hin und her.

Merle lauscht angespannt hinaus in die Dunkel­heit. Unerwartet übertönt ein vertrautes Miauen das zermürbende Geräusch.

Merle schreit freudig auf. »Robinson – !«Sie springt ohne Zögern aus dem Bett und huscht

barfuß und nur mit ihrem Pyjama bekleidet aus ihrem Zimmer und durch die Küche nach draußen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit pirscht sie in den Garten, spürt das feuchte Gras unter den Fü­ßen.

LUHN_Blind.indd 11 31.05.11 17:37

Page 12: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

12

»Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich.

Ihr Vater hat ihn erst vor ein paar Wochen neu angelegt, er ist sein ganzer Stolz. Die Wasserpflan­zen sitzen noch lose im Kies und Merle versucht, auf keinen Fall die empfindlichen Wurzeln zu zer­treten. Über das Wasser ist auf kurzen Pflöcken ein grobmaschiges Netz gespannt, sodass Fischreiher und andere Räuber schlechte Karten haben.

Die kleinen Kieselsteine piksen sie schmerzhaft und Merle hechtet mit einem riskanten Satz wei­ter, landet auf feinem Sand.

»Robinson –!«Im gleichen Moment streicht ein dickes, schnur­

rendes Bündel um Merles Knöchel.»Da bist du ja endlich, mein Süßer«, sagt Merle

und geht in die Knie. Sie berührt das langhaarige Fell des Katers und fühlt etwas Schleimiges zwi­schen ihren Fingern. Unerschrocken sammelt sie eine kleine Nacktschnecke aus seinem buschigen Schwanz.

»Wo hast du dich denn herumgetrieben?« Sie drückt ihn heftig an sich.

Robinson ist vor einem Monat in den Geräte­schuppen der leer stehenden Villa nebenan einge­zogen. Saß eines Morgens einfach auf Merles Fens­

LUHN_Blind.indd 12 31.05.11 17:37

Page 13: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

13

terbrett und machte sich lautstark bemerkbar. Seitdem versucht Merle ihn mit allerlei Lecker bis­sen zu überzeugen, bei ihr zu bleiben, aber der Kater kommt und geht, wie es ihm gefällt. Merle fürchtet, dass Robinson eines Tages wieder für immer verschwunden sein könnte.

Trotz der Vorsichtsmaßnahmen, die Merles Vater getroffen hat, ist es Robinson gelungen, einen be­sonders leckeren Mitternachtshappen zu ergattern. Merle kann die scharfen Gräten des bemit lei dens­werten Fischopfers deutlich unter ihren Zehen fühlen!

Sie zieht Robinson liebevoll am Ohr. »Wenn Papa das merkt, kriegst du endgültig Hausverbot.«

Merles Vater hat nämlich alle möglichen Aller­gien. Um Katzen und Hunde macht er deshalb einen großen Bogen. Am liebsten sind ihm Fische.

Der Kater schmeichelt seinen Kopf in Merles Hand und hakt gleichzeitig seine Krallen in das Netz.

»Nun ist es aber genug«, sagt sie empört und schiebt ihn entschlossen weg.

Beleidigt verzieht sich Robinson.Merle krabbelt ihm auf gut Glück hinterher und

schnalzt schmeichelnd mit der Zunge.»Merle, bist du etwa im Garten?«, hört sie plötz­

lich die besorgte Stimme ihrer Mutter. Schritte

LUHN_Blind.indd 13 31.05.11 17:37

Page 14: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

14

trappeln hastig die Steinstufen hinab, nähern sich über den Kies.

Merle verharrt ertappt. Das riecht nach Ärger. Während sie krampfhaft nach einer einleuchten­den Erklärung für ihren nächtlichen Ausflug sucht, stolpert ihre Mutter und fällt mit einem lau­ten Aufschrei direkt vor Merles Füße.

Fauchend sucht Robinson das Weite.»Alles in Ordnung, Mama?«, ruft Merle panisch.»Du bist wohl von allen guten Geistern verlas­

sen, hier allein herumzulaufen«, schimpft ihre Mutter los. »Es hätte dir ja sonst was zustoßen können.« Sie reibt sich stöhnend ihr Bein.

»Robinson hat mich gerufen, ich konnte nicht anders«, tritt Merle die Flucht nach vorne an. »Besser, du wärst im Bett geblieben. Nachts sind alle Katzen grau, hast du das nicht gewusst?«, sagt sie munter.

