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VEREINIGUNG VON WESTLICHER UND ÖSTLICHER
LYRIK Am Beispiel des Gedichts Lied und Gebilde von J.W. Goethe
Verfasst von Stefanie Mayr
1
Universität Augsburg Philologisch-Historische Fakultät Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft WS 2017/2018 PS/ Ü Deutschsprachige Lyrik vom 17. bis ins 20. Jahrhundert Dozent: Prof. Dr. Friedmann Harzer
Vereinigung von westlicher und östlicher Lyrik
Am Beispiel des Gedichts Lied und Gebilde von J.W. Goethe
Stefanie Mayr 3.Semester, LA Gym. Deutsch / kath. Religionslehre
Modulsignatur: GER-1003 (= GyD-110-NDL) Leonhardstr. 4, 86159 Augsburg
2
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ............................................................................................................................. 3
2. Goethe und sein Alterswerk ................................................................................................ 3
3. Analyse des Gedichts Lied und Gebilde .............................................................................. 7
3.1 Das Gedicht im Kontext des West-Östlichen Divans ....................................................... 7
3.2 Das Gedicht im Kontext der Morphologie und Farbenlehre ........................................... 9
3.3 Gedichtanalyse und Interpretation ............................................................................... 11
4 Schlussgedanke ................................................................................................................. 14
Literaturverzeichnis
Eidesstattliche Erklärung
3
1. Einleitung
„Bilde, Künstler! Rede nicht! Nur ein Hauch sei ein Gedicht.“ (FA 2, S. 349)
Mit diesen Worten beschreibt Goethe das Grundprinzip poetischen Arbeitens, dem jeder
Künstler folgen sollte: Statt eines langen theoretischen Vordenkens soll er sich direkt an das
Schaffen machen. Dabei empfiehlt er aber nicht das vollständige Schweigen der theoretischen
Überlegungen, sondern weist mit Vers zwei auf den inneren Zusammenhang des Bildens und
Redens hin, der darin besteht, dass Poesie eine Vereinigung von bildender und redender Kunst
ist, wie Sebastian Kaufmann festhält.1
Die konkrete Umsetzung dieses Gedankens findet sich im vorliegenden Gedicht Lied und
Gebilde, das im Folgenden genauer besprochen werden soll. Dazu ist es allerdings notwendig,
zunächst Goethes Alterswerk kurz vorzustellen und damit seine Vorstellungen zur östlichen
Lyrik – insbesondere in Bezug auf den Dichter Hafis und seinen Einfluss auf den west-östlichen
Divan – offensichtlich zu machen. Zwei weitere Betrachtungsaspekte werden die Morphologie
und Farbenlehre, die Goethe vor allem in seinen späteren Arbeiten entfaltet, sein. Mit diesen
als Grundlage soll schließlich eine Analyse und Interpretation des Gedichtes selbst erfolgen,
wobei der Schwerpunkt auf der Umsetzung der zuvor besprochenen Punkte liegt.
2. Goethe und sein Alterswerk
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1732) musste in seinem letzten Lebensabschnitt (1805
bis 1832) viele Schicksalsschläge erleiden. In dieser Zeit verstarben sein bester Freund und
Dichter Friedrich Schiller, seine Mutter, seine Frau Christiane und zuletzt, wenige Jahre vor
seinem eigenen Tod, sein Sohn August. Außerdem durchlitt er zu Beginn dieses Abschnitts eine
schwere Krankheit, bei der zunächst ungewiss war, ob er diese überhaupt überleben würde.2
Während dieser Periode brach bei ihm eine Schaffenskrise aus, die jedoch ab 1807/08 mit den
verfassten Sonetten, der Pandora und den Wahlverwandtschaften die Jahre darauf wieder ein
Ende fand. Es scheint gar so, als ob bei ihm nach Jahren der Traurigkeit eine neue Lebensfreude
erwuchs. Dies könnte man zumindest annehmen, wenn man sich die Gliederung seiner
Alterslyrik und die damit verbundenen Themen ansieht. Den Anfang machen die Sonette, auf
welche der West-Östliche Divan (1814 bis 1820) und schließlich die Chinesisch-Deutschen
Jahres- und Tageszeiten folgen. Die Sonette befassen sich, wie im ersten Gedicht Mächtiges
Überraschen deutlich wird, mit der Natursymbolik und dem Beginn eines neuen Lebens, was
1 Vgl. Kaufmann, Sebastian: „Schöpft des Dichters reine Hand…“, S. 5. 2 Vgl. Witte, Bernd (Hrsg.): GOETHE HANDBUCH. Chronologie, S. 84-150.
