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1 DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 22.10.2013 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr Verstrahlter Ruhm Die Liquidatoren von Tschernobyl Von Axel Reitel Co-Produktion DLF / MDR URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

Verstrahlter Ruhm Die Liquidatoren von Tschernobyl Von ... · verbrannte sich so schwer radioaktiv, dass beide Beine amputiert werden sollten. Ärzte vom Hilfsprogramm des Bayerischen

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DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 22.10.2013 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 – 20.00 Uhr

Verstrahlter Ruhm

Die Liquidatoren von Tschernobyl

Von Axel Reitel

Co-Produktion DLF / MDR

URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. � Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

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Musik Titel „The First Wave“ von Chernobyl vom Albu m „Stahlkraft“

O-Ton Collage: Radio/Fernsehen Nachrichten

O-Ton Anatolij Koljadin

Übersetzer

Als man uns damals brauchte, haben wir uns nicht verweigert und gingen egal

wohin, sogar in den Tod. Es gab keinen, der sich verweigerte. Heute ist es so,

dass wir einfach einfordern, dass man das Gesetz befolgt und uns Helden der

Tschernobyl-Katastrophe respektvoll behandelt. Mehr wollen wir doch nicht.

O-Ton Astrid Sahm

Diejenigen, die 1986 im Einsatz waren, beispielsweise auch am Bau des

Sarkophags beteiligt waren, wurden unmittelbar danach nach Hause entlassen

oder in ihren normalen Armeeeinsatz und wurden erst mal gar nicht betreut,

entweder waren sie Armeeangehörige, dann war es Befehl oder, wenn sie

andere Berufsgruppen vertraten, dann haben sie einfach einen erhöhten

Lohnsatz bekommen oder eine Prämie und damit sollte die Geschichte eigentlich

abgeschlossen sein.

O-Ton Protest der Liquidatoren (Sprechchöre)

O-Ton Astrid Sahm

Es hat dann mehrere Jahre gedauert bis die Personen gemerkt haben, einmal

dass es ihnen nicht gut geht nach dem Einsatz und dass sie auch teilweise

belogen wurden, was beispielweise die Strahlendosis angeht, die sie

abbekommen haben. Parallel entstanden die Proteste in den belasteten

Regionen und die ersten Belastungskarten wurden veröffentlicht und

insbesondere fanden 1989 und 1990 die ersten freien Wahlen in der Sowjetunion

statt und damit wurden die ganzen Protestbewegungen laut.

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Musik Ende

O-Ton Anatolij Koljagin:

Übersetzer

Wir sind nicht sozial abgesichert: Also, wir organisieren Demonstrationen, wir

versuchen Druck auf die Regierung aufzubauen. Und wir empfinden das

folgendermaßen: Als man uns damals gebraucht hat, ja, da hat man sogar

unseren Tod in Kauf genommen. Jetzt, wo wir sie brauchen, wo wir Hilfe

brauchen, werden wir gänzlich abgelehnt. Und, wissen Sie, wir haben schon so

viel gekämpft und getan für unser Recht, und so viel unternommen, wir haben

das Gefühl, wir sind jetzt müde geworden, denn wir kommen nicht voran.

Musik Radioaktivität von Cabaret Modern vom Album „ Cabaret Modern -

Night at the Magic Mirror Tent“

Ansage

Verstrahlter Ruhm

Die Liquidatoren von Tschernobyl

Ein Feature von Axel Reitel

O-Ton Funkspruch

“Hören sie mich! Was brennt bei euch? – Es gab eine Explosion im dritten

Reaktor. Zwischen dem dritten und dem vierten. – Sind dort Menschen? – Ja. –

Es sind also Menschen dort. Und was brennt genau? - Lösen sie sofort Alarm für

alle Einsatztruppen aus!“

Sprecher:

Das ist der Originalfunkspruch nach der Reaktorexplosion im Kernkraftwerk

Tschernobyl. Abgesetzt am 26. April 1986, wenige Stunden nach der Havarie um

01.26 Uhr. Brennende Grafitbrocken und radioaktives Material wurden durch das

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aufgerissene Dach von Reaktorblock IV ins Freie geschleudert, das Dach von

Block III und die Turbinenhalle hatten Feuer gefangen.

O-Ton Anatolij Karpatin

Übersetzer

Ich befand mich etwa10 Minuten nach der Explosion am Block und holte die

ersten Strahlenverletzten ab und fuhr sie ins Klinikum nach Pribjat. Meine

Schicht begann früh um zwei; bis zwölf Uhr mittags bin ich insgesamt sechs Mal

gefahren. Ich bekam gut von der Strahlung ab.

Sprecher:

Anatolij Karpatin, 66 Jahre alt, arbeitete als Rettungssanitäter und Fahrer im

Klinikum der nur wenige Kilometer entfernten Atomarbeiterstadt Pribjat, deren

49.000 Einwohner erst zwei Tage nach der Katastrophe evakuiert wurden.

O-Ton Anatolij Karpatin

Übersetzer

Ich war bei der Armee über Schutzmaßnahmen bei atomaren- und chemischen

Unfällen geschult worden. Als ich 50 Meter vom zerstörten Reaktor entfernt den

metallenen Geschmack spürte, wusste ich, was das bedeutet. Ich hätte nicht

fahren müssen, zumal ich keine Schutzbekleidung hatte, nichts; doch ich wusste

auch, dass dort Menschen eingeschlossen sind und das bedeutete ganz klar -

fahren. Für die Rettung der Welt. So haben wir gehandelt.

Sprecher:

Da nicht sein konnte, was nicht sein durfte, wurde der Gau, den der damalige

Staats und Parteichef Michail Gorbatschow erst drei Wochen nach der

Katastrophe vor der Weltöffentlichkeit zugeben musste, zunächst als lapidarer

"Störfall" heruntergespielt, den man bald wieder in den Griff bekomme. So sehr

in Moskau die Wahrheit vertuscht und sogar mit einem Schweigeverbot

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unterdrückt wurde, im Kernkraftwerk wurde von der ersten Stunden an fieberhaft

nach ihr gesucht.

