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108 Mund Kiefer GesichtsChir 2 · 2003 Chronische Kiefergelenk-, Ohren- und Zahnschmerzen gehören ebenso wie diffuse, rezidivierende Gesichtsschmer- zen zur täglichen Routine des niederge- lassenen Kieferchirurgen und stellen di- agnostisch eine Herausforderung dar. Differenzialdiagnostisch hat dabei die kraniomandibulare Dysfunktion (CMD) eine zentrale Bedeutung. Der subjektiv vorgetragene Beschwerdebericht des Pa- tienten ist oftmals von einem bestimm- ten Leitsymptom beherrscht, das für die Wahl der eingangs aufgesuchten Fach- disziplin entscheidend ist. Die diagnos- tische Zuordnung des Krankheitsbilds ist als Folge davon wesentlich durch die- se beiden Kriterien geprägt. Die Vielfalt der an der Behandlung beteiligten Fach- gebiete mag ein Grund für die stark un- durchschnittliche Summenscore der Frage- bögen mit nur schriftlichen Schmerzangaben (31,16±19,16) lag nur wenig unter dem der Fragebögen bei zusätzlichen mündlichen Schmerzschilderungen (36,49±20,79). Schlussfolgerung: Das Schaubild der Ant- wortkreuze beeindruckt den Patienten, ver- bessert dessen Compliance und erleichtert dem Arzt die Diagnose. In gleicher Weise las- sen sich ein Therapieerfolg dokumentieren oder therapieresistente Einzelbefunde mit hohen Items aufspüren. Schüsselwörter Gesichtsschmerzen · Kraniomandibulare Dysfunktion · Patientenfragebogen · Compliance terschiedliche Auffassung über den Ur- sachenkomplex einer CMD sein. Die weit voneinander abweichenden Thera- pieansätze, die sich teilweise sogar wi- dersprechen, sind ein weiterer Grund für eine uneinheitliche Interpretation dieses Krankheitsbilds [1, 2, 3, 7, 9, 11, 12, 13, 15, 17, 18]. Es erhebt sich die Frage, ob ein ein- heitlicher, patientenorientierter Frage- bogen helfen könnte, Anamnese, Dia- gnostik und Therapie einer CMD zu ver- bessern? Ein solcher Fragebogen ge- winnt in der täglichen Praxis an Bedeu- tung, wenn er die unscharfen Übergän- ge zu differenzialdiagnostisch zu beach- tenden Funktionsstörungen im Kiefer- und Gesichtsbereich mit einbezieht. Er trägt aber auch nicht unwesentlich dazu bei, dem Patienten durch Beantwortung der Fragen einzelne, bislang nicht be- wusst gewordene Empfindungen, die bis- her als normal hingenommen wurden, stärker ins Blickfeld zu rücken. Material und Methode Material Ergänzend zur Anamnese und klinischen Untersuchung sind im Zeitraum von Mund Kiefer GesichtsChir (2003) 7 : 108–111 DOI 10.1007/s10006-002-0445-9 Originalien J. Jürgens Würzburg Verbessern Patientenfragebögen die Diagnostik der kranio- mandibulären Dysfunktion (CMD) mit chronischen Gesichtsschmerzen? Fragebogenstudie aus der Praxis Online publiziert: 11. Januar 2003 © Springer-Verlag 2003 J. Jürgens Friedenstraße 5A, 97072 Würzburg, Tel.: 0931-881600,Fax: 0931-81853, E-mail:[email protected] Zusammenfassung Fragestellung: Für die Diagnostik und die Therapie chronischer Gesichtsschmerzen hat die kraniomandibulare Dysfunktion (CMD) differenzialdiagnostisch eine zentrale Be- deutung. Dennoch sind die Auffassungen über den Ursachenkomplex sehr verschieden, und die Therapieansätze weichen erheblich voneinander ab, sie sind teilweise sogar widersprüchlich. Die Notwendigkeit einer gezielten und ausführlichen Anamnese ist unbestritten. Es erhebt sich die Frage, ob ein Patientenfragebogen zusätzliche Informa- tionen liefert, um die Qualität von Anamnese, Diagnostik und Therapie zu verbessern? Material und Methode: Im Zeitraum von April 1998–Februar 1999 wurden 230 Pa- tienten, denen ein Monoblock eingegliedert wurde, ergänzend zur Eingangsdiagnostik gebeten, einen Fragebogen mit einem Zeit- fenster von 4–6 Wochen auszufüllen. In 175 Fällen konnte wiederholt nachuntersucht und der Therapieeffekt mit den gleichen Fra- gebögen vergleichend dokumentiert wer- den. Der Fragebogen umfasst 14 visuelle, 11-stufige Analogskalen, die mit einer Mar- kierung spontan und bewusst subjektiv be- antwortet werden sollen.Die Test-Retest- Zuverlässigkeit im Abstand von 1 Woche vor Behandlungsbeginn liegt bei r=0,82 (n=86). Gefragt wird nach diversen Schmerzen, Miss- empfindungen und Befunden im Zahn-, Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich. Zur Aus- wertung wird ein Summenscore gebildet. Ergebnisse: Für uns überraschend haben von den 175 Patienten 41,7% (n=73) ihre Schmerzen ausschließlich schriftlich ange- geben. Die Vielfalt und Häufigkeit der Ant- worten waren für eine CMD beweisend. Der