4
im letzten Vers sogar explizit erwähnt wird. Dem Gedicht Hegire, welches den Auftakt des
West-Östlichen Divans vorgibt, kann man den Leitgedanken einer ‚Verjüngung‘ entnehmen,
wenn man die erste Strophe genauer betrachtet: „Unter Lieben, Trinken, Singen | Soll dich
Chisers Quell verjüngen.“ (MA 18.1, S.16) Vergleichbares ist auch im ersten Gedicht der
Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten zu finden: „Fröhlich trinken, geistig
schreiben.“3 So ist festzustellen, dass sich die gesamte Alterslyrik von Goethe einer
Regeneration bzw. ‚Verjüngung‘ unterzieht, ohne dabei den Gedanken des Alters außer Acht
zu lassen.4 Die Erklärung für das überaus reiche Vorkommen an Naturphänomenen und
Natursymboliken, wie es in seinem Alterswerk der Fall ist, liegt darin, dass sie in seinem letzten
Lebensabschnitt einen höheren, wenn nicht sogar den höchsten Stellenwert erlangten. Der
Grund hierfür war, dass es ihm gelingen wollte, die Vereinbarkeit von Naturwissenschaft und
Poesie aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass sie bei einer Zusammenführung im Schaffen
sehr produktiv sein können.5 Die Anzeichen für eine Beschäftigung mit diesem Themengebiet
tauchten bereits in den Jahren der Weimarer Klassik auf, in denen Goethe, inspiriert von der
italienischen Reise, mit seinen morphologischen Forschungen begann, welche sich später im
Alterswerk fortsetzten.6
Er sah in der Morphologie die Verknüpfung zwischen den Naturwissenschaften und der
Dichtung. So ist die Morphologie in den Sprachwissenschaften die Formenlehre wie
vergleichsweise die Metamorphose in den Naturwissenschaften. In beiden Bereichen geht es
um den zugrundeliegenden Aufbau und das Ineinanderwirken von verschiedenen Stadien.
Goethe behauptet daran anschließend, dass nur er allein „in sichtbaren und greiflichen
Gestalten“ zugleich das „Wesen der Dinge“ erreichen könne. Die Bedingung für ihn ist dabei,
dass er „auf den [!] Grundfesten der Erkenntnis“ bleibt, das bedeutet, dass er die Kunst in ihren
Studien daraufhin weist, „daß sie die Reihe der Gestalten übersieht und die verschiedenen
charakteristischen Formen nebeneinander zu stellen und nachzuahmen weiß.“7 Er fordert den
Künstler dazu auf, sich nicht vor der Wissenschaft und deren Erkenntnisse zu verschließen,
sondern diesen offen gegenüberzutreten. Er meint, „daß wir beim Kunstgebrauche, nur dann
mit der Natur wetteifern können, wenn wir die Art, wie sie bei Bildung ihrer Werke verfährt,
ihr wenigstens abgelernt haben.“8 Er sieht in der vorzunehmenden Nachahmung der Natur den
höchsten Stil künstlerischer Gestaltung. An diesem Punkt gibt er zu bedenken, dass er die
3 Richter, Karl: Poesie und Naturwissenschaft, S. 11. 4 Vgl. Ebd., S. 11. 5 Vgl. Ebd., S. 13. 6 Vgl. Ebd., S. 22. 7 Ebd., S. 23. 8 Ebd., S. 23.
5
Morphologie als eine Methode bestimmt, „die nicht an einen bestimmten Gegenstandsbereich
gebunden ist“9, was erst eine Übermittlung an die Kunst ermöglicht, weil so das Eigenständige
der Gegenstandsbereiche wie die fortschreitende Entwicklung erhalten bleibt. Dennoch ist eine
Reflexion der Bereiche von größter Notwendigkeit. Zudem soll sich der Dichter bzw. der
Künstler bei dem Versuch der Nachahmung nicht mehr an der natura naturata – der
vorhandenen, feststehenden Natur – „sondern an der natura naturans, der schaffenden und
schöpferisch produktiven Natur“10 orientieren. Mit dieser Aussage vollzog Goethe einen
revolutionären Wandel in der Theorie der Naturnachahmung und befreite zugleich den Dichter.
Er „gab seinem Schöpfertum die Würde eines selbstständigen, dem Schöpfertum der Natur
vergleichbaren produktiven Vermögens.“11 Entgegen seinen Kritikern gab er in einem
Rückblick zu Wort, dass „Wissenschaft und Poesie vereinbar seien.“12 13
Neben der Morphologie und der Literatur beschäftigte er sich mit seiner größten Leidenschaft,
der Farbenlehre. Das Buch zur Farbenlehre betitelt Goethe als sein wichtigstes Werk, welches
immer noch von maßgebender Bedeutung für die gegenwärtige Kunst ist. Er setzte sich in
seinem Studium mit der psychischen Wirkung von Farben auf den Menschen auseinander. Die
Basis hierbei ist der Gegensatz von Hell und Dunkel, der sowohl essenziell, als auch polar ist.
Dabei stellt er die Farben als Grenzphänomene zwischen Licht und Dunkelheit dar. Gelb liegt
bei dieser Anschauung an der Grenze zur Helligkeit und Blau dagegen an der Grenze zur
Dunkelheit. Die Farbe Himmelblau ist in Bezug „auf die antike griechische Vorstellung als
Trübe entstanden, eine Atmosphäre, ein durchsichtiges Medium, der Luft, vor dem Dunkel des
Weltalls.“14 Nach dieser Lehre setzen sich die Farben aus einer Mischung aus hell und dunkel
zusammen und entstehen somit im Halbschatten. Darum ist es für Goethe niemals möglich,
dass die Addition der Spektralfarben ein weißes Licht ergeben, worin auch der Widerspruch zu
Newton gründet, auf den später noch eingegangen wird.15
Es gibt also nur zwei reine Farben, nämlich Gelb und Blau, aber weil Purpur nicht aus anderen
Farben zusammengemischt werden kann, bestimmt er aus diesem Grund drei reine Malfarben
Gelb, Blau und Rot. Während wir diese Farben wahrnehmen, bildet unser Auge selbstständig
dazu Komplementärfarben. Infolgedessen wählte Goethe die Darstellung eines Kreises, um alle
Farben und ihre Gegenspieler gegenüberzustellen. Ergänzend hierzu geht er von einer
9 Richter, Karl: Poesie und Naturwissenschaft, S. 25. 10 Ebd., S.25. 11 Ebd., S.26. 12 Ebd., S.23. 13 Vgl. zum gesamten Abschnitt Richter, Karl: Poesie und Naturwissenschaft, S. 21-29. 14 Unbekannt: Goethes Farbenlehre, https://lehrerfortbildung-bw.de/st_digital/medienkompetenz/gestaltung-farbe/systeme/goethe/ , zuletzt aufgerufen am 29.12.17. 15 Vgl. Unbekannt: Goethes Farbenlehre., 29.12.2017.