O-Ton Anatolij Koljadin

Übersetzer

Ich kann Ihnen sagen, was in den ersten Stunden geschehen ist. Was brauchte

man in den ersten Stunden nach dem GAU? In den ersten Stunden brauchten

sowohl die Regierung, also Moskau, sowie die Spezialisten, die sich in

Tschernobyl befanden, die Führungskräfte und die leitenden Ingenieure, eine

Beurteilung der Lage.

Sprecher

Anatolij Koljadin, 63 Jahre alt, arbeitete als Elektriker im Atomkraftwerk und

erhielt für seine Verdienste bei der Liquidation einen Orden.

O-Ton Anatolij Koljadin

Übersetzer

Zunächst ging es also um die Beantwortung von Fragen. Erstens: Was genau ist

passiert? Zweitens: In welchem Zustand befindet sich der vierte Reaktor?

Drittens: Was muss geschehen?

Sprecher:

Die Sowjetregierung mobilisierte nach und nach zwischen 800.000 und eine

Million ihrer Bürger, sogenannte Liquidatoren, und schickte sie in die verseuchte

Zone. Den größten Teil stellten die Soldaten der Roten Armee. Wladimir Gudov

war einer der Befehlshaber von 353 Reservisten, die von der Kiewer

Militärverwaltung für das „Sonderbataillon 731“ rekrutiert worden waren. In

seinem gleichnamigen Buch beschreibt er, wie er und seine Kameraden

Hubschrauber mit Sand, Blei und Dolomit beluden, die deren Besatzungen dann

in den offenen Reaktor kippten, um den Ausstoß des radioaktiven Materials zu

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stoppen. Da es Teer und Asche regnete, mussten die Soldaten die Türen ihrer

Helikopter öffnen, um ihr Ziel überhaupt zu sehen.

Zitator

Jeder Helikopter brachte 4-5 Röntgen mit. Erst am vierten Tag wechselte man

die Uniformen. Der Reservekommandeur Alexander Kommarynets tauschte

seine weichen Lederstiefel nicht gegen die üblichen harschen Stiefel und

verbrannte sich so schwer radioaktiv, dass beide Beine amputiert werden sollten.

Ärzte vom Hilfsprogramm des Bayerischen Roten Kreuzes haben ihm dann seine

Beine gerettet.

Sprecher:

Viele bezahlten diese Einsätze mit ihrem Leben oder schweren Strahlenschäden.

Von Vladimir Gudows Kameraden, die täglich bis zu 16 Stunden schufteten, sind

drei Viertel an den Folgen der Verstrahlung gestorben.

O-Ton Astrid Sahm

Der offizielle Ausdruck ist ja gewesen: Die Liquidierung der Folgen der Havarie.

Aus diesem Verständnis, dass die Folgen militärisch, technisch wirklich beseitigt

werden können, liquidiert werden können, erklärt sich dieser Begriff, der sich

bereits in 1986 unmittelbar entwickelt hat.

Sprecher:

Astrid Sahm leitet die Berliner Repräsentanz des Internationalen Bildungs- und

Begegnungswerks, das in Weißrussland und in der Ukraine unter anderem

ehemalige Liquidatoren betreut und die „Retter Europas“ vor dem Vergessen

bewahren will.

O-Ton Astrid Sahm

Es sollte einfach der Bevölkerung vermittelt werden, ja, die Folgen sind

beseitigbar, es ist dann in absehbarer Zeit nicht mehr wahrnehmbar und spürbar.

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Aus diesem Verständnis der Möglichkeit, die Katastrophe vollständig in den Griff

zu bekommen, mit den vielfältigen Vergleichen mit dem Sieg und den Kämpfen

im 2. Weltkrieg, erklärt sich dann dieser Begriff „Liquidator“, den die Betroffenen

ja dann auch tatsächlich als Selbstbezeichnung übernommen haben.

Sprecher:

Die Liquidatoren sollten den hochkontaminierten „Materialauswurf, den

„atomaren Müll“ beseitigen, die Blöcke I bis III „unter Kontrolle“ halten, den

explodierten Block IV schließen und schließlich einen Sarkophag gegen die

austretende radioaktive Strahlung errichten. Sie kamen aus der Armee, der

Feuerwehr und dem Zivilschutz; aber auch Zivilisten wurden rekrutiert: Arbeiter,

Ingenieure, Piloten, Putzfrauen, Sanitäter, Kraftfahrer, Ärzte oder

Krankenschwestern.

O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina

Übersetzerin

Und dann diese radioaktive Masse. Die Blöcke III und IV standen dicht

nebeneinander. Und die aus dem Block IV herausgeschleuderte Masse bedeckte

nicht nur den Boden, sondern lag auch auf dem Dach des dritten Blocks. Der

dritte Block sollte in Betrieb gehen, also musste die radioaktive Masse vom Dach

geholt werden.

Sprecher:

Lidia Stepanowna Tscherkaschina war von 1977 bis zum Herbst 1986

Ingenieurin im Atomkraftwerk Tschernobyl.

O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina

Übersetzerin

Zunächst schickte man japanische Roboter los, die wegen der hohen Strahlung

sofort verbrannten. Und dann musste der menschliche Roboter „Wanja“ mit

seiner Schaufel aufs Dach. Zugelassen waren für jeden Sekunden, maximal eine

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Minute. Er aber lief, schaufelte, und wer zu viel Strahlung abbekam, wurde

ersetzt. Das war die wahre Robotertechnik in Tschernobyl: der Russische

„Wanja“.

