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DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 22.10.2013 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr
Verstrahlter Ruhm
Die Liquidatoren von Tschernobyl
Von Axel Reitel
Co-Produktion DLF / MDR
URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. � Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -
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Musik Titel „The First Wave“ von Chernobyl vom Albu m „Stahlkraft“
O-Ton Collage: Radio/Fernsehen Nachrichten
O-Ton Anatolij Koljadin
Übersetzer
Als man uns damals brauchte, haben wir uns nicht verweigert und gingen egal
wohin, sogar in den Tod. Es gab keinen, der sich verweigerte. Heute ist es so,
dass wir einfach einfordern, dass man das Gesetz befolgt und uns Helden der
Tschernobyl-Katastrophe respektvoll behandelt. Mehr wollen wir doch nicht.
O-Ton Astrid Sahm
Diejenigen, die 1986 im Einsatz waren, beispielsweise auch am Bau des
Sarkophags beteiligt waren, wurden unmittelbar danach nach Hause entlassen
oder in ihren normalen Armeeeinsatz und wurden erst mal gar nicht betreut,
entweder waren sie Armeeangehörige, dann war es Befehl oder, wenn sie
andere Berufsgruppen vertraten, dann haben sie einfach einen erhöhten
Lohnsatz bekommen oder eine Prämie und damit sollte die Geschichte eigentlich
abgeschlossen sein.
O-Ton Protest der Liquidatoren (Sprechchöre)
O-Ton Astrid Sahm
Es hat dann mehrere Jahre gedauert bis die Personen gemerkt haben, einmal
dass es ihnen nicht gut geht nach dem Einsatz und dass sie auch teilweise
belogen wurden, was beispielweise die Strahlendosis angeht, die sie
abbekommen haben. Parallel entstanden die Proteste in den belasteten
Regionen und die ersten Belastungskarten wurden veröffentlicht und
insbesondere fanden 1989 und 1990 die ersten freien Wahlen in der Sowjetunion
statt und damit wurden die ganzen Protestbewegungen laut.
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Musik Ende
O-Ton Anatolij Koljagin:
Übersetzer
Wir sind nicht sozial abgesichert: Also, wir organisieren Demonstrationen, wir
versuchen Druck auf die Regierung aufzubauen. Und wir empfinden das
folgendermaßen: Als man uns damals gebraucht hat, ja, da hat man sogar
unseren Tod in Kauf genommen. Jetzt, wo wir sie brauchen, wo wir Hilfe
brauchen, werden wir gänzlich abgelehnt. Und, wissen Sie, wir haben schon so
viel gekämpft und getan für unser Recht, und so viel unternommen, wir haben
das Gefühl, wir sind jetzt müde geworden, denn wir kommen nicht voran.
Musik Radioaktivität von Cabaret Modern vom Album „ Cabaret Modern -
Night at the Magic Mirror Tent“
Ansage
Verstrahlter Ruhm
Die Liquidatoren von Tschernobyl
Ein Feature von Axel Reitel
O-Ton Funkspruch
“Hören sie mich! Was brennt bei euch? – Es gab eine Explosion im dritten
Reaktor. Zwischen dem dritten und dem vierten. – Sind dort Menschen? – Ja. –
Es sind also Menschen dort. Und was brennt genau? - Lösen sie sofort Alarm für
alle Einsatztruppen aus!“
Sprecher:
Das ist der Originalfunkspruch nach der Reaktorexplosion im Kernkraftwerk
Tschernobyl. Abgesetzt am 26. April 1986, wenige Stunden nach der Havarie um
01.26 Uhr. Brennende Grafitbrocken und radioaktives Material wurden durch das
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aufgerissene Dach von Reaktorblock IV ins Freie geschleudert, das Dach von
Block III und die Turbinenhalle hatten Feuer gefangen.
O-Ton Anatolij Karpatin
Übersetzer
Ich befand mich etwa10 Minuten nach der Explosion am Block und holte die
ersten Strahlenverletzten ab und fuhr sie ins Klinikum nach Pribjat. Meine
Schicht begann früh um zwei; bis zwölf Uhr mittags bin ich insgesamt sechs Mal
gefahren. Ich bekam gut von der Strahlung ab.
Sprecher:
Anatolij Karpatin, 66 Jahre alt, arbeitete als Rettungssanitäter und Fahrer im
Klinikum der nur wenige Kilometer entfernten Atomarbeiterstadt Pribjat, deren
49.000 Einwohner erst zwei Tage nach der Katastrophe evakuiert wurden.
O-Ton Anatolij Karpatin
Übersetzer
Ich war bei der Armee über Schutzmaßnahmen bei atomaren- und chemischen
Unfällen geschult worden. Als ich 50 Meter vom zerstörten Reaktor entfernt den
metallenen Geschmack spürte, wusste ich, was das bedeutet. Ich hätte nicht
fahren müssen, zumal ich keine Schutzbekleidung hatte, nichts; doch ich wusste
auch, dass dort Menschen eingeschlossen sind und das bedeutete ganz klar -
fahren. Für die Rettung der Welt. So haben wir gehandelt.
Sprecher:
Da nicht sein konnte, was nicht sein durfte, wurde der Gau, den der damalige
Staats und Parteichef Michail Gorbatschow erst drei Wochen nach der
Katastrophe vor der Weltöffentlichkeit zugeben musste, zunächst als lapidarer
"Störfall" heruntergespielt, den man bald wieder in den Griff bekomme. So sehr
in Moskau die Wahrheit vertuscht und sogar mit einem Schweigeverbot
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unterdrückt wurde, im Kernkraftwerk wurde von der ersten Stunden an fieberhaft
nach ihr gesucht.
