1
16 WIRTSCHAFT Frankfurter Rundschau Samstag / Sonntag, 21. / 22. September 2013 69. Jahrgang Nr. 220 Verdienst und Chance Gibt es ungerechte Ungleichheiten in einer grundsätzlich gerechten Gesellschaft? Von Matthias Möhring-Hesse TÜBINGEN. Der französische Histo- riker Pierre Rosanvallon notiert zu Beginn seines Buches „Die Ge- sellschaft der Gleichen“: „Man verdammt die faktischen Un- gleichheiten, während man die sie bedingende Ungleichheitsdy- namik implizit als legitim aner- kennt“. Einerseits hält man, hält zumindest eine relevante Mehr- heit die anhaltend hohen sozialen Ungleichheiten für ungerecht; an- dererseits akzeptiert man diejeni- gen sozialen Strukturen und da- durch angestoßene Entwicklung, die diese ungerechten Ungleich- heiten verursachen, – und hält mithin genau die Gesellschaft für gerecht, die ungerechte Ungleich- heiten aufweist. Rosanvallon hält dies für ein Paradox. Mir scheint jedoch, dass die Delegitimation sozialer Un- gleichheiten und die gleichzeitige Legitimation der ihr zugrundelie- genden gesellschaftlichen Dyna- mik gar nicht so widersprüchlich sind. Denn sie können sich über eine Gerechtigkeitsvorstellung, nämlich über die Vorstellung von legitimen Verdiensten in einer Konkurrenzgesellschaft und der gleichzeitigen Idee radikalisierter Chancengleichheit, begründen. In den uns vertrauten demo- kratischen Gesellschaften galten soziale Ungleichheiten niemals per se als ungerecht. Ungleichhei- ten hinsichtlich der sozialen Posi- tionen und Ämter, aber auch hin- sichtlich von Einkommen und Vermögen galten – im Gegenteil – immer schon als gerechtfertigt. Für diese Gesellschaften ist zwar ein Gleichheitsethos konstitutiv: Weil erstens gleichermaßen Mensch und entsprechend mit ei- ner unbedingten Würde ausge- stattet, weil zweitens gleicherma- ßen autonom, und weil drittens gemeinsam mit allen anderen Bürgern einer politischen Gesell- schaft, werden die einzelnen wie alle anderen in einer grundlegen- den Gleichheit gesehen und ihre sozialen Beziehungen entspre- chend geordnet. In dieser Pierre Rosanvallon schreibt: – „Gesellschaft der Glei- chen“ werden soziale Ungleich- heiten jedoch ausdrücklich zuge- lassen: als notwendiger Ausdruck oder als unvermeidbare Folge der Gleichheit, oder weil sie den glei- chen Menschen, Autonomen und Staatsbürgern gemeinsam von Nutzen sind. Mit ihrer Legitimati- on werden die Ungleichheiten zu- gleich limitiert – und zwar auf das Maß, das für eine „Gesell- schaft der Gleichen“ bekömmlich und für die Gleichheit der Men- schen, Autonomen und Staatsbür- ger nicht destruktiv ist. Sofern diese Begrenzung durch Ausmaß oder Formen über- schritten werden, gelten soziale Ungleichheiten als ungerecht und als Ausdruck einer ungerech- ten Gesellschaft, die über ihre so- zialen Ungleichheiten die Gleich- heit der Menschen, Autonomen und Staatsbürgern verrät. Dieser Zusammenhang scheint inzwi- schen aufgebrochen: Man sieht die Ungerechtigkeit der sozialen Ungleichheiten, akzeptiert aber die sozialen Verhältnisse und de- ren Dynamik, die sie verursa- chen. Beides zugleich lässt sich über eine veränderte Idee von Ge- rechtigkeit begründen: Konkur- renz gilt als die grundlegende Form sozialer Beziehungen und der daraus erwachsenden sozia- len Verhältnisse. In Konkurrenzsi- tuationen sind sich die Konkur- renten gleich – und regen sich ge- rade deshalb wechselseitig zu Höchstleistungen an. Die darüber errungenen Erfolge werden den einzelnen als ihre ureigenen Ver- dienste zugestanden und die sich daraus ergebenden Positionsge- winne