Sprecher:

Die Liquidatoren ahnten allenfalls, in welche Gefahr sie sich begaben, aufgeklärt

wurden sie nicht.

O-Ton Anatolij Koljadin

Übersetzer

In unserer Schicht, bei der einige um vier Uhr, andere um 6 Uhr anfingen, hatten

wir ab 10 Uhr vormittags keine Leute mehr - sie waren alle verstrahlt. Ich wurde

ein zweites Mal zum Noteinsatz gerufen, wie andere auch. Niemand konnte

sagen, welche Dosis wir abbekamen. Nirgendwo war ein Dosimeter. Und das

ging so weiter. Am 28. April wateten wir durch kniehohes, hoch radioaktives

Wasser, das durch den völlig zerstörten vierten Reaktor von den Wänden bis

hinab in die tieferen Etagen floss. In die untere Etage mit der gesamten

Elektromechanik. Schließlich begann eine Menge Wasser zu den

Reaktorblöcken III, II und I abzudriften und ich erhielt den Befehl, so schnell wie

möglich, das Wasser abzupumpen. Für diese Arbeit bekam ich den Orden.

Sprecher:

Bis zum 5. Mai wurden 85.000 Menschen aus einer 30 Kilometer-Zone um das

Kraftwerk herum evakuiert. Sie durften nur wenige Habseligkeiten mitnehmen

und was sie mit auf die Reise nahmen, war radioaktiv verseucht. Viele trugen

wochenlang kontaminierte Kleidung.

O-Ton Lidia Alexandrowna Terenzowa

Übersetzerin

Und ich bin nach Taganrog zu meiner Mutter gefahren. Mein Sohn war gerade

zehn Jahre alt geworden. Als wir bei meinen Eltern ankamen, hatten wir immer

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noch dieselben Sachen an wie bei der Evakuierung. Wir haben sie einfach

gewaschen und wieder angezogen. Schließlich kam ein Auto aus Rostow und

man hat uns zur Dekontaminierungsstation gebracht. Als sie uns dort

überprüften, brannten die Messgeräte durch. Wir mussten daraufhin alle Sachen

abgeben und bekamen dafür so dunkelblaue Kittel, wie sie die Arbeiter dort

trugen und dazu Schlappen. Ich habe Schuhgröße 38, bekam aber eine 40er

Größe. Das war’s. Schließlich sagten sie: „Das ist alles, geht, wohin Ihr wollt.“

Damals lebte mein Mann noch. Er besuchte uns mit unserem Auto. Er kam direkt

vom Atomkraftwerk und hatte nur diesen weißen Schutzanzug an. Wir fuhren

gemeinsam zu Bekannten, die in der Röntgenabteilung einer Fabrik arbeiteten.

Die hatten auch solche Messgeräte. Die brannten allerdings schon durch, als sie

damit nur in die Nähe des Autos kamen. Wir wussten damals alle nicht, dass

unser Wagen die Ursache für die extreme Strahlung war. Unsere Bekannten

sagten nur: „Scheinbar funktionieren die Geräte nicht. Da kann man nichts

machen.“ Und dann sind wir mit dem Auto noch eine Woche herumgefahren.

Sprecher:

In der südrussischen Hafenstadt Taganrog gaben die Eltern den erkrankten

Sohn in die Obhut eines Erholungsheims.

O-Ton Lidia Alexandrowna Terenzowa

Übersetzerin

Eigentlich ist er soweit in Ordnung. Das heißt - am Anfang hatte er schon innere

Beschwerden. Alles in allem hat uns geholfen, dass wir am Asowschen Meer

waren und wir ihn dort ins Pionierlager geschickt haben. Damals konnte man dort

viel schwarzen Kaviar kaufen. Davon hat er reichlich gegessen und ist schließlich

wieder auf die Beine gekommen. Mein Mann ist allerdings 1993 an einem

Herzinfarkt gestorben. Er stand morgens auf, machte sich zur Arbeit fertig, hat

sich einen Tee eingegossen und fiel um. Das war’s.

Collage Musik, Radio und TV europäische Bedrohung d urch den Fall Out

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O-Ton Anatolij Karpatin

Übersetzer

Ich war am nächsten Tag in einem anderen Gebiet eingesetzt und evakuierte

eine Familie. Ich fuhr sie in den Rajon Polessk, ins Zentrum des Rajon, und dort

wurde ich selber vom Rettungsdienst aufgesammelt. Mir wurde einfach schlecht:

Ich hatte radioaktive Verbrennungen des Gesichts, des Brustkorbs, der

Atemwege, und das alles. Und es ging mir schlecht. Man brachte mich ins

Krankenhaus, und vom Krankenhaus in Polessk mit dem Rettungswagen nach

Kiew, von Kiew zum Flughafen Schuljany und dann nach Moskau. Und dort lag

ich dann in der weltberühmten Klinik Nummer 6.

Sprecher:

Die Moskauer Klinik Nr. 6, in die man den Rettungssanitäter Anatolij Karpatin

gebracht hatte, war als einzige in der Sowjetunion dafür ausgerüstet,

Strahlenkranke zu behandeln. Vor Tschernobyl hatte man dort Patienten

aufgenommen, die in Atom-U-Booten oder in anderen Atomkraftwerken verstrahlt

worden waren.

O-Ton Anatolij Karpatin

Übersetzer

Wir waren 300 Patienten in der Klinik. Zuerst sagte man uns, wir wären an

Verstrahlungen der Stärken 1 bis 4 erkrankt, denn es waren bereits viele

Menschen dort gestorben. Sie starben einfach vor unseren Augen.

Sprecher:

Selbst erfahrene russische Ärzte, die zudem von dem amerikanischen

Knochenmarkspezialisten Robert Gale unterstützt wurden, standen den

Auswirkungen der massiven Verstrahlung völlig hilflos gegenüber. Doch auch in

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dieser Spezialklinik wurde die Verstrahlung als Ursache von Krankheit und Tod

von den zur strikten Geheimhaltung verpflichteten Ärzten heruntergespielt.