O-Ton Anatolij Koljadin
Übersetzer
Ich kann Ihnen sagen, was in den ersten Stunden geschehen ist. Was brauchte
man in den ersten Stunden nach dem GAU? In den ersten Stunden brauchten
sowohl die Regierung, also Moskau, sowie die Spezialisten, die sich in
Tschernobyl befanden, die Führungskräfte und die leitenden Ingenieure, eine
Beurteilung der Lage.
Sprecher
Anatolij Koljadin, 63 Jahre alt, arbeitete als Elektriker im Atomkraftwerk und
erhielt für seine Verdienste bei der Liquidation einen Orden.
O-Ton Anatolij Koljadin
Übersetzer
Zunächst ging es also um die Beantwortung von Fragen. Erstens: Was genau ist
passiert? Zweitens: In welchem Zustand befindet sich der vierte Reaktor?
Drittens: Was muss geschehen?
Sprecher:
Die Sowjetregierung mobilisierte nach und nach zwischen 800.000 und eine
Million ihrer Bürger, sogenannte Liquidatoren, und schickte sie in die verseuchte
Zone. Den größten Teil stellten die Soldaten der Roten Armee. Wladimir Gudov
war einer der Befehlshaber von 353 Reservisten, die von der Kiewer
Militärverwaltung für das „Sonderbataillon 731“ rekrutiert worden waren. In
seinem gleichnamigen Buch beschreibt er, wie er und seine Kameraden
Hubschrauber mit Sand, Blei und Dolomit beluden, die deren Besatzungen dann
in den offenen Reaktor kippten, um den Ausstoß des radioaktiven Materials zu
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stoppen. Da es Teer und Asche regnete, mussten die Soldaten die Türen ihrer
Helikopter öffnen, um ihr Ziel überhaupt zu sehen.
Zitator
Jeder Helikopter brachte 4-5 Röntgen mit. Erst am vierten Tag wechselte man
die Uniformen. Der Reservekommandeur Alexander Kommarynets tauschte
seine weichen Lederstiefel nicht gegen die üblichen harschen Stiefel und
verbrannte sich so schwer radioaktiv, dass beide Beine amputiert werden sollten.
Ärzte vom Hilfsprogramm des Bayerischen Roten Kreuzes haben ihm dann seine
Beine gerettet.
Sprecher:
Viele bezahlten diese Einsätze mit ihrem Leben oder schweren Strahlenschäden.
Von Vladimir Gudows Kameraden, die täglich bis zu 16 Stunden schufteten, sind
drei Viertel an den Folgen der Verstrahlung gestorben.
O-Ton Astrid Sahm
Der offizielle Ausdruck ist ja gewesen: Die Liquidierung der Folgen der Havarie.
Aus diesem Verständnis, dass die Folgen militärisch, technisch wirklich beseitigt
werden können, liquidiert werden können, erklärt sich dieser Begriff, der sich
bereits in 1986 unmittelbar entwickelt hat.
Sprecher:
Astrid Sahm leitet die Berliner Repräsentanz des Internationalen Bildungs- und
Begegnungswerks, das in Weißrussland und in der Ukraine unter anderem
ehemalige Liquidatoren betreut und die „Retter Europas“ vor dem Vergessen
bewahren will.
O-Ton Astrid Sahm
Es sollte einfach der Bevölkerung vermittelt werden, ja, die Folgen sind
beseitigbar, es ist dann in absehbarer Zeit nicht mehr wahrnehmbar und spürbar.
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Aus diesem Verständnis der Möglichkeit, die Katastrophe vollständig in den Griff
zu bekommen, mit den vielfältigen Vergleichen mit dem Sieg und den Kämpfen
im 2. Weltkrieg, erklärt sich dann dieser Begriff „Liquidator“, den die Betroffenen
ja dann auch tatsächlich als Selbstbezeichnung übernommen haben.
Sprecher:
Die Liquidatoren sollten den hochkontaminierten „Materialauswurf, den
„atomaren Müll“ beseitigen, die Blöcke I bis III „unter Kontrolle“ halten, den
explodierten Block IV schließen und schließlich einen Sarkophag gegen die
austretende radioaktive Strahlung errichten. Sie kamen aus der Armee, der
Feuerwehr und dem Zivilschutz; aber auch Zivilisten wurden rekrutiert: Arbeiter,
Ingenieure, Piloten, Putzfrauen, Sanitäter, Kraftfahrer, Ärzte oder
Krankenschwestern.
O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina
Übersetzerin
Und dann diese radioaktive Masse. Die Blöcke III und IV standen dicht
nebeneinander. Und die aus dem Block IV herausgeschleuderte Masse bedeckte
nicht nur den Boden, sondern lag auch auf dem Dach des dritten Blocks. Der
dritte Block sollte in Betrieb gehen, also musste die radioaktive Masse vom Dach
geholt werden.
Sprecher:
Lidia Stepanowna Tscherkaschina war von 1977 bis zum Herbst 1986
Ingenieurin im Atomkraftwerk Tschernobyl.
O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina
Übersetzerin
Zunächst schickte man japanische Roboter los, die wegen der hohen Strahlung
sofort verbrannten. Und dann musste der menschliche Roboter „Wanja“ mit
seiner Schaufel aufs Dach. Zugelassen waren für jeden Sekunden, maximal eine
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Minute. Er aber lief, schaufelte, und wer zu viel Strahlung abbekam, wurde
ersetzt. Das war die wahre Robotertechnik in Tschernobyl: der Russische
„Wanja“.
Sprecher:
Die Liquidatoren ahnten allenfalls, in welche Gefahr sie sich begaben, aufgeklärt
wurden sie nicht.
