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Vertraute Räume Wenn Menschen sich nicht mehr orientieren können, brauchen sie eine Umgebung, die auf sie zugeschnitten ist. In einem Forschungsprojekt suchen Architekten nach Konzepten und Gestaltungsempfehlungen für die eigenen vier Wände, Pflegeheime und Krankenhäuser. Gesine Marquardt M enschen werden immer älter und bleiben länger fit. Das Ri- siko, krank und demenzkrank zu werden, steigt dennoch mit zuneh- mendem Alter. Bis zum 70. Lebens- jahr leidet weniger als ein Prozent der Bevölkerung an einer Demenz. Bei den über 90-Jährigen hingegen sind es schon rund 35 Prozent. Ob Demenz eine erworbene Krank- heit ist oder ein Prozess, der un- ausweichlich mit dem Lebensende verbunden ist, wird diskutiert. Die häufigste Form ist die Alz- heimerdemenz: Sie betrifft etwa zwei Drittel aller Fälle. Beeinträch- tigt sind das Gedächtnis, die Orien- tierung, die Aufmerksamkeit und die Sprache. Anfangs machen sich diese Symptome oft nur schleichend bemerkbar. Mit dem Fortschreiten der Krankheit verlieren die Be- troffenen jedoch immer mehr ihre Identität und die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen – Betreuung und Pflege rund um die Uhr sind nötig. Weltweit arbeiten medizinische und pharmazeutische Forschungs- institute daran, die weithin Angst einflößende Krankheit zu behan- Klar umgrenzte Räume und eindeutige Beschilderungen helfen Demenzkranken in den eigenen vier Wänden. 64 Hilfen für die Welt von morgen

Vertraute Räume

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Vertraute RäumeWenn Menschen sich nicht mehr orientieren können, brauchen sie eine Umgebung, die auf

sie zugeschnitten ist. In einem Forschungsprojekt suchen Architekten nach Konzepten und

Gestaltungsempfehlungen für die eigenen vier Wände, Pflegeheime und Krankenhäuser.

Gesine Marquardt

Menschen werden immer älter und bleiben länger fit. Das Ri-

siko, krank und demenzkrank zu werden, steigt dennoch mit zuneh-mendem Alter. Bis zum 70. Lebens-jahr leidet weniger als ein Prozent der Bevölkerung an einer Demenz. Bei den über 90-Jährigen hingegen sind es schon rund 35 Prozent. Ob Demenz eine erworbene Krank-heit ist oder ein Prozess, der un-ausweichlich mit dem Lebensende verbunden ist, wird diskutiert.

Die häufigste Form ist die Alz-heimerdemenz: Sie betrifft etwa zwei Drittel aller Fälle. Beeinträch-tigt sind das Gedächtnis, die Orien-tierung, die Aufmerksamkeit und die Sprache. Anfangs machen sich diese Symptome oft nur schleichend bemerkbar. Mit dem Fortschreiten der Krankheit verlieren die Be-troffenen jedoch immer mehr ihre Identität und die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen – Betreuung und Pflege rund um die Uhr sind nötig.

Weltweit arbeiten medizinische und pharmazeutische Forschungs-institute daran, die weithin Angst ein flößende Krankheit zu behan-

Klar umgrenzte Räume und eindeutige

Beschilderungen helfen Demenzkranken

in den eigenen vier Wänden.

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deln. Bisher ist es aber nur in den frühen Phasen möglich, durch Me-dikamente das Auftreten der Symp-tome zu verzögern. Deshalb werden nicht-medikamentöse Therapiefor-men verstärkt von verschiedenen Fachdisziplinen verfolgt.

Auch die Architektur spielt dabei eine Rolle: Sie soll ein räumliches Umfeld schaffen, das die Symptome einer Demenz berücksichtigt und somit mildern kann. Daran arbeiten

Ein solches demenzfreundlich ge-staltetes Umfeld verbessert die Be-weglichkeit im Alltag, die Selbst-ständigkeit und insbesondere die Lebensqualität der Kranken und ihrer Angehörigen.