gerechtfertigt. Dass sich auf diesem Wege Soziale Un- gleichheiten einstellen, wird als eine unvermeidliche, selbst aber nicht intendierte Folge hinge- nommen. Ausmaß und Formen der Sozialen Ungleichheit werden so zwar nicht selbst gerechtfer- tigt, „unterschwellig“ aber in die Legitimation des Verdienstes hi- neingezogen. Die Gerechtigkeit des Ver- dienstes hat allerdings eine Achil- lesferse: Ungleiche, selbst aber nicht verdiente Startpositionen werden auf dem Wege der Kon- kurrenz nicht ausgeglichen, son- dern bestätigt – und delegitimie- ren den Erfolg als unverdiente Be- lohnung unverdienter Startposi- tionen. Um Erfolge als Verdienste anerkennen zu können, braucht die Gerechtigkeit des Verdienstes eine radikale Chancengleichheit: „Vor“ der Konkurrenz muss allen Konkurrenten zumindest der Idee nach – alles Zufällige und Natürliche „ausgetrieben“ und sie so gleich gemacht werden. Dazu wird dem Staat, dem einzig eine solche „Gleichmachung“ zuge- traut werden kann, gestattet, ex- tensiv in die Lebensverhältnisse der einzelnen einzugreifen und von ihnen eine grundlegend ein- heitliche Lebensführung einzufor- dern und zu fördern. Die Gerechtigkeit des Ver- dienstes erlaubt es, die den sozia- len Ungleichheiten zugrundelie- gende Dynamik zu legitimieren. Zugleich erlaubt sie es, soziale Ungleichheiten, zumindest deren Extreme, zu delegitimieren, und ermöglicht es auch noch, sich mit diesen ungerechten Ungleichhei- ten abzufinden. Die aus legitimen Verdiensten resultierenden Un- gleichheiten werden ja nur in Kauf genommen. So lassen sie sich, lässt sich etwa die Armut der Armen als ungerecht beurteilen. Trotz ihrer Ungerechtigkeit darf man sich aber mit der Un- gleichheit arrangieren. Dazu spricht man etwa die davon nega- tiv Betroffenen schuldig, sich in der Konkurrenz mit anderen nicht hinreichend bemüht oder sich den Angeboten der staatli- chen „Gleichmachung“ verwei- gert zu haben. Oder man ver- spricht ihnen eine bessere Zu- kunft, in der die ungerechten Un- gleichheiten ausgeglichen wer- den, die aber nur anbrechen kann, wenn sie vorübergehend ausgehalten werden. Oder man relativiert die ungerechten Un- gleichheiten im eigenen Land durch größere Ungerechtigkeiten an anderen Orten und zu anderen Zeiten. So ist die Gesellschaft ins- gesamt gerecht, deren ungerechte Ungleichheiten man beklagt. Die Gerechtigkeit des Ver- dienstes und die radikalisierte Chancengleichheit können uns kaum überzeugen. Sie werfen systematische Probleme auf: Wie, so wird man zum Beispiel fragen müssen, werden Verdienste über- haupt den einzelnen zugeschrie- ben und wie erfolgt deren „Um- rechnung“ in verdiente Vorteile? Die Gerechtigkeit des Verdienstes und die radikalisierte Chancen- gleichheit geben Versprechen, die sie nicht einlösen, auf die sie aber nicht verzichten können, ohne dass sie ihre Gerechtigkeitsrele- vanz verlieren: Versprochen wird etwa die Aufstiegswirkung von Bildungserfolgen oder die Ar- beitsmarktintegration durch „For- dern und Fördern“; – und wenig davon wird in der Realität gehal- ten. Schließlich können sie kein positives und umfassendes Bild von den sozialen Verhältnissen zeichnen, die sie bestimmen kön- nen sollen: Über Konkurrenz bleibt die mit anderen gemeinsa- me Welt unterbestimmt. Nicht einmal die naheliegende Frage kann beantwortet werden, wel- che Pflichten gegenüber den je- weils verdienten Verlieren beste- hen, so dass die ursprüngliche Gleichheit der Konkurrenten nicht im Nachhinein außer Kraft gesetzt wird. Obgleich sie also als Gerech- tigkeitstheorie