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VAT DER EURO, DIE KRISE UND DER GROSSE RAUBZUG PETER MERTENS WIE KÖNNEN SIE ES WAGEN?

VAT Peter Mertens Wie können sie es wagen?

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VAT

DER EURO,

DIE KRISE UND DER

GROSSE RAUBZUG

PETER MERTENS

WIEKÖNNEN

SIE

ES WAGEN?

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Peter Mertens

Wie können sie es Wagen?

Der Euro, die Kriseund der große Raubzug

Verlag andré iele

Leseauszug

© VA

T Verlag Mainz

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w.vat-m

ainz.de

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alle Rechte am deutschen Text vorbehalten.aus dem niederländischen von sabine Carolin Richter.© für die Originalausgabe: ePO Uitgeverij, »Hoe durven ze? Deeuro, de crisis en de grote hold-up«, Berchem-antwerpen, 2011,2013, © Peter Mertens en ePO Uitgeverijall rights reserved.Original Dutch edition published by ePO Uitgeverij, Berchem-antwerpen, Belgium.is german edition is published by arrangement with ePO Uit-geverij, Belgium.© für die deutsche ausgabe: VaT Verlag andré iele, Mainz2013Lektorat: Diethelm Hofstra, LohmarUmschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburgsatz: Felix Bartels, OsakaDruck und Bindung: anROP Ltd., JerusalemPrinted in israel.

www.vat-mainz.de

isbn 978-3-95518-003-4

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inhalt

Einleitung 7

teil 1. belgien

1. Null Komma null null null null null fünf (und weitere Steuern) 9

2. Die Millionärssteuer ist zur Notwendigkeit geworden 23

3. In Würde alt werden 374. Hanswurste an der Spitze des Bankensektors 51

teil 2. europa im morast

1. Niedriglohnland Deutschland 712. In Griechenland prallen zwei Welten aufei-

nander 983. Die »Men in Black« richten sich in Riga,

Dublin und Lissabon ein 1354. Das Europa des Wettbewerbs und der Ungleich-

heiten 1595. Der stille Staatsstreich von BusinessEurope 192

teil 3. ideologen eines vergangenen jahrhunderts

1. Die Kardinaltugenden Gier und Selbstsucht (nach Ayn Rand) 223

2. Die Scharlatanerie des Dr. Dalrymple 2313. Edmund Burke und die Freiheit des stän-

digen Ja-Sagens 252

teil 4. die krise und die rückkehr des nationalismus 263

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teil 5. nicht weniger, sondern mehr gesellschaftsdebatten

1. System Error – Die kapitalistische Wirtschaft gerät ins Stocken 301

2. Eine tiefe Gesellschaftskrise 3213. Sozialismus 2.0 – nach Maß von Mensch

und Natur 356

Quellen 397

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einleitung

Für meinen Vater,verstorben am 5. Mai 2010,ein Mann aus einem guss.

sommer- und Herbsttage sind während der entstehung die-ses Buches verstrichen. ich habe geflucht und gelacht undzugleich viel zu viele Menschen mit hinein in den launischenRhythmus des schreibens gezogen. Meine kinder, meinePartnerin, meine Mutter – sie alle haben endlose geduldbewiesen und mich mit großer Hingabe unterstützt. Dankearmin, karim, nadine und Mama.

Hugo Franssen hat das Buch zum erklingen gebracht. sowie früher ein Fotograf die Bilder ruhig und professionell inden Wässerungsschalen seiner Dunkelkammer entwickelte,hat Hugo sämtliche Texte in das Bad der sprache getaucht,wobei ihn ann, karim, kris und John gewissenhaft undkonstruktiv unterstützten – ebenso wie Verleger Jos Hennes,der das Buch von Beginn an schulterte und vertrauensvollfür stets angenehme Bewegungsfreiheit sorgte.

Marco Van Hees half mir durch den Dschungel der Fi-nanzen, Danny Carleer führte mich durch die katakombender Banken, Jo Cottenier begleitete mich von der Welt derRenten bis hin zu den Regelsetzungen der europäischenkommission, Fotoula ioannidis vermittelte mir einblickein das aufsässige griechenland, Ruben Ramboer brachtemich bis ins Hinterzimmer von Dalrymples kabinett, Her-wig Lerouge führte mich souverän von Burke bis zum so-zialismus, Henri Houben durchknetete mich mit wirtschaft-lichem Wissen und David Pestieau sorgte dafür, dass ichwährend dieser ganzen wunderlichen Reise nicht die Ori-entierung verlor.

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ich habe dieses Buch nur schreiben können, weil andereMenschen mir die Chance dazu einräumten: Parteigenossen,die in diesen turbulenten Zeiten in aller stille bestimmteaufgaben übernahmen. neben vielen anderen denke ichdabei an Lydie neufcourt und Jo Cottenier, aber auch anDavid, Raoul, Jef und Boudewijn – und nicht zuletzt na-türlich an alle Mitglieder, die mir nahe sind, die mit mirsprechen und die nicht nur unsere Partei, sondern auchmich selbst zu dem formen, was wir sind und was wir dar-stellen.

Zu guter Letzt will ich es nicht versäumen, die kleineLotus schrijvers ganz fest in die arme zu schließen. sechsJahre ist sie alt, die lebhafte Tochter meiner besten Freundeaus dem kempener Land. als sie erfuhr, dass ich ein Buchzu schreiben begonnen hatte, machte sie mir ein fantastischesgeschenk: mehrere zu einem wahren kunstwerk zusam-mengeheftete Din-a4-seiten mit eigenhändig von ihr ge-zeichneten sternen und Tieren – ein persönliches Buch da -rüber, dass es erlaubt ist zu träumen. Lächelnd überreichtesie es mir an einem warmen Tag im Juli mit den bedeu-tungsschweren Worten: »also, dieses Buch hier, das ist fürdich! Damit du weißt, wie man so was macht.« in den fol-genden mit schreibarbeiten angefüllten vier Monatenschöpfte ich kraft aus jenem breiten Lächeln des kleinenMädchens Lotus, ganz besonders zu der Zeit, als der Herbstden sommer zu überflügeln begann.

Ja, »’ne zanger is een groep« sang Wannes Van de Velde,»ein sänger ist eine gruppe«. inzwischen weiß ich, dassauch hinter einem Buch eine ganze gruppe von Menschensteht.

Borgerhout,11. november 2011

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Einleitung

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teil 2europa im morast

1. Niedriglohnland Deutschland

Ohne Würde ist man kein Mensch. ich sehe zu viele Lands-leute, die ihre Würde verloren haben. sie leisten schwerearbeit oder sehr nützliche arbeit, doch sie finden dafürkeine anerkennung. Man gibt ihnen das gefühl, nicht mehrdazuzugehören. Dies gilt nicht nur für arbeiter, die schmut-zige arbeit in Fabriken verrichten, sondern auch für erzieherin kindergärten. noch nie hatten so viele Deutsche psychi-sche Probleme. es werden schon stimmen laut, sie wegzu-stecken in spezielle kliniken. ein Vater, der bloß sechs europro stunde verdient, kann nicht einmal mit sohn oderTochter in die Ferien fahren. Welches Bild bekommt einsolches kind von seinen eltern?

günter Wallraff

Dienstag, 31. Mai 2011. es regnet in Houthalen-Helchteren.Draußen sind es 14 grad, viel zu kalt für die Jahreszeit. imRestaurant De Barrier auf der grote Baan schieben beieinem geschäftsessen für rund 100 euro 160 Unternehmerdie Beine unter den Tisch. ein gemeinsames Mittagessenmit Flanderns neuem gott: Bart De Wever. »Mit einer flä-mischen Front sollte es möglich sein, Reformen nach deut-schem Modell durchzudrücken«, sagt De Wever. Die Un-ternehmer im Restaurant nicken zustimmend. Und derRedner ruft kampflustig in die Runde: »Die sozialen Refor-men in Deutschland waren hart, doch sie werfen Früchteab. Das muss auch hier bei uns passieren: einsparungenund strukturelle Reformen! Die Französischsprachigen wol-

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len das nicht – aus angst vor einem sozialen Blutbad. alsomüssen wir eine flämische Front bilden! Zusammen mitden Parteien, die sich uns mit eifer und Begeisterung an-schließen wollen!«1

Bart De Wever als Herold für das deutsche Wirtschafts-wunder. ausfahrt krise? auffahrt Deutschland! Der neueHype für alle freien Märkte. »Das Vorbild liegt im Osten,im nahen Osten, genauer gesagt: in Deutschland«, posauntdie schlagzeile des standaard. Und darunter steht: »es istein bisschen wie Fußball: ein einfaches spiel, elf gegen elf …und am ende gewinnen die Deutschen. kann Belgien darausetwas lernen?«2

Testgelände für Lohn- und Sozialdumping: die Ossis

am 14. september 2010 strahlte das Zweite Deutsche Fern-sehen (ZDF) eine Reportage über wirtschaftliche aspekteder Wiedervereinigung Deutschlands aus: Beutezug Ost. DieTreuhand und die Abwicklung der DDR. gespannt auf derVorderkante meines sessels kauernd, verfolgte ich die Do-kumentation, die ein wesentlich differenzierteres Bild derWirtschaft der vormaligen DDR präsentierte als bloß graue,verfallene Fabriken. natürlich wurden auch alte industrie-betriebe gezeigt, wie wir sie von Bildern her kannten, dochda war auch eine moderne industrie, von der wir überhauptnichts wussten. Und da waren die ostdeutschen staatsban-ken, die im Zuge der annexion von 1990 weit unter Wertvon westdeutschen Privatbanken aufgekauft wurden. FünfJahre später stellte der Bundesrechnungshof der vereintenRepublik fest, dass jene Bankenprivatisierung den wirt-schaftlichen aufbauprozess in den neuen Bundesländern»wesentlich beeinträchtigte«.

Die ZDF-Reportage enthüllte die Bilanz der konkursver-waltungsgesellschaft, die den namen »Treuhand« trug: demWortsinn zufolge jemand, der ein eigentum getreu dem

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nutzen eines eigentümers verwaltet. es wurde jedoch nicht»verwaltet«, sondern es wurde »marodiert«. es war ein Beu-tezug. »Die DDR war überhaupt nicht wirtschaftlich bank-rott. erst mit der einführung der D-Mark zu einem voll-kommen irrealen Wechselkurs gingen wir bankrott«, sagtedgard Most, ehemaliger Top-Bankier bei der ostdeutschenstaatsbank, der dann zur Deutschen Bank wechselte. als dieTreuhand ihre aktivitäten 1994 beendete, waren Tausendeöffentliche Unternehmen in private Hände verkauft – undzwar nahezu alle weit unter Wert. als die Maßnahmen 1990aufgenommen wurden, arbeiteten vier Millionen Menschenin 12.000 Betrieben unter Treuhand-kontrolle. nach nurvier Jahren arbeit »unseres« andré Leysen, führendes Mitgliedim Präsidium des Verwaltungsrats der Treuhandanstalt, warenvon jenen vier Millionen Menschen nur noch anderthalbMillionen in arbeit.

in diesen Zeiten eines politisch korrekten rechten Den-kens darf ich so etwas eigentlich gar nicht schreiben. Übermafiöse Praktiken bei der annexion der DDR zu sprechen,das gehört sich einfach nicht. Doch die WiedervereinigungDeutschlands und die einführung einer neuen deutschenWirtschafts- und Währungsunion zum 1. Juli 1990 kenn-zeichnen nun einmal den Beginn eines Hauens und stechensnach unten. im Osten gingen dabei ungefähr 6 Millionenarbeitsplätze verloren. Bankier edgard Most kommentiertdazu: »schauen sie doch auf görlitz. Oder auf Bautzen.Wunderschöne städtchen und prachtvoll restauriert. aberes sind potemkinsche Dörfer, leere Hülsen. Millionen Men-schen sind in den vergangenen Jahren weggezogen. in die-sem ausmaß hat man das nirgendwo sonst in der indus -trialisierten Welt erlebt. Und das kann sich auch kein Landleis ten.«3

Ostdeutschland wurde zum Testgelände für Lohndum-ping, die Verringerung sozialer errungenschaften, die Um-schiffung tarifvertraglicher Regelungen und die erprobung

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neuer sozialverhältnisse. im Osten war alles erlaubt undwas nicht funktionierte, wurde einfach den strukturen derVergangenheit angelastet. Die Offensive wurde von einerschrillen Mediensymphonie über faule und verwöhnte Ossisbegleitet, die es nicht gewohnt seien zu arbeiten. DieselbenDisharmonien klingen nun zwanzig Jahre später wiederdurchs Land, diesmal mit Texten gegen die faulen und kor-rupten griechen.

Das Testgelände im Osten stach Unternehmern in ganzDeutschland ins auge.

1993 befand Volkswagen, dass man 30.000 arbeiter zuviel beschäftigte. Da es eine sehr teure angelegenheit ist,derart viele Menschen auf die straße zu setzen, dokterte derPersonaldirektor Peter Hartz eine Lösung zusammen: ar-beitszeitreduzierung mit Lohnverlust. Volkswagens auto-bauer mussten auf fast ein Fünftel des gehalts verzichten,genau gesagt auf 17,9 Prozent. Volkswagens großer Boss,der steinreiche Herr Ferdinand Piëch, verzichtete hingegenauf nichts. als enkel von Ferdinand Porsche, des gründersvon Volkswagen, erbte Piëch die Firma. an der aktion seinesPersonalchefs von 1993 verdiente er das sümmchen von ei-ner Milliarde euro. Und doch verloren letztendlich 32.000VW-arbeiter den arbeitsplatz.