»Nun werd mal nicht frech. Ab in die Federn, du Küken!«

Wenn ihre Mutter auf diese Weise mit ihr meckert, dann ist das schlimmste Donnerwetter bereits überstanden.

»Lass mich mal fühlen, Mama. Wo tut’s dir denn weh?« Merle tastet behutsam. Sie bemerkt erschro­cken eine blutige Schramme am rechten Schien­bein.

LUHN_Blind.indd 14 31.05.11 17:37

Page 15: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

»Du brauchst unbedingt ein Pflaster.« Sie sucht die Hand ihrer Mutter. »Halte dich an mir fest.«

Keinen Widerspruch duldend lotst Merle ihre Mutter sicher zurück zum Haus. Verrückt, wie hilflos ihre Mutter im Dunkeln ist. Dabei sieht sie sonst wie ein Luchs.

Merle hat keine Probleme, sich zu orientieren. Sie findet sich bei Tag und Nacht gleich gut zu­recht.

Denn schließlich ist sie ja blind.

LUHN_Blind.indd 15 31.05.11 17:37

Page 16: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

An dem Tag, als das Licht aus Merles Leben ver­schwand, regnete es. Aus dem Garten duftete es nach Apfelblüten, eine Biene irrte summend durch das Kinderzimmer.

Merle erwachte und sah – nichts. Sie rief nach ihrer Mutter, aber niemand hörte sie. Merle tastete sich alleine hinaus ins Treppenhaus.

In ihrer Angst stolperte sie und fiel dreiundzwan­zig Stufen tief in eine endlose Dunkelheit.

LUHN_Blind.indd 16 31.05.11 17:37

Page 17: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

17

2

Jeden Morgen um die gleiche Zeit reißt Woody Woodpecker Merle mit einem irren Gelächter aus dem Schlaf. Anschließend rast der wilde Specht laut hämmernd einen blechernen Spielzeugbaum­stamm auf und ab, bevor er mit einem kreischen­den »Have a nice day!« wieder in seinem Astloch verschwindet.

Tante Doris, Merles Patentante, die mit ihrer Familie in Kalifornien lebt, hat Merle den Wecker zur Einschulung geschickt. Damals war Merle ge­rade sechs Jahre alt geworden und konnte prima sehen. Ihre beste Freundin Laura musste eine Brille tragen, weil der Schularzt herausgefunden hatte, dass sie kurzsichtig war. Den ganzen Kindergottes­dienst lang heulte Laura vor Scham und versteckte ihr Brillengesicht hinter ihrem Diddl­Ranzen. Sie war schon damals ziemlich eitel.

Merle war total neidisch. Wie gerne hätte sie sel­ber so ein bedeutungsvolles Gestell auf der Nase gehabt, denn sie war sich sicher, dass man damit bessere Noten bekommen würde. Warum sonst

LUHN_Blind.indd 17 31.05.11 17:37

Page 18: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

18

trugen alle wichtigen Leute Brillen? Merle fand es höchst ungerecht, dass Laura es in der Schule leichter haben sollte als sie.

Am Ende des ersten Schultages verabredeten Merle und Laura einen heimlichen Handel. Merle bekam Lauras Brille, Laura dafür Woody Wood­pecker, den sie total süß fand. Der Tausch flog noch am selben Tag auf und diesmal war es Merle, die eine Menge Tränen vergoss. Auf gar keinen Fall nämlich wollte sie die Brille an Laura zurück­geben. Den lächerlichen Woody Woodpecker pfef­ferte sie wütend in die nächstbeste Ecke.

Laura bekam von ihren Eltern zum Trost einen sprechenden Diddlmaus­Wecker geschenkt, den sie natürlich sowieso viel süßer fand. Ihre ersten Zensuren waren dann aber doch nicht besser als die von Merle, ganz im Gegenteil, was diese im Nachhinein ein wenig versöhnte.

Vor fünf Jahren, also kurz nachdem Merle blind geworden war, fand sie Woody Woodpecker zufäl­lig in einer vergessenen Spielzeugkiste wieder.

Damals weigerte sie sich standhaft, weiter in die Schule zu gehen oder überhaupt das Haus zu ver­lassen. Keiner sollte sehen, wie hilflos sie plötzlich war. Sie schämte sich, blind zu sein, obwohl sie gar nicht daran schuld war. Niemand war schuld.