nicht taugt, er- scheint die Gerechtigkeit des Ver- dienstes vielen plausibel. Im Un- terschied zur Gleichheit der Men- schen kann sie Individuen an- sprechen, die nicht nur im Allge- meinen gleich wie alle anderen, sondern die gegenüber diesen an- deren besonders sind. Die Ge- rechtigkeit des Verdienstes er- kennt, wenn auch nur über den Verdienst, die den einzelnen aus- machende Besonderheit an. So wird die subjektivierte Indi- vidualität „bedient“, zu der sich die einzelnen zunehmend wech- selseitig anhalten. Weil sie etwas anerkennt, wozu die einzelnen gezwungen werden, findet die Gerechtigkeit des Verdienstes den Weg in die Herzen und Köpfe der Menschen – und dies, obgleich sie mit der korrespondieren Idee ra- dikaler Chancengleichheit den Subjekten ihre kontingente Ge- schichte und Natur, damit aber ei- ne wesentliche Quelle ihrer Sub- jektivität zu nehmen sucht. Stellt man in Rechnung, weswe- gen die Gerechtigkeit des Ver- dienstes vielen plausibel wird, wird man nach ihrer Kritik nicht einfach zurück zur Gerechtigkeit gleicher Menschen, Autonomen und Bürger zurückkehren kön- nen. Konzeptionell wird man an dieser Gerechtigkeit arbeiten und sie für die Besonderheiten der einzelnen aufschließen müssen und können. Zugleich wird man aber die Adressaten dieser Gerechtigkeit, inzwischen halt: subjektivierte Individuen, darüber aufklären müssen, dass sie sich auch in ih- rer Subjektivität einer vorgängi- gen Sozialität verdanken. Dass sie und untereinander darin (und eben nicht nur in der Kon- kurrenz mit anderen) gleich – für ihre jeweils vorgefundenen sozia- len Verhältnisse gemeinsam ver- antwortlich sind, und dass sie die sozialen und materiellen Bedin- gungen ihrer Subjektivierung für alle nur im Zuge wechselseitiger Solidarität gewährleisten kön- nen. Darüber lässt sich vielleicht plausibilisieren, dass sich im Zuge ihrer Subjektivierung die Diffe- renzen der Lebensformen mehren – und sie ihre dadurch bestimm- ten sozialen Verhältnisse in ziviler Weise nur bewältigen können, wenn nicht zugleich die sozialen Ungleichheiten übergroß sind oder werden. Vielleicht lassen sich subjektivierte Individuen so für eine Gerechtigkeit gewinnen, auf deren Grundlage sie sich nicht über extreme soziale Un- gleichheiten, sondern zugleich auch über eine gesellschaftliche Dynamik empören, so diese die sozialen Erfordernisse subjekti- vierter Individuen verletzten und deshalb ungerechte Ungleichhei- ten zum Ergebnis haben. Dann käme die Kritik an ungerechten Ungleichheiten wieder mit der Kritik an der Ungerechtigkeit der Gesellschaft überein. Konkurrenz spornt an. Aber es hängt auch von der Ausgangsposi- tion ab, wer es am schnellsten nach ganz oben schafft. MICHAEL SCHICK Soziale Ungleichheiten werden ausdrücklich zugelassen Die Gerechtigkeit des Verdienstes erscheint vielen plausibel GASTBEITRAG Der Autor Matthias Möh- ring-Hesse hat katholische Theo- logie und Sozio- logie studiert und seit 2011 den Lehrstuhl für Theologische Ethik/Sozialethik an der Katholisch- Theologischen Fakultät Tübingen der Eberhard-Karls-Universität Tübingen inne. Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag, den Möhring-Hesse auf der Fachtagung „Immer reicher, immer ärmer?“ der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft und des Nell- Breuning-Instituts der Philosophisch- Theologischen Hochschule St. Georgen (Frankfurt) gehalten hat. Die Frankfurter Rundschau doku- mentierte in dieser Woche eine Aus- wahl der auf der Fachtagung gehal- tenen Referate in gekürzter Fassung. FR PRIVAT