6
Abbildung 1
Steigerung aus, bei der Purpur als das höchste zu
Erreichende gilt und deshalb seinen Platz oben im
Kreis hat. Grün ist demnach als Gegenspieler unten
im Kreis verankert, so wie es in der Abbildung
dargestellt ist. Nach Goethe ergeben so die Farben
Gelb bis Purpur die Plusseite und Grün bis Blau die
Minusseite. Die Farben der Plusseite „stimmen
regsam, lebhaft, strebend“16 und die der Minusseite
dagegen „zu einer unruhigen, weichen und sehnenden
Empfindung“.17 Gelb wirkt „prächtig und edel und
macht einen warmen und behaglichen Eindruck“.18 Im Gegensatz dazu gibt Blau „uns ein
Gefühl von Kälte“.19 Auch hier geht Goethe nach dem Prinzip der „Polarität und Steigerung“20
vor. Seine Theorie der Farbenlehre steht gänzlich im Widerspruch zu dem Partikelmodell von
Isaac Newton, das in seiner Zeit das Optimum verkörperte. 21 Um den Disput der beiden zu
verstehen, wird nun Newtons Modell kurz erklärt.
Er beschreibt das Licht als Partikel und konnte zu seiner Lebenszeit sieben unterschiedliche
Farben des Spektrums nachweisen. Heute kennen wir das Experiment der Lichtbrechung durch
die Verwendung eines Prismas. Dabei wird das Licht zunächst einmal durch den Übergang von
Luft zu Glas gebrochen und ein zweites Mal bei dem Übergang von Glas zu Luft. Das führt zu
einer Aufspaltung des Lichts in ein kontinuierliches Farbspektrum, wobei die nicht mehr weiter
aufzuspaltende Spektralfarben als spektralrein bewertet werden. Wenn man nun diese Farben
zusammen durch eine Linse führt, ergibt dies wieder ein ‚weißes‘ Licht.22 Die Ansätze von
Goethe und Newton unterscheiden sich grundsätzlich in ihren Theorien, weil Goethe in seinem
Studium die Farben ganzheitlich betrachtet und Newton dagegen analysierend vorgeht. Somit
sollten die beiden Anschauungen nicht in Konkurrenz aufgefasst, sondern als gleichwertig
nebeneinandergestellt erachtet werden.23
16 Unbekannt: Goethes Farbenlehre, 29.12.2017. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 119. 21 Unbekannt: Goethes Farbenlehre, 29.12.2017. 22 Vgl. Unbekannt: Lichtbrechung und Spektralfarben. https://lehrerfortbildung-bw.de/st_digital/medienkompetenz/gestaltung-farbe/physik/spektrum/index.html#newton, zuletzt aufgerufen am 29.12.2017 23 Unbekannt: Goethes Farbenlehre, 29.12.2017.
7
3. Analyse des Gedichts Lied und Gebilde
Als Erstes werden die genaueren Hintergründe zur Gedichtsammlung des West-Östlichen-
Divans erläutert und die damit einhergehende Bedeutung für Goethe geklärt. Im Anschluss
daran findet eine Analyse des Gedichts in Bezug auf die Gedichtsammlung statt.