O-Ton Anatolij Koljadin
Übersetzer
In unserer Schicht, bei der einige um vier Uhr, andere um 6 Uhr anfingen, hatten
wir ab 10 Uhr vormittags keine Leute mehr - sie waren alle verstrahlt. Ich wurde
ein zweites Mal zum Noteinsatz gerufen, wie andere auch. Niemand konnte
sagen, welche Dosis wir abbekamen. Nirgendwo war ein Dosimeter. Und das
ging so weiter. Am 28. April wateten wir durch kniehohes, hoch radioaktives
Wasser, das durch den völlig zerstörten vierten Reaktor von den Wänden bis
hinab in die tieferen Etagen floss. In die untere Etage mit der gesamten
Elektromechanik. Schließlich begann eine Menge Wasser zu den
Reaktorblöcken III, II und I abzudriften und ich erhielt den Befehl, so schnell wie
möglich, das Wasser abzupumpen. Für diese Arbeit bekam ich den Orden.
Sprecher:
Bis zum 5. Mai wurden 85.000 Menschen aus einer 30 Kilometer-Zone um das
Kraftwerk herum evakuiert. Sie durften nur wenige Habseligkeiten mitnehmen
und was sie mit auf die Reise nahmen, war radioaktiv verseucht. Viele trugen
wochenlang kontaminierte Kleidung.
O-Ton Lidia Alexandrowna Terenzowa
Übersetzerin
Und ich bin nach Taganrog zu meiner Mutter gefahren. Mein Sohn war gerade
zehn Jahre alt geworden. Als wir bei meinen Eltern ankamen, hatten wir immer
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noch dieselben Sachen an wie bei der Evakuierung. Wir haben sie einfach
gewaschen und wieder angezogen. Schließlich kam ein Auto aus Rostow und
man hat uns zur Dekontaminierungsstation gebracht. Als sie uns dort
überprüften, brannten die Messgeräte durch. Wir mussten daraufhin alle Sachen
abgeben und bekamen dafür so dunkelblaue Kittel, wie sie die Arbeiter dort
trugen und dazu Schlappen. Ich habe Schuhgröße 38, bekam aber eine 40er
Größe. Das war’s. Schließlich sagten sie: „Das ist alles, geht, wohin Ihr wollt.“
Damals lebte mein Mann noch. Er besuchte uns mit unserem Auto. Er kam direkt
vom Atomkraftwerk und hatte nur diesen weißen Schutzanzug an. Wir fuhren
gemeinsam zu Bekannten, die in der Röntgenabteilung einer Fabrik arbeiteten.
Die hatten auch solche Messgeräte. Die brannten allerdings schon durch, als sie
damit nur in die Nähe des Autos kamen. Wir wussten damals alle nicht, dass
unser Wagen die Ursache für die extreme Strahlung war. Unsere Bekannten
sagten nur: „Scheinbar funktionieren die Geräte nicht. Da kann man nichts
machen.“ Und dann sind wir mit dem Auto noch eine Woche herumgefahren.
Sprecher:
In der südrussischen Hafenstadt Taganrog gaben die Eltern den erkrankten
Sohn in die Obhut eines Erholungsheims.
O-Ton Lidia Alexandrowna Terenzowa
Übersetzerin
Eigentlich ist er soweit in Ordnung. Das heißt - am Anfang hatte er schon innere
Beschwerden. Alles in allem hat uns geholfen, dass wir am Asowschen Meer
waren und wir ihn dort ins Pionierlager geschickt haben. Damals konnte man dort
viel schwarzen Kaviar kaufen. Davon hat er reichlich gegessen und ist schließlich
wieder auf die Beine gekommen. Mein Mann ist allerdings 1993 an einem
Herzinfarkt gestorben. Er stand morgens auf, machte sich zur Arbeit fertig, hat
sich einen Tee eingegossen und fiel um. Das war’s.
Collage Musik, Radio und TV europäische Bedrohung d urch den Fall Out
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O-Ton Anatolij Karpatin
Übersetzer
Ich war am nächsten Tag in einem anderen Gebiet eingesetzt und evakuierte
eine Familie. Ich fuhr sie in den Rajon Polessk, ins Zentrum des Rajon, und dort
wurde ich selber vom Rettungsdienst aufgesammelt. Mir wurde einfach schlecht:
Ich hatte radioaktive Verbrennungen des Gesichts, des Brustkorbs, der
Atemwege, und das alles. Und es ging mir schlecht. Man brachte mich ins
Krankenhaus, und vom Krankenhaus in Polessk mit dem Rettungswagen nach
Kiew, von Kiew zum Flughafen Schuljany und dann nach Moskau. Und dort lag
ich dann in der weltberühmten Klinik Nummer 6.
Sprecher:
Die Moskauer Klinik Nr. 6, in die man den Rettungssanitäter Anatolij Karpatin
gebracht hatte, war als einzige in der Sowjetunion dafür ausgerüstet,
Strahlenkranke zu behandeln. Vor Tschernobyl hatte man dort Patienten
aufgenommen, die in Atom-U-Booten oder in anderen Atomkraftwerken verstrahlt
worden waren.
O-Ton Anatolij Karpatin
Übersetzer
Wir waren 300 Patienten in der Klinik. Zuerst sagte man uns, wir wären an
Verstrahlungen der Stärken 1 bis 4 erkrankt, denn es waren bereits viele
Menschen dort gestorben. Sie starben einfach vor unseren Augen.
Sprecher:
Selbst erfahrene russische Ärzte, die zudem von dem amerikanischen
Knochenmarkspezialisten Robert Gale unterstützt wurden, standen den
Auswirkungen der massiven Verstrahlung völlig hilflos gegenüber. Doch auch in
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dieser Spezialklinik wurde die Verstrahlung als Ursache von Krankheit und Tod
von den zur strikten Geheimhaltung verpflichteten Ärzten heruntergespielt.