Verdienst und Chance - Sankt Georgen · riker Pierre Rosanvallon notiert zu Beginn seines Buches „Die Ge-sellschaft der Gleichen“: „Man verdammt die faktischen Un-gleichheiten,

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Verdienst und Chance - Sankt Georgen · riker Pierre Rosanvallon notiert zu Beginn seines Buches „Die Ge-sellschaft der Gleichen“: „Man verdammt die faktischen Un-gleichheiten,

16 WIRTSCHAFT Frankfurter Rundschau Samstag / Sonntag, 21. / 22. September 2013 69. Jahrgang Nr. 220

Verdienst und ChanceGibt es ungerechte Ungleichheiten in einer grundsätzlich gerechten Gesellschaft?

Von Matthias Möhring-Hesse

TÜBINGEN. Der französische Histo-riker Pierre Rosanvallon notiertzu Beginn seines Buches „Die Ge-sellschaft der Gleichen“: „Manverdammt die faktischen Un-gleichheiten, während man diesie bedingende Ungleichheitsdy-namik implizit als legitim aner-kennt“. Einerseits hält man, hältzumindest eine relevante Mehr-heit die anhaltend hohen sozialenUngleichheiten für ungerecht; an-dererseits akzeptiert man diejeni-gen sozialen Strukturen und da-durch angestoßene Entwicklung,die diese ungerechten Ungleich-heiten verursachen, – und hältmithin genau die Gesellschaft fürgerecht, die ungerechte Ungleich-heiten aufweist.

Rosanvallon hält dies für einParadox. Mir scheint jedoch, dassdie Delegitimation sozialer Un-gleichheiten und die gleichzeitigeLegitimation der ihr zugrundelie-genden gesellschaftlichen Dyna-mik gar nicht so widersprüchlichsind. Denn sie können sich übereine Gerechtigkeitsvorstellung,nämlich über die Vorstellung vonlegitimen Verdiensten in einerKonkurrenzgesellschaft und dergleichzeitigen Idee radikalisierterChancengleichheit, begründen.

In den uns vertrauten demo-kratischen Gesellschaften galtensoziale Ungleichheiten niemalsper se als ungerecht. Ungleichhei-ten hinsichtlich der sozialen Posi-tionen und Ämter, aber auch hin-sichtlich von Einkommen undVermögen galten – im Gegenteil –immer schon als gerechtfertigt.Für diese Gesellschaften ist zwarein Gleichheitsethos konstitutiv:Weil erstens gleichermaßenMensch und entsprechend mit ei-ner unbedingten Würde ausge-stattet, weil zweitens gleicherma-ßen autonom, und weil drittensgemeinsam mit allen anderenBürgern einer politischen Gesell-schaft, werden die einzelnen wiealle anderen in einer grundlegen-den Gleichheit gesehen und ihresozialen Beziehungen entspre-chend geordnet.

In dieser – Pierre Rosanvallonschreibt: – „Gesellschaft der Glei-chen“ werden soziale Ungleich-heiten jedoch ausdrücklich zuge-lassen: als notwendiger Ausdruckoder als unvermeidbare Folge derGleichheit, oder weil sie den glei-chen Menschen, Autonomen undStaatsbürgern gemeinsam vonNutzen sind. Mit ihrer Legitimati-on werden die Ungleichheiten zu-gleich limitiert – und zwar aufdas Maß, das für eine „Gesell-schaft der Gleichen“ bekömmlichund für die Gleichheit der Men-schen, Autonomen und Staatsbür-ger nicht destruktiv ist.

Sofern diese Begrenzungdurch Ausmaß oder Formen über-schritten werden, gelten sozialeUngleichheiten als ungerecht –und als Ausdruck einer ungerech-ten Gesellschaft, die über ihre so-zialen Ungleichheiten die Gleich-heit der Menschen, Autonomenund Staatsbürgern verrät. DieserZusammenhang scheint inzwi-

schen aufgebrochen: Man siehtdie Ungerechtigkeit der sozialenUngleichheiten, akzeptiert aberdie sozialen Verhältnisse und de-ren Dynamik, die sie verursa-chen. Beides zugleich lässt sichüber eine veränderte Idee von Ge-rechtigkeit begründen: Konkur-renz gilt als die grundlegendeForm sozialer Beziehungen undder daraus erwachsenden sozia-len Verhältnisse. In Konkurrenzsi-tuationen sind sich die Konkur-renten gleich – und regen sich ge-rade deshalb wechselseitig zuHöchstleistungen an. Die darübererrungenen Erfolge werden deneinzelnen als ihre ureigenen Ver-dienste zugestanden und die sichdaraus ergebenden Positionsge-winne gerechtfertigt. Dass sichauf diesem Wege Soziale Un-gleichheiten einstellen, wird alseine unvermeidliche, selbst abernicht intendierte Folge hinge-nommen. Ausmaß und Formender Sozialen Ungleichheit werdenso zwar nicht selbst gerechtfer-tigt, „unterschwellig“ aber in dieLegitimation des Verdienstes hi-neingezogen.