Damit begann eine umfassende attacke der deutschenarbeitgeber auf die arbeitsverhältnisse. ab 1996 lautete ihrezentrale Parole »einfrieren der Löhne«. Wenig später wurdedie attacke auch auf politischer seite geritten. ihres kanzlersHelmut kohl gehörig überdrüssig, wählten die deutschenWähler im Jahre 1998 die sozialdemokraten an die Macht.gerhard schröders rot-grüne koalition wünschte einen ar-beitsmarkt mit weniger Regulierungen und weniger Vor-schriften. also Deregulierungen. so sollte es beispielsweiseeinfacher – sprich: billiger – werden, Menschen auf diestraße zu setzen. außerdem befand die neue koalition, dassdie Lohnkosten herabgesetzt werden müssten. Überall wurde

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über zu hohe arbeitskosten gesprochen: es müsse etwas mitden Beiträgen geschehen, die die arbeitgeber als Teil derLöhne an die kassen für soziale sicherheiten abzuführenhaben. Derartige Beiträge seien zu senken. Doch in diesemPunkt blieben die gewerkschaften standhaft, und die Ver-handlungen scheiterten.

Doch damit war der kuchen längst nicht gegessen. Rot-grün war fest entschlossen, den deutschen arbeitsmarktgründlich zu reformieren.

Der »Genosse der Bosse« und sein Dritter Weg

kurz vor der Jahrhundertwende, bevor sich ein vorangegan-genes Millenium im mythischen Jahr 2000 auflöst, sprudeltein wahrhaft trunkenes empfinden von new age durchsLand: ein neuer Frühling, eine neue Zeit! Modernität! auchdie sozialdemokraten tauchen in den Zeitgeist ein. Für siefolgt nun: die neue Mitte. Der Dritte Weg. Die Mitte zwi-schen was? Zwischen Liberalismus und sozialismus, so sehensie es. gerhard schröder gibt sich enthusiastisch und hältseine Begeisterung für diesen neuen kurs gemeinsam mit demanderen Modernisten der sozialdemokratie, Tony Blair vonder anderen seite des Ärmelkanals, auf Papier fest. ihr Manifestträgt den deutschen Titel: Der Weg nach vorne für Europas So-zialdemokraten und erscheint im Juni des Jahres 1999.

im ersten satz des Manifests geht es nicht um ein ge-spenst, das in europa umgeht, sondern er lautet: »in fastallen Ländern der europäischen Union regieren sozialde-mokraten.« Und weiter heißt es im Text: »Die sozialdemo-kratie hat neue Zustimmung gefunden – aber nur, weil sieglaubwürdig begonnen hat, auf der Basis ihrer alten Werteihre Zukunftsentwürfe zu erneuern und ihre konzepte zumodernisieren.«

Die sozialdemokratie will sich modernisieren und glaub-würdig sein! Modern für wen? glaubwürdig für wen? ak-

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zeptiert von wem? Das sind Fragen, die sich nicht mehrstellen.

Vor der aktion »glaubwürdige Modernisierung« richtetgerhard schröder einen appell an seine Freunde. nicht andiejenigen aus der gewerkschaft. auch nicht an diejenigenaus akademischen kreisen. Und auch nicht an diejenigenaus der progressiven oder demokratischen Welt. nein, andiejenigen aus der Welt der Unternehmer. er spricht seinenpersönlichen Freund Peter Hartz an, den wir bereits als fa-mosen Personaldirektor bei Volkswagen kennen. Manchekennen ihn besser als Organisator von amüsementreisenbei Volkswagen, Callgirls inbegriffen. am Vorabend derneuwahlen des Jahres 2002 bittet schröder seinen FreundHartz, eine kommission zur Reform des arbeitsmarkts aufdie Beine zu stellen. Und Hartz macht sich an die arbeitund entwirft mit seiner kommission die folgenden schlacht-pläne: erleichterte entlassungen, senkung der sozialversi-cherungsbeiträge im niedriglohnsektor, zeitliche kürzungendes Bezugs von arbeitslosengeld, Verpflichtung von arbeits-losen zur annahme jedes Jobs in ganz Deutschland, Förde-rung von Zeitarbeit …

Diese ganze Modernisierung platzierte eine Bombe unterdas konzept »arbeit haben«. es verschob sich vom »ar-beitsplatz« zum »Job«. keine festen Verträge mehr. keinefesten arbeitszeiten mehr. keine ausreichenden Löhne mehr,um einigermaßen zurechtzukommen. schon bald trägtschröder den spitznamen: »genosse der Bosse«. Damitbringt der Volksmund klar zum ausdruck, für wen diesemoderne sozialdemokratie glaubwürdig und akzeptabel he -rüberkommt.

»Die Menschen werden vorsätzlich falsch informiert«

Was Hartz und schröder aushecken, geschieht keinesfallsim Verborgenen, sondern wird ganz im gegenteil zum aus-

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hängeschild gemacht – auch von der zweiten rot-grünenkoalition, die Mitte Oktober 2002 nach zweiwöchigen Ver-handlungen in den sattel steigt. »Rot-grün hat immer klarund deutlich gesagt, dass es ihr Ziel ist, den niedriglohn-sektor auszuweiten«, erinnert gewerkschaftsführer DetlefHensche.4 Die rot-grüne Politik führt geradewegs hin zumabsoluten Lohnwettbewerb, inklusive Lohndumping. Diedeutschen grünen äußern diesbezüglich keine Bedenken,sondern sind bereit, die drakonischen einschnitte im Tauschgegen Zusagen für die ökologische Modernisierung des Lan-des sowie drei Ministerposten mitzutragen. es ist die ge-burtsstunde des rot-grünen Marktdenkens. Die deutschensozialdemokraten und grünen werden die Hartz-gesetzebis zum bitteren ende leidenschaftlich verteidigen.

Die Regierung des kanzlers schröder nimmt nahezu alleVorschläge der Hartz-kommission in das Dokument mitdem Titel Agenda 2010 auf. Die agenda wurde am 14. März2003 in Umlauf gebracht. »in Zukunft wird es niemandemmehr gestattet sein, ohne gegenleistung vom geldbeutelder allgemeinheit zu zehren«, sagt schröder im DeutschenBundestag. Zwischen diesem auftritt und dem 1. Januar2005 verabschiedet Rot-grün vier Reformpakete: Hartz ibis Hartz iv. Das konzept der Zeitarbeit wird verwässert,sodass der grundsatz von gleichem Lohn für gleiche arbeitentfällt. es gibt nun Minijobs, für die weniger als 400 europro Monat gezahlt werden, und nach einem Jahr der ar-beitslosigkeit wird man hinab auf das niveau der sozialhilfegestuft.

aufgrund derart fragwürdiger Löhne können deutscheFirmen ihre Produkte zu niedrigen Preisen im ausland ver-kaufen und dadurch zugleich höhere Marktanteile als diekonkurrenz erwerben.

Die entrüstung über diesen gang der Dinge steigt, dochauch die angst nimmt zu. Wer arbeitet, mag sich gern glück-lich schätzen, dass er überhaupt noch einen Job hat, und

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hält den Mund. Draußen kratzen viel zu viele Leute an derTür, die auch für weniger geld und mit schlechterem Vertragohne zu zögern nachrücken würden. im august 2004 äußertsich dazu der grüne Minister Joschka Fischer im Tagesspiegel:»ich nehme diese angst der Menschen äußerst ernst, aberwir können ihre sorgen entkräften. Hartz iv wird zu keinermassenweisen Verarmung führen. nein, ganz im gegenteil.Hartz iv wird unter Beibehaltung einer sozialen Basisversi-cherung künftig mehr Chancen für den Zugang zum ar-beitsmarkt erschließen.« Fischer zufolge sind die Menschenbesorgt, weil sie »zielgerichtet falsch informiert und so zumZweifeln gebracht werden.« Und zwar durch Leute, die »ein-fach nur Billigpolitik oder andere Profitmöglichkeiten voraugen haben.«5 Damit zielt der Minister auf gewerkschafts-kreise und auf die linke PDs ab. Michael sommer, Chef desDeutschen gewerkschaftsbundes DgB, spricht beispielsweisevon »sozialer Deklassifizierung von Menschen« durch Hartziv. »Für Hunderttausende ein Verarmungsprogramm!«

Hartz IV

Offiziell heißt Hartz iv: »Das vierte gesetz über moderneDienstleistungen am arbeitsmarkt«. Wenn es modern wäre,dann könnte man das so stehen lassen, aber es handelt sichschlichtweg um unverschämte Maßregelungen. nach einemJahr ohne arbeit erlischt das Recht auf arbeitslosengeld (fürMenschen über 55 Jahre sind anderthalb Jahre angesetzt).Danach fällt man zurück auf eine Beihilfe mit dem namenarbeitslosengeld ii. Deutsche abkürzung: aLg ii.

Die Höhe des Regelbedarfs beträgt heute 382 euro proMonat für eine alleinstehende erwachsene Person oder einenFamilienvorstand mit einer Zulage für kinder zwischen –je nach Lebensalter – 224 und 289 euro. Wer kein eigenesHaus hat, erhält zusätzlich einen festen Betrag für Mieteund Heizkosten. Zumindest wenn er älter als 25 ist, denn

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bis 25 ist man verpflichtet, bei den eltern zu wohnen. eineigenes apartment für einen jungen arbeitssuchenden giltoffensichtlich als übertriebener Luxus. Die oben genannten382 euro müssen ausreichen, um alle kosten für Lebens-mittel, kleidung, gesundheit, Transport, Möbel, kommu-nikation und – so gott will – entspannung abzudecken.

Doch bevor man aLg ii beantragen kann, muss manzunächst alle seine ersparnisse durchbringen. Mit erspar-nissen keine Unterstützung. Man darf keinen Partner miteinkommen haben, und auch kein anderes Familienmitglieddarf etwas verdienen. so etwas wird alles verrechnet. ausdiesem grund geraten heutzutage wieder viele Frauen invollumfängliche wirtschaftliche abhängigkeit von ihremPartner. Rot-grüne Modernität eben! alle Menschen mitwenig spargeld oder einem gewissen Familienanschluss fallennun unter die kategorie der »nichthilfsbedürftigen« undverschwinden somit aus der arbeitslosenstatistik.

Unterdessen schnüffelt die Bundesagentur für arbeit inaufdringlichster Weise in der Privatsphäre von Leistungs-empfängern herum. inklusive Überwachung von Bankkon-ten und überraschenden Hausbesuchen: Leben sie tatsäch-lich mit keinem Partner zusammen? Hat dieser Partner dennkeine arbeit? Dieser Flatscreen da, der übersteigt nicht etwaihre Verhältnisse? Warum wird das da nicht verkauft? Wozudenn diese Pillen und diese Medizin da? Und so weiter undso fort. Wenn ein kontrolleur unterstellt, dass aufgrundeines zweiten Tellers auf dem Tisch oder eines slips oderLeibchens neben dem Bett ganz sicher eine zweite Personim Haushalt wohnhaft sei, so hat man selbst zu beweisen,dass dies nicht stimmt. Umgekehrte Beweislast also. eineÜbertretung der auflagen gilt als straftat und kann zurFolge haben, dass alle Leistungen, einschließlich Zahlungvon Miete und Heizung, eingestellt werden. eine halbe Mil-lion deutsche arbeitslose haben auf diese Weise bereits ihreUnterstützung eingebüßt.

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so auch angela. sie erhielt ende 2010 das angebot, füreinen euro pro stunde in einer schulkantine zu arbeiten.schwere arbeit für angela, denn sie war im vierten Monatschwanger und traute sich die Belastung aufgrund ihrer kör-perlichen Verfassung nicht zu. so wurden ihr die Unter-stützung für drei Monate und auch die zusätzlichen Leis -tungen für schwangerschaftshilfe gestrichen.

ein euro pro stunde? Das klingt nach einer geschichteaus Haiti. aber es ist Deutschland: Hier sind arbeitsloseverpflichtet, jede Beschäftigungschance eines 1-euro-Jobsanzunehmen. sie müssen bei Wind und Wetter Heckenschneiden, straßen kehren, Besorgungsgänge für Pflegeheimeerledigen oder öffentliche gebäude reinigen und erhaltendafür zusätzlich zu ihren 382 euro aLg ii maximal 1,50euro pro stunde. Offiziell handelt es sich nur um »ergän-zende und für die gesellschaft nützliche« arbeiten. aberauch Privatfirmen machen davon gebrauch, und so ver-schwinden feste arbeitsplätze.