3.1 Das Gedicht im Kontext des West-Östlichen Divans
Die Entstehung des West-Östlichen Divans begann mit Goethes Reise in die Rhein-Main-
Gegend im Sommer 1814. Dort bekam er zu Beginn von seinem Verleger eine vollständige, ins
Deutsche übersetzte Ausgabe des Diwans (dt.: Gedichtsammlung), welche vom persischen
Dichter Hafis im 14. Jahrhundert verfasst wurde. Die Übersetzung war von Joseph von
Hammer-Purgstall in Beziehung zur europäischen Tradition der Anakreontik gesetzt worden.24
Die Anakreontik bezieht sich auf den lebensbejahenden antiken Dichter Anakreon (ca. 575-495
v.Chr.). Er beschäftigte sich mit der gefühlvollen und spielerischen Seite eines Gedichts, welche
im 18. Jahrhundert als Gegenpol zur vorangehenden Natur- und Lehrdichtung auftritt. Sie soll
durch ihre Einfachheit alle Hindernisse, die Gesellschaften und Nationalitäten verursachen,
überwinden und eine Poesie als „Schule der Lebenskunst“25 hervorbringen.26 Genau diese
Vorgehensweise in der Überlieferung faszinierte Goethe und führte dazu, dass er sich in den
Themen und Einstellungen in den Gedichten Hafis wiederfand.27 Ebenso begeisterte ihn die in
dieser Dichtkunst vorkommende Grenzenlosigkeit und Unendlichkeit der orientalischen Kultur,
die Karl Richter folgendermaßen beschreibt: „Hafis Lyrik erscheint dem westlichen Dichter als
eigentümlich in sich kreisende Dichtung ohne Anfang und Ende, aber auch als Ausdruck einer
unerschöpflichen Produktivität.“28 Durch die Begegnung mit Hafis Werk kam ihm die Idee,
auch einen eigenen Divan mitsamt interkulturellen poetischen Bezug zu verfassen. Als Folge
entstanden bereits zu Beginn und im Verlauf seines Streifzugs mehrere Gedichte mit Verweis
auf den persischen Dichter, die später in seinem Werk Einzug hielten. Dabei war es ihm wichtig,
nicht etwa sein Vorbild zu imitieren, sondern mit ihm ein „dialogisches Spiel“29 zu veranstalten,
bei dem das Eigene und das Andere erhalten bleibt, sich schichtet und auch entgegensetzt.30
Am Ende fällt auf, dass in den Gedichten sowie in der gesamten Gedichtsammlung immer
wieder das Dichten selbst im Vordergrund steht und beschrieben wird.31
24 Vgl. Mecklenburg, Norbert: Goethe. Inter- und transkulturelle poetische Spiele, S. 189f. 25 Burdorf, Dieter: Geschichte der deutschen Lyrik. Einführungen und Interpretationen, S. 42. 26 Vgl. Ebd., S. 40ff 27 Vgl. Mecklenburg, Norbert: Goethe. Inter- und transkulturelle poetische Spiele, S. 190. 28 Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 123. 29 Mecklenburg, Norbert: Goethe. Inter- und transkulturelle poetische Spiele, S. 191. 30 Vgl. Ebd. 31 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S.116.
8
Aber abgesehen von Hafis, spielte noch eine weitere Person eine entscheidende Rolle bei der
Entstehung der Gedichtsammlung. Auf der Reise kreuzten sich die Wege von Goethe und der
30-jährigen Marianne Jung, welche die Lebenspartnerin und später die Frau von seinem Freund
Johann Jakob Willemer war. Kurz darauf befanden sich beide in einer leidenschaftlichen
Liebesaffäre, die sich im umfangreichsten und bedeutsamsten Buch Suleika im Divan
niederschlug. Dort vollzogen Marianne als die Geliebte zusammen mit dem persischen Dichter
Hafis ein „poetisch-erotisches Rollenspiel“32 zwischen ‚Hatem‘ und ‚Suleika‘ ab. Nachdem
sich die beiden wieder getrennt hatten, klang der Reichtum seiner Produktionskraft ab und er
widmete sich der Sammlung und Ordnung der bis dahin verfassten Gedichte.33 Nach und nach
bildete sich ein Zyklus heraus, wobei jedes Gedicht auf ein anderes sowie auf das Ganze
verwies. Goethe selbst schrieb im Mai 1815 in einem Brief an Zelter über sein Werk:
Jedes einzelne Glied nämlich, ist so durchdrungen von dem Sinn des Ganzen, ist so
innig orientalisch, bezieht sich auf die Sitten, Gebräuche, Religion und muß von einem
vorhergehenden Gedicht erst exponiert sein, wenn es auf Einbildungskraft oder Gefühl
wirken soll. Ich habe selbst noch nicht gewußt, welches wunderliche Ganze ich daraus
vorbereitet. (K 566)
Der fertige Zyklus des Divans, 1819 erschienen, besteht aus zwölf Büchern (Unterzyklen),
welche ihrerseits thematisch noch dichter zusammenstehen und deren Namen auf Persisch wie
auf Deutsch verfasst wurden. Zu den Hauptthemen und Motiven zählen „Religiosität, erotische
und andere Formen der Liebe, Identität zwischen Hingabe und Selbstbehauptung, Altern.“34 35
Obendrein beinhaltet der Divan eine nicht zu vergleichende Spannweite an thematischen und
formalen Unterschieden, die sich immer wieder aus der „Integration polar entgegengesetzter
Elemente aufbaut“36, was auf den Einfluss des Orients zurückzuführen ist.37
In dem ersten Buch des gesamten Zyklus, genannt Moganni Nameh – Buch des Sängers, findet
sich nun auch Lied und Gebilde als das 13. von insgesamt 18 Gedichten und ist vor dem 30.
Mai 1815 entstanden. Im Vergleich zu anderen steht besonders in diesem Buch das Dichten
selbst im Vordergrund, wobei der ‚Sänger‘ hier den ‚Dichter‘ repräsentiert. Ein paar von seinen
Gedichten werden als ‚poetologische Gedichte‘ bezeichnet, wobei Lied und Gebilde in dieser
Hinsicht als der zentrale Punkt des Buches und beim Nachdenken über die Poetologie
herausgearbeitet wurde. Deshalb ist es umso bedeutsamer, wie schon weiter oben
angesprochen, die ganze Gedichtsammlung sowie die direkt vorangehenden und die
32 Mecklenburg, Norbert: Goethe. Inter- und transkulturelle poetische Spiele, S. 191. 33 Vgl. Ebd. 34 Ebd., S. 189. 35 Vgl. Ebd., S. 188f. 36 Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 124. 37 Vgl. Ebd.
9
nachfolgenden Gedichte in die Analyse und später in die Interpretation miteinzubeziehen.