O-Ton Anatolij Karpatin

Übersetzer

Ich habe dort Professor Worobejew, eine Frage gestellt: „Sie bescheinigen doch

den verstrahlten Menschen als Diagnose „vegetative Gefäß-Dystonie?“

Daraufhin antwortete er mir, dass das eine Kodierung für die Strahlenkrankheit

sei, und als ich fragte, ob ich eine Strahlenkrankheit hätte, sagte er: „Ja, Sie

haben eine Strahlenkrankheit.“ Aber in meinem Entlassungsschreiben, steht als

Diagnose: „vegetative-Gefäß-Dystonie“, eine Diagnose, als ob mein Kreislauf

mal runter, mal rauf geht, obwohl ich mein Gesicht meine Atemwege und der

Brustkorb verstrahlt war. Das war die Politik. Es begann ein Betrug an

denjenigen, die ihr Leben hergaben.

O-Ton Wiktor Pawlowitsch

Übersetzer

Ich heiße Haidak Wiktor Pawlowitsch, bin 72 Jahre alt und Invalide der ersten

Kategorie. Ich habe insgesamt fast zehn Jahre lang bei der Liquidation der

Reaktorkatastrophe mitgearbeitet, von 1986-1995. In dieser Zeit war mein

Organismus hoher Strahlenbelastung ausgesetzt, so dass im Endeffekt mein

Immunsystem versagte: ich begann innerlich zu zerfallen: zwei schwere

Herzinfarkte, Einlieferungen in die Reanimation. Man hat mich wiederholt

operiert: Magen, Krebs, schließlich entfernte man mir den Magen. Ich litt an

Darmverschluss. Dann kam eine dreifache Bauchfellentzündung hinzu. Drei Mal

machte man mich auf. Da habe ich nur noch gelacht und zu dem Chirurgen

gesagt: Näh es nicht mehr zu, sondern mach einen Reißverschluss, damit, wenn

wieder was ist, du es schneller aufmachen kannst.

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O-Ton Sebastian Pfllugbeil

Man hat diese Leute verheizt und gewusst, dass man sie verheizt, aber man hat

keine Alternative gesehen. Und da sind ungefähr ne 1 Million Leute verbraten

worden und niemand weiß, wie viele davon gestorben sind. Die offiziellen

Angaben von den UNO Organisationen, die reden von 29 Leuten, die an akuten

Strahlenschäden gestorben sind und dann sind noch ein paar Leute gestorben,

weil ihnen was auf den Kopf gefallen ist, aber nicht mehr als fünfzig insgesamt,

und ansonsten gibt es keine Gesundheitsbeschwerden, schreibt UN Health Care,

dieses wissenschaftliche Komitee bei den Vereinten Nationen dazu. Das ist eine

glatte Lüge. Ich habe zum Beispiel einen Bericht vom Sozialministerium in der

Ukraine – das ist schon mehrere Jahre her, da gibt es eine Liste, wo drauf steht,

wie viele Familien von Liquidatoren, eine Staatsrente bekommen, weil der Vater,

in der Regel der Vater, in Folge seines Einsatzes in Tschernobyl gestorben ist,

und das sind alleine schon 15.000 gewesen. Unsere befreundeten Kollegen in

Russland schätzen, dass die Toten bei den Liquidatoren inzwischen bei 100.000

– 150.000 liegen dürften.

Sprecher:

Der Physiker und Bürgerrechtler Sebastian Pflugbeil war in der

Abwicklungsregierung von Hans Modrow für die Kraftwerke in der DDR

zuständig und ist heute Präsident der „Gesellschaft für Strahlenschutz.“ Nach

dem GAU ist er mehrfach nach Tschernobyl gereist und hatte mit einer Gruppe

von Fachärzten auch Liquidatoren in dem Kiewer Neubaugebiet Troeschina

besucht.

O-Ton Sebastian Pflugbeil

Am Rand von Kiew ist so ein Stadtteil, wo viele dieser Liquidatoren leben. Also,

da sind viele sterbenskrank, liegen im Bett oder sitzen in ihren Sesseln und

haben Erkrankungen, die in keinem Buch stehen.

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Sprecher:

Troeschina ist heute eine triste Ansammlung von verwitternden, graublauen

Plattenbauten, zwischen denen sich eine sandige Einöde erstreckt. Vereinzelt

stehen Bäume und Büsche. Einwohner in Freizeitanzügen gehen mit

Kampfhunden Gassi. Den Plattenbauten gegenüber prunkt eine neue weiß-blau-

goldene Basilika. Als es in Tschernobyl zum GAU kam, war das Wohnviertel

gerade erst fertiggestellt worden und viele Kiewer freuten sich, dass ihnen dort

eine Wohnung zugeteilt worden war. Als statt ihrer die Liquidatoren einquartiert

wurden, flogen Steine durch die Fensterscheiben. Müll wurde vor den

Wohnungen ausgeschüttet. Es gab Drohanrufe und sogar Morddrohungen.

O-Ton Sebastian Pflugbeil

Die Familien sind natürlich in einer extrem schwierigen Situation und sie haben

das richtige Gefühl, dass sie von den Mächtigen im Land verachtet werden und

auch von der Bevölkerung werden sie nicht geliebt. Also die Familien-

angehörigen haben zum Beispiel Schwierigkeiten, Freunde zu finden, Ehepartner

zu finden, wenn die erfahren, dass die Eltern aus diesem Bereich kommen. Da

machen alle einen großen Bogen drum. Heute noch.