Verbessern Patientenfragebögen die Diagnostik der kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) mit chronischen Gesichtsschmerzen? : Fragebogenstudie aus der Praxis

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Page 1: Verbessern Patientenfragebögen die Diagnostik der kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) mit chronischen Gesichtsschmerzen? : Fragebogenstudie aus der Praxis

108 Mund Kiefer GesichtsChir 2 · 2003

Chronische Kiefergelenk-, Ohren- undZahnschmerzen gehören ebenso wiediffuse, rezidivierende Gesichtsschmer-zen zur täglichen Routine des niederge-lassenen Kieferchirurgen und stellen di-agnostisch eine Herausforderung dar.Differenzialdiagnostisch hat dabei diekraniomandibulare Dysfunktion (CMD)eine zentrale Bedeutung. Der subjektivvorgetragene Beschwerdebericht des Pa-tienten ist oftmals von einem bestimm-ten Leitsymptom beherrscht, das für dieWahl der eingangs aufgesuchten Fach-disziplin entscheidend ist. Die diagnos-tische Zuordnung des Krankheitsbildsist als Folge davon wesentlich durch die-se beiden Kriterien geprägt. Die Vielfaltder an der Behandlung beteiligten Fach-gebiete mag ein Grund für die stark un-

durchschnittliche Summenscore der Frage-bögen mit nur schriftlichen Schmerzangaben(31,16±19,16) lag nur wenig unter dem derFragebögen bei zusätzlichen mündlichenSchmerzschilderungen (36,49±20,79).Schlussfolgerung: Das Schaubild der Ant-wortkreuze beeindruckt den Patienten, ver-bessert dessen Compliance und erleichtertdem Arzt die Diagnose. In gleicher Weise las-sen sich ein Therapieerfolg dokumentierenoder therapieresistente Einzelbefunde mithohen Items aufspüren.

Schüsselwörter

Gesichtsschmerzen · KraniomandibulareDysfunktion · Patientenfragebogen ·Compliance

terschiedliche Auffassung über den Ur-sachenkomplex einer CMD sein. Dieweit voneinander abweichenden Thera-pieansätze, die sich teilweise sogar wi-dersprechen, sind ein weiterer Grundfür eine uneinheitliche Interpretationdieses Krankheitsbilds [1, 2, 3, 7, 9, 11, 12,13, 15, 17, 18].

Es erhebt sich die Frage, ob ein ein-heitlicher, patientenorientierter Frage-bogen helfen könnte, Anamnese, Dia-gnostik und Therapie einer CMD zu ver-bessern? Ein solcher Fragebogen ge-winnt in der täglichen Praxis an Bedeu-tung, wenn er die unscharfen Übergän-ge zu differenzialdiagnostisch zu beach-tenden Funktionsstörungen im Kiefer-und Gesichtsbereich mit einbezieht. Erträgt aber auch nicht unwesentlich dazubei, dem Patienten durch Beantwortungder Fragen einzelne, bislang nicht be-wusst gewordene Empfindungen, die bis-her als normal hingenommen wurden,stärker ins Blickfeld zu rücken.

