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www.geschichteforum.at VO Historische Grundlagen der Politik LV-Leiter: Univ.-Prof. Dr. Walter Manoschek WS 2003 Ulrich Gatterbauer, [email protected] Anmerkungen Die Mitschrift wurde nicht auf inhaltliche Fehler überprüft. Dieses Dokument ist als Protokoll mündlicher Rede nicht zitationsfähig. Diese Mitschrift erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Neue Deutsche Rechtschreibung kommt nicht zur Anwendung. Die Binnen-I- Schreibweise kommt nicht zur Anwendung, da diese den Textfluß beeinträchtigt. Ich mache darauf aufmerksam, daß es sich beim vorliegen- den Dokument um eine Mitschrift handelt und somit ein offizieller Charakter nicht annähernd gegeben ist. letzte Änderung vorgenommen am: 28.01.2006 VO: Historische Grundlagen der Politik Mitschrift 16. Okt. 2003 Prüfungstermine: 29. Jänner 2004, 4. März, ohne Anmeldung 4 Themenblöcke mit je 2 Fragen, aus denen jeweils 1 Frage zu beantworten ist (in 40 min.) www.univie.ac.at/Staatswissenschaft/Staatswissenschaft Mit dem Inhalt der Vorlesung oder mit der Prüfungsliteratur kommt man aus. Zentrale Literatur: Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995 Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2002 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994 Prüfungsliteratur (kann im Laufe des Semesters noch aktualisiert werden!): Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994: S. 117-153, 263-323, 337-394 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995: S. 7-77, 115-183, 260-281, 432-499, 538-571 Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2002: S. 17-67, 307-357, 513-558 Oskar Lehner, Verfassungsentwicklung, in: Handbuch des Politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933 (hrsg. von Tálos/Dachs/Hanisch/Staudinger), Wien 1995, S. 45-58 Dirk Hänisch, Wahlentwicklung und Wahlverhalten in der Ersten Republik, in: Handbuch des Politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933 (hrsg. von Tálos/Dachs/Hanisch/Staudinger), Wien 1995, S. 488-503 Emmerich Tálos/Walter Manoschek, Zum Konstituierungsprozeß des Austrofaschismus, in: Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934-1938, 2. Auflage, Wien 1984, S. 31-52 Emmerich Tálos/Walter Manoschek, Politische Struktur des Austrofaschismus (1934-1938), in: Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934-1938, 2. Auflage, Wien 1984, S. 75-120 Emmerich Tálos, Von der Liquidierung der Eigenstaatlichkeit zur Etablierung der Reichsgaue der „Ostmark“, in: NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, hrsg. von Tálos/Hanisch/Neugebauer/Sieder, Wien 2000, S. 55-72 Walter Manoschek, Der nationalsozialistische Judenmord als Gemeinschaftsunternehmen (Manuskript) 1

VO: Historische Grundlagen der Politik - Powius.at · 2016. 10. 1. · Walter Manoschek, Der nationalsozialistische Judenmord als Gemeinschaftsunternehmen (Manuskript) 1. VO Historische

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    VO Historische Grundlagen der Politik LV-Leiter: Univ.-Prof. Dr. Walter Manoschek WS 2003 Ulrich Gatterbauer, [email protected]

    Anmerkungen Die Mitschrift wurde nicht auf inhaltliche Fehler überprüft. Dieses Dokument ist als Protokoll mündlicher Rede nicht zitationsfähig. Diese Mitschrift erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Neue Deutsche Rechtschreibung kommt nicht zur Anwendung. Die Binnen-I-Schreibweise kommt nicht zur Anwendung, da diese den Textfluß beeinträchtigt. Ich mache darauf aufmerksam, daß es sich beim vorliegen-den Dokument um eine Mitschrift handelt und somit ein offizieller Charakter nicht annähernd gegeben ist. letzte Änderung vorgenommen am: 28.01.2006