O-Ton Anatolij Karpatin
Übersetzer
Ich habe dort Professor Worobejew, eine Frage gestellt: „Sie bescheinigen doch
den verstrahlten Menschen als Diagnose „vegetative Gefäß-Dystonie?“
Daraufhin antwortete er mir, dass das eine Kodierung für die Strahlenkrankheit
sei, und als ich fragte, ob ich eine Strahlenkrankheit hätte, sagte er: „Ja, Sie
haben eine Strahlenkrankheit.“ Aber in meinem Entlassungsschreiben, steht als
Diagnose: „vegetative-Gefäß-Dystonie“, eine Diagnose, als ob mein Kreislauf
mal runter, mal rauf geht, obwohl ich mein Gesicht meine Atemwege und der
Brustkorb verstrahlt war. Das war die Politik. Es begann ein Betrug an
denjenigen, die ihr Leben hergaben.
O-Ton Wiktor Pawlowitsch
Übersetzer
Ich heiße Haidak Wiktor Pawlowitsch, bin 72 Jahre alt und Invalide der ersten
Kategorie. Ich habe insgesamt fast zehn Jahre lang bei der Liquidation der
Reaktorkatastrophe mitgearbeitet, von 1986-1995. In dieser Zeit war mein
Organismus hoher Strahlenbelastung ausgesetzt, so dass im Endeffekt mein
Immunsystem versagte: ich begann innerlich zu zerfallen: zwei schwere
Herzinfarkte, Einlieferungen in die Reanimation. Man hat mich wiederholt
operiert: Magen, Krebs, schließlich entfernte man mir den Magen. Ich litt an
Darmverschluss. Dann kam eine dreifache Bauchfellentzündung hinzu. Drei Mal
machte man mich auf. Da habe ich nur noch gelacht und zu dem Chirurgen
gesagt: Näh es nicht mehr zu, sondern mach einen Reißverschluss, damit, wenn
wieder was ist, du es schneller aufmachen kannst.
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O-Ton Sebastian Pfllugbeil
Man hat diese Leute verheizt und gewusst, dass man sie verheizt, aber man hat
keine Alternative gesehen. Und da sind ungefähr ne 1 Million Leute verbraten
worden und niemand weiß, wie viele davon gestorben sind. Die offiziellen
Angaben von den UNO Organisationen, die reden von 29 Leuten, die an akuten
Strahlenschäden gestorben sind und dann sind noch ein paar Leute gestorben,
weil ihnen was auf den Kopf gefallen ist, aber nicht mehr als fünfzig insgesamt,
und ansonsten gibt es keine Gesundheitsbeschwerden, schreibt UN Health Care,
dieses wissenschaftliche Komitee bei den Vereinten Nationen dazu. Das ist eine
glatte Lüge. Ich habe zum Beispiel einen Bericht vom Sozialministerium in der
Ukraine – das ist schon mehrere Jahre her, da gibt es eine Liste, wo drauf steht,
wie viele Familien von Liquidatoren, eine Staatsrente bekommen, weil der Vater,
in der Regel der Vater, in Folge seines Einsatzes in Tschernobyl gestorben ist,
und das sind alleine schon 15.000 gewesen. Unsere befreundeten Kollegen in
Russland schätzen, dass die Toten bei den Liquidatoren inzwischen bei 100.000
– 150.000 liegen dürften.
Sprecher:
Der Physiker und Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil war in der
Abwicklungsregierung von Hans Modrow für die Kraftwerke in der DDR
zuständig und ist heute Präsident der „Gesellschaft für Strahlenschutz.“ Nach
dem GAU ist er mehrfach nach Tschernobyl gereist und hatte mit einer Gruppe
von Fachärzten auch Liquidatoren in dem Kiewer Neubaugebiet Troeschina
besucht.
O-Ton Sebastian Pflugbeil
Am Rand von Kiew ist so ein Stadtteil, wo viele dieser Liquidatoren leben. Also,
da sind viele sterbenskrank, liegen im Bett oder sitzen in ihren Sesseln und
haben Erkrankungen, die in keinem Buch stehen.
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Sprecher:
Troeschina ist heute eine triste Ansammlung von verwitternden, graublauen
Plattenbauten, zwischen denen sich eine sandige Einöde erstreckt. Vereinzelt
stehen Bäume und Büsche. Einwohner in Freizeitanzügen gehen mit
Kampfhunden Gassi. Den Plattenbauten gegenüber prunkt eine neue weiß-blau-
goldene Basilika. Als es in Tschernobyl zum GAU kam, war das Wohnviertel
gerade erst fertiggestellt worden und viele Kiewer freuten sich, dass ihnen dort
eine Wohnung zugeteilt worden war. Als statt ihrer die Liquidatoren einquartiert
wurden, flogen Steine durch die Fensterscheiben. Müll wurde vor den
Wohnungen ausgeschüttet. Es gab Drohanrufe und sogar Morddrohungen.
O-Ton Sebastian Pflugbeil
Die Familien sind natürlich in einer extrem schwierigen Situation und sie haben
das richtige Gefühl, dass sie von den Mächtigen im Land verachtet werden und
auch von der Bevölkerung werden sie nicht geliebt. Also die Familien-
angehörigen haben zum Beispiel Schwierigkeiten, Freunde zu finden, Ehepartner
zu finden, wenn die erfahren, dass die Eltern aus diesem Bereich kommen. Da
machen alle einen großen Bogen drum. Heute noch.
O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina:
Übersetzerin
Stellen Sie sich vor: Sie hätten bereits eine Wohnungszuteilung erhalten, und Sie
wissen, dass sie in dieses bestimmte Haus und in diese bestimmte Wohnung
einziehen werden. Und dann diese Katastrophe - und diese Häuser, diese
Wohnungen, werden den Kiewern weggenommen und man siedelt uns
Tschernobyler an. Wie sollen sie uns denn mögen, wenn die Menschen in Kiew
auf diese Behausungen 20 Jahre und länger gewartet haben? Es ist doch sehr
schwer, hier in Kiew, kommunale Wohnungen zu bekommen.