Die Gerechtigkeit des Ver-dienstes hat allerdings eine Achil-lesferse: Ungleiche, selbst abernicht verdiente Startpositionenwerden auf dem Wege der Kon-kurrenz nicht ausgeglichen, son-dern bestätigt – und delegitimie-ren den Erfolg als unverdiente Be-lohnung unverdienter Startposi-tionen. Um Erfolge als Verdiensteanerkennen zu können, brauchtdie Gerechtigkeit des Verdiensteseine radikale Chancengleichheit:„Vor“ der Konkurrenz muss allenKonkurrenten – zumindest derIdee nach – alles Zufällige undNatürliche „ausgetrieben“ und sieso gleich gemacht werden. Dazuwird dem Staat, dem einzig einesolche „Gleichmachung“ zuge-traut werden kann, gestattet, ex-tensiv in die Lebensverhältnisseder einzelnen einzugreifen undvon ihnen eine grundlegend ein-heitliche Lebensführung einzufor-dern und zu fördern.

Die Gerechtigkeit des Ver-dienstes erlaubt es, die den sozia-len Ungleichheiten zugrundelie-gende Dynamik zu legitimieren.Zugleich erlaubt sie es, sozialeUngleichheiten, zumindest derenExtreme, zu delegitimieren, undermöglicht es auch noch, sich mitdiesen ungerechten Ungleichhei-ten abzufinden. Die aus legitimenVerdiensten resultierenden Un-gleichheiten werden ja nur inKauf genommen. So lassen siesich, lässt sich etwa die Armut derArmen als ungerecht beurteilen.

Trotz ihrer Ungerechtigkeitdarf man sich aber mit der Un-gleichheit arrangieren. Dazuspricht man etwa die davon nega-tiv Betroffenen schuldig, sich inder Konkurrenz mit anderennicht hinreichend bemüht odersich den Angeboten der staatli-chen „Gleichmachung“ verwei-gert zu haben. Oder man ver-spricht ihnen eine bessere Zu-kunft, in der die ungerechten Un-gleichheiten ausgeglichen wer-den, die aber nur anbrechenkann, wenn sie vorübergehendausgehalten werden. Oder manrelativiert die ungerechten Un-gleichheiten im eigenen Landdurch größere Ungerechtigkeitenan anderen Orten und zu anderen

Zeiten. So ist die Gesellschaft ins-gesamt gerecht, deren ungerechteUngleichheiten man beklagt.

Die Gerechtigkeit des Ver-dienstes und die radikalisierteChancengleichheit können unskaum überzeugen. Sie werfensystematische Probleme auf: Wie,so wird man zum Beispiel fragenmüssen, werden Verdienste über-haupt den einzelnen zugeschrie-ben und wie erfolgt deren „Um-rechnung“ in verdiente Vorteile?Die Gerechtigkeit des Verdienstesund die radikalisierte Chancen-gleichheit geben Versprechen, diesie nicht einlösen, auf die sie abernicht verzichten können, ohnedass sie ihre Gerechtigkeitsrele-

vanz verlieren: Versprochen wirdetwa die Aufstiegswirkung vonBildungserfolgen oder die Ar-beitsmarktintegration durch „For-dern und Fördern“; – und wenigdavon wird in der Realität gehal-ten. Schließlich können sie keinpositives und umfassendes Bildvon den sozialen Verhältnissenzeichnen, die sie bestimmen kön-nen sollen: Über Konkurrenzbleibt die mit anderen gemeinsa-me Welt unterbestimmt. Nichteinmal die naheliegende Fragekann beantwortet werden, wel-che Pflichten gegenüber den je-weils verdienten Verlieren beste-hen, so dass die ursprünglicheGleichheit der Konkurrenten

nicht im Nachhinein außer Kraftgesetzt wird.