    VO: Historische Grundlagen der Politik

    Mitschrift

    16. Okt. 2003 Prüfungstermine: 29. Jänner 2004, 4. März, ohne Anmeldung 4 Themenblöcke mit je 2 Fragen, aus denen jeweils 1 Frage zu beantworten ist (in 40 min.) www.univie.ac.at/Staatswissenschaft/Staatswissenschaft Mit dem Inhalt der Vorlesung oder mit der Prüfungsliteratur kommt man aus. Zentrale Literatur: Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995 Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2002 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994 Prüfungsliteratur (kann im Laufe des Semesters noch aktualisiert werden!): Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994: S. 117-153, 263-323, 337-394 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995: S. 7-77, 115-183, 260-281, 432-499, 538-571 Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2002: S. 17-67, 307-357, 513-558 Oskar Lehner, Verfassungsentwicklung, in: Handbuch des Politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933 (hrsg. von Tálos/Dachs/Hanisch/Staudinger), Wien 1995, S. 45-58 Dirk Hänisch, Wahlentwicklung und Wahlverhalten in der Ersten Republik, in: Handbuch des Politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918-1933 (hrsg. von Tálos/Dachs/Hanisch/Staudinger), Wien 1995, S. 488-503 Emmerich Tálos/Walter Manoschek, Zum Konstituierungsprozeß des Austrofaschismus, in: Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934-1938, 2. Auflage, Wien 1984, S. 31-52 Emmerich Tálos/Walter Manoschek, Politische Struktur des Austrofaschismus (1934-1938), in: Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), „Austrofaschismus“. Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934-1938, 2. Auflage, Wien 1984, S. 75-120 Emmerich Tálos, Von der Liquidierung der Eigenstaatlichkeit zur Etablierung der Reichsgaue der „Ostmark“, in: NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, hrsg. von Tálos/Hanisch/Neugebauer/Sieder, Wien 2000, S. 55-72 Walter Manoschek, Der nationalsozialistische Judenmord als Gemeinschaftsunternehmen (Manuskript)

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    VO Historische Grundlagen der Politik LV-Leiter: Univ.-Prof. Dr. Walter Manoschek WS 2003 Ulrich Gatterbauer, [email protected]

    Bradley F. Abrams, Alliierte Planungen und Entscheidungen. Zur Nachkriegslösung des deutsch-tschechischen Konflikts, in: Barbara Coudenhove-Kalergi/Oliver Rathkolb (Hg.), Die Benes-Dekrete, Wien 2002, S. 118-129 Oliver Rathkolb, Verdrängung und Instrumentalisierung. Die Vertreibung der Sudetendeut-schen und ihre späte Rezeption in Österreich, in: Barbara Coudenhove-Kalergi/Oliver Rathkolb (Hg.), Die Benes-Dekrete, Wien 2002, S. 138-151 Anne Bazin-Begley, Vertreibung der Sudetendeutschen als politisches Thema in der EU, in: Barbara Coudenhove-Kalergi/Oliver Rathkolb (Hg.), Die Benes-Dekrete, Wien 2002, S. 152-162 Bohumil Dolezal, Tschechisch-Sudetendeutsche Stereotypen. Vier falsche Thesen in der tschechischen Debatte, in: Barbara Coudenhove-Kalergi/Oliver Rathkolb (Hg.), Die Benes-Dekrete, Wien 2002, S. 163-168 Joseph S. Nye Jr., Das Paradox der amerikanischen Macht. Warum die einzige Supermacht der Welt Verbündete braucht, Hamburg 2003, S. 42-67 Gore Vidal, Bocksgesang. Antworten auf Fragen vor und nach dem 11. September, Hamburg 2003, S. 7-35 Die Prüfungsliteratur findet sich im Vorlesungs-Handapparat in der Fachbibliothek für Wirt-schaftswissenschaften und Staatswissenschaft (Hohenstaufengasse 9/Erdgeschoss, 1010 Wien) Inhalt der Vorlesung: Gesellschaftsgeschichte des 19./20. Jh. mit Schwerpunkt europäische und österreichische Geschichte mit Ausblick auf die „Neue Weltordnung“ im 20. Jh. Gesellschaftsgeschichte stützt sich auf Arbeit, Macht, Sprache; laut Max Weber: auf Wirt-schaft, Herrschaft, Kultur. Zugang über Strukturgeschichte, das bedeutet: konkretes Ereignis, konkrete politische Einzel-geschichte ist nur dann adäquat zu verstehen, wenn man sie in einen übergeordneten struktu-rellen Kontext einbindet und analysiert. Es ist unerläßlich, übergeordnete Rahmenbedingun-gen und Hintergründe mitzubeleuchten und mitzuanalysieren. Bsp.: Um aktuelle Debatte um Benes-Dekrete zu bestreiten, muß man die Hintergründe ken-nen: Nationalsozialismus, Rolle der Deutschen in der Tschechoslowakei, Grund für den Erlaß der Benes-Dekrete. Politik geschieht nicht einfach und ist nur bedingt von den politischen Akteuren abhängig, und ist nicht zuletzt von politisch-historischen Rahmenbedingungen abhängig. Es geht um das Verständnis von Politik vor ihrem historischem Hintergrund. Schwerpunkte der Vorlesung1: Der 1. Weltkrieg Die Auflösung der großen Reiche Der Kommunismus Die Krise des Kapitalismus in der Zwischenkriegszeit Österreich in der Zwischenkriegszeit Austrofaschismus Nationalsozialismus Nationalsozialismus in Österreich Die Periode nach 1945: Bipolare Weltordnung, Supranationale Institutionen Das Ende des Kolonialismus Der Zusammenbruch des Kommunismus / Das Ende des Sozialismus Postimperiales Empire oder globalisierte Weltordnung? weiters: Auftreten von Leopold Engleitner (6. 11.), Botschaftsrat Dr. Beranek (15. 1.)