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Sprecher:
Lidia Stepanowna Tscherkaschina, die ehemalige Ingenieurin Im Tschernobyler
Atomkraftwerk, gehörte zu den ersten, die in Troeschina einquartiert wurden.
O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina :
Übersetzerin
Ja, wir sind aus unserem Sozialen Kreis rausgefallen. Ich kann über mich
sprechen. Obwohl ich in Kiew in einem anderen Werk als stellvertretende
Technologie-Leiterin gearbeitet habe, ein wenig auch in der Partei, war das alles
nicht mehr zufriedenstellend.
Sprecher:
Lidia Stepanowna ist ehrenamtliche Mitarbeiterin bei Semljaki, zu Deutsch
„Landsleute“. Der Ende 1986 gegründete Verband machte es sich zur Aufgabe,
die Liquidatoren, die nach Troeschina evakuiert worden waren, aus den – wie sie
hier sagen - „vier Wänden“ zu holen, wo sie „mit ihren Problemen“ festsaßen. Im
November 1986 wurde der Verein hinter einem Supermarkt einquartiert, in dem
es kaum etwas zu kaufen gab. Semljaki verstand sich von Anfang an als
Interessenvertretung der Liquidatoren und organisierte nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion die ersten Demonstrationen in Kiew, die wohl
auch „zur frühen Unabhängigkeitserklärung“ der Ukraine beigetragen haben. Hier
sammeln sie alles, was an den Gau erinnert, schreiben unermüdlich Eingaben an
die Behörden und unterstützen ehemalige Liquidatoren, denen die Behörden
medizinische Versorgung, Sanatoriums-Aufenthalte oder die ihnen zustehende
Rente verweigern. Viele Anträge wurden schon vor Jahren gestellt, blieben aber
bis heute ohne endgültigen Bescheid.
O-Ton Anatolij Koljadin
Übersetzer
Die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe sind für die Ukraine wie auch für
Weißrussland immens. In Russland gibt es dieses Problem nicht. Dort haben die
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Tschernobyler ein, zwei Jahre gekämpft und es wurden in der Rentenfrage
ebenso wie bei den medizinischen Behandlungen Kompromisse gefunden. Wir
dagegen bekommen keine kostenlose Operation, keine kostenlose Behandlung.
Gott bewahre, wenn ein Tschernobyler erkrankt, wird die ganze Familie zum
Schuldner. Objektiv muss man sagen, dass während der Präsidentschaft von
Krawtschuk, ebenso wie während der von Kutschma, Juschtschenko und
Janukowitsch für die soziale Absicherung der Menschen, die an den Folgen der
Tschernobyl-Katastrophe leiden, trotz des entsprechenden Gesetzes skandalös
wenig Finanzmittel zur Verfügung gestellt wurden.
Sprecher
Dabei, so der ehemalige Liquidator Anatolij Koljadin, sei die Gesetzeslage
eindeutig und verpflichte auch in der Ukraine die Regierung zur umfangreichen
Unterstützung der einstigen Liquidatoren.
O-Ton Anatolij Koljadin
Übersetzer
Wir haben ein wunderbares Sozialgesetz zur Gesundheitsförderung der
Menschen, die an den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe leiden. Doch aus
dem Topf des Gesundheitsministeriums werden gerade einmal 6 Prozent für das
Notwendigste ausgezahlt. Dadurch fallen viele lebenswichtige Dienstleistungen
von vornherein weg.
Sprecher:
Das sogenannte „Tschernobyl-Gesetz über den Sozialschutz der von
Tschernobyl betroffenen Bevölkerung“ - wurde im Februar 1991vom ukrainischen
Parlament verabschiedet und ebenso wie seine weißrussische Variante vom
Obersten Sowjet der damals noch existierenden Sowjetunion bestätigt. Nach der
Unabhängigkeitserklärung der Ukraine am 24. August 1991 wurde die
Verpflichtung des Staates zur „Überwindung der Folgen der Tschernobyl
Katastrophe“ schließlich in die Verfassung aufgenommen.
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O-Ton Astrid Sahm
Das Gesetz ist sehr umfassend und es richtet sich nicht nur an die Liquidatoren,
sondern umfasst auch die Umsiedler und die Bevölkerung, die weiterhin in der
kontaminierten Region lebt. Ursprünglich sah es monatliche Zuzahlungen vor,
Recht auf kostenlose Nutzung von Verkehrsmitteln und ähnlichem. Bei den
Liquidatoren hängt es noch sehr stark davon ab, ob sie einen anerkannten Grad
der Behinderung haben oder nur der Einsatz. Dafür gibt es zusätzliche
Zahlungen oder Renten.
O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina :
Übersetzerin
In dem Gesetz, das man für die Tschernobyl Opfer beschlossen hat, steht, dass
es kostenlose Präparate, Medikamente, kostenlose Behandlung, und so weiter
geben soll und selbstverständlich sollte ich, als Liquidatorin, als Invalidin der
Gruppe 2 eine Rente bekommen.
Sprecher:
Die wegen ihren Erkrankungen versorgungsberechtigten Liquidatoren wurden
den Behinderten zugerechnet und wie die je nach Ausmaß ihrer Invalidität in drei
Kategorien eingeteilt. Zur 1. Gruppe gehören nicht mehr arbeitsfähige
Schwersterkrankte, Gruppe 2 wurden Liquidatoren mit eingeschränkter
Arbeitsfähigkeit zugeordnet und Gruppe 3 ist für Behinderte mit leichter
Beeinträchtigung ihrer Arbeitsfähigkeit vorgesehen.