LUHN_Blind.indd 18 31.05.11 17:37

Page 19: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

19

Und genau das machte sie unheimlich wütend. Stundenlang lag sie in ihrem Bett herum, knud­delte ihr Kissen und hörte ihre alten Kinderkasset­ten. Manchmal sprach sie tagelang kein Wort. Ihre Eltern waren verzweifelt und wussten nicht mehr weiter.

An einem besonders schrecklichen Tag, an dem Merle sich einfach weigerte, zum Essen in die Küche zu kommen, verlor ihre Mutter die Geduld und ließ sie ohne Mahlzeit in ihrem Zimmer sitzen. Gleich darauf hörte Merle, wie ihre Eltern sich laut zu streiten begannen, konnte aber nicht ver­stehen, worum es ging. Schließlich weinte ihre Mutter sogar. Die Stimme ihres Vaters wechselte in einen zärtlichen Tonfall. Wenig später hörte Merle die Haustür ins Schloss fallen. Merle war fassungs­los. Noch nie hatte man sie einfach allein gelassen, seit sie blind war.

Sie fühlte sich wie der einsamste Mensch auf der ganzen Welt. Ihre eigenen Eltern hatten offensicht­lich vor, ihre blinde Tochter einfach verhungern zu lassen, während sie sich einen schönen Tag zu zweit machten. Merle beschloss, es ihren Eltern leicht zu machen. Ab heute würde sie keinen Bis­sen mehr essen. Blind zu sein bedeutete ohnehin, so gut wie tot zu sein.

Leider begann ihr Magen bereits gegen Nachmit­

LUHN_Blind.indd 19 31.05.11 17:37

Page 20: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

20

tag heftig gegen die herzlose Behandlung zu pro­testieren.

Merle wurde unvermittelt furchtbar wütend. Wahllos fing sie an, alles, was ihr in die Finger kam, herumzuschmeißen. Der Krach, den der Kas­settenrekorder verursachte, als sie ihn mit aller Kraft gegen die Wand donnerte, verschaffte ihr tiefe Genugtuung. Mit zitternden Händen zerrte sie die Bänder aus den Märchenkassetten, holte ihre Bücher aus dem Holzregal und zerriss die ein­zelnen Seiten in winzige Schnipsel. Systematisch zerdepperte sie nach und nach alles, was sich un­ter ihren Händen noch ganz anfühlte. Schließlich thronte Merle erschöpft auf einem Berg kaputter Spielsachen und fühlte sich zum ersten Mal seit ihrer Erblindung richtig gut. Vor allem aber hatte sie schrecklichen Appetit.

Also stand sie auf und tapste quer durch ihr ver­wüstetes Zimmer zu ihrem Kleiderschrank. Unter den Winterpullovern musste doch noch ein Scho­koladenhase von Ostern versteckt sein. Hungrig tastete sie das Schrankinnere Zentimeter für Zenti­meter nach etwas Süßem ab. Vergeblich. Schließ­lich hangelte sie sich hinaus in den Flur. Direkt nebenan befand sich das Arbeitszimmer ihrer Mut­ter. Seit Merle erkrankt war, arbeitete diese nicht mehr als Kostümbildnerin, aber sie nahm Aufträge

LUHN_Blind.indd 20 31.05.11 17:37

Page 21: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

21

an, die sie zu Hause erledigen konnte. Merle wuss­te, dass ihre Mutter immer einen Marzipanvorrat zwischen ihren Nähsachen hatte.

Sie betrat das Zimmer und stellte überrascht fest, dass sie sich erstaunlich gut orientieren konnte.

Die aufwändig geschnitzte Spielzeugkiste, in der ihre Mutter das Nähzeug aufbewahrte und die neben der Nähmaschine stand, fand sie praktisch sofort. Ihr Vater hatte die Kiste während seiner Tischlerausbildung als Gesellenstück gefertigt. Als Merle noch klein war, hatte sie gerne darin herumgestöbert und sich vorgestellt, dass es sich in Wahrheit um eine Schatztruhe handelte. Wenn sie es sich nur fest genug wünschte, würde sich der unscheinbare Fingerhut in eine Kutsche und die Stecknadeln in wilde Pferde verwandeln, die mit ihr davongaloppierten.

Merle hob den Deckel und griff vorsichtig hin­ein. Schließlich hatte sie keine Lust, sich an einer Nadel zu stechen. Aber das Erste, was Merle zwi­schen die Finger bekam, war ausgerechnet Woody Woodpecker.