    1 offenbar nicht identisch mit der Gliederung (in Kapitel)

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    VO Historische Grundlagen der Politik LV-Leiter: Univ.-Prof. Dr. Walter Manoschek WS 2003 Ulrich Gatterbauer, [email protected]

    I. Allgemeines – Strukturierung des 20. Jahrhunderts Im 20. Jh. wurde Europa von den Weltkriegen maßgeblich geprägt. Bezeichnungen für diese Phase: (rechter) Nolte: „Periode des europäischen Bürgerkriegs“ (linker) Eric Hobsbawm: „31jähriger Weltkrieg“. Die Weltkriege bildeten die Ausgangslage für die jeweiligen Nachkriegsordnungen. WK I.: führte zu einem Ende der großen Empires; gleichzeitig die Geburtsstunde zweier neuer Gesellschaftssysteme (Kommunismus, Faschis-mus/Nationalsozialismus) WK II.: bedeutete das Ende eines dieser beiden Gesellschaftssysteme (Faschis-mus/Nationalsozialismus). Faschismus lebte in Spanien und Portugal noch in einer anachroni-stischen Form weiter. gleichzeitig Ausgangspunkt für die bipolare politische Weltordnung bis 1989/91. Seit 1991 existiert nach der Implosion des Kommunismus eine Weltordnung unter Führung der USA. Das 20. Jh. läßt sich in drei Abschnitte gliedern: 1914-45: Zeitalter des totalen Krieges 1945-91: bipolare Nachkriegsordnung 1991-2000: Globalisierung der Welt unter der Führung einer einzigen Weltmacht Aus politikwissenschaftlicher Sicht zeichnen sich diese drei Zeitabschnitte durch den Wandel der Herrschaftssysteme aus. vor 1914: bis auf drei Republiken nur Monarchien ab 1918: 13 Republiken (demokratisch-republikanische Herrschaftsform); 3 politische Ideo-logien (Faschismus/Nationalsozialismus, Liberalismus, Kommunismus) ab 1945: nur noch zwei Ideologien (Liberalismus, Kommunismus), konkret geäußert in der Periode des Kalten Krieges unter friedlicher Koexistenz. ab 1989/91: Ära der ideologischen Rivalitäten (scheinbar?) zu Ende. Bestimmte religiöse Ideologien (Islam) konkurrieren teilweise gewaltsam mit der westlichen Ideologie des Libera-lismus. Wodurch zeichnet sich das 20. Jh. aus? Hobsbawm betrachtet exemplarisch 12 Menschen des 20. Jahrhunderts. (sh. Literaturliste). exemplarischer Vergleich der Welt von heute mit der des 20. Jahrhunderts: 1914: 2 Mrd Menschen, heute: ca. 6,3 Mrd. heute ungleich größerer Reichtum an Waren und Dienstleistungsprodukten Mitte des 20. Jh.: Möglichkeit, einen generellen sozialen Ausgleich zu schaffen, schien greif-bar. Heute: Wiederum größere soziale Ungerechtigkeit mit einem Dynamisierungseffekt in den letzten 10 Jahren. Heute hungern ca. 650 Mill. Menschen. 2. Hälfte des 20. Jh. : Revolution im Kommunikationssektor. (Jeder heutige Haushalt hat mehr Informationsquellen als ein Kaiser zu Beginn des 20. Jh. - Informationsexplosion) Warum Stimmung des Unbehagens, der mit dem 20. Jh. verbunden ist? Im 20. Jh. wurden mehr Menschen durch staatliche Verbrechen und mit staatlicher Duldung getötet als je zuvor (187 Mill. Mensch, entspricht einem Zehntel der Weltbevölkerung von 1900). Die Kriegsverluste bei den Zivilisten waren (abgesehen von den USA) weit größer als bei den Soldaten.

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    VO Historische Grundlagen der Politik LV-Leiter: Univ.-Prof. Dr. Walter Manoschek WS 2003 Ulrich Gatterbauer, [email protected]