Material und Methode

Material

Ergänzend zur Anamnese und klinischenUntersuchung sind im Zeitraum von

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J. JürgensWürzburg

Verbessern Patientenfragebögendie Diagnostik der kranio-mandibulären Dysfunktion (CMD) mit chronischen Gesichtsschmerzen?

Fragebogenstudie aus der Praxis

Online publiziert: 11. Januar 2003 © Springer-Verlag 2003

J. JürgensFriedenstraße 5A, 97072 Würzburg,Tel.: 0931-881600, Fax: 0931-81853,E-mail:[email protected]

Zusammenfassung

Fragestellung: Für die Diagnostik und dieTherapie chronischer Gesichtsschmerzen hatdie kraniomandibulare Dysfunktion (CMD)differenzialdiagnostisch eine zentrale Be-deutung. Dennoch sind die Auffassungenüber den Ursachenkomplex sehr verschieden,und die Therapieansätze weichen erheblichvoneinander ab, sie sind teilweise sogarwidersprüchlich. Die Notwendigkeit einergezielten und ausführlichen Anamnese istunbestritten. Es erhebt sich die Frage, ob einPatientenfragebogen zusätzliche Informa-tionen liefert, um die Qualität von Anamnese,Diagnostik und Therapie zu verbessern?Material und Methode: Im Zeitraum vonApril 1998–Februar 1999 wurden 230 Pa-tienten, denen ein Monoblock eingegliedertwurde, ergänzend zur Eingangsdiagnostikgebeten, einen Fragebogen mit einem Zeit-fenster von 4–6 Wochen auszufüllen. In 175Fällen konnte wiederholt nachuntersuchtund der Therapieeffekt mit den gleichen Fra-gebögen vergleichend dokumentiert wer-den. Der Fragebogen umfasst 14 visuelle,11-stufige Analogskalen, die mit einer Mar-kierung spontan und bewusst subjektiv be-antwortet werden sollen. Die Test-Retest-Zuverlässigkeit im Abstand von 1 Woche vorBehandlungsbeginn liegt bei r=0,82 (n=86).Gefragt wird nach diversen Schmerzen, Miss-empfindungen und Befunden im Zahn-,Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich. Zur Aus-wertung wird ein Summenscore gebildet.Ergebnisse: Für uns überraschend habenvon den 175 Patienten 41,7% (n=73) ihreSchmerzen ausschließlich schriftlich ange-geben. Die Vielfalt und Häufigkeit der Ant-worten waren für eine CMD beweisend. Der

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J. Jürgens

Do questionnaires for patientsimprove the diagnosis of craniomandibular dysfunctionwith chronic facial pain?A patients’ questionnaire studyfrom outpatient practice

Abstract

Purpose: The differential diagnosis of cranio-mandibular dysfunction (CMD) is of centralimportance for the therapy and diagnosis ofchronic facial pain. Nevertheless, opinions oncauses and treatment differ extremely andare sometimes even contradictory.The ne-cessity of obtaining a precise and thoroughpatient history is indisputable.This raises thequestion of whether a questionnaire can of-fer additional information in order to im-prove the quality of the history, diagnosisand therapy.Material and methods: From May 1998 untilFebruary 1999, 230 patients who received amonoblock were requested to fill out a ques-tionnaire referring to the previous 4—6weeks, as an addition to the initial diagnostictests. In 175 cases we were able to repeated-ly examine the patient and compare the ef-fects of therapy with the questionnaires.Thequestionnaire contains 14 visual, 11-stepanalogue scales, which are to be markedspontaneously and subjectively.The test-retest reliance at 1 week before treatmentwas r=0.82 (n=86).The questionnaire re-quests information on diverse kinds of pain,sensations and findings in the dental, oral,maxillary and facial areas. For evaluation, asummation-score is built.Results: To our surprise, from a total of 175patients 41.7% (n=73) indicated their painexclusively on the questionnaire.The num-ber and frequency of answers indicatedCMD.The average score of the patientswhose pain was only mentioned on thequestionnaire (31.16±19.16) was just slight-ly below the score of patients with addition-al, verbal pain descriptions (36.49±20.79).Conclusion: The picture provided by the an-swers is impressive for the patient, improvescompliance and makes diagnosis easier. Inthe same way, one can document the suc-cess of therapy and explore individual out-comes which show a resistance to therapy.