O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina:

Übersetzerin

Stellen Sie sich vor: Sie hätten bereits eine Wohnungszuteilung erhalten, und Sie

wissen, dass sie in dieses bestimmte Haus und in diese bestimmte Wohnung

einziehen werden. Und dann diese Katastrophe - und diese Häuser, diese

Wohnungen, werden den Kiewern weggenommen und man siedelt uns

Tschernobyler an. Wie sollen sie uns denn mögen, wenn die Menschen in Kiew

auf diese Behausungen 20 Jahre und länger gewartet haben? Es ist doch sehr

schwer, hier in Kiew, kommunale Wohnungen zu bekommen.

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Sprecher:

Lidia Stepanowna Tscherkaschina, die ehemalige Ingenieurin Im Tschernobyler

Atomkraftwerk, gehörte zu den ersten, die in Troeschina einquartiert wurden.

O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina :

Übersetzerin

Ja, wir sind aus unserem Sozialen Kreis rausgefallen. Ich kann über mich

sprechen. Obwohl ich in Kiew in einem anderen Werk als stellvertretende

Technologie-Leiterin gearbeitet habe, ein wenig auch in der Partei, war das alles

nicht mehr zufriedenstellend.

Sprecher:

Lidia Stepanowna ist ehrenamtliche Mitarbeiterin bei Semljaki, zu Deutsch

„Landsleute“. Der Ende 1986 gegründete Verband machte es sich zur Aufgabe,

die Liquidatoren, die nach Troeschina evakuiert worden waren, aus den – wie sie

hier sagen - „vier Wänden“ zu holen, wo sie „mit ihren Problemen“ festsaßen. Im

November 1986 wurde der Verein hinter einem Supermarkt einquartiert, in dem

es kaum etwas zu kaufen gab. Semljaki verstand sich von Anfang an als

Interessenvertretung der Liquidatoren und organisierte nach dem

Zusammenbruch der Sowjetunion die ersten Demonstrationen in Kiew, die wohl

auch „zur frühen Unabhängigkeitserklärung“ der Ukraine beigetragen haben. Hier

sammeln sie alles, was an den Gau erinnert, schreiben unermüdlich Eingaben an

die Behörden und unterstützen ehemalige Liquidatoren, denen die Behörden

medizinische Versorgung, Sanatoriums-Aufenthalte oder die ihnen zustehende

Rente verweigern. Viele Anträge wurden schon vor Jahren gestellt, blieben aber

bis heute ohne endgültigen Bescheid.

O-Ton Anatolij Koljadin

Übersetzer

Die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe sind für die Ukraine wie auch für

Weißrussland immens. In Russland gibt es dieses Problem nicht. Dort haben die

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Tschernobyler ein, zwei Jahre gekämpft und es wurden in der Rentenfrage

ebenso wie bei den medizinischen Behandlungen Kompromisse gefunden. Wir

dagegen bekommen keine kostenlose Operation, keine kostenlose Behandlung.

Gott bewahre, wenn ein Tschernobyler erkrankt, wird die ganze Familie zum

Schuldner. Objektiv muss man sagen, dass während der Präsidentschaft von

Krawtschuk, ebenso wie während der von Kutschma, Juschtschenko und

Janukowitsch für die soziale Absicherung der Menschen, die an den Folgen der

Tschernobyl-Katastrophe leiden, trotz des entsprechenden Gesetzes skandalös

wenig Finanzmittel zur Verfügung gestellt wurden.

Sprecher

Dabei, so der ehemalige Liquidator Anatolij Koljadin, sei die Gesetzeslage

eindeutig und verpflichte auch in der Ukraine die Regierung zur umfangreichen

Unterstützung der einstigen Liquidatoren.

O-Ton Anatolij Koljadin

Übersetzer

Wir haben ein wunderbares Sozialgesetz zur Gesundheitsförderung der

Menschen, die an den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe leiden. Doch aus

dem Topf des Gesundheitsministeriums werden gerade einmal 6 Prozent für das

Notwendigste ausgezahlt. Dadurch fallen viele lebenswichtige Dienstleistungen

von vornherein weg.

Sprecher:

Das sogenannte „Tschernobyl-Gesetz über den Sozialschutz der von

Tschernobyl betroffenen Bevölkerung“ - wurde im Februar 1991vom ukrainischen

Parlament verabschiedet und ebenso wie seine weißrussische Variante vom

Obersten Sowjet der damals noch existierenden Sowjetunion bestätigt. Nach der

Unabhängigkeitserklärung der Ukraine am 24. August 1991 wurde die

Verpflichtung des Staates zur „Überwindung der Folgen der Tschernobyl

Katastrophe“ schließlich in die Verfassung aufgenommen.

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O-Ton Astrid Sahm

Das Gesetz ist sehr umfassend und es richtet sich nicht nur an die Liquidatoren,

sondern umfasst auch die Umsiedler und die Bevölkerung, die weiterhin in der

kontaminierten Region lebt. Ursprünglich sah es monatliche Zuzahlungen vor,

Recht auf kostenlose Nutzung von Verkehrsmitteln und ähnlichem. Bei den

Liquidatoren hängt es noch sehr stark davon ab, ob sie einen anerkannten Grad

der Behinderung haben oder nur der Einsatz. Dafür gibt es zusätzliche

Zahlungen oder Renten.

O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina :

Übersetzerin

In dem Gesetz, das man für die Tschernobyl Opfer beschlossen hat, steht, dass

es kostenlose Präparate, Medikamente, kostenlose Behandlung, und so weiter

geben soll und selbstverständlich sollte ich, als Liquidatorin, als Invalidin der

Gruppe 2 eine Rente bekommen.

Sprecher:

Die wegen ihren Erkrankungen versorgungsberechtigten Liquidatoren wurden

den Behinderten zugerechnet und wie die je nach Ausmaß ihrer Invalidität in drei

Kategorien eingeteilt. Zur 1. Gruppe gehören nicht mehr arbeitsfähige

Schwersterkrankte, Gruppe 2 wurden Liquidatoren mit eingeschränkter

Arbeitsfähigkeit zugeordnet und Gruppe 3 ist für Behinderte mit leichter

Beeinträchtigung ihrer Arbeitsfähigkeit vorgesehen.