    „Zivilisierte Kriegsführung beschränkt sich darauf, die Streitkräfte des Feindes unbrauchbar zu machen.“ (Encyclopedia Britannica, 1911). Statt dessen war im 20. Jh. die gesamte Zivil-bevölkerung kriegsinvolviert. Die heutige Welt ist nicht mehr eurozentristisch ausgerichtet – Europa wurde als Machtzen-trum ausgeschaltet. Der Anteil an der Weltbevölkerung sank von einem Drittel auf ein Sech-stel. Kein Bevölkerungswachstum, sondern Abgrenzung gegen Einwanderung. Abwanderung der Konzerne. Die Großmächte vor dem WK I waren alle europäisch – heute sind alle (mit Ausnahme von Deutschland2) auf den Rang von regionalen Mächten abgesunken. Die Anstrengung zur Schaffung einer supranationalen Europäischen Gemeinschaft und die alten historischen Rivalitäten zwischen den Staaten zu ersetzen zeigt auch das Ausmaß des nationalstaatlichen Niedergangs europäischer Mächte. Resümierend kann man (unter machtpolitischer Perspektive) von einem „amerikanischen Jahrhundert“ sprechen. Trotzdem ist die westliche Zivilisation trotz Asien (v. a. Japan) noch immer diejenige, die wissenschaftlich führend ist und den höchsten Lebensstandard genießt. Wirtschaftlich gesehen ist heute „die Welt“ als die Funktionseinheit zu bezeichnen (Natio-nalökonomie ist heute ein relativ begrenzter Faktor). „Global Village“: Beinhaltet den ungemeinen Geschwindigkeitszuwachs vor allem auf techni-scher und verkehrstechnischer Ebene, den die Welt in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Diese technischen Errungenschaften sind auch maßgeblich für den enormen wirtschaftlichen Aufschwung gewesen. Die ungeheure Geschwindigkeit von Informationsvorgängen mag aber einem heute rückblik-kenden Beobachter als eine ziemlich gemächliche erscheinen (wir stehen erst am Beginn einer Entwicklung). Die Informationstechnologien haben nicht nur Auswirkungen globaler Art, sondern auch Auswirkungen auf unsere Persönlichkeit. „Internalisierung des Außen“: Persönlichkeit muß Entwicklungen von außen selbst verarbeiten. Entscheidend ist jedenfalls die Geschwindigkeit des Informationsaustausches und die Menge und Verfügbarkeit an Informationen und die exponentiell steigende Zahl jener, die via Inter-net Zugang zu diesen Informationen haben. [1993 gab es weltweit 50 (fünfzig) Websites; heute: Milliardenbereich] Die Ausbreitung der Informationstechnologien hängt natürlich mit der enormen Preisredukti-on der Hardware und der Übertragungskosten zusammen. zurück ins Jahr 1800: Die Erfindung der Dampfmaschine führte zur Veränderung der Grundmuster von Arbeit und Ausbildung und führte zur Ausbildung sozialer Klassen. Eine bis dato agrarische Gesellschaft wandelte sich zu einer industriellen, deren wesentlichstes Kennzeichen die Urbanisierung darstellte. Persönliche Veränderungen für den Einzelnen: Ende der ländlichen Großfamilie, Einordnung in neue Machtstrukturen, Änderung der Produktionsbedingungen. Neue Sozialstruktur: Klasse der Proletarier. Zweite industrielle Revolution um 1900 brachte Elektrizität, Verbrennungsmotor und führte zu einer Dynamisierung der mit der 1. ind. Revolution eingeleiteten Entwicklung: Bildung von Massenbewegungen (Parteien). Beteiligung am gesellschaftlichen Wirken und am Reich-tum für das Proletariat wurde erwirkt. In der westlichen Welt wurde die Partizipation eines überwiegenden Teils der Bevölkerung am Politischen erreicht.

    2 Großbritannien nur, weil im Gefolge des USA

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    Ausformung des Wohlfahrtsstaates (ca. 1980 Höhepunkt). Es ist kein Zufall, daß mit der Informationsrevolution der Abbau des Wohlfahrtsstaates ein-hergeht (verursacht u. a. durch Abbau von Arbeitskräften bei einer gleichzeitig steigenden Lebenserwartung).3 Heute herrscht also nicht zufällig eine hohe Arbeitslosigkeit im Zuge des Konjunkturzyklus, vielmehr stehen wir vor einem völligen Umbruch. Dritte Transformation: Auflösung von alten Sozial- und Beziehungsstrukturen: „Lebensab-schnittsbeziehungen“, Auflösung der Bindung zwischen den Generationen und Verschiebung des Generationsbegriffes. weitere Folgen: Auflösung von Solidargemeinschaften, Individualisierung, Auflösung von Beziehungsgeflechten (wie Religionsgemeinschaften, Parteizugehörigkeit)