Keywords

Facial pain · Craniomandibular dysfunction ·Patient questionnaire · Compliance

April 1998–Februar 1999 alle 230 Patien-ten, die mit einem Monoblock versorgtwurden, gebeten worden, einen Frage-bogen für den Zeitraum der zurücklie-genden 4–6 Wochen auszufüllen. DieFälle, die alio loco eine Vorbehandlungmit Aufbissschienen erfahren hatten,ha-ben wir zur Kenntnis genommen undnotiert. Für die Bewertung des Thera-piebedarfs war diese Information abereher nachrangig. Das Durchschnittsal-

ter betrug 38,31±12,64 Jahre bei einerSpanne zwischen dem 16. und 80. Le-bensjahr. Das männliche Geschlecht warmit 50 Männern gegenüber 180 Frauendeutlich unterrepräsentiert.Von den 230Patienten erwiesen sich 175 als Schmerz-patienten, deren Aufnahmebefund mitHilfe des Fragebogens dokumentiert wer-den konnte. Die Einweisung des Patien-ten zum Ausfüllen des Fragebogens er-folgte durch die Helferin. Zur Auswer-

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Abb. 1 � Die 14 Fragen zu Schmerzen, Befundänderungen und Empfindungen im Kiefer- und Gesichts-bereich sollen vom Patienten spontan und bewusst subjektiv durch punktgenaues Ankreuzen aufden Markierungen vollständig beantwortet werden

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Originalien

tung wurde ein Gesamtsummenscoregebildet, der in Gegenwart des Patientenin wenigen Minuten errechnet werdenkann. Die gleichen Fragebögen konntenwir im Abstand von zumeist 6 Wochenwiederholt 145 Patienten vorlegen. EinVergleich dieser Fragebogenergebnisseermöglicht eine Beurteilung des Behand-lungsverlaufs, sodass gleichzeitig, auchfür den Patienten erkennbar, der Thera-pieerfolg dokumentiert wird.

Die Zuverlässigkeit der Patienten-befragung mit diesem Fragebogen ha-ben wir mit einem Test-Retest geprüft.Im Abstand von 1 Woche vor Beginn derBehandlung baten wir in 86 Fällen da-rum, den gleichen Fragebogen ein 2. Malauszufüllen. Die errechnete Korrelationder Gesamtsummenscores war mit r=0,82 sehr zufrieden stellend.

Methode

Im Kopfteil des Fragebogens (Abb. 1)wird der Patient gebeten, seine subjekti-ven Beschwerden und Missempfindun-gen im Kiefer-Gesichts-Bereich auf ei-ner visuellen, 11-stufigen Analogskalaspontan mit einem Kreuz auf den vor-gegebenen Markierungen zu kennzeich-nen. In den in loser Folge aufgeführten14 Fragen, die ohne Ausnahme beant-wortet werden sollen, wird 3-mal nachSchmerzen, und zwar in den Zähnen,Ohren und Kiefergelenken, gefragt. Ins-gesamt 6 Fragen dokumentieren Befund-änderungen der Mundöffnung, der Stel-lung einzelner Frontzähne und eine mög-liche Hypertrophie der Wangenmusku-latur ebenso wie Geräusche in den Kiefer-gelenken, Zahnfleischbluten und -infek-tionen. Die subjektiven Empfindungenin der Muskulatur vor den Ohren, beiOkklusion der Zähne einschließlich mög-licher Lockerungen und Wahrnehmungenvon Knirschen und Pressen, sind 5-malauf den Ratingskalen anzustreichen. Jenach Interessenlage des Arztes kann in-nerhalb der 3 Fragekomplexe mit den je-weils 3, 5 und 6 Fragen ein Summenscoregebildet werden,oder alle Scores werdenzu einem Gesamtsummenscore zusam-mengefasst (Tabelle 1).