Wer für überflüssig befunden wird, bekommt das statutdes existenzminimums aufgestülpt: nämlich das, was dieHerren gerhard schröder und Joschka Fischer mit den ele-ganten Worten »mehr Chancen für den Zugang zum ar-beitsmarkt« umkleiden. Die aktivierungspolitik. abgesehenvom Bezug eines Hungerlohns besteht noch die Verpflich-tung, an jedem Tag der Woche (außer sonntags) von 8.00bis 20.00 Uhr arbeitsbereit zur Verfügung zu stehen. Wäh-rend dieser Bereitschaftszeiten darf man den Bezirk des zu-ständigen arbeitsamtes nicht verlassen, und man muss bereitsein, jeden arbeitseinsatz wo auch immer zu akzeptieren.Um den arbeitswillen unter Beweis zu stellen, muss mansogar Hunderte kilometer entfernt Bewerbungen einreichen,ungeachtet der eigenen ausbildung und selbst im Falle, dassein zur Disposition stehender Job nicht genügend Lohn fürden Lebensunterhalt einbringt. schließlich kann ja alles mitdem arbeitslosengeld ii verrechnet werden. insgesamt han-

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delt es sich um ein raffiniert ausgeklügeltes system modernerZwangsarbeit.

2010 wurden nach angaben der Bundesregierung828.300 sanktionen gegen Hartz-iv-empfänger verhängt.Dem arbeitslosenforum Deutschland zufolge waren 70 Pro-zent der strafmaßnahmen vollkommen ungerechtfertigt.»Die strafen der Jobcenter sind total überzogen. schonwenn jemand einen Termin versäumt oder zu spät kommt,verliert er zehn Prozent seiner Unterstützung. Bei anderenPflichtverletzungen werden sogar dreißig Prozent gestrichenund bei wiederholten Vorkommnissen werden die abzügenoch größer: Zunächst sind es dreißig, dann sechzig undschließlich einhundert Prozent; es geht also bis hin zur voll-ständigen Verweigerung des existenzminimums«, sagt Mar-tin künkler von der koordinierungsstelle gewerkschaftlicherarbeitslosengruppen.6

Den Richtern verschafft Hartz iv eine Menge arbeit. imVergleich zu 2005, als Hartz iv in kraft trat, haben sich dieeingereichten klagen bereits vervierfacht. Das sozialgerichtBerlin hatte allein 2010 rund 32.000 Fälle zu verhandeln.im Jahre 2004 versahen dort sechzig Richter ihren Dienst,inzwischen sind es einhundertsechsundzwanzig, von denensich siebzig ausschließlich mit Problemstellungen im Zu-sammenhang mit Hartz iv beschäftigen. siebzig Richter,die in Vollzeitarbeit durch arbeitslosenjagd entstandene Pro-bleme untersuchen – und das allein in Berlin!7

Hartz iv hat dafür gesorgt, dass in den augen der öffent-lichkeit gar nicht mehr die arbeitslosigkeit das eigentlicheProblem ist, sondern … der arbeitslose – der ist der schul-dige; der allein ist verantwortlich! Die rot-grünen Hartz-gesetze haben zur stigmatisierung der arbeitslosen geführt!»Hartz« ist zum gebräuchlichen Begriff der deutschen Um-gangssprache geworden. ein »Hartzer« ist ein »verachtens-werter nichtsnutz« und das Verb »hartzen« wurde 2009sogar zum Jugendwort des Jahres gewählt. es steht für:

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nichts tun, rumhängen, faulenzen und dafür auch nochgeld beziehen.

Doch für diejenigen, die als arbeitslose betroffen sind,steht Hartz iv für angst und scham: es ist eine Brandmar-kung! Bernd Mombauer vom kölner arbeitslosenzentrume. V., das von kirchlichen und sozialen Organisationen un-terstützt wird, sagt dazu: »Für viele ist Hartz iv eine kata-strophe. Wer auf diese stufe sozialer Hilfe zurückfällt, kanndas psychisch oft nur schwer verkraften und bleibt leichtdarin stecken. nur wenige finden wieder hinaus.«8

all das stimmt äußerst nachdenklich – solche Zuständein einem Land, das Leute wie Bart De Wever lieber heuteals morgen als Vorbild für unser eigenes Land adoptierenmöchten: »Wen ich sehr bewundere und wer nicht immerden Respekt erhielt, den er verdient, das ist gerhard schrö-der. er verdient große anerkennung. er ist ein sozialist,der den Mut aufbrachte, die in Deutschland notwendigenReformen durchzusetzen. Dass Deutschland heute so starkdasteht, verdankt es den Maßnahmen schröders. er hat dasLand gründlich gesunden lassen. Der deutsche Wähler hates ihm nicht gedankt … aber er war ein mutiger Mann. ichhalte daran fest, ihm meine Hochachtung zu bezeugen.«9Mit solchen Worten lässt De Wever auf peinlich deutlicheWeise erkennen, wie beklemmend politisches einheitsden-ken doch sein kann.

»Wie in gottes namen könnte ein Land, das seine armutum mehr als ein Viertel anwachsen sah, als Modell füreuropa dienen?«, fragt Luc Cortebeeck, Vorsitzender desallgemeinen Christlichen gewerkschaftsbundes (aCV). »in-folge der Zunahme von Minijob-Verträgen und dem Fehlenvon Mindestlöhnen stieg nach europäischen normen dieZahl der Deutschen, die aufgrund zu geringen einkommensvon armut bedroht sind, in weniger als vier Jahren um 26,4Prozent: Betroffen sind 2,63 Millionen Menschen! ein groß-teil dieser armen hat arbeit. Unter der arbeitslosen Bevöl-

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kerung sieht die Lage noch bedeutend dramatischer aus:Vier von fünf arbeitslosen Deutschen stehen an der schwellezur armut. Um kein anderes europäisches Land ist es daschlechter bestellt!« Und Luc Cortebeecks schlussfolgerungklingt so: »Das einzige, was Deutschland mit seinen Maß-nahmen langfristig ins restliche europa exportiert, sindLohndumping und armut.«10

Auf der anderen Seite des Berges leben Menschen wie Doris K.

europas höchste stadt liegt in der schweiz: Davos. skiresortund nach eigenem Bekunden ein echtes »Ferienparadies fürden aktiven Urlaub in herrlicher Berglandschaft«. Hier soll»the sky« nun einmal gerade so »the limit« sein! Wo sonstals in dieser am höchsten gelegenen stadt des alten konti-nents könnten führende Unternehmer und ihre Freundeaus der Politik einander einmal jährlich treffen?

Bei der jährlichen Zusammenkunft des World economicForum ist Deutschlands Bundeskanzler gerhard schröderende Januar 2005 bester Laune. Bankiers, Wirtschaftsgrö-ßen, Unternehmer und Politiker – sie alle haben sich imgroßen saal versammelt, um seiner Rede zu lauschen. Diesist sein augenblick! »Wir müssen und wir haben unserenarbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten nied-riglohnsektoren aufgebaut, den es in europa gibt. es hat er-hebliche auseinandersetzungen mit starken interessengrup-pen in unserer gesellschaft gegeben. aber wir haben dieseauseinandersetzungen durchgestanden. Und wir sind sicher,dass das veränderte system am arbeitsmarkt erfolgreich seinwird. Meine Damen und Herren, dieses Programm, das wirtrotz erheblichen gesellschaftlichen Widerstands durchgesetzthaben, beginnt zu wirken. Wir haben in Deutschland nunschon seit Jahren keine steigenden Lohnstückkosten zu ver-zeichnen. Wir können auf dem Feld des internationalen

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Wettbewerbs exportergebnisse vorweisen, die kein Zeichenvon schwäche, sondern ein Zeichen von stärke sind. Dennwir haben in einer Zeit der stagnation keine Marktanteileverloren, sondern ganz im gegenteil Marktanteile gewon-nen.«

Das ist der Davos-Moment der sozialdemokraten. aufYouTube kann man sich die Rede noch anschauen. einenniedriglohnsektor ausbauen, damit die Produkte billigerwerden und auf diese Weise die Märkte ausländischer kon-kurrenten erobern. Das ist der kern des Deutschen Wirt-schaftswunders.

aber ein Berg ist so hoch, wie das Tal tief ist. Und aufder anderen seite des Berges leben Menschen wie Doris k.Menschen, die von ihrer arbeit nicht mehr leben können.Doris ist fünfzig. sie arbeitet schon ihr ganzes Leben immobilen Pflegedienst für Hausbesuche. Wie viele ihrer kol-leginnen und kollegen betrachtet die Berlinerin ihr Wirkennicht als Job, sondern als engagement. Doris ist Optimistin.eine Frau, die nicht nörgelt und nicht klagt, sondern denstier bei den Hörnern packt. Mit ihrem Lohn ist sie nichtzufrieden. »Okay, inzwischen gibt es in diesem Bereich einenMindestlohn von 8,50 euro. ich habe aber nur einen Vertragüber dreißig stunden und verdiene deshalb keine tausendeuro brutto. ich muss mich also entscheiden: entwedermehr arbeiten oder beim sozialamt anklopfen«.

Doris hat sich dafür entschieden, mehr stunden zu ar-beiten. in manchen Wochen arbeitet sie sogar bis zu 57stunden. »Der Chef verrechnet meine Überstunden teilsmit Urlaub und teils mit krankheitstagen, obwohl das un-zulässig ist. Deshalb habe ich Beschwerde eingereicht. Dasklima in unserem Betrieb lässt zu wünschen übrig. Wer eswagt, den Mund aufzumachen, kriegt gleich eins auf denDeckel. Unser Boss führt sich wie ein Despot auf. er be-stimmt, wer den Mindestlohn bekommt und wer nicht,und macht auch schwierigkeiten bei der abrechnung von

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Fahrtzeiten und Benzin.« Die Personalfluktuation ist dem-entsprechend sehr hoch. »Manche Patienten haben in denvergangenen beiden Jahren dreißig bis vierzig verschiedenePflegekräfte erlebt. so sind Vertrauensverhältnisse oderwürdevoller Umgang mit den Patienten nur schwer zu rea-lisieren.«

Bei sinkendem Wasserstand zerbricht das eis; durch dieHartz-Reformen verschaffte sich die armut Raum. Die Or-ganisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ent-wicklung (OeCD) stellt nüchtern und sachlich fest: »seitdem Jahre 2000 sind einkommensdisparität und armut inDeutschland schneller angestiegen als in den anderenOeCD-Ländern. Beide indikatoren haben sich im Zeitraumvon fünf Jahren, zwischen 2000 und 2005, schneller erhöhtals in den fünfzehn Jahren zuvor.«11

Das ist die schlimme Bilanz von sieben Jahren rot-grünerPolitik. Deutschland baute seine exportposition auf kostender eigenen arbeitenden Bevölkerung aus. Der ökonomHans-Werner sinn, jahrelang Berater der sozialdemokratenim Ministerium für arbeit und soziales, fasst die Bilanzvon Rot-grün wie folgt zusammen: »Der ausbau des nied-riglohnsektors ist kein Beweis für das scheitern unsererAgenda 2010, sondern für ihren erfolg.«12 Hungerlöhne,unser größter erfolg!

Fünfzig Cent für ein Zimmer, fünfundsiebzig Cent für das Bad

gut acht Monate nach schröders Davos-Moment kommtes nach neuwahlen zur großen koalition zwischen sozial-demokraten und Christdemokraten. am 22. november 2005wird angela Merkel als erste Frau ins amt des Bundeskanz-lers gewählt. Die sPD behält das Ministerium für arbeitund soziales, die schlüsselbehörde für die Reform des ar-beitsmarktes.

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Die große koalition behält den eingeschlagenen Wegbei. export über alles. Der export muss für das Wirtschafts-wachstum sorgen. Dies bedeutet, dass die angriffe auf Löhneund arbeitsbedingungen unvermindert fortgesetzt werden.Der konsum privater Haushalte gerät indes in den freienFall: von 59 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahre2006 auf 56 Prozent im Jahre 2008. es ist das Jahr, in demnorbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, seelen-ruhig verkünden wird, dass sich viele Deutsche auf eine Zu-kunft einrichten müssen, in der die gehälter zum Lebennicht mehr ausreichen werden.13

Ulrike B. (name geändert) weiß, was eine solche aussagebedeutet. als Zimmermädchen arbeitet sie für drei europro stunde. ihr Vertrag setzt fest, dass sie nach der anzahlgereinigter Zimmer bezahlt wird: fünfzig Cent für einZimmer, das der gast noch weiterhin bewohnt, fünfund-siebzig Cent für das Bad. »ich arbeite oft vierzig bis fünfzigstunden pro Woche, habe am ende des Monats aber kaum600 euro Lohn«, berichtete das Mädchen im sommer2010 der Financial Times Deutschland.

»Deutschland entwickelt sich von einer klassengesellschaftzur kastengesellschaft«, sagt der schriftsteller günter Wall-raff. Das ist wahrhaftig so. 2010 kamen in Deutschlandmehr als fünfzigtausend euromillionäre hinzu. Fünfzigtau-send! 7,2 Prozent mehr als im Jahr zuvor! Derweil müssenUlrike, Doris und viele andere jeden Cent umdrehen, umüber die Runden zu kommen. Ja, die armut der einen istder Reichtum der anderen. es gibt inzwischen 862.000deutsche Millionäre. Oder anders ausgedrückt: nahezu jederdritte europäische Millionär (von denen es drei Millionengibt) wohnt in Deutschland.14 aldi-Chef karl albrecht zumBeispiel. er sah sein Privatvermögen auf 17,7 Milliardeneuro ansteigen. Oder susanne klatten von BMW, die mitihren 10,1 Milliarden an persönlichem Vermögen nicht weißwohin.