    23. Okt. 2003

    II. Der Erste Weltkrieg erstes Großereignis des 20. Jahrhunderts möglicherweise der Beginn des Zeitalters der Vernichtungskriege trotz eines „traditionellen“ Beginns mit einer Dreierallianz und den Mittelmächten. ab Aug. 1914: Kriegserklärungen, die zu folgenden Konstellationen führen: Mittelmächte: Deutschland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich auf Seite der Mittelmächte: Bulgarien (ab 5. 10. 1915) Entente: Großbritannien, Frankreich, Rußland auf Seite der Entente („Alliierte“): Rußland, Italien, Japan, USA (ab 1917), Serbien, Portugal, Griechenland, Rumänien (von Aug. – Dez. 1916) am Krieg nicht teilnehmende Staaten: Holland, Schweiz, Spanien, Dänemark, Norwegen, Schweden Erst die Einschaltung der USA und Japan rechtfertigt die Bezeichnung „Weltkrieg“. D hatte Blitzkrieg geplant, wollte F schlagen und dann erst gegen RUS vorgehen, bevor die-ses seine ganze Kampfkraft mobilisieren konnte. (Das war aber erst im WK II erfolgreich.) Strategie des Blitzkrieges scheiterte schnell. Nach 5 Wochen stand die Front an der Marne, wo sich ein Stellungskrieg entwickelte. Westfront wurde zum Schauplatz von Massakern, wie es zuvor noch nie der Fall war. Jeder Ausbruchsversuch aus den Stellungen forderte Hundert-tausende Tote. Februar bis Juli 1916: Schlacht von Verdun. Deutsche Ausbruchsversuche führten zu einer Schlacht mit 2 Mill. Beteiligten, von denen 1 Mill. fiel. An der Ostfront setzte sich D gegen RUS langsam durch, während am Balkan die Mittelmäch-te im Sommer 1918 zusammenbrachen. Dafür entscheidend war der Kriegseintritt der USA 1917 mit ungeheuren Ressourcen. Resultate

    erstes Massensterben (erstmals Einsatz von Giftgas durch D). Im WK I verlor z. B. Frankreich mehr als 20 % der wehrfähigen Männer. (vgl. Deutsch-Französischer Krieg: 150.000 Opfer) Zwischen 1914 und 1922 gab es ca. 4-5 Mill. Flüchtlinge oder Zwangsumgesiedelte (gigantischer Bevölkerungstransfer). 2 Mill. flüchteten aus der Sowjetunion bzw. Ruß-

    3 Heute erfolgt in Österreich ein Arbeitsplatzwechsel durchschnittlich alle 1,8 Jahre.

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    land in den Westen. 1,3 Mill. Griechen aus der Türkei wurden depatriiert, 400.000 Türken aus Griechenland in die Türkei, 320.000 Armenier, die den Völkermord der Türken überlebt hatten, verteilten sich auf ganz Europa. neue Grenzziehungen, Bevölkerungsaustausch. erstmals Krieg als „Nullsummenspiel“, d. h. entweder totaler Sieg oder totale Nieder-lage; quasi unbegrenzte Kriegsziele, es ging um imperiale Machtpositionen. Die natürlichen Grenzen waren nicht mehr die nationalen Grenzen, sondern lagen dort, wo die Expansionsfähigkeit (auch des Finanzkapitals) geendet hätte. Es ging nicht mehr nur um territoriale Ausdehnung der Grenzen, sondern um ökonomische und poli-tische Weltherrschaft. Beginn eines ausgereiften imperialen Zeitalters. Keine der europäischen Mächte konnte ihre Position festigen oder gar ausbauen. Vielmehr kam es zu einer Verlagerung der weltherrschenden Position von Europa in die USA. auf politischer Ebene: Zerfall von Imperien Entstehung zahlreicher Nationalstaaten Entstehung und Installation eines neuen politischen Herrschaftssystems, nämlich dem des sowjetischen Bolschewismus.

    Ende mit den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain. Erfolglose Versuche der Stabilisierung. Ziele der Friedensverträge:

    1. Verhinderung der Ausbreitung des Bolschewismus. Man zog quasi einen politischen Quarantänegürtel um die SU (Finnland, Baltikum, Polen, Rumänien, Österreich). Gründung der Tschechoslowakei und Jugoslawien ohne historische Begründung, son-dern nur als Zusammenfassung von Slawen.

    2. Kontrolle der militärischen und ökonomischen Macht Deutschlands. „Kriegsschuld-klausel“ sollte dies legitimieren. Streitkräfte Deutschlands wurden auf 100.000 Mann reduziert, Reparationszahlungen, Verlust der Kolonien. (Von diesem Versailler Ver-trag blieb nicht viel übrig Wehrmacht, Einstellung der Reparationszahlungen)

    3. Neue Aufteilung der europäischen Landkarte nach dem Grundprinzip der nationalen Selbstbestimmung von Woodrow Wilson, der ethnisch und linguistisch begründete Nationalstaaten schaffen wollte, da jene weniger Konfliktpotential bieten würden als ethnisch gemischte Staaten. Auch der „politische Quarantänegürtel“ spielte eine Rolle. Alle neuen Staaten waren antibolschewistisch eingestellt (auch Ungarn, Polen, balti-sche Staaten). Im Nahen Osten wiederum zog man Grenzen nach den ehemaligen Ko-lonien, mit Ausnahme des brit. Protektorats Palästina. Die Briten gaben ein Verspre-chen ab, dort den Juden einen Nationalstaat zu schaffen.