O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschin

Übersetzerin

Ich lasse mich auf eigene Kosten behandeln, und dabei kommt eine erhebliche

Summe zusammen, für Medikamente, die ich mein Leben lang werde nehmen

müssen; gegen Herz und Hormon-Probleme, jetzt auch wegen der

Zuckerkrankheit. Ich kaufe das alles selber. Vielleicht ein- oder zweimal im Jahr

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kann dir der Arzt ein oder zwei Medikamente kostenlos verschreiben. Und das

ist alles. Und dann wird auch noch in der Presse behauptet, dass die

Tschernobyler sehr hohe Renten bekommen. Ja, vielleicht bekommt die

tatsächlich jemand.

O-Ton Anatolij Karpatin:

Übersetzer

Ich bekomme 5.000 Griwna. Das sind 500 Euro. Meine Frau bekommt 1.300 -

also 130 Euro Rente. Sie ist auch eine Invalidin der zweiten Gruppe. Sie zahlen

nicht nach dem Gesetz. Wenn wir laut Gesetz ausbezahlt würden, so würde ich

6.000 und auch meine Frau 6.000 Griwna bekommen. Dann könnten wir leben.

Aber so ist es am Gesetz vorbei.

Sprecher

Da mir während meiner Recherchen in der Ukraine kein Vertreter der

ukrainischen Regierung zu einem Interview zur Verfügung stand, hatte ich mich

an die Botschaft der Ukraine gewandt. Nach einer Wartezeit, in der meine

Fragen in Kiew geprüft wurden, empfing mich Botschafter Pawlow Klimkin zu

einem Gespräch. Er war unter anderem stellvertretender Außenminister der

Ukraine und residiert seit August 2012 als Botschafter seines Landes in Berlin.

O-Ton Botschafter der Ukraine in Deutschland Pavlo Klimkin:

Also diese emotionelle Atmosphäre kann ich auch verstehen. Die bekommen in

vielen Fällen nicht ausreichende, medizinische Behandlung, die ihnen auch

zusteht. In vielen Fällen werden auch finanzielle Mittel verspätet ausbezahlt.

Aber irgendwie so eine Zumutung, dass sie an den Rand gedrängt wurden, da

stimme ich überhaupt nicht zu. Und diese Frage Tschernobyl, die ist immer auf

der Agenda in der Ukraine.

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Sprecher

Ninelia Alexandrowna Seratowskaja arbeitete zum Zeitpunkt des GAUs als

Taxifahrerin. Nach der Explosion chauffierte sie Gäste aus dem Ausland zum

kontaminierten Kraftwerksgelände und war auch für die Evakuierung aus der

Sperrzone um das havarierte Atomkraftwerk eingeteilt. Nelly, wie sie hier alle

nennen, ist 64 Jahre alt. Jeden Tag fahre sie, sagt sie, seitdem sie Rentnerin ist

auch an Sonntagen. Angesichts ihrer geringen Rente bleibe ihr nichts anderes

übrig.

O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:

Übersetzerin

Nur für Medikamente, das hat meine Tochter ausgerechnet, benötige ich 1.200

Griwna im Monat. Ich bekomme aber nur 930! Sie zählen uns nicht zu den

Liquidatoren! Bis ’93 hat man uns dazu gezählt. Ab dem Jahr 1993 sind wir keine

Liquidatoren mehr, und wie das alles zustande kam!

Sprecher

Varianten von Nellys Geschichte ihres Ausschlusses aus dem Kreis der vom

Tschernobyl-Gesetz Begünstigten können viele der noch lebenden Liquidatoren

erzählen.

O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:

Übersetzerin

Wir wurden alle bei der Fahrer–Kommission im Krankenhaus für Arbeiter des

Kraftfahrwesens in Kiew -Swetoschino angemeldet und wurden dort regelmäßig

untersucht. Dort erhielt man auch seine Invaliditäts-Kategorie. Die nahmen sie

dann wieder weg. Die erste Überprüfung fand „nach der Sowjetunion“ statt,

unsere Union ist doch auseinandergefallen. Ich kam zunächst von Stufe 1 in

Stufe 2. Nach etwa 3 Jahren etwa kam ich in Stufe 3. Und beim letzten Mal

nahmen sie mir auch die Stufe 3 weg. Und das geschah zu dem Zeitpunkt, als

unsere Fahrer anfingen, massenhaft zu sterben.

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Sprecher

Auch ihr eigener Gesundheitszustand hatte sich verschlechtert. Nachdem ihr

Darm herausgetreten war, musste sie wiederholt operiert werden. Zudem muss

sie einmal im Jahr ins Krankenhaus, wo sie neues Blut bekommt. Viele Freunde

spenden für sie, damit sie am Leben bleibt.

Musik Andrei Tarkovsky Original Soundtrack, Vol. 4: Mirror / Stalker

O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:

Übersetzerin

Eines Tages kamen wir in unser Krankenhaus in Swjatoschino und dort sagten

sie: „Aber Sie haben doch gar nicht in Tschernobyl gearbeitet!“ Wir fingen

daraufhin an, unsere Dokumente zu suchen. Wir fuhren nach Pribjat, wo man

uns einstmals die Dienstausweise, die zugleich Passierscheine waren,

ausgestellt hatte. Aber alles war bereits vernichtet worden. Und dann ist der

Leiter der Personalabteilung, der uns bisher die Reiseschecks für die

Kuraufenthalte ausgestellt hatte und das alles, auch noch dermaßen mysteriös

ums Leben gekommen. Und mit ihm verschwanden auch alle unsere

Berechtigungen für die Kurreisen.