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als Belgiens lila-grüne Regierung zwischen 1999 und2003 die höchsten steuersätze abschaffte und die körper-schaftssteuer von 40 auf 33,9 Prozent senkte, war das einekopie dessen, was damals die rot-grüne Regierung im be-nachbarten Deutschland tat. auch dort schaffte Rot-gründie höchsten steuersätze ab und senkte die körperschafts-steuer von 45 auf 25 Prozent.

Die seit 1998 erfolgten steuersenkungen haben denstaat Deutschland bis heute um 400 Milliarden euro ärmergemacht. Wäre steuerlich alles so geblieben wie beim an-tritt von Rot-grün, so würde der Fiskus nun jährlich 51Milliarden euro mehr einnehmen. Dies errechnete dasDeutsche institut für Makroökonomie und konjunktur-forschung, iMk.15

Die neoliberale ese, dass mit einer sparsamen Haus-haltspolitik kombinierte steuersenkungen für Wachstumsorgen und dem staat Mehreinnahmen verschaffen, wurdedamit erneut entkräftet. nein, die neoliberalen Fantasienhaben mit der Realität nichts zu tun. steuergeschenke, dievor allem »gut gestellte« Familien begünstigten, vermochtendie Wirtschaft nicht zu stimulieren, so das nüchterne undstrenge Fazit der Wissenschaftler des iMk. Unter dem strichblieb für den staat ein Minus.

Die schlussfolgerung des instituts lautet denn auch, dasssich (im inland wie im ausland) die Hoffnung, steuersen-kungen würden sich letztendlich selbst finanzieren, als trüge-risch erwiesen hat. Wäre alles beim alten geblieben, so hättedie bundesrepublikanische Regierung heute kein Haushalts-defizit zu schultern, sondern Überschüsse zu verzeichnen.

Dass im gleichen Zeitraum die großen Vermögen in au-ßergewöhnlichem Umfang gestiegen sind, kann als eindeu-tiger Beleg dafür herangezogen werden, dass die politischerwünschte Umverteilung von unten nach oben ausgezeich-net funktionierte, so das sarkastische schlussresümee desleitenden instituts.

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Exportweltmeister: ein dreifaches Hoch auf die Schulden der Nachbarn!

Um Deutschland in die Walhalla zu exportieren, warennoch straffere stimulantia als bloß niedrige Löhne nötig.Hans Tietmeyer kannte die Rezepturen. Tietmeyer war zumZeitpunkt der gründung der europäischen Zentralbank(eZB) im Jahre 1998 Präsident der übermächtigen deutschenZentralbank, der Bundesbank. er sorgte dafür, dass Frankfurtzum sitz der eZB wurde, und wachte darüber, dass der Ba-siszinssatz der eZB niedrig war. als dann jenseits des atlan-tischen Ozeans alan greenspan den amerikanischen Zinsauf fünf Prozent anhob, bewirkte Tietmeyer mithilfe seinesFreundes Wim Duisenberg, dass die Zinsen der eZB bei2,5 Prozent stehen blieben. Zwischen 1999 und 2001 wurdeeuropäisches geld somit wesentlich billiger – gute nach-richten für die deutsche industrie.

es war eine Dreifach-injektion: sinkende Währungswerte,ultraniedrige Zinstarife und obendrein auch noch die sinken-den Lohnstückkosten. schröder und Tietmeyer konnten sodie deutsche Wirtschaft aus ihrer Lethargie reißen. Diese ent-wickelte eine phänomenale exportmaschinerie. im Jahre 2008zog Deutschland an den viel größeren Vereinigten staatenvorbei und blieb ein Jahr lang exportweltmeister. Die deutscheHandelsbilanz verzeichnete kräftige und weiter wachsendeÜberschüsse: 154 Milliarden im Jahre 2010. Ja, der euro pro-duzierte herausragende Meldungen für Deutschland.16

in 2010 exportierte Deutschland Waren im Wert von960 Milliarden euro, vor allem Fahrzeuge, chemische Pro-dukte, elektrogeräte und Maschinen. Die Bundesrepublikpumpte stattliche Beträge öffentlicher geldmittel in die For-schungsabteilungen großer Unternehmen, die gewisse ni-schen besser besetzen konnten. Die angehörigen der neuenreichen klassen Chinas, Brasiliens und indiens kaufen liebereinen BMW oder Mercedes als einen Renault oder Fiat.

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Die chinesische industrie verwandelt sich in rasantemTempo zu einem Bereich, der lieber Produkte mit höhererWertschöpfung als beispielsweise billige T-shirts herstellt.Dazu aber sind Maschinen und steuerungssysteme von tech-nologisch hoch entwickeltem standard erforderlich. Undwer baut so etwas? Deutschland.

allerdings – und das wird leicht aus den augen verlo -ren – verbleiben fünfundsechzig Prozent der deutschenexporte in der europäischen Union selbst.17

am standort Deutschland regierte das Prinzip »Beggar thyneighbour«: Lebe auf kosten des nachbarn und bringe ihnan den Bettelstab, gleichgültig ob er ein ferner oder ein nahernachbar ist. Mittels aggressiver Lohnpolitik und niedrigerZinsen eroberten deutsche Unternehmen Marktanteile aufkosten anderer europäischer Länder und anderer europäischerindustrien sowie auf kosten vieler dortiger arbeitsplätze. im-portländer mussten sich verschulden, um ihre importe be-zahlen zu können. Hier der deutsche exportboom und dortdie wachsenden schuldenberge irlands, griechenlands, italiensund Portugals – zwei seiten ein und derselben Medaille.

Das tägliche Finanzblatt De Tijd zog dazu das Resümee:»Um es auf den Punkt zu bringen: Deutschland erzielte jenebeeindruckenden Wachstumsraten auf kosten des auslands,die Länder der eurozone eingeschlossen. Oder spitzer aus-gedrückt: Die griechen kauften sich grün und blau an deut-schen Produkten.«18 ein dreifaches Hoch auf die schuldender nachbarn!

Drogeriemarkt Schlecker, Pieter Timmermans und der Mindestlohn

anton schlecker ist ein knickeriger kerl. einst hatte er eineDrogeriekette mit rund 14.000 Filialen und 50.000 Mitar-beitern, die ihm einen Jahresumsatz von etwa 7 Milliardeneuro bescherten. Besonders höflich ist er allerdings nicht.

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Bei einer Betriebsratsversammlung bezeichnete er eine Per-sonalabgeordnete als »blöde kuh«. außerdem ließ Herrschlecker sein Personal mit versteckten kameras überwa-chen. er folgte einem sozialen kollisionskurs. 1998 wurdeer zu einer gefängnisstrafe von zehn Monaten auf Bewäh-rung und zu einer geldstrafe in Höhe von einer Millioneuro verurteilt, weil er seinen Verkäufern vorgelogen hatte,dass er ihnen tarifvertragliche Löhne zahle. in Wirklichkeitbezahlte er sie weit unter Tarif und versuchte das auch wei-terhin, denn lagen niedriglöhne etwa nicht im politischenTrend? 2009 heckte er einen neuen Plan aus: er würde Mit-arbeiter entlassen, um sie anschließend zu Löhnen auf Dum-pingniveau wieder einzustellen. ein genialer Plan, um neu-artig strukturierte geschäfte zu eröffnen, für die er bereitsden nicht ganz so unauffälligen namen »schlecker XL-Märkte« ersonnen hatte. extrem niedrige Löhne (Xs) in ex-trem großen geschäften (XL). Und so gründete Herr schle -cker höchstpersönlich eine Zeitarbeitsfirma: »Menschen inarbeit«, kurz: Meniar. Damit bewies er ein gutes auge,denn an die Tarifverträge der Branche war Meniar nicht ge-bunden und so konnte schlecker statt des Mindestlohnsvon 12,70 euro bloß 6,50 euro stundenlohn zahlen. DieHälfte! Clever ausgetüftelt!

Wäre da nicht schleckers Verkaufspersonal gewesen. DieMenschen in arbeit, sozusagen. Denn die wollten das sonicht hinnehmen, spuckten dem Herrn schlecker in diesuppe und versalzten ihm seine gewitzten Pläne. nach zwei-jährigem aktivismus krönte die tapfere Verkäuferschar ihrenWiderstand. schlecker musste einen Tarifvertrag akzeptieren,der einen Mindestlohn von 9,07 euro vorsah. nach einemlangen, von skandalen und negativen Berichten überschat-teten Weg meldete Herr schlecker schließlich im Jahre 2012insolvenz an.

Deutschland hat keinen branchenübergreifenden gesetz-lichen Mindestlohn, der für alle gilt. Manche Bereiche haben

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eigenständige Mindestlöhne aufgestellt. Dies bleibt nichtfolgenlos. Laut Bundesagentur für arbeit hat sich seit demJahre 2003 die anzahl derjenigen mit mehreren Jobs auf2,4 Millionen Menschen verdoppelt. größtenteils handeltes sich dabei um die ergänzung einer Hauptbeschäftigungmit einem Minijob. Diese Menschen müssen also nach ab-leistung ihrer vollen arbeitszeit noch eine zusätzliche nacht-arbeit oder Wochenendarbeit auf sich nehmen, weil die Re-allöhne so niedrig sind.19

Um die endlose spirale der Lohnkonkurrenz rückläufigzu gestalten, fordern die deutschen gewerkschaften einenallgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 10 euro ein.Dies würde 7,7 Millionen Menschen eine Lohnerhöhungeinbringen. »gleicher Lohn für gleiche arbeit« lautet diekernforderung der gewerkschaften. »equal Pay«. Vom erstenarbeitstag an. nach Berechnungen der Friedrich-ebert-stif-tung würde die schaffung eines solchen Mindestlohns 12,8Milliarden euro in die staatskasse schwemmen.20

seltsamerweise mischte sich im Juni 2011 urplötzlichgeneraldirektor Pieter Timmermans vom Verband belgischerUnternehmen (VBO) in diese Debatte ein. er packte seineschreibfeder, um den Beitrag »Deutschland, ein solides undgutes Vorbild« zu verfassen. schon die Überschrift machtklar, in welche Richtung der VBO Belgien marschierenlassen will. in seinen ausführungen lässt Timmermans ver-lauten, dass es nicht seinen Wünschen entspräche, wennDeutschland »einen branchenübergreifenden Mindestlohn,den manche Leute verfechten, einführe.« Dies sei absolutnicht erforderlich, schreibt der generaldirektor, weil »es die›working poor‹ mit einbeziehen würde, für die Deutschlandohnehin bessere als nur die durchschnittlichen Werte vor-zuweisen hat.«21

Hatte Timmermans den einen Monat zuvor veröffent-lichten aktuellen Bericht der Vereinten nationen überDeutschland denn nicht gelesen? Dort wird ausgeführt, dass

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eine Rekordzahl deutscher staatsbürger – nämlich 13 Prozentder Bevölkerung – unterhalb der armutsgrenze lebt. Da -runter 2,5 Millionen kinder und 1,4 Millionen Menschenmit arbeitsplatz. erwerbsarme, also.22 Timmermans lügtdas Blaue vom Himmel herab, doch das scheint ihn nichtzu kümmern. Die Warnung vor einem allgemeinen, bran-chenübergreifenden deutschen Mindestlohn richtet sich zu-vorderst … an Belgien, wo der Mindestlohn – ein gewähr-leistetes Monatseinkommen mittlerer Höhe – durch denTarifvertrag nr. 43 des nationalen arbeitsrats geregelt wird.Den arbeitgebern und dem Flämischen arbeitgeberverband(Voka)23 ist diese Regelung ein Dorn im auge. sie wollenden Mindestlohn abschaffen.

Konservative Gesinnungen

VBO-Funktionär Timmermans und Bart De Wever sindnicht die einzigen, die in Belgien den Weg für das deutscheVerarmungsmodell ebnen wollen. auch andere versuchenden Widerstand mit ihren ideologischen Macheten wegzu-mähen.