Damit hatte sie nicht gerechnet.Im selben Augenblick, als sie ihn berührte,

wusste Merle wieder haargenau, wie er aussah. Der Baumstamm war aus bedrucktem braunen Blech und auf seiner glatten Oberfläche war eine

LUHN_Blind.indd 21 31.05.11 17:37

Page 22: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

22

Schiene angebracht, auf der der Specht, von einer strammen Feder gezogen, entlangrasen konnte. In seinem hohlen Inneren, von unten durch eine Klappe leicht zu öffnen, saß die Batterie; dahinter war eine Platte befestigt, wie sie bei Sprechpuppen üblich ist. Ganz unten befand sich der Zeitschalter des Uhrwerks. An ihm konnte man auf die Minute genau einstellen, wann man geweckt werden wollte.

Merle steckte ihren Zeigefinger in das Astloch. Sie fühlte den spitzen Schnabel von Woody – er war zum Glück noch heil und, auch daran erinner­te sie sich augenblicklich, die Farbe des Schnabels war himmelblau.

Ob der Wecker überhaupt noch funktionierte? Es kam ihr ewig lange her vor, dass sie ihn ge­schenkt bekommen hatte. Seitdem hatte sich ihr Leben komplett geändert. Niemals wieder würde sie darüber lachen können, wie Woody mit seinem himmelblauen Schnabel hektisch auf das Blech einhämmerte und danach dämlich kreischend in seinem Astloch verschwand.

Merle spürte einen heftigen Schmerz in ihrer Brust und sie musste plötzlich laut aufschluchzen. Sie presste den Wecker fest an sich und weinte ihren Kummer in die Welt. So fanden sie ihre ent­setzten Eltern –.

LUHN_Blind.indd 22 31.05.11 17:37

Page 23: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

23

Woody Woodpecker bekam eine neue Batterie eingesetzt und Merles Vater entfernte mit Schmir­gelpapier vorsichtig einige rostige Stellen am Baum­stamm.

Seitdem fühlt Merle gewissenhaft jeden Morgen Woodys spitzen Schnabel. Erst dann steht sie auf, immer um die gleiche Uhrzeit, sogar in den Schul­ferien.

Merle hatte sich schließlich entschlossen, ihre alte Schule ganz zu verlassen. Sie besucht jetzt ein privates Internat, in dem blinde Jugendliche wie sie die allerbeste Ausbildung erhalten. Die Blin­denschrift beherrschte sie nach kurzer Zeit perfekt und sie lernt jeden Tag nützliche Sachen dazu. Das macht ihr richtig Spaß und ihre neuen Lehrer sind sehr zufrieden mit ihr. Vor allem aber gefällt es Merle, dass sie nur mit Blinden zusammen ist. Zu ihren früheren Schulfreunden hat sie seit ihrer Er­blindung keinen Kontakt mehr. Wer sie kennen­lernt, könnte glauben, sie sei schon ihr ganzes Leben blind.

Ob es wirklich so selbstverständlich für sie ist, blind zu sein, wie es allen anderen scheint, darü­ber spricht sie allerdings nie. Auch nicht mit ihren Eltern.

»Es gibt Schlimmeres, als blind zu sein«, er­

LUHN_Blind.indd 23 31.05.11 17:37

Page 24: Usch Luhn Blind - bilder.buecher.de · 12 »Robinson, komm!«, ruft Merle mit lockender Stimme in die Nacht. Sie läuft weiter, erreicht den Zierteich. Ihr Vater hat ihn erst vor

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Usch Luhn

Blind

Taschenbuch, Broschur, 192 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-570-40074-6

cbj

Erscheinungstermin: August 2011

Blindsein ist kein Schicksal, sondern eine Kraft Merle ist vierzehn und blind. Es gibt Schlimmeres, findet sie, denn ihre Eltern bieten ihr einwohl behütetes Leben. Bis Jonny und Undine auftauchen: Jonnys Haut riecht nach Abenteuer,Undine duftet vertraut. Die beiden Geschwister wirbeln Merles Alltag gehörig durcheinander undbereitwillig stürzt sie sich in die unbekannte Welt. Da gerät Undine in Gefahr und Merle beweistallen, dass sie es ist, die das Mädchen dank ihrer geschärften Sinne retten kann.