Natürlich kann man das Gedicht auch für sich lesen und verstehen, aber um vollstes Verständnis
zu erlangen und dessen Tragweite zu erkennen, ist der Kontext und die Reflexion auf ihn von
Belang. Es ist nämlich so, dass der Zyklus auf das Gedicht hinführt, sich im Gedicht teilweise
spezifiziert und dann wieder in ein anderes überläuft. Hauptsächlich ist die Gedichtsammlung
von der Motivik der Verjüngung und erneuertem Leben durchzogen, wie sich in Hegire zu
Beginn abzeichnet, wo sich der Dichter auf Chiser, den Beschützer der Quelle des Lebens,
beruft. In Lied und Gebilde entsteht das Neue aus dem „flüßgen Element“: „Löscht sich so der
Seele Brand | Lied es wird erschallen […].“ 38 39
3.2 Das Gedicht im Kontext der Morphologie und
Farbenlehre
Die Analyse des Gedichts erfolgt in diesem Unterpunkt im Hinblick auf die Morphologie sowie
die Farbenlehre, wobei aber zunächst zum besseren Verständnis der Inhalt kurz wiedergegeben
wird. Die erste Strophe handelt von der Bearbeitung des Thons durch einen Griechen und die
Weitergabe dieser Geschicklichkeit an den eigenen Sohn. Die zweite Strophe ist heiterer und
beflügelter. Sie benennt den Euphrat, in den mit der Hand hineingegriffen wird und sie darin
hin und wieder schweifen lässt. Die dritte und letzte Strophe vereint dabei die zuvor genannten
Bereiche, d.h. einmal den Griechen, der das Abendland verkörpert und anschließend den
Euphrat, der den Orient mit ins Spiel bringt, woraus dann das Lied entsteht.40
Nun zur Morphologie: Lied und Gebilde gliedert sich in drei Strophen mit jeweils vier Versen,
welche in einem Kreuzreim verfasst wurden. Nach dem Aufbau zufolge lässt sich also die
Gattung ‚Lied‘ erkennen, die strikt bis zur zweiten Strophe eingehalten und danach
wiederaufgenommen wird. Doch in der zweiten Strophe im fünften und siebten Vers wird
dieses Reimschema bemerkenswerterweise unterbrochen. Diese Unregelmäßigkeit spiegelt
sich auch in der Metrik wieder, die an dieser Stelle einen Wechsel zwischen dem vierhebigen
Trochäus, der auf eine männliche Kadenz hinausläuft, und dem dreihebigen, welcher auf eine
weibliche Kadenz endet, vollzieht. Dieser Wechsel unterstreicht den Gegensatz aus dem Inhalt
von ‚Fließen‘ und ‚Drücken‘, weil der Rhythmus in gleicher Weise ‚fließt‘ und sich wieder
‚staut‘. Es wurde also hier der Versuch unternommen, aus dem Reimschema und dadurch aus
der Form des Liedes auszubrechen.41
38 Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 117. 39 Vgl. Ebd., S. 115-118. 40 Vgl. Ebd., S. 115. 41 Vgl. Ebd., S.125.
10
Neben diesem Punkt ist die Antithese aus dem oben beschriebenen Inhalt erwähnenswert, weil
sie die Gegenpole der beschriebenen Himmelsrichtungen durch die Konjunktion Aber im
fünften Vers herausstellt. 42
Des Weiteren zeigt die Interpunktion, dass die erste Strophe mit einem Semikolon endet, die
zweite mit einem Punkt und in der dritten Strophe beide zum Vorschein kommen. Kurzum die
Interpunktion unterstützt den Inhalt des Gedichts. Zunächst werden die oben verfassten
Darstellungen der ersten beiden Strophen durch ein Semikolon getrennt und einen Punkt
beendet, um in der letzten Strophe die Verbindung der beiden Themenabschnitte zu
verdeutlichen.
Insgesamt sieht man am Aufbau des Gedichts, dass „das poetologische Erbe der Klassik im
West-Östlichen Divan zugleich überwunden und mit darin enthalten ist.“43 Goethe versucht aus
dem alten starren Muster sowohl inhaltlich, als auch von der Form her, auszubrechen. Jedoch
gelingt es ihm nur im Bereich des Inhalts, aber nicht im Bereich der Form. Ihm wird in der
zweiten Strophe bewusst, dass das nicht funktioniert, weshalb er sich nachfolgend wieder dem
alten Muster hingibt. Der Grund ist, dass er nicht einfach etwas von dem Neuen rezipieren will,
sondern es miteinbauen und dadurch etwas völlig Neues schaffen möchte. Zugleich zeigt er die
Darstellungsproblematik auf, die bei der Zusammenführung von westlicher und östlicher Lyrik
in formaler Hinsicht entsteht. Es ist schwierig die beiden Formen miteinander zu vereinen.
Einen Ausweg ergibt sich jedoch durch die Verwendung des Lieds. Es gibt die Beschwingtheit
und die Grenzenlosigkeit der orientalischen Dichtkunst wieder sowie deren zyklisches
Verhalten.44
Im Anschluss daran beschäftigt sich der zweite Teil dieses Unterpunktes mit der Farbenlehre
unter Einschluss des Gedichts Lied und Gebilde. Anhand des Begriffs Thon, womit die zu
formende Tonerde gemeint ist, lässt sich die Farbe Ocker feststellen. Geht man nun weiter in
den fünften Vers, in dem das Adjektiv wonnereich enthalten ist, welches eine Wärme auf den
Leser ausstrahlt, und den Euphrat im sechsten als den Repräsentanten des Orients mit der
aufgehenden Sonne, so kann man eine orangene Farbe annehmen. Hinzukommt der Begriff
Brand im neunten Vers, den man mit der Farbe Rot benennen kann.