»an der Tagesordnung sind wieder jene konservativengesinnungen, wie sie so kennzeichnend für jede grundle-gende Debatte über Veränderungen in unserem Lande sind.Das deutsche Modell wird verleumdet. ›Hamburgerjobs‹,sozialabbau, erwerbsarmut … alles wird aus der kiste ge-kramt, um nur ja nicht dem deutschen Beispiel des vorma-ligen sozialdemokratischen Bundeskanzlers gerhard schrö-der folgen zu müssen.« so spricht alexander De Croo. Undder Vorsitzende der Open Vld (Flämische Liberale und De-mokraten) fährt fort: »Dass sich die deutsche arbeitslosigkeitin den vergangenen Jahren trotz der krise halbierte, vergisstman natürlich zu erwähnen.« Jetzt schwimmt alexander DeCroo genau auf einer Welle mit dem VBO und hat als ein-peitscher auch noch einen guten Rat für den potenziellen

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Regierungsbildner in petto: »Hoffentlich hat elio Di Rupoden Mut, ein zweiter gerhard schröder zu sein.«24

Was ist er doch empört, dieser De Croo: »Das deutscheModell, verleumdet!« Welcher niederträchtige schweine-hund, noch dazu mit konservativer gesinnung, hat es ge-wagt, das zu tun? etwa Bärbel Pross? Über ein »sauberesDeutschland« weiß sie fachkundig zu sprechen. Bärbel istnämlich Putzfrau bei der Berliner Firma gegenbauer. ihrkleines auto ist immer bis obenhin mit Putzmitteln, Pa-pierhandtüchern und klopapier beladen. Und fünf prall ge-füllte Müllsäcke muss sie da auch noch jeden Tag hinzu-stopfen.

sie verdient 8,40 euro pro stunde. aber was man ihr fürdiesen Lohn abverlangt, ist wirklich nicht mehr normal.»Früher musste ich innerhalb von vier stunden eine zwei-tausend Quadratmeter große etage im Haus der DeutschenRentenversicherung gereinigt haben. Heute habe ich einenVertrag über 3,8 stunden täglich. Danach muss meine etagesauber sein. Manchmal weiß ich einfach nicht mehr, womir der kopf steht«, sagt Bärbel. Lange hat sie unbezahlteÜberstunden geleistet, um mit der arbeit fertig zu werden.Das macht sie nun nicht mehr. »Mit all den Überstundenmüsste ich ein Jahr lang bezahlten Urlaub bekommen«,lacht sie. Heute konzentriert sie sich beim Reinemachenauf das Wesentliche.

Bärbel hat eine zweite stelle angenommen. im einzel-handel. Das bringt ihr 12,60 euro pro stunde ein. »Leiderkann ich meine dortige stundenzahl nicht erhöhen, sodassich immer noch putzen gehen muss. Wie viel gegenbauerfür meine Reinigungsarbeiten berechnet? Das kann ich nichtnachprüfen. es wird aber definitiv nicht weniger sein alsfrüher. Beim Personal wird heftig eingespart. Das deutscheModell ist ein Unding!«

»aber«, hält De Croo vollmundig dagegen, »die arbeits-losigkeit ist fast um die Hälfte gesunken!« ist das tatsächlich

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so? Weiter oben steht bereits einiges zu den arbeitslosen ge-schrieben, die einfach aus der statistik verschwinden, weilsie nicht unterstützungsberechtigt sind: weil sie noch beiPapa und Mama wohnen, weil sie jemanden lieb haben,der irgendeinem Job nachgeht, weil sie dank einer erbschaftgetrost noch ein paar Monate dahinsiechen können oderweil sanktionen gegen sie verhängt wurden. nein, überdiese versteckte arbeitslosigkeit lässt De Croo kein einzigesWort verlauten. in Deutschland verschwanden zwischen1999 und 2008 laut statistiken von eurostat 180.000 Voll-zeitstellen – 130.000 bei den Männern und 50.000 bei denFrauen. im selben Zeitraum aber kamen nicht weniger als2,7 Millionen Teilzeitstellen hinzu. nach offizieller Lesartbelegt man sofort dann einen »arbeitsplatz«, wenn maneine einzige stunde pro Woche arbeitet. Zeitarbeit, Minijobs,kurzzeitbeschäftigung und so weiter. Besonders Frauen ka-men in solchen neuen arbeitsverhältnissen unter. Deutsch-land schuf keine Beschäftigung, sondern tat nur so, als ob:indem man ganz einfach ordentlich bezahlte Vollzeitarbeitin zwei, drei oder vier temporäre und unterbezahlte arbeits-plätze aufspaltete.25

einer von zehn arbeitsplätzen in Deutschland ist ein Mi-nijob, auch 400-euro-Job genannt. Diese 400 euro bildeneine magische grenze, denn bis zu diesem Betrag hat derChef keine sozialabgaben zu leisten. Die meisten Minijobberverdienen gehörig weniger als jene 400 euro. Der durch-schnittliche Monatslohn erreicht etwa die Höhe von 250euro. insofern fördert die Regierung solche arbeitsplätzealso.26 Das Resultat: im heutigen Deutschland tragen zweiMillionen arbeitsplätze weniger zur sozialen sicherheit derBevölkerung bei als im Jahre 1991. Das ist das wahre gesichtdes Modells, das manche als garant für die entwicklung inganz europa verherrlichen. eine wahrlich emanzipierte sicht-weise zum ema Beschäftigung. Wer das laut sagt, wirdeiner konservativen gesinnung bezichtigt.

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»Ich denke, man weiß in Ihrem Land nicht wirklich, wovon man spricht«

günter Wallraff, der vor allem durch das Buch Ganz untenbekannt wurde, hat seine eigenen sichtweisen dazu: »DieWirtschafts- und sozialpolitik hat viele Deutsche in diescheiße geritten. nein, Deutschland ist ganz sicher keinVorbild für Belgien.«27

er gab ein ausführliches interview in De Standaard:

de standaard Belgische Politiker treten einanderauf die Füße, um in vorderster Reihe die erfolge derdeutschen Wirtschafts- und sozialpolitik zu bejauch-zen. sie jubeln über ein neues Wirtschaftswunderund schreien, dass Belgien gut daran täte, es zu ko-pieren.wallraff ach, tatsächlich? ich denke, man weiß inihrem Land nicht wirklich, wovon man spricht. Mirist klar, dass Deutschland nun im ausland gut dasteht.es werden statistiken zum Wirtschaftswachstum undzur senkung der arbeitslosenzahlen zitiert. Viele die-ser statistiken aber spiegeln nur die halbe Wahrheitwider oder werden manipuliert. ein Beispiel: es heißt,dass in den vergangenen Jahren in Deutschland zweiMillionen neue arbeitsplätze geschaffen wurden. Dasstimmt. Man vergisst jedoch hinzuzufügen, dass nurein Viertel dieser neuen arbeitsplätze ein Lohngefügeaufweist, von dem man leben kann. es gibt rund 1,4Millionen deutsche arbeitnehmer, die zwar eine ar-beit haben, damit aber nicht genug verdienen, umden elementaren Lebensunterhalt abzudecken. Wirreden hier von Jobs, für die fünf bis acht euro prostunde gezahlt werden. Damit ist gerade einmal einMonatslohn von rund 900 euro zu erreichen. Dassind arme, die da arbeiten. erwerbsarme, ›working

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poor‹. Und hier spreche ich noch nicht einmal vonden sogenannten Minijobs, den kleineren Dienstenund Hilfsarbeiten, die arbeitslose für manchmal bloßeinen euro pro stunde anzunehmen verpflichtet sind.Finden sie das normal? Dass Menschen nahezu un-bezahlt aufkleber und kaugummi von Verkehrsschil-dern abkratzen müssen? auf diese Weise werden Men-schen ihrer Würde beraubt.de standaard auf dem Weg hierher war im autora-dio ein interview zu hören, in dem alexander De Crooerzählte, dass in Deutschland die armut sinkt. ist dasrichtig?wallraff Wie bitte? Deutsche haben es immer gutverstanden, statistiken zu führen. Über alles, selbstüber die verwerflichsten Dinge. Und so werden natür-lich auch die armen unseres Landes heute sorgfältigbeobachtet. evangelische kirchen, katholische Orga-nisationen, soziale institutionen und Verwaltungenhalten ein wachsames auge auf sie. Mir ist keine einzigestudie oder Umfrage bekannt, die belegen würde, wasdieser belgische Herr da behauptet. Die armut nimmtzu. schlimmer noch: sie erhält eine struktur, sie gehtrascher von einer auf die nächste generation über.auch bedingt durch Deutschlands schlechtes Bildungs-system. Diesbezüglich verwandeln wir uns allmählichin ein unterentwickeltes Land. Wer – wie jener Herrda – das gegenteil behauptet, der macht das nur zuPropagandazwecken.28

»Eine Angelegenheit zwischen unten und oben«

ende Februar 2011 protestierten in der gesamten Bundes-republik die arbeiter und angestellten der Metallindustrie.Die aktionen richteten sich gegen den neuen gesetzentwurf,der im Bundestag vorlag: kein Mindestlohn in der Metall-

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industrie, keine weiteren einschränkungen für Zeitarbeit,keine Lohngleichheit für feste Mitarbeiter …

Trotzdem hielt sich der organisierte Widerstand zunächstnoch in engen grenzen.

»ich sehe den Zeitpunkt für große soziale Proteste inDeutschland noch nicht für gekommen. Doch das kannsich rasch ändern.« so der Tenor der Rede von Bernd Rie-xinger, Verantwortlicher von ver.di in stuttgart, währendeiner gewerkschaftskonferenz am 9. Juli 2011, bei derauch Dieter sauer vom institut für sozialwissenschaftlicheForschung e. V. in München als Redner auftrat. Die si-tuation in den Betrieben sei von »tiefen Ohnmachtserfah-rungen« gekennzeichnet, sagte sauer. aber auch von derwachsenden erkenntnis – so belege seine analyse –, dasshinter den Problemen »nicht nur die Macht gewisser Per-sonen steckt, sondern die gesamte kapitalistische ökono-mie. Und diese erkenntnis betrachte ich als schritt nachvorn.« eine Tendenz zur Rückkehr zu alten Vorgehens-modellen erkennt der Wissenschaftler nicht. »Die kon-zepte des korporatismus sind voller Risse und spalten.Durch Verhandlungen allein sind Win-win-situationenoft nicht mehr zu erreichen.«

»kern der gewerkschaftsarbeit ist es, solidarität zu orga-nisieren, und das muss auch die zentrale Rolle bleiben«,ruft Christa Hourani von der initiative zur Vernetzung dergewerkschaftslinken während der konferenz in die Runde.Bernd Riexinger fügt dem hinzu: »Wir müssen deutlich ma-chen, dass es bei der sogenannten Hilfe für griechenlandnicht um eine angelegenheit zwischen Deutschland undgriechenland geht, sondern um eine angelegenheit zwischenunten und oben. Überall muss die Lösung heißen, dass die-jenigen die krise bezahlen, die sie verursachten und die dasgeld dazu haben.«

in den schillernden Deutschland-Prospekten der Touris-musbranche sieht alles wunderschön aus: pulsierende städte

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mit architektonischen Höhepunkten, einkaufsparadiese undaufregendes nachtleben. Bezaubernde Fachwerkstädte undtraditionelle Weindörfer mit gemütlichen Festen und tradi-tionellen spezialitäten. Faszinierende Landschaften in ma-lerischer natur. Burgen und klöster und typisch deutscheRomantik. Das Bild eines Landes der tausend Möglichkeiten.Doch Deutschland ist auch das Land mit 1,4 Millionen er-werbsarmen, mit 2,5 Millionen kindern in armut und mit7,5 Millionen analphabeten.

Darf eine zufällige Begegnung dieses kapitel abschließen?eine Plauderei an der autobahn mit Jürgen, einem Lastwa-genfahrer aus der deutschen stadt essen: »Die Menschenknirschen mit den Zähnen,« sagt er. »es wird der Momentkommen, dass alle genug haben. Die Politiker sehen dasabsolut nicht kommen. sie sind so realitätsfremd, so korrupt.niemand will noch etwas von ihnen wissen. es ist emotionalaufgestaut, es brodelt, überall. ich weiß nicht, wann es knal-len wird, aber ich weiß, dass es knallen wird. Und wenn esan die Oberfläche kommt, ja, dann wird es eine riesige ex-plosion sein. Wir müssen vor allem dafür sorgen, dass dieseexplosion auch genügend Wirkung zeigen wird.«

2. In Griechenland prallen zwei Welten aufeinander

als die Morgenröte aufzog stand eseus, der sohndes aegeus, von seiner Bettstatt auf. er band sich glän-zende sandalen um und wandelte die von Wellen be-leckten gestade des Meeres entlang. Da wurde er einergruppe Menschen gewahr, die elendiglich zeterten undheulten. auch sah er sieben athenische Jünglinge undsieben Töchter, die an Bord eines schiffes mit schwarzensegeln der Trauer warden gebracht, die Hände gebun-den mit schweren Tauen. eseus rief mit hellerstimme:

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»Wer sind diese jungen Menschen?«»schnelle schiffe bringen sie nach kreta. Unser Mitleidgehört ihnen.«»Warum?«, fragte eseus. »Was geschieht dort mitihnen?«»Weißt du das nicht? sie werden dort lebend zum Mi-notaurus geführt, dem wütenden Biest in kretas La-byrinthen, dort am Rande des weinfarbenen Meeres.«

griechenland und das Meer! Umgeben von zwei Meeren,dem ionischen Meer im Westen und dem Ägäischen Meerim Osten, ist die Halbinsel seit jeher ein Land der seefahrergewesen. als das schiff des eseus, der den Minotaurus aufder insel kreta besiegt hatte, mit gebauschten segeln in athensHafen zurückkehrte, hatte es der Held versäumt, weiße stattschwarze segel zu hissen. also glaubte sein Vater aegeus, dasssein sohn vom Minotaurus getötet worden sei. Überwältigtvon Trauer, stürzte sich aegeus ins Meer, das aufgrund dieserBegebenheit seinen namen trägt: die Ägäis.Der Hafen des antiken athens, damals nur wenige kaisumfassend, ist nun der Hafen von Piräus. griechenland be-sitzt heute die stolze Zahl von 123 Häfen. Piräus ist dergrößte, ein gewimmel von Frachtern, Fähren, Container-und Ro-ro-Verkehrsschiffen, kreuzfahrtschiffen, Tankern,katamaranen und Fischerbooten. Zweitgrößter Hafen istessaloniki im nordosten des Landes, ein bedeutenderUmschlagplatz für die schifffahrt in Richtung schwarzesMeer und asien.