Ergebnisse

Die kraniomandibulare Dysfunktion istein Syndrom mit variationsreichen Be-schwerdekombinationen [4, 10]. Dervom Patienten mündlich vorgetragene

Grund für den Arztbesuch unterliegt na-turgemäß dessen subjektiver Bewertung.Die Auswertung der anamnestischenAngaben und Befunde durch den Arztführt dagegen häufig zu einer anderenDiagnose.Die Kommunikation zwischenArzt und Patient ist einerseits limitiertdurch die geistige Beweglichkeit des Pa-tienten und andererseits durch die zurVerfügung stehende Behandlungszeit inder Praxisroutine bzw. durch die Präzi-sion der Fragestellung durch den Inter-viewer. Nicht selten antwortet der Pa-tient auf eine klar formulierte Frage miteigenen diffusen Diagnosevorschlägenoder verneint beispielsweise die Fragenach Schmerzen, die er dann schriftlichdoch positiv anstreicht.

Wir waren überrascht, zu erfahren,dass von 175 Patienten knapp 42% (n=73) ihre Schmerzen nur schriftlich ange-geben haben. Der Fragebogengesamt-summenscore spiegelt den Schweregradeines individuellen Beschwerdebilds wi-der. Für die 73 Patienten errechneten wirdiesen mit 31,16 ±19,16. Dieser Wert ist

damit um rund 15% geringer als derdurchschnittliche Summenscore bei Pa-tienten mit mündlich vorgetragenenSchmerzen, für den wir 36,49±20,79 er-mitteln konnten (Tabelle 2).

Das Syndrom „CMD“ ist ausschließ-lich symptomatisch ohne jeden kausa-len Hinweis. Das klinische Bild kannstark variieren und alle 14 Fragen bestä-tigen. Bei einer deutlich ausgeprägtenCMD bewegen sich die Summenscorestypischerweise zwischen etwa 40 und 50aus mindestens der Hälfte aller Fragen.Eine Verdoppelung dieser Werte reprä-sentiert einen oberen Grenzwert, eineHalbierung derselben den unteren Be-reich der Normwerte. Nach unseren Er-fahrungen steigt die Therapiesicherheitim Vergleich zur Miniplastschiene beiEinsatz des Monoblocks mit zunehmen-dem Summenscore an, während im un-teren Bereich der Normwerte die Indi-kation zur Therapie individuell abgewo-gen werden muss (Tabelle 1). Der Sum-menscore allein rechtfertigt nicht, voneiner CMD zu sprechen, wenn nur we-

Tabelle 1Summenscore bei CMD zur Bestätigung der Diagnose und als Indikator für die Formder therapeutischen Intervention

Patienten Beispiele Kraniomandibulare Dysfunktion (CMD)Summenscore

Missemp- Befunde Schmerzen Gesamtfindungen (6 Fragen) (3 Fragen)(5 Fragen)

Typischer Befund, weiblich, 18 Jahre; 23 11 9 43mehrmals Aufbissschienen alio loco zerbissen–Indikation für Monoblocktherapie

Hoher Grenzwert, weiblich, 35 34 20 8923 Jahre–Indikation für Monoblocktherapie

Niedriger Grenzwert, weiblich, 63 Jahre; 10 9 4 23Zustand nach HNO-Operation vor 4 Jahren–Zustand bei „assoziierter CMD“

Tabelle 2Aufteilung in mündliche und ausschließlich schriftliche Schmerzangaben der 175Patienten bezogen auf den Gesamtsummenscore der visuellen Ratingskalen mitdem Ergebnis, dass einerseits fast 42% der Patienten ohne Patientenfragebogennicht erkannt worden wären, andererseits der Schweregrad der Gesamtbeschwer-den zwischen mündlichen und schriftlichen Angaben nur um 15,6% differiert

Mündliche Angaben Schriftliche Angaben

Anteil (Anzahl) 58,3% (n=102) 41,7% (n=73)Gesamtsummenscore 36,49±20,79 (+6,8%) 31,16±19,16 (–8,8%)Gesamtsummenscore 34,16±20,24 (n=175)

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nig positiv beantwortete Fragen (3–5)die Gesamtsumme bilden (Tabelle 3).