Musik Ende

O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:

Übersetzerin

Man hat uns alles weggenommen. Und sie sagten einem klipp und klar: “Die

Tschernobyler leben nicht so lange“. Aber die, die an Tschernobyl “gar nicht mal

geschnuppert haben”, die bekommen “Kohle“, und das alles, die sind also

’Tschernobyler’! Was uns zustand, nahm man uns und gab es denen! In den

Krankenhäusern wurde alles verschoben.

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Sprecher

Ein Handel, von dem, da ist sich Nelly sicher, vor allem die neue politische Elite

des Landes profitiert habe.

O-Ton Ninelia Alexandrowna Seratowskaja:

Übersetzerin

Ich bin überzeugt, dass jeder zweite Abgeordnete solche Dokumente besitzt und

aus sich quasi symbolisch einen Tschernobyl-Helden macht. Natürlich ist es so.

O-Ton Sebastian Pflugbeil:

Ja. Ja. Ich verstehe das gut. Wir haben das selber viele Jahre gemacht. So

Kinder eingeladen aus der Tschernobyl-Region. Das ist sicher im Sinne von

Solidarität mit so einer lädierten Region eine gute Sache gewesen. Aber das ist

leider ziemlich bald entgleist in Geschäfte, deren Sauberkeit man nicht mehr

garantieren konnte. Da kamen auf einmal die Funktionärskinder. Oder sie

kamen gerade aus Italien von einem Urlaub und fuhren dann nach Deutschland

und nach England und so. Wir haben uns dann getrennt von dieser Geschichte.

O-Ton Botschafter der Ukraine in Deutschland Pavlo Klimkin:

Das ist auch bekannt. Deswegen prüfen die Behörden immer ganz genau, ob es

sozusagen echte Liquidatoren sind, die unglaublich viel für die Ukraine, für

Tschernobyl, geleistet haben, geht. Oder um eine Fälschung. Und es gab viele

Versuche, diese Dokumente zu fälschen. Und wenn die Papiere dann verloren

gegangen sind, dann muss man ganz genau prüfen. Und das geht in vielen

Fällen relativ langsam. Aber das muss auch so sein, damit auch nicht solche

Ungerechtigkeiten dann aufkommen und echte Liquidatoren dann sozusagen

einfach wenig bekommen. Das ist einfach unfair.

Sprecher:

„Die souveräne Ukraine ist aus den Trümmern von Tschernobyl entstanden und

befindet sich praktisch in deren Gewalt“, schrieb der ukrainische Schriftsteller

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Serhij Zhadan im Mai 2011. In den Jahren 1989 bis 1991, also noch zu

Sowjetzeiten, schufen Massenproteste gegen die Verheimlichung des wahren

Ausmaßes der Folgen von Tschernobyl ein Klima, in dem nur mehrheitsfähig

war, wer radikale Aufklärung und großzügige Entschädigungen versprach.

O-Ton Astrid Sahm:

Und deswegen wurden die Gesetze, die eigentlich bis heute in Weißrussland,

Russland und der Ukraine die Grundlage für Kompensationsleistungen und

Fürsorgeleistungen sind, noch zu sowjetischer Zeit verabschiedet und

Weißrussland und die Ukraine haben sie verabschiedet in der Erwartung, dass

sie über den sowjetischen Haushalt finanziert werden. Sie haben nie damit

gerechnet, dass sie in eine Situation kommen werden, dass sie diese Leistungen

selbständig ohne Hilfe aus dem Zentrum erbringen müssen.

Sprecher:

Astrid Sahm vom Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk hat eine

Dissertation über die Tschernobylpolitik in der Ukraine und in Weißrussland

geschrieben.

O-Ton Astrid Sahm:

Die Ukraine war nach der Unabhängigkeit nicht in der das umzusetzen und die

Regierung hat dann 2011 ein Gesetz verabschiedet, in dem sie festgelegt hat,

dass die sozialen Leistungen nicht verbindlich auf der Grundlage des Gesetzes

von 1991 gezahlt werden, sondern dass das die Orientierung ist, aber die realen

Leistungen richten sich nach den finanziellen Möglichkeiten der Regierung. Das

ist genau der Ausgangspunkt gewesen für die Protestwelle, die 2011 in Gang

kam, wo die Proteste auch vor dem Parlament waren mit dem Hungerstreik usw.

Sprecher

2006 hatte ein Gericht die aus dem Tschernobyl-Gesetz resultierenden

Leistungen auf 74 Milliarden Griwna, das sind 7,4 Milliarden Euro beziffert. Die

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Regierung stimmte dieser Rechnung zu, verwies aber darauf, dass sich der

gesamte Staatshaushalt auf nur 281 Milliarden Griwna belaufe, sie also nicht die

Mittel habe, das vom Parlament beschlossene Gesetz umzusetzen. Eine

Argumentation auf die auch Botschafter Klimkin zurückgreift.

O-Ton Botschafter der Ukraine in Deutschland Pavlo Klimkin:

Und damit es auch klar wird, also für viele, die also diese Maßstäbe nicht ganz

vorstellen können. Es gibt im Moment in der Ukraine mehr als 2 Millionen Leuten.

Also 2.186.000 Leuten. Also, um präzise zu sein, die auch Hilfe aus dem

ukrainischen Haushalt, vom Staat bekommen. Und das ist eine gewaltige

Aufgabe.

O-Ton Demonstration 2011

Sprecher:

Am 1. November 2011 überrannten in Kiew mehrere Hundert ehemalige

Liquidatoren Metallabsperrungen der Miliz und drangen zum Parlamentsgebäude

vor. Wie zuvor in Donezk und Charkow forderten sie die volle Auszahlung der

ihnen von Gerichten bestätigten Rentenansprüche.

O-Ton Demonstrant:

Sprecher:

Die Renten für die Liquidatoren seien einfach zu niedrig, sagt der Demonstrant,

man könne davon nicht leben, aber die Regierung kapiere das nicht.