Die griechischen Reeder verfügen über die größte Han-delsflotte der Welt: Zusammen besitzen sie über 4.100 schiffe,16 Prozent der Welthandelsflotte, und damit mehr als dieJapaner oder Chinesen. Die griechischen Reedereien verdie-nen mehr als der gesamte Tourismussektor. im Jahre 2010verzeichneten die großen Reedereien eine einkommensstei-gerung auf 15,4 Milliarden euro, während der Tourismus

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vergleichsweise bescheidene 9 Milliarden euro generierte.Dennoch fließt kaum ein Cent dieser Reederei-Milliardenin die staatskassen. Denn gestützt auf einen Dschungel fis-kaler Bestimmungen genießen die Reeder seit jeher eine fak-tische steuerfreistellung. Der Fiskus schaut ihre Rechnungennicht an. somit ist jede griechische Millionärsfamilie, dieanteile an einer Reederei oder an einem maritimen konsor-tium hält – insgesamt rund tausend Familien – von dersteuer befreit. ein gut geschmiertes steuerparadies. Die Ree-der horten ihr geld in der schweiz oder auf Zypern, inLiechtenstein oder in London.

Der mit großem abstand reichste von ihnen ist spirosLatsis, sohn des alten schiffsmagnaten John Latsis. FamilieLatsis engagiert sich auch im schiffsbau und im Bankwe-sen, und sohnemann spiros ist überdies größter aktionärvon Hellenic Petroleum. auf der Liste der Multimilliardäredieser Welt belegt er Platz 68. er studierte an der Londonschool of economics zusammen mit einem gewissen JoséManuel Barroso, der im Juni 2004 Präsident der europäi-schen kommission wurde und zwei Monate später, im au-gust, zu einer Ferienwoche auf einer prachtvollen Vergnü-gungsjacht von Familie Latsis eingeladen war. Latsis hatneulich Privatsea gegründet, einen exklusiven Jachtclub,der seinen Mitgliedern »außergewöhnliche erlebnisse anBord der spektakulärsten Jachten der Welt« verspricht.Dazu gehört auch die Jacht alexandria, mit einer Längevon 122 Metern eine der größten der Welt. Wo sich der-einst aegeus ins Meer gestürzt hatte, schlüpften Barrosound spiros Latsis an Deck der vielleicht luxuriösesten Yachtder Welt in ihre Badehosen. einen Monat später billigtedie europäische kommission subventionen des griechi-schen staates für die schiffswerften der Familie Latsis inHöhe von 10,3 Millionen euro. Zufall? Oder doch dieweiter vorn bereits zitierte kleine Welt des »man kennteinander« und des »uns kann keiner was«?

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Durch die Hintertür wird der Reichtum aus dem Land geschleust

»so anständige Menschen, aber gezwungen, im Hausmüllnach essensresten zu wühlen«, sagt ein Mitarbeiter des ab-fuhrunternehmens traurig. Während im Herbst 2011 vielegriechen Mülltonnen nach nahrung durchstöbern, gibt esauch griechen mit geld. Mit viel geld. Mit sehr viel geldsogar. selbst mitten in der krise bleibt griechenland ein steu-erparadies für Reedereien, für sechstausend größere Unter-nehmen und für die institution der orthodoxen kirche.

Bis vor kurzem war im griechischen Reisepass auch dieReligion des inhabers vermerkt. Dies änderte sich erst nacheiner klage beim europäischen gerichtshof für Menschen-rechte in straßburg im Jahre 2001. Die griechisch-orthodoxekirche ist mächtig, das ist kein geheimnis. kirche und klerusdominieren noch einen großen Teil des öffentlichen Lebens –moralisch und politisch, jedoch auch wirtschaftlich. abgesehenvom staat, sitzt die orthodoxe kirche auf dem größten Ver-mögen des Landes. sie hält neun Millionen aktienanteile ander griechischen nationalbank und besitzt Hotels, Parkhäuser,Warenhäuser, Unternehmen sowie 350 zentrale touristischestätten. Zugleich ist die institution kirche mit ihren 130.000Hektar Wald, Feldern, Bergen und stränden auch der größtegrundbesitzer des Landes, was ihr jährlich Millionenbeträgeeinbringt – geld, das bis vor kurzem steuerfrei war. als imJahre 2010 schließlich doch eine steuer erhoben wurde, ver-weigerten einige klöster die Zahlung. schockiert demon-strierten gläubige vor athens größter kirche mit dem Trans-parent: »Jesus hat gesagt, dass man teilen muss.«

Teilen? nein, das ist kein gebaren griechischer Millionäre!in griechenland verdientes geld verschwindet immer schnel-ler im ausland. Vor allem in den sicheren Tresoren von schwei-zer Banken, die keine Fragen stellen. Die griechischen Mil-lionäre haben insgesamt bereits 280 Milliarden euro nach

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Zürich verlagert und nochmals ebenso viel auf andere aus-ländische Banken verteilt. 560 Milliarden euro – ein exodusan zu versteuerndem geld in doppelter Höhe des griechischenBruttoinlandsprodukts.29 Dass sich viele ihrer Landsleutekeine elektrizität oder gar erkrankungen mehr leisten könnenund dass immer mehr ihrer Mitbürger Hunger leiden, daskümmert diese Millionäre nicht. so entsteht eine gleichsamsurrealistische situation: aus der vorderen Haustür betteltdie griechische Regierung die europäische Union um weitereDarlehen an und garantiert, auch den allerletzten Cent ausdem arbeitsvolk herauspressen zu wollen, um sie zurückzu-zahlen, während zugleich Millionäre den Reichtum des Landesdurch die Hintertür aus dem Land schleppen.

im Prinzip ist griechenland ein reiches Land. im Jahre2007 wurde fünfmal mehr Reichtum als 1990 produziert.Doch während das Bruttoinlandsprodukt um das Fünffachestieg, schraubten sich die gewinne um das 28fache in dieHöhe! Durch neoliberale steuerreformen blieben diese ge-winne steuerlich weitgehend unangetastet. nur wenig mehrals ein Drittel des griechischen Reichtums gelangt zu denLohnempfängern: nur 36,3 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts fließen in die Löhne. Das ist bei Weitem der niedrigsteProzentsatz innerhalb der europäischen Union. so erreichendie gehälter auch bloß magere 60 Prozent des europäischenDurchschnitts. Der von der griechischen gesellschaft produ-zierte Reichtum gelangt nicht in die Hände dieser gesellschaft,sondern in die Hände von deren reichsten segmenten. Unddeshalb ist die Behauptung, »die« griechen hätten jahrelangüber ihre Verhältnisse gelebt, blanker Unsinn.

Mitten in der Krise: 7,9 Milliarden Euro für französisches und deutsches Kriegsgerät

im sommer 2009 ereignen sich merkwürdige Dinge. grie-chenland bezahlt mitten in diesem krisenjahr 2,5 Milliarden

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euro für sechs französische Fregatten, weitere 400 Millioneneuro für fünfzehn französische Puma-kampfhubschrauberdes Rüstungsgiganten eaDs nv und zusätzliche fünf Milli-arden euro für sechs U-Boote der deutschen yssenkruppag. Bumms, welch ein Paukenschlag! 7,9 Milliarden eurofür französisches und deutsches kriegsgerät, und das mittenin der krise.

Merkel und sarkozy schmieden Plan um Plan, um dafürzu sorgen, dass griechenland die Darlehen deutscher undfranzösischer Banken bezahlen kann. Das Duo speit eseum ese darüber aus, was das griechische Volk zu tun undzu lassen habe, doch wenn es um die Rüstungsgeschäftegeht, pressen beide im Lichte der Medienscheinwerfer dieZähne fest zusammen. Der Spiegel stellte eine beeindruk-kende Liste der griechischen einkäufe in Deutschland auf:U-Boote, Jagdbomber, Panzer … Das kleine griechenlandmit seinen 11 Millionen einwohnern belegt in der Welt-rangliste der großeinkäufer konventioneller Rüstungsgüterden fünften Platz. Die Rüstungsausgaben sind exorbitanthoch: im Jahre 2009 bezifferten sie sich auf 3,3 Prozent desnationalhaushalts. Länder wie Frankreich und großbritan-nien verzeichneten im selben Jahr Militärausgaben von 2,5respektive 2,6 Prozent. Die Vereinigten staaten hatten mit4,8 Prozent die nase vorn.

krise hin, krise her, die großen europäischen Bruder-staaten setzten die griechen mit der Drohung, keine weiterenkredite zu gewähren, unter Druck. Die Presseagentur aPzitiert einen Berater des Premierministers Papandreou: »nie-mand sagt offiziell: ›kauft unsere kriegsschiffe oder wir hel-fen euch nicht bei der schuldenbewältigung!‹ Doch es liegtdie unmissverständliche Botschaft zugrunde, dass wir größereHilfe erhalten, wenn wir auf der Rüstungsebene auf ihreWünsche eingehen.« Und die Zeitschrift Vrede schreibt: »alsPapandreou im Februar 2010 in Frankreich um Hilfe beiden finanziellen Problemen seines Landes werben wollte,

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soll Präsident sarkozy Druck auf ihn ausgeübt haben. amTag, als Papandreou nach Paris flog, ließ griechenland ver-lauten, dass man den geplanten ankauf sechs französischerFReMM-Fregatten im Wert von 2,5 Milliarden euro trotzdes sich auftuenden finanziellen abgrunds keiner Revisionunterziehen wolle.«30

griechenland ist naTO-Mitgliedstaat, damit man inder Region den Fuß in der Tür hat. als knotenpunktdreier kontinente hat das Land eine enorme strategischeBedeutung. Besonders jetzt, da die naTO und amerika-nische strategen ihre volle aufmerksamkeit auf nord-afrika, den nahen Osten, iran, den Balkan, die LänderOsteuropas und Russland richten. anfang Oktober 2011kaufte das bankrotte griechische establishment noch raschweitere 400 Panzer und 20 amphibienfahrzeuge der ame-rikanischen armee. Und anscheinend auch noch vierkriegsschiffe im Wert von jeweils drei Millionen euroaus Frankreich.

Die Vereinigten staaten, Deutschland und Frankreichspielen die zwischen griechenland und der benachbartenTürkei bestehende Rivalität geschickt aus. als Lieferantenfür beide Rivalen profitieren die Rüstungsfabrikanten dop-pelt. Bestellt griechenland neue Waffen, so muss das Rüs -tungsunternehmen bloß ein kurzes Weilchen abwarten,bis die Türken ihr interesse an den gleichen Dingen an-melden. Der kalte krieg im kleineren Format, so könnteman meinen. Tatsächlich jedoch ist dieses ganze neuekriegsmaterial überhaupt nicht für eine konfrontationgriechenlands mit der Türkei bestimmt, sondern es istvielmehr Teil einer naTO-strategie zur schaffung neuer,im sinne Washingtons ausgerichteter Machtverhältnisseim nahen Osten. Warum sonst bleibt es in Washington,Brüssel und Frankfurt hinsichtlich der Tatsache, dass diegriechische Regierung an allem außer an kriegsmaterialienspart, so auffällig still?

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Faktenfreie Politik oder wie man Hetzkampagnen startet

auf der griechischen insel Hydra, wo die Häuser schneeweißsind und das Meer tiefblau, wohnt die niederländische Jour-nalistin ingeborg Beugel. sie berichtete jahrelang über dasLand und schreibt mit eifer über die gerüchteküche undMachenschaften der griechischen Politik und wirtschaftlichenelite. »ich finde es höchst interessant, dass die europäischeUnion in so arroganter, knüppelharter und unerbittlicherWeise unterschiedlichste Forderungen an griechenland stellt,während Brüssel die griechische Regierung nicht im ge-ringsten dazu drängt, doch endlich einmal die korruptenPolitiker ins Visier zu nehmen. Diese stören Brüssel offenbargar nicht. schlimmer noch: Brüssel schweigt wie ein grab,weil sonst viele zwielichtige Praktiken ans Licht kämen, dieihre schatten über europa werfen würden. Zum Beispielstreute siemens horrende summen Bestechungsgelder aus,um eine Monopolposition bei den Olympischen spielen inathen (2004) zu erlangen. Damals ging es um Milliarden,doch wenn man den Dingen nachspürte, käme auch eindeutsches Unternehmen ins spiel, und das möchte Deutsch-land nicht. auch für teure deutsche U-Boote wurden hoheschmiergelder bezahlt. griechenland hat sie zum doppeltenPreis erworben, den die Türkei zu bezahlen hatte. Und imgegenzug für ›Hilfeleistungen‹ zwang Frankreich griechen-land zum kauf von kampfflugzeugen zu gepfefferten Preisen.Die Wilddiebe erzählen schamlose Lügen: Bei der soge-nannten Hilfe für griechenland wird nichts verschenkt; eswird fett daran verdient«, erzählt die Journalistin dem nie-derländischen Radio1.31

Wilddiebe? geert Wilders nennt die griechen »Junkies«,denen man kein geld geben darf. »schummel-griechenmachen unseren euro kaputt«, titelt die Bild-Zeitung. UndFrits Bolkestein behauptet: »ein großteil der griechischenBevölkerung ist faul.«32 angela Merkel zufolge nehmen die

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griechen zu viel Urlaub und gehen zu früh in Ruhestand.»Wir können keinen einzigen euro teilen, solange die einensehr viel Urlaub haben und die anderen sehr wenig. Daspasst auf Dauer nicht zusammen«, zitiert die Deutsche Pres-seagentur (DPa) die Bundeskanzlerin.33 Und die athener –so hören wir in De Sevende Dag – erhalten auch noch einenBonus, damit sie pünktlich zur arbeit erscheinen. alles eingefundenes Fressen für die breite öffentlichkeit: so sind sieeben, die südeuropäer! Urlaub machen, Luxusrenten ein-sacken und dann noch von der Terrasse aus, wo sie denlieben langen Tag verdösen, um Unterstützung betteln. Dassdie Lästereien über die faule Veranlagung der griechen pureHirngespinste sind, spielt dabei absolut keine Rolle. sichschlichtweg über Tatsachen hinwegzusetzen, das nennt man:faktenfreie Politik.