Das Gedicht als Ganzes betrachtet, ergibt eine Steigerung der Farbtöne von Ocker zu Rot.
Anfangs erscheint hier das Alte und Beständige aus dem bekannten Abendland, im Anschluss
daran das Neue aus dem Morgenland, was in einer gemeinsamen Strophe vereint wird. Rot ist
42 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S.119. 43 Richter, Karl: Poesie und Naturwissenschaft, S.78. 44 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S.125.
11
hier, wie weiter oben besprochen, das höchstmögliche zu Erreichende und entspricht dem Inhalt
von Lied und Gebilde, weil die Verbindung von westlicher und östlicher Lyrik in der dritten
Strophe die höchste Steigerung in diesem Gedicht ergibt. Es entspringt eine neue Schöpfung
der Dichtkunst.
Eine weitere Farbe in diesem Gedicht ist die Farbe Blau. Sie kommt sowohl in der zweiten
Strophe in der Nennung des Flusses Euphrat vor, als auch in der dritten Strophe, in dem das
Wasser selbst genannt wird. Beide Vorkommen sind unmittelbar mit der Farbe Blau verbunden
und stellen einen Gegensatz zu den warmen, sich steigernden Farben dar. Blau verströmt eine
(erfrischende) Kälte und spielt in der letzten Strophe mit der Hitze des Brandes.
3.3 Gedichtanalyse und Interpretation
In erster Linie wird sich dem Gedicht Lied und Gebilde nun als Ganzes genähert. Das bedeutet,
dass der Frage nachgegangen wird, welche Begriffe sich innerhalb des Gedichts auf äußerliche
Fakten beziehen und wie vielfältig die Themen des Gedichts sind. Der zweite Teil behandelt
den Interpretationsansatz und führt die vorangegangenen Beobachtungen zusammen.
Zu Beginn der Analyse ist vorab noch festzuhalten, dass bereits im Unterpunkt ‚Das Gedicht
im Kontext der Morphologie und Farbenlehre‘ Lied und Gebilde hinsichtlich seines Aufbaus
besprochen wurde, weshalb dieser Aspekt hier nicht mehr weiter ausgeführt wird, sondern nur
noch die inhaltlichen Themen und dazugehörigen bildlichen Darstellungen behandelt werden.
Allerdings kann man die beiden Punkte nicht abgesondert voneinander analysieren, weil sie
ineinander übergehen und auf Grund dessen die Auseinandersetzung mit dem Gedicht unter
Einschluss beider Punkte stattfindet.
Der Titel Lied und Gebilde gibt bereits Auskunft darüber, um was es in dem Gedicht gehen
wird. Die erste Strophe behandelt das ‚Gebilde‘, das von dem Griechen durch die Gestaltung
seines Thons entsteht.45 Mit der Benennung des Griechen und seiner handwerklichen
Fähigkeiten kann man einen Rückschluss auf den Bildhauer Pygmalion aus der griechischen
Mythologie ziehen, mit der Einschränkung, dass dieser Marmor statt Thon für die Ausarbeitung
seiner Figuren verwendet hat. Des Weiteren steht der Grieche für das Alte und Beständige des
westlichen Abendlandes und die Gestaltung des Thons für eine feste, vorgegebene Struktur,
nach der gearbeitet werden soll.46 Neben dem Aspekt des formbaren Lehmklumpens
symbolisiert der Thon das Element der Erde, das etwas Bodenständiges verkörpert. Im
Anschluss werden die handwerklichen Fähigkeiten sowie die Tradition mit Stolz an den eigenen
45 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 118. 46 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 118-120.
12
Sohn weitergegeben, der in diesem Fall sowohl die gesamte nächste Generation, als auch den
einfachen Schüler darstellt. An dieser Stelle kann man einhaken und sagen, dass mit der ersten
Strophe nicht allein die bildende Kunst gemeint ist, sondern auch die gesamte traditionelle,
westliche Dichtung mit seinem strikt einzuhaltenden Verfahren der Klassikepoche, das zu einer
guten Poesie verhelfen soll.
Dem entgegengestellt folgt die zweite Strophe, welche das ‚Lied‘ durch die Erwähnung des
Flusses einleitet. Der Euphrat spiegelt hier neben dem Fluss und dem darin enthaltenem
Element des Wassers, auch den Orient mitsamt seiner östlichen Dichtkunst wider. Das Wasser
und der Orient zeigen sich als ein unbegrenztes, fließendes und formloses Phänomen. In dieses
Phänomen wird nun in freudiger Erwartung hineingegriffen, wo man im Anschluss die Hand
im flüßgen Element | hin und wieder schweifen lässt.47 Bei der Betrachtung dieser Verszeilen
fällt im fünften Vers das Pronomen uns auf. Wen soll es darstellen? Die orientalischen Dichter
kommen nicht in Frage, weil warum sollten diese in freudiger Erwartung in ihren eigenen Fluss
hineingreifen, wenn sie ihn doch kennen. Es muss also jemand sein, dem der Fluss noch
unbekannt ist. In der Hinsicht sind nur die westlichen Dichter möglich, weil sie diesen Fluss
noch nicht kennen und nur sie somit das uns ausfüllen können.48 Das bedeutet, dass in der
zweiten Strophe die westlichen Dichter mit der östlichen Kultur Bekanntschaft machen und
sich ihr gegenüber wohlgesonnen zeigen.