In der täglichen Praxis ist daher dieBetrachtung des Schaubilds aller Ant-wortkreuze für Arzt und Patient sehrhilfreich: Der Patient erkennt an der Viel-zahl und/oder Höhe seiner Markierun-gen die Ausdehnung seines Befunds.AlsFolge davon steigt seine Compliance, diein diesem Krankengut 83% (n=145) aus-macht. Kerschbaum u. Wende [6] gabenfür 308 Patienten mit schmerzhafter Dys-funktion eine Non-Compliance von 52%an. Dem Arzt wird durch ein typischesSchaubild die Diagnose erleichtert, undwährend der Verlaufskontrolle erkennter an stagnierenden, hohen, also nichtverbesserten Items die Notwendigkeiteiner gezielten, zusätzlichen Therapie-maßnahme. In gleicher Weise werdenauch Rezidive oder Behandlungsmiss-erfolge entlarvt. Auch andere Autorenbetonten die Notwendigkeit, bei CMD-Patienten mit Patientenfragebögen zuarbeiten [8, 19]. Seedorf et al. [14] for-derten die Festlegung von Parametern,um subjektiv beschwerdefreie Risikopa-tienten vor einer Behandlung herauszu-filtern, die nach einer Behandlung mitdem Bild eines CMD-Syndroms zumProblempatienten werden könnten. Die-se Problematik betrifft nicht nur die Kie-ferchirurgie, sondern in besonderemMaß auch die restaurative Zahnheilkun-de, wobei Seedorf et al. [14] mit RechtWert auf eine Begrenzung der Anzahlder Parameter legten, um praxisgerechtbleiben zu können.

Nicht typisch für eine CMD sindSchaubilder, bei denen nur vereinzelt

Fragen positiv, zumeist mit einem ins-gesamt eher geringen Gesamtsummen-score, angekreuzt wurden. Diese Schau-bilder widerlegen den Verdacht auf einSyndrom und geben eher Anlass, an einspezifisches Krankheitsbild zu denken.Vorbehaltlich der klinischen Untersu-chung könnte es sich beispielsweise umeine isolierte Okklusionsstörung [16],ein erkranktes Kiefergelenk [1] oder einemuskuläre [3], rheumatoide [5] oder ähn-liche Grunderkrankung handeln.Die kon-sequente Folge wäre eine entsprechenderweiterte Diagnostik mit ggf. nachfol-gend gezielter Therapie (Tabelle 3).

Schlussfolgerung

Der hier vorgestellte Patientenfragebo-gen hat sich bei uns als zusätzliches In-strument sowohl bei der Anamnese undEingangsuntersuchung als auch bei derBehandlungskontrolle sehr bewährt.Mitihm kann der Verdacht auf ein CMD-Syndrom anschaulich bestätigt oder wi-derlegt werden. Er ist gut zur Dokumen-tation der Verlaufskontrolle geeignet,steigert die Compliance beim Patientenund kann helfen, von einem unspezifi-schen Einstieg in die Schmerztherapiezu einer Kausaltherapie überzuleiten.

Auch ohne Therapiebedarf wäre die-ser Fragebogen routinemäßig als Scree-ninginstrument einsetzbar, um prophy-laktisch die Quote der Problempatien-ten nach kieferchirurgischen Eingriffenoder beispielsweise umfangreicher res-taurativer Zahnbehandlung zu mindern,wie es Seedorf et al. [14] forderten.

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Tabelle 3Beispiele für Differenzialdiagnosen zur CMD, die eine weiterführende Diagnostikoder Therapie erfordern

Diagnose Beispiele Summenscore

Missemp- Befunde Schmerzen Gesamtfindungen (6 Fragen) (3 Fragen) (5 Fragen)

Verdacht auf Myopathie, weiblich, 40 Jahre, 5 7 10 22seit 1 1/2 Jahren zunehmende Gesichts-schmerzen

KG-Arthropathie, weiblich, 37 Jahre, 23 7 10 40Gesichtsschmerzen bei Zustand nach Aufbissschienentherapie

Okklusionstrauma, weiblich, 37 Jahre, 5 2 5 12restliche Zahnschmerzen bei Zustand nach Aufbissschienentherapie