O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschin
Übersetzerin
Ich lasse mich auf eigene Kosten behandeln, und dabei kommt eine erhebliche
Summe zusammen, für Medikamente, die ich mein Leben lang werde nehmen
müssen; gegen Herz und Hormon-Probleme, jetzt auch wegen der
Zuckerkrankheit. Ich kaufe das alles selber. Vielleicht ein- oder zweimal im Jahr
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kann dir der Arzt ein oder zwei Medikamente kostenlos verschreiben. Und das
ist alles. Und dann wird auch noch in der Presse behauptet, dass die
Tschernobyler sehr hohe Renten bekommen. Ja, vielleicht bekommt die
tatsächlich jemand.
O-Ton Anatolij Karpatin:
Übersetzer
Ich bekomme 5.000 Griwna. Das sind 500 Euro. Meine Frau bekommt 1.300 -
also 130 Euro Rente. Sie ist auch eine Invalidin der zweiten Gruppe. Sie zahlen
nicht nach dem Gesetz. Wenn wir laut Gesetz ausbezahlt würden, so würde ich
6.000 und auch meine Frau 6.000 Griwna bekommen. Dann könnten wir leben.
Aber so ist es am Gesetz vorbei.
Sprecher
Da mir während meiner Recherchen in der Ukraine kein Vertreter der
ukrainischen Regierung zu einem Interview zur Verfügung stand, hatte ich mich
an die Botschaft der Ukraine gewandt. Nach einer Wartezeit, in der meine
Fragen in Kiew geprüft wurden, empfing mich Botschafter Pawlow Klimkin zu
einem Gespräch. Er war unter anderem stellvertretender Außenminister der
Ukraine und residiert seit August 2012 als Botschafter seines Landes in Berlin.
O-Ton Botschafter der Ukraine in Deutschland Pavlo Klimkin:
Also diese emotionelle Atmosphäre kann ich auch verstehen. Die bekommen in
vielen Fällen nicht ausreichende, medizinische Behandlung, die ihnen auch
zusteht. In vielen Fällen werden auch finanzielle Mittel verspätet ausbezahlt.
Aber irgendwie so eine Zumutung, dass sie an den Rand gedrängt wurden, da
stimme ich überhaupt nicht zu. Und diese Frage Tschernobyl, die ist immer auf
der Agenda in der Ukraine.
18
Sprecher
Ninelia Alexandrowna Seratowskaja arbeitete zum Zeitpunkt des GAUs als
Taxifahrerin. Nach der Explosion chauffierte sie Gäste aus dem Ausland zum
kontaminierten Kraftwerksgelände und war auch für die Evakuierung aus der
Sperrzone um das havarierte Atomkraftwerk eingeteilt. Nelly, wie sie hier alle
nennen, ist 64 Jahre alt. Jeden Tag fahre sie, sagt sie, seitdem sie Rentnerin ist
auch an Sonntagen. Angesichts ihrer geringen Rente bleibe ihr nichts anderes
übrig.
O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:
Übersetzerin
Nur für Medikamente, das hat meine Tochter ausgerechnet, benötige ich 1.200
Griwna im Monat. Ich bekomme aber nur 930! Sie zählen uns nicht zu den
Liquidatoren! Bis ’93 hat man uns dazu gezählt. Ab dem Jahr 1993 sind wir keine
Liquidatoren mehr, und wie das alles zustande kam!
Sprecher
Varianten von Nellys Geschichte ihres Ausschlusses aus dem Kreis der vom
Tschernobyl-Gesetz Begünstigten können viele der noch lebenden Liquidatoren
erzählen.
O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:
Übersetzerin
Wir wurden alle bei der Fahrer–Kommission im Krankenhaus für Arbeiter des
Kraftfahrwesens in Kiew -Swetoschino angemeldet und wurden dort regelmäßig
untersucht. Dort erhielt man auch seine Invaliditäts-Kategorie. Die nahmen sie
dann wieder weg. Die erste Überprüfung fand „nach der Sowjetunion“ statt,
unsere Union ist doch auseinandergefallen. Ich kam zunächst von Stufe 1 in
Stufe 2. Nach etwa 3 Jahren etwa kam ich in Stufe 3. Und beim letzten Mal
nahmen sie mir auch die Stufe 3 weg. Und das geschah zu dem Zeitpunkt, als
unsere Fahrer anfingen, massenhaft zu sterben.
19
Sprecher
Auch ihr eigener Gesundheitszustand hatte sich verschlechtert. Nachdem ihr
Darm herausgetreten war, musste sie wiederholt operiert werden. Zudem muss
sie einmal im Jahr ins Krankenhaus, wo sie neues Blut bekommt. Viele Freunde
spenden für sie, damit sie am Leben bleibt.
Musik Andrei Tarkovsky Original Soundtrack, Vol. 4: Mirror / Stalker
O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:
Übersetzerin
Eines Tages kamen wir in unser Krankenhaus in Swjatoschino und dort sagten
sie: „Aber Sie haben doch gar nicht in Tschernobyl gearbeitet!“ Wir fingen
daraufhin an, unsere Dokumente zu suchen. Wir fuhren nach Pribjat, wo man
uns einstmals die Dienstausweise, die zugleich Passierscheine waren,
ausgestellt hatte. Aber alles war bereits vernichtet worden. Und dann ist der
Leiter der Personalabteilung, der uns bisher die Reiseschecks für die
Kuraufenthalte ausgestellt hatte und das alles, auch noch dermaßen mysteriös
ums Leben gekommen. Und mit ihm verschwanden auch alle unsere
Berechtigungen für die Kurreisen.