Hängen südeuropäer den kittel früher an den Haken,um die mediterrane sonne zu genießen? nein, das trifft sonicht zu. Die OeCD-Zahlen für 2011 indizieren, dass grie-chische Männer mit durchschnittlich 61,9 Jahren aufhörenzu arbeiten, also einen Monat später als die Männer inDeutschland. griechische Frauen setzen sich etwas früherzur Ruhe: im alter von 59,6 Jahren, im Vergleich zu 60,5Jahren bei den Frauen im Musterland Deutschland.

2007 betrug – ebenfalls laut OeCD – eine durchschnitt-liche griechische Rente 617 euro. ingeborg Beugel erzähltvon Menschen auf Hydra, die in den Ruhestand gehenund dann sofort arbeit suchen müssen, um noch über dieRunden zu kommen. »Meine untere nachbarin ist 94 Jahrealt und Witwe. ihre monatliche Rente beträgt 400 euro.Das reicht nicht einmal für Windeln und Medikamente.Dank Familie und nachbarn schlägt sie sich unter erbärm-lichsten Umständen durch. ich kenne keinen einzigen Hol-länder, der drei Jobs nachgehen müsste, um über die Run-den zu kommen, aber ich kenne Dutzende griechen, diedrei Jobs fürs bloße Überleben brauchen. natürlich gibt

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es auch griechen mit zu hohen und frühzeitigen Pensionen,aber die bilden die ausnahme und nicht die Regel. Übri-gens lebt hier auf Hydra auch eine vollkommen sorgenfreieehemalige niederländische Lehrerin, die mit fünfzig Jahrenin den Ruhestand ging, danach nie wieder arbeiten mussteund nun griechenland ohne finanzielle einschränkungenfür den Rest ihres Lebens genießen kann. Für alle ihregriechischen kolleginnen ist das ein Ding der Unmög -lichkeit.«34

auch mit ihrer abstempelung der griechen als »perma-nente Urlauber« liegt Merkel merklich daneben. Laut deragentur eurofound hatten griechen im Jahre 2010 durch-schnittlich 23 Tage Urlaub. Deutsche hatten deren 30. Überdie anzahl der persönlichen Urlaubstage der angela Merkelwollen wir uns nicht auslassen. auch ihr jährliches Urlaubs-geld sollte leicht über dem Durchschnitt liegen.

aber vielleicht arbeiten die griechen einfach weniger?nein, auch das stimmt nicht. nach Zahlen der OeCDhaben griechen im Jahre 2008 durchschnittlich 2.120 stun-den gearbeitet, das sind 740 stunden mehr als Holländer,690 stunden mehr als Deutsche, 570 stunden mehr als Bel-gier und 470 stunden mehr als Briten.

eine weitere Behauptung im Rahmen der Hetzkampagnegegen die »faulen griechen« bezieht sich auf die angeblichepersonelle Überbelegung des griechischen öffentlichen sektors.Die Fakten? 2009 zählte griechenland 768.009 Beamte –temporäre, abgeordnete und alle anderen inbegriffen. Diese11,4 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung reichten eu-ropaweit für Rang vierzehn. schweden hatte 30 Prozent Be-amte, Dänemark 29 Prozent und Frankreich 21 Prozent.Deutschland: 10,2 Prozent.

alle jene Behauptungen über die faulen und urlaubsver-wöhnten griechen – und übergreifend auch über die por-tugiesischen, spanischen und anderen Bewohner der »knob-lauchländer«, wie der stets so sensibel formulierende geert

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Wilders sie umschreibt – sind einfach aus der Luft gegriffen.Doch der schaden ist angerichtet. Merkels sprüche prangtenauf den Titelseiten der Zeitungen, und wer liest dann nochirgendwo hinten auf seite 18 die Richtigstellungen? Dasklischee bleibt haften: mediterrane nutznießer, die das geldrechtschaffener nordeuropäischer steuerzahler verprassen.schon einstein sagte wissend: »es ist schwieriger, eine vor-gefasste Meinung zu zertrümmern als ein atom.«

Rousfeti und Fakelaki: Griechenlands göttliche Monster

im zwanzigsten Jahrhundert hat griechenland zwei Diktatu-ren, eine ausländische Besatzung und einen Bürgerkrieg über-standen. nach der rechten Diktatur der Militärjunta wurdegriechenland 1975 zur parlamentarischen Republik. Bis dahinhatte das Land noch niemals ein ausgestaltetes soziales si-cherheitssystem kennengelernt. soziale Hilfe für kranke, Ru-heständler, invaliden und arbeitslose – das war kaum vor-stellbar. Und so musste alles, was soziale Vorkehrungenanbelangte, »geregelt« werden. Da gab es entweder Unter-stützung seitens der Familie oder durch Freunde oder – woman es sich leisten konnte – durch einen zugeschobenenUmschlag.

1981 kam die sozialdemokratische Partei Pasok an dieMacht und legte den grundstein für ein umfassendes systemdes politischen klientelismus, vor allem im öffentlichensektor. Ohne Parteiausweis keine arbeit, keine soziale si-cherheit und keine Beihilfen zum Leben. Rousfeti – dasZauberwort für eine art politische kundenbindung. Pasokund die rechtsgerichtete Partei neue Demokratie beherr-schen dies meisterhaft. Man weiß mit dem Phänomen um-zugehen, denn schließlich ist es in unserem Lande keineunbekannte größe.

Vetternwirtschaft für alle, aber vor allem für die großenUnternehmen. Das system der schmiergelder trägt den na-

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men Fakelaki. Den Höhepunkt bildeten dabei wohl die Ver-träge für die Olympischen spiele, wobei der staat grie-chenland letztendlich 8 Milliarden euro verlor. Was dieJournalistin ingeborg Beugel darüber schrieb, ist nur allzuwahr. Um Verträge für das ultramodern verfeinerte sicher-heitssystem für die Olympischen spiele an Land zu ziehen,schmierte beispielsweise siemens verschiedene Politiker,hohe Beamte und führende Militärs. sowohl die Partei neueDemokratie als auch Pasok durften an der kasse vorbei-schauen. ein ehemaliger Parteifreund der Pasok gestand ein,kurz vor den Wahlen des Jahres 2000 von einem spitzen-funktionär des Unternehmens siemens 420.000 euro an-genommen zu haben. selbstverständlich eine goodwill-ak-tion, mochte die nette geste auch fast eine halbe Millioneuro kosten. Man weiß schließlich, was sich gehört. siemensbekam den Vertrag.

natürlich gibt es sie also in griechenland: die korruption.Derart gesetzte anreize der sechstausend größeren Unter-nehmen des Landes werden auf circa 15 Milliarden eurojährlich taxiert. Zum Vergleich: Für Belgien belaufen sichdie schätzungen zu groß angelegtem steuerbetrug auf 30Milliarden euro. Jeder Belgier wird sich daran erinnern,dass das luxemburgische schwarzgeld der kBC Bank auf-grund von Verfahrensfehlern unangetastet blieb und dassdie belgische Obrigkeit dem Textilmagnaten Roger DeClerck sogar noch geld zahlen musste, weil sich sein Prozesszu lange dahinschleppte. Handel und Wandel dieser gestaltwurden zur inspiration für die TV-serie Das göttliche Mons -ter. Politische Vetternwirtschaft und korruption sind wedertypisch griechische noch typisch belgische Probleme. siesind typisch für den kapitalismus, für die ellbogen-Range-leien im Wettstreit um den größten Happen am Markt undum zweistellige Renditen.

»es ist den griechen ein Dorn im auge, dass Premiermi-nister Papandreou noch keinen einzigen korrupten Politiker

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auf die anklagebank gesetzt, keinen Unternehmer oderschiffsreeder bestraft und noch keinen einzigen Cent derMilliarden von euro zurückgeholt hat, die in diversen Ta-schen verschwanden«, schreibt ingeborg Beugel. Man spucktvor der Regierung verächtlich aus. Wo Papandreou auftritt,hisst man schwarze Fahnen. als sein innenminister sicheinen Film anschauen wollte, erkannten ihn studenten imkino und kippten ihm Wasser und Joghurt über den kopf,bevor er von einem lauten Pfeifkonzert und höhnischenRufen begleitet aus dem kino floh.

Panhellenische sozialistische kleptokraten, eine Regie-rung von Dieben also, so nennt soziologieprofessor JamesPetras die herrschende Pasok-Partei: »Die Pasok wurderund um eine elite und deren gefolgschaft aufgebaut, dienoch niemals steuern bezahlte, sich aber geld aus derstaatskasse holte und sich auf Regierungsgeschenke verließ.steinreiche Reeder entzogen sich der steuer, indem sie unter fremder Flagge (Panama) segelten. aber sie wolltenlieber griechische kapitäne anheuern und zahlten dafürgerne in die Parteikasse ein. Rechtsanwälte, Ärzte und ar-chitekten meldeten schmale einkommen an und empfin-gen als versteckte einkünfte unter dem Tisch Barzahlungen,die ihre gehälter weit überschritten. Manager, immobi-lienspekulanten, Banker und importeure bezahltenschmiergelder an Parteiführer, um persönliche steuerver-günstigungen und eU-kredite sicherzustellen, die sie intouristische Projekte investierten oder auf überseeischenkonten deponierten. so baute die Partei zusammen mitder geschäftselite ein organisiertes netzwerk von klepto-kraten auf. sie plünderten die staatskasse und ließen dieRechnungen dafür über die Löhne und gehälter der ar-beitenden Bevölkerung begleichen. Denn von Löhnenmüssen ja schließlich steuern einbehalten werden. FürLohnempfänger ist griechenland ein schlechtes Pflaster,denn sie sind dort die einzigen, die steuern zahlen.«35

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Goldman Sachs International und die Schönfärbung von Zahlen

griechenland wurde strukturell instabil, da sich der produ-zierte Reichtum im Laufe der Jahre zunehmend bei der elitesammelte und sich die kaufkraft der Bevölkerung so ver-minderte. Hinzu kam, dass ein großer Teil des Volksein-kommens für konsumgüter aus dem ausland verwendetwurde. europas südliche achse diente den exportwirtschafts-ländern, allen voran Deutschland, als absatzmarkt. Dafürerhielt sie wohlwollende Darlehen, nicht zuletzt von …deutschen Banken.

auf diese Weise floss im ausland geliehenes geld in das-selbe ausland zurück.

im Zeitraum 1975–1980 verzeichnete griechenland nocheinen Handelsbilanz-Überschuss von 1,5 Prozent: es wurdenmehr güter und Dienstleistungen exportiert als importiert.in den Jahren 1990–2000 schlug die Bilanz auf ein Defizitvon 3 Prozent um, und seit dem Beitritt zur eurozone ver-schlechterten sich die Zahlen zu einer negativen Handels-bilanz von 10 bis 13 Prozent. griechenland begann Produktezu importieren, die es früher selbst produziert hatte.

aufgrund der Finanzkrise schnellten die staatsschuldenurplötzlich rasant in die Höhe: von 115 Prozent des Brut-toinlandsprodukts im Jahre 2007 auf 143 Prozent in 2010,und als kettenreaktion stiegen sodann auch unaufhaltsamdie Zinsen für jene schulden. Vor allem ist es die Zinslast,die schwer wie ein Mühlstein am Halse der Wirtschaft hängt:Während die griechen ein Jahrzehnt zuvor noch jährlich 9Milliarden euro an Zinsen auf laufende Darlehen abzuzahlenhatten, waren es im Jahre 2010 bereits über 15 Milliarden.

im Oktober 2009 flog ein immenser schwindel auf: Die»beiden Papas« der griechischen sozialdemokratie, Minis-terpräsident giorgos Papandreou und sein Finanzministergiorgos Papakonstantinou, enthüllten, dass ihre Vorgänger

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systematisch falsche und vor allem viel zu rosige Zahlen übergriechenlands staatsdefizite vorgelegt hatten. Das Haus-haltsdefizit habe im Jahre 2009 bereits 12,7 Prozent undnicht bloß 3,7 Prozent betragen. entrüstet tönten die staats-führer und Minister der anderen euroländer, dass die grie-chen ganz europa in übelster Weise betrogen hätten. DidierReynders (seit nahezu Menschengedenken Belgiens Finanz-minister) bekannte später im französischen Wirtschaftsma-gazin La Tribune kleinlaut: »Zum Zeitpunkt seines Beitrittszur eurozone im Jahre 2001 wussten wir bereits, dass grie-chenlands statistiken gefälscht waren.«36 e New York Timeswusste zu berichten, dass die beiden amerikanischen groß-banken JP Morgan und goldman sachs zehn Jahre lang pro-fessionelle Hilfe dazu geleistet hatten, die korrekten griechi-schen schulden- und Haushaltsziffern zu verdunkeln.37 Undwer war damals Vizepräsident und geschäftsführender Di-rektor bei goldman sachs international? Mario Draghi! Trotzder schönfärbung griechischer Zahlen – von der Draghizwingend gewusst haben muss, denn schließlich war es seineeigene Bank – empfahlen Merkel, sarkozy und andere euro-päische staatsführer diesen Mario Draghi für das neu zu be-setzende amt des Präsidenten der europäischen Zentralbank.Weltmeister in der Disziplin der Doppelmoral, das sind sie!anprangernd deuten sie begleitet von schallend-verächtlichemPfui, Pfui, Pfui mit dem Zeigefinger der einen Hand auf diebeschönigende Fälschung griechischer Haushaltsziffern, wäh-rend sie zugleich mit der anderen die protokollarischen Unter-schriften leisten, die einen spitzenfunktionär genau der Bank,die federführend bei diesen Fälschungen mitgeholfen hat, ineinen der strategisch wichtigsten europäischen sessel hieven.