    4. Versuch, eine stabile Nachkriegsordnung zu schaffen, um weitere Großkriege zu ver-hindern. Installierung des Völkerbunds, der nunmehr Staatsverträge öffentlich verhan-deln ließ, gegenüber der Tradition, daß Staatsverträge als diplomatische Geheimver-träge abgeschlossen wurden. Die USA traten dem Völkerbund nicht bei, Deutschland und Rußland waren auch nicht integriert. Es war absehbar, daß die Friedensverträge nicht halten würden. Völkerbund im Endeffekt nur eine große Institution zur Produk-tion von Aktenbergen.

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    III. Der sowjetische Bolschewismus Zusammenbruch des Zarenreiches 1917 aufgrund der Kriegsanstrengungen. Lenin gelang es, die Kräfte zu bündeln, und den anarchischen Volksaufstand gegen den Zaren und den Krieg in eine bolschewistische Herrschaft zu kanalisieren. Zuvor hatte ein politisches Machtvakuum existiert (provisorische Regierung, Unzahl von Räten, die Macht regional ausübten, aber nicht wußten, was mit dieser Macht anzufangen wäre). Es gab zahlreiche Revolutionsparteien (Bol-schewiki, Menschewiki), die aber auch in Rußland anfangs niemand kannte und durch ein Vakuum an die Macht gespült wurden. Stadtbevölkerung forderte Brot, Landbevölkerung forderte Land, und beide gemeinsam for-derten Friede: „Brot, Friede, Land“. In wenigen Monaten wuchs die Anzahl der Bolschewiken auf 250.000 Mitglieder an (1917). Provisorische Regierung wollte im Juni 1917 eine neue militärische Offensive. „Sturm auf den Winterpalast“ (Juni), bei dem viel weniger Personen verletzt wurden als bei den Drehar-beiten zu dem bekannten dazugehörigen Film. Laut Lenin konnte das System nur erhalten werden bei einer Ausdehnung des Bolschewismus auf ganz Europa. SU wurde ein Friede diktiert („Bret-Litowsk“), der große Gebietsverluste brachte (Polen, bal-tische Gebiete). „Weiße Armeen“: Konterrevolutionäre, die die „Rote Armee“ bekämpfte. Dennoch überlebte die Revolution aus drei Gründen:

    1. Kommunistische Partei war das einzige staatsbildende Instrument, das Rußland als Staat zusammenhalten konnte.

    2. Rußland hatte sich als einziges Empire nach WK I nicht aufgelöst, sondern wurde ein-fach in ein sozialistisches Imperium transformiert

    3. Privater Landbesitz wurde anfangs nicht enteignet. Bauern vertrauten (zu Unrecht) den Bolschewiken mehr als dem Landadel. letztendlich doch Enteignung der Bauern.

    Überschwappen der Revolution auf die ganze Welt Die Leninsche Weltrevolution fand ja bekanntlich nicht statt, dennoch Auswirkungen:

    kubanische Tabakarbeiter bilden Räte Mexiko-Revolution 1917: Kollektivierung des Bodens revolutionäre Studentenbewegungen in Peking und Argentinien Bayern ist kurzfristig im Frühjahr 1919 eine Räterepublik; so auch Ungarn (jedoch baldiger Sturz) Etablierung des Bolschewismus in der Sowjetunion Osten: 1925 Bündnis der Koumintang und der Kommunisten bis 1927, erst dann kün-digt Tschiang-Kai-Schek das Bündnis auf, was in einen blutigen Kampf mündet: Maos langer Marsch auf Peking; trotzdem vorerst keine Revolution in China

    Mitte der 20er: Landbesitz wurde kollektiviert, kein Privatbesitz mehr. mehrere Millionen Menschen verhungerten Bald war klar, daß es in Europa keine Revolution geben würde, und daß sich der Bolsche-wismus in der SU etabliert hatte (also das Gegenteil von dem, was Lenin vorausgesagt oder vorausgesetzt hatte). Spaltung der Arbeiterbewegung in Europa:

    starke sozialdemokratische Parteien schwache kommunistische Parteien in der Zwischenkriegszeit war Deutsch die Sprache der kommunistischen Internationa-le (Ausdruck der Hoffnung, daß auch im Westen eine Revolution stattfindet).