Musik Ende
O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:
Übersetzerin
Man hat uns alles weggenommen. Und sie sagten einem klipp und klar: “Die
Tschernobyler leben nicht so lange“. Aber die, die an Tschernobyl “gar nicht mal
geschnuppert haben”, die bekommen “Kohle“, und das alles, die sind also
’Tschernobyler’! Was uns zustand, nahm man uns und gab es denen! In den
Krankenhäusern wurde alles verschoben.
20
Sprecher
Ein Handel, von dem, da ist sich Nelly sicher, vor allem die neue politische Elite
des Landes profitiert habe.
O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:
Übersetzerin
Ich bin überzeugt, dass jeder zweite Abgeordnete solche Dokumente besitzt und
aus sich quasi symbolisch einen Tschernobyl-Helden macht. Natürlich ist es so.
O-Ton Sebastian Pflugbeil:
Ja. Ja. Ich verstehe das gut. Wir haben das selber viele Jahre gemacht. So
Kinder eingeladen aus der Tschernobyl-Region. Das ist sicher im Sinne von
Solidarität mit so einer lädierten Region eine gute Sache gewesen. Aber das ist
leider ziemlich bald entgleist in Geschäfte, deren Sauberkeit man nicht mehr
garantieren konnte. Da kamen auf einmal die Funktionärskinder. Oder sie
kamen gerade aus Italien von einem Urlaub und fuhren dann nach Deutschland
und nach England und so. Wir haben uns dann getrennt von dieser Geschichte.
O-Ton Botschafter der Ukraine in Deutschland Pavlo Klimkin:
Das ist auch bekannt. Deswegen prüfen die Behörden immer ganz genau, ob es
sozusagen echte Liquidatoren sind, die unglaublich viel für die Ukraine, für
Tschernobyl, geleistet haben, geht. Oder um eine Fälschung. Und es gab viele
Versuche, diese Dokumente zu fälschen. Und wenn die Papiere dann verloren
gegangen sind, dann muss man ganz genau prüfen. Und das geht in vielen
Fällen relativ langsam. Aber das muss auch so sein, damit auch nicht solche
Ungerechtigkeiten dann aufkommen und echte Liquidatoren dann sozusagen
einfach wenig bekommen. Das ist einfach unfair.
Sprecher:
„Die souveräne Ukraine ist aus den Trümmern von Tschernobyl entstanden und
befindet sich praktisch in deren Gewalt“, schrieb der ukrainische Schriftsteller
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Serhij Zhadan im Mai 2011. In den Jahren 1989 bis 1991, also noch zu
Sowjetzeiten, schufen Massenproteste gegen die Verheimlichung des wahren
Ausmaßes der Folgen von Tschernobyl ein Klima, in dem nur mehrheitsfähig
war, wer radikale Aufklärung und großzügige Entschädigungen versprach.
O-Ton Astrid Sahm:
Und deswegen wurden die Gesetze, die eigentlich bis heute in Weißrussland,
Russland und der Ukraine die Grundlage für Kompensationsleistungen und
Fürsorgeleistungen sind, noch zu sowjetischer Zeit verabschiedet und
Weißrussland und die Ukraine haben sie verabschiedet in der Erwartung, dass
sie über den sowjetischen Haushalt finanziert werden. Sie haben nie damit
gerechnet, dass sie in eine Situation kommen werden, dass sie diese Leistungen
selbständig ohne Hilfe aus dem Zentrum erbringen müssen.
Sprecher:
Astrid Sahm vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk hat eine
Dissertation über die Tschernobylpolitik in der Ukraine und in Weißrussland
geschrieben.
O-Ton Astrid Sahm:
Die Ukraine war nach der Unabhängigkeit nicht in der das umzusetzen und die
Regierung hat dann 2011 ein Gesetz verabschiedet, in dem sie festgelegt hat,
dass die sozialen Leistungen nicht verbindlich auf der Grundlage des Gesetzes
von 1991 gezahlt werden, sondern dass das die Orientierung ist, aber die realen
Leistungen richten sich nach den finanziellen Möglichkeiten der Regierung. Das
ist genau der Ausgangspunkt gewesen für die Protestwelle, die 2011 in Gang
kam, wo die Proteste auch vor dem Parlament waren mit dem Hungerstreik usw.
Sprecher
2006 hatte ein Gericht die aus dem Tschernobyl-Gesetz resultierenden
Leistungen auf 74 Milliarden Griwna, das sind 7,4 Milliarden Euro beziffert. Die
22
Regierung stimmte dieser Rechnung zu, verwies aber darauf, dass sich der
gesamte Staatshaushalt auf nur 281 Milliarden Griwna belaufe, sie also nicht die
Mittel habe, das vom Parlament beschlossene Gesetz umzusetzen. Eine
Argumentation auf die auch Botschafter Klimkin zurückgreift.
O-Ton Botschafter der Ukraine in Deutschland Pavlo Klimkin:
Und damit es auch klar wird, also für viele, die also diese Maßstäbe nicht ganz
vorstellen können. Es gibt im Moment in der Ukraine mehr als 2 Millionen Leuten.
Also 2.186.000 Leuten. Also, um präzise zu sein, die auch Hilfe aus dem
ukrainischen Haushalt, vom Staat bekommen. Und das ist eine gewaltige
Aufgabe.
O-Ton Demonstration 2011
Sprecher:
Am 1. November 2011 überrannten in Kiew mehrere Hundert ehemalige
Liquidatoren Metallabsperrungen der Miliz und drangen zum Parlamentsgebäude
vor. Wie zuvor in Donezk und Charkow forderten sie die volle Auszahlung der
ihnen von Gerichten bestätigten Rentenansprüche.
O-Ton Demonstrant:
Sprecher:
Die Renten für die Liquidatoren seien einfach zu niedrig, sagt der Demonstrant,
man könne davon nicht leben, aber die Regierung kapiere das nicht.