Wie kleine Dinge helfen

Möglichst lange Zeit zu Hause leben, das ist der Wunsch vieler Kranker. Anpassungen in der eigenen Woh-nung helfen, die Selbstständigkeit weiter aufrechtzuerhalten, zum Bei - spiel indem Schwellen beseitigt und ebenerdige Duschen sowie Halte-griffe in Badezimmern eingebaut werden. Dazu gibt es viele Erfah-rungen und Materialien. Informa-tionen darüber, wie die geistige Leistungsfähigkeit Demenzkranker unterstützt werden kann, sind wenig verbreitet. Bisweilen helfen dabei schon kleine Dinge: Gegenstände beschildern, die Toilette sichtbar machen oder einen Raum so ge-stalten, dass der Kranke weniger oft weglaufen will.

Wissenschaftliche Studien und praktische Erfahrungswerte liegen vor, fließen aber nur selten in die häusliche Pflege von Menschen mit Demenz ein. Vermutlich wis-sen viele Angehörige nicht genug darüber. Es scheint aber auch Vor-behalte zu geben, durch Verände-rungen einer Wohnung für jeden sichtbar werden zu lassen, dass hier ein Demenzkranker lebt.

Klare Strukturen und Grenzen

Nicht nur die Gestaltung und Aus-stattung der Wohnung helfen einem Kranken, sich zurechtzufinden, son - dern auch der Grundriss. Räume müssen klar umgrenzt und ihre Be-deutung – Küche, Flur, Wohnzim-mer – gut erkennbar sein. So kann

die Forscher an der Fakultät für Ar-chitektur der TU Dresden. Beispiels-weise müssen Räume entstehen, die den Nutzern besonders klare Infor-mationen zu ihrer Funktion und Bedeutung geben. Durch vertraute Raumstrukturen und Materialien wird an die Erinnerung und damit an Fähigkeiten vergangener Lebens-phasen angeknüpft. Lichtkonzepte und Außenraumbezüge können zudem die Sinne vielfältig anregen.

65forschung spezial Demografie

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der Kranke die Einzelheiten besser zu einem Gesamtbild zusammen-setzen. Grundrissstrukturen, die of-fen und ohne deutlich wahrnehm-bare Grenzen ineinander fließen, machen es Demenzkranken noch schwerer, räumliche Gegebenheiten zu erfassen und sich zu orientieren. Die Abhängigkeit von Angehörigen oder Pflegekräften wächst.

Demenz ist eine progressiv fort-schreitende Erkrankung. Selbst wenn Symptome wie Schlafstörun-

gen, Desorientierung und Inkonti-nenz zurückgegangen sind, nach-dem die Wohnung für den Kranken umgestaltet wurde, werden sie mit der Zeit wieder verstärkt auftreten. Die meisten Menschen mit Demenz, die anfangs zu Hause gepflegt wer-den, müssen nach einiger Zeit in eine stationäre Altenpflegeeinrich-tung ziehen.

In kleinen Gruppen zusammenleben

Etwa die Hälfte der Neuaufnahmen und mindestens zwei Drittel der Be-wohner von Altenpflegeeinrichtun-gen leiden an einer Demenz. Darauf sollten sich alle Häuser einstellen.

Denn zahlreiche empirische Studien weisen deutlich darauf hin, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der architektonischen Gestaltung und der Selbstständigkeit, dem Ver-halten und dem Wohlbefinden der Kranken. Es hilft, wenn die Men-schen in kleinen Gruppen zusam-menleben und die Räume wie in ei-ner Wohnung und damit persönlich gestaltet sind. Außerdem sind ein sicheres Umfeld und die Wahrung der Privatsphäre wichtig. So bleiben die Kranken unabhängiger, sind ru-higer und weniger aggressiv, und Psychosen treten seltener auf.

Mit fortschreitender Demenz finden die Kranken dennoch im-

Pflegeheime für Demenzkranke:

geradlinige Flure, abwechslungsreiche

Innenräume und viel Tageslicht.

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mer schlechter Orte und Räume und erkennen deren Bedeutung nicht mehr. So erreichen sie etwa die Küche nicht, wenn sie hungrig sind, oder sie wissen nicht, dass es sie überhaupt gibt. Beschilderungen

mit Text und Symbolen können hier wie schon vorher zu Hause hilfreich sein. Auch wenn die Kranken die Küche gefunden haben, müssen sie sie als Küche begreifen können. Fehlt diese architektonische Ables-barkeit, setzen sie womöglich ihre Suche fort und werden frustriert und unruhig. Aggressionen kön-nen die Folge dieser Desorientie-rung sein.