O-Ton Demonstrant-Liquidator:

Sprecher:

Ein anderer berichtet, dass ihm die Ärzte eine Verschlechterung seines

Gesundheitszustandes bescheinigt hätten. Daraufhin sei er aus der

Invaliditätsstufe 3 in die Stufe 2 aufgestiegen. Im August sei die neue Zuordnung

vom Gericht bestätigt worden. Doch dann sei im September der Leiter der

örtlichen Rentenabteilung zu ihm gekommen und habe gesagt: 'Alexander

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Alexejewitsch, wir können dir keine Erhöhung deiner Rente zahlen! Es gibt einen

Brief der Regierung zum Rentenfonds und den haben sie die "präsidiale Vertikale

herunter fallen lassen" Der Finanzminister habe angeordnet, die Gerichts-

beschlüsse würden nicht durchgeführt, ohne Ausnahme. Aber auf dem

Gerichtsbeschluss stehe 'Im Namen der Ukraine‘, empört sich der Demonstrant.

Sprecher:

Diese „präsidiale Vertikale“ ist ein vom ukrainischen Präsidenten Leonid Kučma,

eingeführte Regel, nach der eine übergeordnete Institution zu jeder Zeit

Entscheidungen einer untergeordneten aufheben kann, auch solche von

Gerichten aufheben kann. Im Sommer 2011 hatte die Regierung drastische

Rentenkürzungen beschlossen, von denen auch die ehemaligen Liquidatoren

betroffen waren. Letztere waren zwar mit ihren Klagen gegen diese Kürzungen

erfolgreich, aber Premierminister Azarov erklärte, der Staat verfüge nicht über

die Mittel, den Entscheidungen der Gerichte nachzukommen und vom Parlament

beschlossene Gesetze umzusetzen.

O-Ton Astrid Sahm:

Die Berechnungsgrundlage wurde auch geändert. Es wird nicht mehr einheitlich

gemacht, sondern es wird berechnet ausgehend vom Gehalt, das derjenige

erhalten hat, unmittelbar vor seinem Einsatz. Und dadurch sind bei ganz vielen

die Renten geringer geworden und eigentlich nur bei einer Gruppe, bei den

AKW-Mitarbeitern, die hohe Gehälter damals hatten, sind die Bezüge gestiegen.

Und bei allen anderen, etwa 80 Prozent, sind sie drastisch weniger geworden.

Wenn z.B. ein Behinderter der 1. Gruppe vorher 8600 Griwna bekommen hatte,

bekommt er jetzt zwischen 3.300 und 3.800, also um mehr als die Hälfte weniger

und damit ist auch noch mal die soziale Lage deutlich verschlechtert worden.

Sprecher

Die immer weniger werdenden Tschernobyl Veteranen setzten ihre

Demonstrationen fort, doch, so der Schriftsteller Serhij Zhadan „ihre ständigen

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Versuche, den Staat dazu zu bewegen, seinen Pflichten nachzukommen und die

noch ausstehenden Zahlungen zu begleichen sind zu einer Dauererscheinung

geworden und fallen unter den anderen sozioökonomischen Forderungen nicht

mehr auf.“ Und die Regierung? Sie spielt weiter auf Zeit. Die letzten noch

lebenden, einst als Retter Europas gefeierten Helden von Tschernobyl sehen

sich seit bald drei Jahrzehnten demütigenden Auseinandersetzungen mit

wechselnden ukrainischen Regierungen um die ihnen zustehenden

Entschädigungen ausgeliefert. Während sich der Gesundheitszustand der

meisten dieser Menschen weiter verschlechtert, nimmt auch ihre

gesellschaftliche Isolation zu.

O-Ton Astrid Sahm:

Die moralische Unterstützung in der Ukraine für die Proteste der Liquidatoren ist

gering, weil eher gesehen wird, warum sollen sie so viel haben, wenn wir alle so

wenig haben.

Sprecher:

Ein Sozialneid, den die ukrainische Regierung, allen voran der für die

Entschädigung der Liquidatoren zuständige Vizepremier Sergej Tigipko, der von

der Forbes-Liste mit einem Privatvermögen von 1,1, Milliarden Dollar geführt

wird, zynisch befeuert.

O-Ton Lidia Stepanowna Tscherkaschina:

Übersetzerin

Wenn wir zum Beispiel streiken gehen, das Oberste Gericht belagern, da sagte

z.B. Herr Tigipko: Was wollt ihr? Ihr habt doch Millionen durch das Gericht

zugesprochen bekommen. Manche Tschernobyler haben geklagt. Manche haben

ihre Renten durch das Gericht gewonnen. Einige haben die Rente dann

bekommen. Nach dem Motto: „Wer schneller ist, der ist auch schlauer“. Aber

auch im letzten Jahr, wurde denen, welche die Prozesse gewonnen haben,

wieder alles weggenommen. Sie wurden auf die Renten heruntergesetzt, die sie

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vorher bekommen haben. Wenn Herr Tigipko persönlich sogar von der Tribüne

aus äußert, wir seien Millionäre, die Tschernobyler, was kann man da sagen?

Musik Radioaktivität von Cabaret Modern „Cabaret Mo dern - Night at the

Magic Mirror Tent“

Absage

Verstrahlter Ruhm

Die Liquidatoren von Tschernobyl

Ein Feature von Axel Reitel

Es sprachen: Wolfgang Rüter, Gregor Höppner, Walter Gontermann,

Ernst August Schepmann, Louis Friedemann Thiele, Edda Fischer, Sigrid

Burkholder und Claudia Mischke

Ton und Technik: Ernst Hartmann und Kiwi Hornung

Regie: Wolfgang Rindfleisch

Redaktion: Hermann Theißen

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Mitteldeutschen

Rundfunk 2013.