O-Ton Demonstrant-Liquidator:
Sprecher:
Ein anderer berichtet, dass ihm die Ärzte eine Verschlechterung seines
Gesundheitszustandes bescheinigt hätten. Daraufhin sei er aus der
Invaliditätsstufe 3 in die Stufe 2 aufgestiegen. Im August sei die neue Zuordnung
vom Gericht bestätigt worden. Doch dann sei im September der Leiter der
örtlichen Rentenabteilung zu ihm gekommen und habe gesagt: 'Alexander
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Alexejewitsch, wir können dir keine Erhöhung deiner Rente zahlen! Es gibt einen
Brief der Regierung zum Rentenfonds und den haben sie die "präsidiale Vertikale
herunter fallen lassen" Der Finanzminister habe angeordnet, die Gerichts-
beschlüsse würden nicht durchgeführt, ohne Ausnahme. Aber auf dem
Gerichtsbeschluss stehe 'Im Namen der Ukraine‘, empört sich der Demonstrant.
Sprecher:
Diese „präsidiale Vertikale“ ist ein vom ukrainischen Präsidenten Leonid Kučma,
eingeführte Regel, nach der eine übergeordnete Institution zu jeder Zeit
Entscheidungen einer untergeordneten aufheben kann, auch solche von
Gerichten aufheben kann. Im Sommer 2011 hatte die Regierung drastische
Rentenkürzungen beschlossen, von denen auch die ehemaligen Liquidatoren
betroffen waren. Letztere waren zwar mit ihren Klagen gegen diese Kürzungen
erfolgreich, aber Premierminister Azarov erklärte, der Staat verfüge nicht über
die Mittel, den Entscheidungen der Gerichte nachzukommen und vom Parlament
beschlossene Gesetze umzusetzen.
O-Ton Astrid Sahm:
Die Berechnungsgrundlage wurde auch geändert. Es wird nicht mehr einheitlich
gemacht, sondern es wird berechnet ausgehend vom Gehalt, das derjenige
erhalten hat, unmittelbar vor seinem Einsatz. Und dadurch sind bei ganz vielen
die Renten geringer geworden und eigentlich nur bei einer Gruppe, bei den
AKW-Mitarbeitern, die hohe Gehälter damals hatten, sind die Bezüge gestiegen.
Und bei allen anderen, etwa 80 Prozent, sind sie drastisch weniger geworden.
Wenn z.B. ein Behinderter der 1. Gruppe vorher 8600 Griwna bekommen hatte,
bekommt er jetzt zwischen 3.300 und 3.800, also um mehr als die Hälfte weniger
und damit ist auch noch mal die soziale Lage deutlich verschlechtert worden.
Sprecher
Die immer weniger werdenden Tschernobyl Veteranen setzten ihre
Demonstrationen fort, doch, so der Schriftsteller Serhij Zhadan „ihre ständigen
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Versuche, den Staat dazu zu bewegen, seinen Pflichten nachzukommen und die
noch ausstehenden Zahlungen zu begleichen sind zu einer Dauererscheinung
geworden und fallen unter den anderen sozioökonomischen Forderungen nicht
mehr auf.“ Und die Regierung? Sie spielt weiter auf Zeit. Die letzten noch
lebenden, einst als Retter Europas gefeierten Helden von Tschernobyl sehen
sich seit bald drei Jahrzehnten demütigenden Auseinandersetzungen mit
wechselnden ukrainischen Regierungen um die ihnen zustehenden
Entschädigungen ausgeliefert. Während sich der Gesundheitszustand der
meisten dieser Menschen weiter verschlechtert, nimmt auch ihre
gesellschaftliche Isolation zu.
O-Ton Astrid Sahm:
Die moralische Unterstützung in der Ukraine für die Proteste der Liquidatoren ist
gering, weil eher gesehen wird, warum sollen sie so viel haben, wenn wir alle so
wenig haben.
Sprecher:
Ein Sozialneid, den die ukrainische Regierung, allen voran der für die
Entschädigung der Liquidatoren zuständige Vizepremier Sergej Tigipko, der von
der Forbes-Liste mit einem Privatvermögen von 1,1, Milliarden Dollar geführt
wird, zynisch befeuert.
O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina:
Übersetzerin
Wenn wir zum Beispiel streiken gehen, das Oberste Gericht belagern, da sagte
z.B. Herr Tigipko: Was wollt ihr? Ihr habt doch Millionen durch das Gericht
zugesprochen bekommen. Manche Tschernobyler haben geklagt. Manche haben
ihre Renten durch das Gericht gewonnen. Einige haben die Rente dann
bekommen. Nach dem Motto: „Wer schneller ist, der ist auch schlauer“. Aber
auch im letzten Jahr, wurde denen, welche die Prozesse gewonnen haben,
wieder alles weggenommen. Sie wurden auf die Renten heruntergesetzt, die sie
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vorher bekommen haben. Wenn Herr Tigipko persönlich sogar von der Tribüne
aus äußert, wir seien Millionäre, die Tschernobyler, was kann man da sagen?
Musik Radioaktivität von Cabaret Modern „Cabaret Mo dern - Night at the
Magic Mirror Tent“
Absage
Verstrahlter Ruhm
Die Liquidatoren von Tschernobyl
Ein Feature von Axel Reitel
Es sprachen: Wolfgang Rüter, Gregor Höppner, Walter Gontermann,
Ernst August Schepmann, Louis Friedemann Thiele, Edda Fischer, Sigrid
Burkholder und Claudia Mischke
Ton und Technik: Ernst Hartmann und Kiwi Hornung
Regie: Wolfgang Rindfleisch
Redaktion: Hermann Theißen
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Mitteldeutschen
Rundfunk 2013.