Wie im häuslichen Umfeld be-einflussen auch hier die Grund-rissstrukturen maßgeblich das Ori-entierungsvermögen. Geradlinige Flure vermitteln den Bewohnern die Richtung. Schwieriger sind für sie dagegen Formen, die einen Richtungswechsel beinhalten, etwa L-förmige Flure. Viele Richtungs-wechsel wie bei Rundwegen um ein Atrium schränken das Orien-tierungsvermögen noch weiter ein.

Die Gründe liegen im Verlust räumlicher Orientierungsfähigkeit, wie die Forscher an der Dresdner Fakultät für Architektur festgestellt haben. Studien mit funktionellen Magnetresonanztomografen am Universitätsklinikum Dresden ver-anschaulichen die Ursache: Stoff-wechselminderungen im Gehirn führen dazu, dass Demenzkranke sich Orte, die außerhalb ihres un-

Auch Krankenhäuser brauchen also eine demenzfreundliche Architek-tur. Sie soll helfen, eine zeitliche, räumliche und situative Desorien-tierung der Patienten zu vermei-den und ihre Fähigkeiten zu för-dern. Wie eine solche Architektur zu gestalten ist, kann aus den For-schungsergebnissen der Altenpflege übernommen werden. Allerdings erschweren es medizinische und or-ganisatorische Anforderungen der stationären Arbeit, architektonische Maßnahmen einfach zu übertragen.

Wissenschaftlich fundierte Ge-staltungsempfehlungen für de-menzfreundliche Krankenhäuser zu entwickeln, ist deshalb Gegen-stand einer DFG-geförderten Emmy Noether-Nachwuchsforschergruppe. Ihr Thema: „Architektur im demo-grafischen Wandel – Anpassung der Gebäudestrukturen des Sozial- und Gesundheitswesens an eine alternde Gesellschaft“.

Dr. Gesine Marquardt leitet die DFG-geförderte Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Architektur im demo-grafischen Wandel“.

Adresse: TU Dresden Ludwig-Ermold-Straße 3 01217 Dresden

E-Mail: [email protected]

CC DFG-Projekt: Architektur im demografi-schen Wandel – Anpassung der Gebäude-strukturen des Sozial- und Gesundheits-wesens an eine alternde Gesellschaft

www.a-i-dw.de

mittelbaren Sichtbereichs liegen, nur noch eingeschränkt vor ihrem „inneren Auge“ vorstellen können. Das bedeutet, dass sie einen Ort, den sie nicht sehen, nicht zielge-richtet aufsuchen können. Auch

wenn geradlinige Strukturen mit ihren direkten Sichtbeziehungen helfen, dürfen dennoch keine mo-notonen Wohnbereiche entstehen. Vielmehr muss auf Tageslicht und eine wohnraumähnliche Gestaltung geachtet werden.

Irritation im Krankenhaus

Fast jeder zweite Patient in deut-schen Krankenhäusern ist über 65 Jahre alt. Immer mehr dieser Pa-tienten leiden an Demenz. Eine Pflege und Umweltgestaltung, die auf sie eingehen, wären dringend erforderlich. Die Stationen sind je-doch weder baulich noch personell auf die Bedürfnisse dieser Kranken eingestellt.

Demenzpatienten zeigen sich im Krankenhaus oft desorientiert, in-terpretieren ihre eigene Situation nicht richtig und verstehen kaum, was mit ihnen geschieht. Zudem be-steht die Gefahr, dass sie sich in dem fremden Umfeld verlaufen. Weil die Krankenhausumgebung oft anre-gungsarm ist und die Patienten hier gezwungenermaßen passiv sind, können sich Gesamtbefinden und Alltagskompetenz verschlechtern. Eine Pflegeheimeinweisung wird dann unausweichlich.

„ Krankenhausarchitektur soll helfen, eine Desorientierung der Patienten zu vermeiden und ihre Kompetenzen zu erhalten.“

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