Außerdem kommt hinzu, dass der Osten auf das verheißene Land Kanaan in der Bibel hindeuten
und man auf diese Weise den Orient als Ursprungsland oder auch als die Quelle aller Dichtkunst
bezeichnen könnte.49 Die westlichen Dichter entdecken demzufolge ihre bisher unbekannten
Wurzeln.
In der dritten Strophe werden die beiden Kulturen nun endgültig miteinander verbunden. Das
Wasser aus der zweiten Strophe wird als heilendes, feuerlöschendes Mittel eingesetzt, um den
Brand in der Seele zu bekämpfen.50 Das Wasser löst ebenso Chaos aus, wie es Ordnung stiftet.
Das gleiche geschieht mit dem Brand als dem Repräsentanten des Elements des Feuers und der
Liebeslyrik sowie die Beziehung zu Marianne Willemer. In dem Gedicht ist es so, dass das
Wasser das Chaos des Feuers wie auch die darin enthaltene Liebe bändigt und daraus die
Ordnung des Liedes entstehen kann. Aus dieser Ordnung ist es dem Dichter nun möglich mit
seiner reinen Hand aus dem Vollen schöpfen zu können. Es wurde eine Grundlage gebildet, auf
der der Dichter nun aufbauen und sich frei entwickeln kann. Diese Entstehungsgeschichte
47 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 119. 48 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 121. 49 Vgl. DIE BIBEL. Einheitsübersetzung, Dtn 32, 49. 50 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 120.
13
spiegelt sich auch in der ersten Schöpfungserzählung im Buch Genesis in der Bibel wider. Dort
greift Gott ein, um das Chaos zu bändigen und damit das Leben auf der Erde zu ermöglichen,
sodass der Mensch sich dort frei entfalten kann.51 Wenn man den Gedanken nun weiter ausführt,
ist der Dichter ein göttliches Geschöpf, das sich der Ordnung und deren Einhaltung annimmt.
Er ist außerdem dazu in der Lage selbst etwas aus dem Gegebenen schaffen zu können.52
Die reine Hand des Dichters und der letzte Vers mit den Worten Wasser wird sich ballen ist
zurückzuführen auf eine indische Legende, in der eine Göttin mit reinem Herzen das Wasser
zu einer Kugel formen kann, „um es nach Hause zu tragen“.53 Es gelingt dem Dichter also nur
etwas Neues und Großartiges hervorzubringen, wenn er reinen Herzens ist und eine reine Hand
zum Schreiben besitzt. Unter diesem Punkt ist noch anzufügen, dass die Verszeile Wasser wird
sich ballen einen performativen Widerspruch darstellt, der daraus resultiert, dass das Wasser
etwas flüssiges und formloses ist und das Ballen mit dem Bild einer festen Gestalt wie einer
Kugel einhergeht. Letztendlich wird hier aber noch einmal die Aussage des Gedichts deutlich
gemacht: Der Gegensatz von fest und flüssig, stellvertretend für die Lyrik in West und Ost,
wird hier aufgelöst und miteinanderverbunden. Das Feste nimmt das Flüssige in sich auf, ohne
es zu in seinem Wesen zu verändern. Es ist nämlich immer noch flüssig, auch wenn es nun in
eine Kugelgestalt gefasst wurde. Genauso verhält es sich mit der Lyrik aus den beiden
unterschiedlichen Kulturen.54
Alles in allem kommt man im Anschluss an die Analyse zu folgender Interpretation des
Gedichts: Die Form und der Inhalt enthalten einen performativen Widerspruch, weil der Inhalt
vorgibt die westliche und östliche Lyrik in der letzten Strophe vereinen zu können, dies aber in
der Form nur bedingt möglich ist. Eine Abmilderung des Widerspruchs schafft die Verwendung
des Liedes, weil sie zwar starr von der Form her ist, aber gleichzeitig die Beschwingtheit, das
Grenzenlose und das Zyklische in sich trägt wie es sich der letzten Verszeile Wasser wird sich
ballen zeigt. Das bedeutet, Goethe gelingt es nur innerhalb des Inhalts dieses Neue zu schaffen
und den idealen Dichter darzustellen, aber nicht in der Form. Dort kann er nur verdeutlichen,
dass eine Zusammenführung der beiden Kulturen in der zweiten Strophe zwar versucht wird,
aber mehr auch nicht. In der letzten Strophe unterstützt er jedoch mit der Interpunktion seine
Botschaft, beide Kulturen in die Dichtkunst aufzunehmen, so wie es der ideale Dichter tun
sollte.
51 Vgl. DIE BIBEL. Einheitsübersetzung, Gen 1; 2, 1-3. 52 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 117. 53 Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 122. 54 Vgl. Richter, Karl: Selbstdeutungen, S. 123f.