Obgleich sie also als Gerech-tigkeitstheorie nicht taugt, er-scheint die Gerechtigkeit des Ver-dienstes vielen plausibel. Im Un-terschied zur Gleichheit der Men-schen kann sie Individuen an-sprechen, die nicht nur im Allge-meinen gleich wie alle anderen,sondern die gegenüber diesen an-deren besonders sind. Die Ge-rechtigkeit des Verdienstes er-kennt, wenn auch nur über denVerdienst, die den einzelnen aus-machende Besonderheit an.

So wird die subjektivierte Indi-vidualität „bedient“, zu der sichdie einzelnen zunehmend wech-selseitig anhalten. Weil sie etwasanerkennt, wozu die einzelnengezwungen werden, findet dieGerechtigkeit des Verdienstes denWeg in die Herzen und Köpfe derMenschen – und dies, obgleich siemit der korrespondieren Idee ra-dikaler Chancengleichheit denSubjekten ihre kontingente Ge-schichte und Natur, damit aber ei-ne wesentliche Quelle ihrer Sub-jektivität zu nehmen sucht.

Stellt man in Rechnung, weswe-gen die Gerechtigkeit des Ver-dienstes vielen plausibel wird,wird man nach ihrer Kritik nichteinfach zurück zur Gerechtigkeitgleicher Menschen, Autonomenund Bürger zurückkehren kön-nen. Konzeptionell wird man andieser Gerechtigkeit arbeiten undsie für die Besonderheiten dereinzelnen aufschließen müssenund können.

Zugleich wird man aber dieAdressaten dieser Gerechtigkeit,inzwischen halt: subjektivierteIndividuen, darüber aufklärenmüssen, dass sie sich auch in ih-rer Subjektivität einer vorgängi-gen Sozialität verdanken. Dasssie – und untereinander darin(und eben nicht nur in der Kon-kurrenz mit anderen) gleich – fürihre jeweils vorgefundenen sozia-len Verhältnisse gemeinsam ver-antwortlich sind, und dass sie diesozialen und materiellen Bedin-gungen ihrer Subjektivierung füralle nur im Zuge wechselseitigerSolidarität gewährleisten kön-nen.

Darüber lässt sich vielleichtplausibilisieren, dass sich im Zugeihrer Subjektivierung die Diffe-renzen der Lebensformen mehren– und sie ihre dadurch bestimm-ten sozialen Verhältnisse in zivilerWeise nur bewältigen können,wenn nicht zugleich die sozialenUngleichheiten übergroß sindoder werden. Vielleicht lassensich subjektivierte Individuen sofür eine Gerechtigkeit gewinnen,auf deren Grundlage sie sichnicht über extreme soziale Un-gleichheiten, sondern zugleichauch über eine gesellschaftlicheDynamik empören, so diese diesozialen Erfordernisse subjekti-vierter Individuen verletzten unddeshalb ungerechte Ungleichhei-ten zum Ergebnis haben. Dannkäme die Kritik an ungerechtenUngleichheiten wieder mit derKritik an der Ungerechtigkeit derGesellschaft überein.

Konkurrenz spornt an. Aber es hängt auch von der Ausgangsposi-tion ab, wer es am schnellsten nach ganz oben schafft. MICHAEL SCHICK

Soziale Ungleichheitenwerden ausdrücklichzugelassen

Die Gerechtigkeit desVerdienstes erscheintvielen plausibel

GASTBEITRAGDer AutorMatthias Möh-ring-Hesse hatkatholische Theo-logie und Sozio-logie studiert undseit 2011 denLehrstuhl fürTheologische

Ethik/Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen derEberhard-Karls-Universität Tübingeninne.

Der Aufsatz basiert auf einem Vortrag,den Möhring-Hesse auf der Fachtagung„Immer reicher, immer ärmer?“ derForschungsstätte der EvangelischenStudiengemeinschaft und des Nell-Breuning-Instituts der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen(Frankfurt) gehalten hat.

Die Frankfurter Rundschau doku-mentierte in dieser Woche eine Aus-wahl der auf der Fachtagung gehal-tenen Referate in gekürzter Fassung. FR

PRIV

AT