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    VO Historische Grundlagen der Politik LV-Leiter: Univ.-Prof. Dr. Walter Manoschek WS 2003 Ulrich Gatterbauer, [email protected]

    Längerfristige Folgen der Revolution für Europa russ. Revolution trug wesentlich zur Dekolonialisierung bei Revolution provozierte Faschismus Sozialdemokratie wird zum politischen Faktor Einbindung der Arbeiterparteien ins politische System

    Die russische Revolution wurde paradoxerweise zur Retterin des liberalen Kapitalismus, weil sie dem Westen den Anstoß gab, den Kapitalismus (also sich selbst) zu reformieren. Ohne russ. Revolution wäre der restliche Verlauf des 20. Jahrhunderts nicht erklärbar. Interes-santerweise hatte sich die SU gegen die Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre als völlig immun erwiesen. Man begann im Westen, den völligen Kapitalismus zu überdenken und überlegte stärker, ob man den Selbstregulierungsmechanismen allzu großes Vertrauen schen-ken sollte. Zusammenfassend ist in der Zwischenkriegszeit die SU also ein machtpolitischer Faktor, ohne in irgendeiner Form zu expandieren. IV. Ökonomische Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit – Weltwirtschaftskrise Mit kurzen Unterbrechungen ist die Zwischenkriegszeit davon gekennzeichnet, daß sie sich in einer permanenten Krise befunden hat. Weltwirtschaftskrise Der WK I war zwar ein Weltkrieg, hat aber fast ausschließlich das Territorium Europas ver-wüstet. Weltumspannend waren vielmehr die wirtschaftlichen Folgen des Krieges, nämlich der Zusammenbruch der Weltwirtschaft ab dem Ende der Zwanziger Jahre. Viele Regionen waren zwar nicht direkt vom Krieg betroffen, wohl aber von den ökonomischen Auswirkun-gen, der Phase der (nicht nur wirtschaftlichen) großen Depression. Niemand wußte, wie sich die Weltwirtschaft wieder erholen könnte. Seit dem 19. Jh. hatte man erkannt und sich daran gewöhnt, daß die kap. Wirtschaft Fluktuationen von unterschiedlicher Dauer unterworfen war in Konjunkturzyklen im Abstand von 7-11 Jahren. Neu war hingegen, daß es nicht nur diese kurzen Zyklen gibt, sondern auch längere Wellen, die zwischen 50 und 60 Jahren dauern. Diese langen Wellen konnte man aber noch nicht er-klären. Die kurzen Wellen waren kurzfristige Katastrophen, die das Wirtschaftswachstum auch nur kurzfristig verlangsamten. Die Krise von 1929 schien hingegen das kapitalistische System in seinen Grundfesten zu ge-fährden. Von 1914-1948 stagnierte der Welthandel, obwohl ab 1918 eine erhebliche Zahl neuer Staa-ten hinzugekommen war. Die Globalisierung der Wirtschaft trat also fast 40 Jahre auf dem Stand. Ursachen:

    nationale Autarkiebestrebungen: Jeder Staat war bemüht, seine nationale Ökonomie vor einer in Probleme geratenen Weltwirtschaft zu beschützen. Die Einführung von Schutzzöllen beschleunigte aber den Niedergang der Wirtschaft und reduzierte das Wirtschaftswachstum. Japan und GB taten alles, um eine Deflation herbeizuführen Um der Hyperinflation entgegenzuwirken, wurde in D die Währung auf ein Million-stel einer Million entwertet Geldwert praktisch bei null. Vermögensverluste keine Kaufkraft vorhanden

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    VO Historische Grundlagen der Politik LV-Leiter: Univ.-Prof. Dr. Walter Manoschek WS 2003 Ulrich Gatterbauer, [email protected]

    Für die Mittelschicht, die sich auf ihre Ersparnisse und auf ihre Einkünfte verlassen hatte, hatte dies dramatische Effekte: Neben dem ökonomischen Verlust auch soziale Auswirkungen.

    Ereignisse von 1929 In den USA und D fiel die Industrieproduktion rasch um 1/3, die Krise breitete sich auf alle anderen Bereiche aus. Länder, die von wenigen Grundstoffen abhängig waren (und das waren die meisten), konnten nicht mehr exportieren und keinen Außenhandel mehr betreiben, die Krise wurde also global. Mit Ausnahme der Bauern erlebte die arbeitende Bevölkerung die Krise durch eine unglaub-lich hohe Arbeitslosigkeit. 1933 waren rund 35 % der amerikanischen, britischen, deutschen, dänischen, österreichischen etc. Arbeiter arbeitslos. Die meisten Betroffenen wurden „ausgesteuert“4. In den USA gab es überhaupt keine Unterstützung der Arbeitslosen. Als einzigem Staat gelang es dem faschisti-schen Deutschland5, die Krise zu überwinden, 1935 gab es in D keine Arbeitslosen mehr. SU war von der Krise nicht nur nicht betroffen, sondern konnte während der Krise ihre Pro-duktion mit den Fünfjahresplänen verdreifachen. weitere Auswirkung: Ausschaltung des wirtschaftlichen Liberalismus für ca. ein halbes Jahr. Auch bekamen die Bauern in den USA häufig Geld, wenn sie nicht produzierten. [Nachtrag zu österreichischen Reparationszahlungen nach WK II: Österreich mußte zwar kei-ne Reparationszahlungen leisten, mußte aber indirekt über aufgezwungene Völkerbund-Anleihen Zahlungen leisten.]