14
Zudem bleibt Goethe seinem Prinzip der Polarität und Steigerung treu, da er zunächst die beiden
Pole West und Ost und ihre Merkmale herausstellt, um sie dann miteinander vereinen zu
können. Die Farbenlehre unterstützt diese Vereinigung bzw. Steigerung auf zwei Ebenen. Die
Vereinigung entsteht aus der Farbe Ocker, die Plusseite darstellend, in der ersten Strophe und
der Farbe Blau, die Minusseite darstellend, in der zweiten, die beide in der dritten Strophe
miteinanderverbunden werden, in dem das Blau das Rot vereinnahmt. Die Steigerung erfolgt
durch die Intensivierung der Farben von Ocker zu Rot und zeigt somit in der letzten Strophe
die zu erstrebende Dichtungsweise.
Außerdem ist zu bemerken, dass Goethe in diesem Gedicht aufzeigt, wie man die
Naturwissenschaft mit der Poesie verbinden kann. Er nutzt die Farbenlehre und die darin
beschriebene Wirkung auf den Menschen, um sie dem Inhalt zuzugeben, sodass diese
unterbewusst oder bewusst, das, was das Gedicht aussagen will, unterstreicht.
Zu Abschluss wird in Lied und Gebilde festgehalten, welche Dinge zu beachten sind, um ein
ausgezeichneter Dichter werden zu können: Er benötigt das Liebesleid, den Orient als die
Quelle aller Dichtung, die reine Hand, um aus der Quelle schöpfen zu können und das alte
Bekannte aus dem Abendland.55
4 Schlussgedanke
Was lässt sich nun zusammenfassend sagen? Es hat sich herausgestellt, dass westliche und
östliche Lyrik miteinander vereinbar gemacht werden können. Beides – das Alte und das Neue
– muss zusammenspielen und darf sich nicht gegenseitig ausschließen. Es darf nicht der Fehler
passieren, einfach etwas von dem anderen zu übernehmen und einzufügen. Es ist wichtig das
Unbekannte zu überdenken und so einzubauen, dass das Eigene und Andere gleichermaßen
erhalten bleibt und doch etwas Neues daraus entsteht. So geschieht es, dass im Schaffensprozess
sowohl das Denken, als auch das Machen vorhanden sind und sich gegenseitig bedingen.
Im Hintergrund wird außerdem deutlich wie Goethe seine wissenschaftlichen Forschungen in
sein Gedicht miteinfließen lässt und dadurch versucht die Gegensätze von Naturwissenschaft
und Dichtung zu überwinden. Er bemüht sich aufzuzeigen, dass sich die beiden Bereiche nicht
ausschließen, sondern sich ergänzen können und zum Schluss sogar positiv aufeinander
einwirken.
55 Vgl. Ebd.
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Literaturverzeichnis
Goethe-Ausgaben
FA = Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe. Tagebücher und Gespräche.
Frankfurter Ausgabe. 40 Bde. Hg. v. Friedmar Apel u. a., Frankfurt a. M. 1985ff.
K = Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. Studienausgabe. Hg. v. Knaupp,
Michael, Stuttgart 1999 (RUB 6785)
MA = Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen des Schaffens.
Münchner Ausgabe. 21 Bde. Hg. v. Richter, Karl u. a., München 1985ff.
Sekundärliteratur
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HANDBUCH. Gedichte, Stuttgart 2004 (= GOETHE HANDBUCH Band 1), S.306-323.
Burdorf, Dieter: Geschichte der deutschen Lyrik. Einführung und Interpretationen, Stuttgart
2015, S.39-43.
DIE BIBEL. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, Stuttgart 2016, S.18f.
Hildebrand, Olaf: Einleitung. In: Hildebrand, Olaf (Hrsg.): Poetologische Lyrik von
Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen, Köln u. a. 2003, S. 5
Kaufmann, Sebastian: „Schöpft des Dichters reine Hand…“. Studien zu Goethes
poetologischer Lyrik, Heidelberg 2011, S.335-341.
Mecklenburg, Norbert: Goethe. Inter- und transkulturelle poetische Spiele, München 2014,
S.187-195, S. 216f.
Richter, Karl: Poesie und Naturwissenschaft in Goethes Altersgedichten, Göttingen 2016.
Richter, Karl: Selbstdeutungen der Divan-Poetik in Goethes Gedicht Lied und Gebilde. In:
Hildebrand, Olaf (Hrsg.), Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und
Interpretationen, Köln u. a. 2003, S.114-126.
Witte, Bernd (Hrsg.): GOETHE HANDBUCH. Chronologie. Bibliographie. Karten. Register,
Stuttgart 2004 (= GOETHE HANDBUCH), S.84-150.
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Internetquellen
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bw.de/st_digital/medienkompetenz/gestaltung-farbe/systeme/goethe/ , zuletzt aufgerufen am
29.12.17.
Unbekannt: Lichtbrechung und Spektralfarben, https://lehrerfortbildung-
bw.de/st_digital/medienkompetenz/gestaltung-farbe/physik/spektrum/index.html#newton,
zuletzt aufgerufen am 29.12.17.
TURNADOT/ FOU: Johann Wolfgang von Goethe. Die wichtigsten Lebensdaten,
http://www.friedrich-von-schiller.de/goethe/zeittafel.htm, zuletzt aufgerufen am 29.12.2017.
Abbildung
Abbildung 1: http://www.ginkgoshop.de/typisch-weimar/goethes-farbkreis/mousepad-
farbkreis.php, zuletzt aufgerufen am 18.02.18.