Der Wille der Troika ist Gesetz

nach den enthüllungen von Pasoks »beiden Papas« ende2009 fielen die Finanzmärkte über Hellas her wie der Mi-

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notaurus über die ihm als Opfer zugeführten jungen athener.einhellig setzten die Ratingagenturen die griechische kre-ditwürdigkeit herab, sodass es für athen bedeutend teurerwurde, geld zu leihen. Zugleich kletterten auch die Darle-henszinsen. spekulanten setzten auf den baldigen konkursdes Landes und erwarben im großen stil sogenannte CreditDefault swaps, die als eine art Versicherung große summenabwerfen würden, so griechenland seine staatsanleihennicht mehr tilgen könnte.

am 15. Januar 2010 legte der in die enge getriebene Pa-pandreou der europäischen kommission einen ersten Plan,und zwar den umfangreichsten sparplan seit den fünfzigerJahren des vergangenen Jahrhunderts vor. Der stabilitäts- undWachstumspakt der eU sieht nämlich vor, dass das Haus-haltsdefizit jedes einzelnen Mitgliedstaates auf drei Prozent zubegrenzen ist, und auf diesen grenzwert richtete Papandreouseine Politikführung aus. er setzte die Mehrwertsteuer unddie Rentenaltersgrenze nach oben und nahm im öffentlichenDienst erhebliche kürzungen vor. Darüber hinaus kündigteer Maßnahmen gegen steuerhinterziehung an. Die europäi-schen instanzen segneten alles ab, jedoch nicht ohne grie-chenland unter die strenge aufsicht der Union zu stellen.

am 3. März 2010 reagierte schließlich auch das griechischeVolk auf Papandreous Pläne: Offener aufruhr tobte durchsLand. Häfen, Flughäfen, Banken, Rundfunk und Fernsehen,Unterricht, öffentliches Transportwesen … alles lag flach.griechenland ging auf die straße! Das griechische Parlamentmusste die Pläne an jenem Tage billigen. Dies verlangtendie europäische kommission, die europäische Zentralbankund der internationale Währungsfonds, und der Wille dieser»Troika« war gesetz. ansonsten würde es nämlich keineHilfe geben: Und so flehte giorgos Papakonstantinou dieParlamentarier im Halbrund an, dem drakonischen sparplanzu zuzustimmen, »um unsere glaubwürdigkeit auf denMärkten wiederherzustellen.« Und so geschah es.

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europas nadelstreifenanzugträger reagierten begeistert.Die neue iron Lady angela Merkel war schier aus demHäuschen: »Wir bejubeln die heute beschlossenen Maß-nahmen der griechischen Regierung. sie bilden ein sehrwichtiges signal für den Markt, um neues Vertrauen ingriechenland zu setzen, aber auch in den euro.«38

am liebsten allerdings hätten Deutschland, die nieder-lande und weitere Länder griechenland in konkurs geratenlassen. Dieses Wunschdenken war in der breiten Bevölkerunggeschürt worden: »61 Prozent (!) der Deutschen sind gegenjede Hilfe für griechenland«, hallte es im März 2010 durchdie Presse. nun ja, schließlich war dem deutschen Durch-schnittsbürger über Wochen hinweg tagtäglich eingebläutworden, dass jede einzelne deutsche Familie für griechen-lands Rettung Hunderte euro werde geben müsse.

nun saßen aber noch deutsche und andere Banken aufgriechischen schuldverschreibungen in Milliardenhöhe, undnicht nur die Banken waren verwundbar, sondern auch Ver-sicherungsgesellschaften und Rentenfonds saßen auf solchengeldanlagen fest. somit bestand durchaus die gefahr einesDominoeffekts, in dessen Zuge auch andere schwache eu-roländer wie irland, Portugal oder spanien zu Fall kommenkonnten. Das wäre eine katastrophe! Und so nahmen Plänefür ein europäisches Rettungspaket gestalt an.

Das Frühjahr 2010 brachte keine Veränderung. grie-chenlands situation am kapitalmarkt verschlechterte sichweiterhin. Und so schickte ende april 2010 giorgos Pa-pandreou von seiner Urlaubsinsel kastelorizo einen sOs-Ruf: Die situation sei so fatal, dass er die europäische Unionauf knien um neue kredite anflehe. Jean-Claude Trichetvon der europäischen Zentralbank, Dominique strauss-kahn (zum damaligen Zeitpunkt Chef des iWF) und JoséManuel Barroso forderten zunächst weitere drakonischeeinsparungen ein. »Dafür sollen diese armseligen griechenerst mal was springen lassen«, lautete die insgeheime Maxime

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der Troika, die dem netzwerk von Familie Latsis und ande-ren steinreichen griechen ja nicht unbekannt war.

Funktionäre des iWF, der eU und der eZB flogen nachathen, um die verstärkte kontrolle zu konkretisieren. am 2.Mai legte Papandreou ein neues sparpaket vor, eines ausBlut und Tränen: es wurden die Löhne im öffentlichenDienst um durchschnittlich 10 Prozent gekürzt, die Mehr-wertsteuer nochmals erhöht, Löhne für Überstunden abge-baut sowie Prämien für Ostern, Weihnachten und Urlaubim öffentlichen Dienst beschnitten – auch für alle Ruhe-ständler. Für das anrecht auf volle Rente sind fortan 40 statt37 Beitragsjahre nachzuweisen, und außerdem erfolgt dieBerechnung der Rentenhöhe nun basierend auf den letztenzehn arbeitsjahren statt wie zuvor auf den fünf am bestenbezahlten Jahren. Für die meisten Personen verringert sichdie Rente dadurch beträchtlich. Der Mindestlohn wurde auf592 euro gesenkt. Drei Tage später, am 5. Mai, organisiertendie gewerkschaften den bereits dritten generalstreik binnenweniger Monate, doch Papandreou schaltete auf stur.

Rasch waren die Folgen spürbar. Die neunundzwanzig-jährige Lehrerin irini erzählt: »Heute ist mein gehalt aufdem konto verbucht. erstmals ein anderer Betrag als ge-wohnt, wegen Papandreous Maßnahmen. ich habe ausge-rechnet, dass ich jährlich über ein volles Monatsgehalt mehrabzuführen habe. es ist unglaublich, dass ausgerechnet dasBildungswesen so schlimm herhalten muss. Warum greiftPapandreou nicht in anderen Bereichen zu? Zum Beispielbei den reichen Reedern? Oder haben die da etwa nichtsdamit zu tun?«

Um das Vertrauen der Finanzmärkte zurückzugewinnen,sollen jetzt also kindergärtnerinnen, stewardessen, Land-wirte, Bankangestellte, Bauarbeiter, Verkäufer und Rentnerfür eine krise bezahlen, die sie gar nicht verursacht haben?in der allgemeinheit wächst der Unmut, die Volksseele be-ginnt zu kochen. ingeborg Beugel rechnet vor: »Lehrer ver-

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dienen nach der ersten einsparungsrunde des Jahres 2010im monatlichen Durchschnitt nur noch 800 euro. Davonentfallen sofort 500 euro auf die Miete und andere festenebenkosten. somit verbleiben 300 euro zum Leben. andie gründung einer Familie braucht man als Lehrer eigent-lich gar nicht mehr zu denken. Und was fängt eine kinder-gärtnerin oder stewardess mit einem Monatsgehalt von 650euro an?«39

Die Deutsche Bank kauft Zeit

Und doch, trotz des sozialen kahlschlags, ging der angriffder Finanzmärkte auf griechenland weiter. anfang Mai2010 herrschte in Brüssel eine fiebrige atmosphäre. Bera-tungen über Beratungen, und überall wurde telefoniert.»Wir haben eine situation wie nach dem Zusammenbruchvon Lehman Brothers«, hallte es als Warnschrei an jenemFreitag, dem 7. Mai, über den europäischen gipfel derstaats- und Regierungschefs. »Wir brauchen ein abkommen,bevor am Montagmorgen die asiatischen Börsen öffnen!«noch am abend legte der gipfel die Richtlinien für einenRettungsschirm für den euro fest, die am selben Wochen-ende im Rahmen einer außerordentlichen sitzung der eu-ropäischen Finanzminister konkret auszuarbeiten und zuverabschieden waren. im allerletzten augenblick, am Montagdem 10. Mai kurz vor zwei Uhr morgens, lag das konkreteergebnis vor.

Der Vorsitzende Jean-Claude Trichet von der eZB bewiesum Viertel nach drei Uhr an diesem frühen Montagmorgentrotz Müdigkeit stärke. er informierte in einer knappen er-klärung darüber, dass die Bank zum ankauf von staatsan-leihen der »krisenstaaten« übergehen werde. Für liberaleUltras eine Todsünde: sie befanden, dass Zentralbankensich in Haushaltsprobleme nicht einzumischen hätten, auchdie eZB nicht. Und es geschah dennoch.

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Die eZB werde dubiose schuldpapiere der »krisenstaa-ten« nicht direkt von Regierungen aufkaufen, sondern aufdem »sekundären Markt«, also bei den Banken. so konntendiese sich ihrer wertlosen Papiere entledigen, im austauschfür geld, das die eZB nachdrucken ließ. Wie zuvor bereitsdie amerikanische Zentralbank Fed wurde die eZB auf dieseWeise zu einer Bad Bank.

Die zweite entscheidung des Maigipfels war, dass die eu-roländer für einen gemeinsamen notfallfonds sorgen muss -ten, die european Financial stability Facility. Diese eFsF,eine aktiengesellschaft, kann kredite für Länder in not be-reitstellen, die an den Finanzmärkten keine realisierbarenDarlehen mehr aufnehmen können. Die eFsF soll die kre-dite als gebündelte Obligationen auf den Markt bringen.Die Bezeichnung »eurobonds« kann in diesem Zusammen-hang keine Verwendung finden, da die Mitgliedstaaten keinedirekten kredite an ein in schwierigkeiten befindliches Landvergeben. Darum kümmert sich die eFsF. Die Mitglied-staaten bürgen für die kredite. kommission und eZB stellendie eFsF als instrument heraus, das »krisenstaaten« denRücken stärke. Tatsächlich aber soll die eFsF vor allem ver-hindern, dass solche staaten allzu rasch bankrott gehen,weil sonst die großbanken mit deren wertlosen Papierenenorme Verluste einfahren würden.

in den ersten Tagen des Monats Mai schnürte die eUauch das »griechische Rettungspaket« in Höhe von 110Milliarden euro. Bedingung für dieses Paket war, dass athendie Macht an die europäische kommission, die europäischeZentralbank und den iWF übertrug, der sich an der Finan-zierung beteiligte. Diese Troika legt viermal jährlich einenBericht über die Fortschritte der Reformen und einsparun-gen vor. Ohne erkennbare Fortschritte werden keine weiterenkredite bewilligt.

Wenngleich mehr hinter den kulissen, spielte in diesenereignisreichen Tagen des Monats Mai 2010 neben Trichet

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In Griechenland prallen zwei Welten aufeinander

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»Die Verantwortlichen der Krise sind die Banken,die Spekulanten und die Milliardäre. Sie haben jetztnoch mehr Macht, und die Politik lässt sie gewähren.Im Jahre 2008 haben die Regierungen harte Maß-nahmen versprochen. Nichts davon wurde erreicht.Stattdessen haben diese Leute sich Völker und Län-der wie Portugal und Griechenland vorgeknöpft. –Wie können sie es wagen?«

»Dieses Buch ist unerlässlich. Ich begrüße es alseinen Anfang im Kampf gegen den herrschendenAsozialismus.« – Dimitri Verhulst

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ISBN978-3-95518-003-4