    30. Okt. 2003 Erläuterung zweier entscheidender Faktoren als Auslöser für den Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystems

    1. USA 42 % der Weltproduktion im Jahr 1929 (D, GB, F: 28 %); Nach dem WK I war die USA also zur international dominierenden Wirtschaftsmacht geworden, außerdem zum größten Gläubiger. Europäische Mächte hatten Kapitalanlagen im WK I zur Kriegsfinanzierung an USA abgegeben. USA war in den Zwanzigern zur größten Exportnation geworden und zweitgrößter Importeur. Aber genau dadurch wurden die USA zum Opfer: Die Im- und Exporte fielen um 70 %. Das führte zu einer asymmetrischen Entwicklung der USA und dem Rest der Welt. Obwohl Im- und Exportraten gestiegen waren, machten sie einen relativ gerin-gen Anteil am BIP aus. Da dieser Anteil gering war, zogen sich die USA als Global Player zurück und übernahmen keine Verantwortung für die Stabilität der Weltwirt-schaft. Zwar expandierten die USA ökonomisch, aber nicht in einer Weise, die eine langfristige Expansion garantiert hätte. Die Profite stiegen 1920-1929 unverhältnismä-ßig stark an, während die Löhne eher gleich blieben, d. h., die Reichen wurden reicher, der Mittelstand und die Arbeiter nicht. Die Nachfrage konnte also mit der Produktivi-tät des Systems nicht mehr mithalten. Das Resultat waren eine Überproduktion und Börsen- und Immobilienspekulationen. Diese Kombination war der unmittelbare Aus-löser für den Zusammenbruch Oktober 1929. Die USA wurden davon noch viel härter als Europa getroffen, da man in den USA versucht hatte, die fehlende Nachfrage durch großzügige Verbraucherkredite zu stimulieren. Beim Crash war man mit Massen von

    4 „Aussteuerung“ = Streichung der Arbeitslosenunterstützung 5 Deutschland war gemeinsam mit der Sowjetunion von der Krise entweder nicht betroffen oder hatte sie zügig überwunden, was die beiden Länder damals attraktiv machte.

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    zahlungsunfähigen Privaten konfrontiert, da die Kredite zum Erwerb dauerhafter Kon-sum- und Luxusgüter (z. B. Automobilen) aufgenommen worden waren (und nicht zum Kauf von Produkten des täglichen Bedarfs). Als eine Konsequenz halbierte sich die Autoproduktion, der wichtigste Wirtschaftszweig in den Jahren 1929-31.

    2. Reparationszahlungen Deutschlands Durch die deutschen Reparationszahlungen an die Alliierten sollte Deutschland öko-nomisch schwach gehalten werden (Summe: 33 Mrd. Dollar, = 150 % des gesamten jährlichen BIP). Die Alliierten waren nicht an der wirtschaftlichen Gesundung der zweitwichtigsten Wirtschaftsmacht der Welt interessiert. Deutschland mußte, um die Zahlungen bestreiten zu können, hohe US-Dollarkredite aufnehmen, geriet also in eine Abhängigkeit. Als der Crash in den USA seinen Ausgangspunkt nahm, riß er durch diese Verflechtungen alle anderen Staaten mit sich.

    Die WWK bestärkte nicht nur Intellektuelle, sondern auch Normalbürger in dem Glauben, daß in der Welt irgend etwas nicht in Ordnung war. Allerdings wußten nur wenige, was zu unternehmen sei, nicht zuletzt deshalb, weil man mit solch umfangreichen Krisen keine Er-fahrung hatte, ebenso war das Phänomen der Überproduktionskrise neu, führende Ökonomen waren der Meinung, daß es eine solche Krise in sich frei regelnden Märkten nicht geben dür-fe. Eine Selbstkorrektur war nicht abzusehen. Maßnahmen gegen die Krise stammten aus dem Fundus des 19. Jh. Manche rieten, gar nichts zu tun und den Kräften des freien Marktes zu vertrauen, andere rieten, das Budget auszuglei-chen, die Staatskosten zu senken6. 1933 fiel es noch sehr schwer, sich mit den ökonomischen Theorien von John M. Keynes7 anzufreunden. Diese gingen davon aus, daß der Staat in der Krise/Depression aktiv gegenzusteuern hätte. Wenn die Konsumnachfrage in der Krise zu-rückgeht, wäre die einzig wirksame Methode, die Zinssätze zu senken, damit Kapital billiger zu machen um private Investitionen anzukurbeln, sodaß die steigende Investitionsnachfrage jene Lücken füllte, die von der niedrigen Konsumnachfrage gerissen wurden; und/oder die Schaffung von öffentlicher Arbeit, um die Arbeitslosenzahlen zu senken. Diese Ideen kamen allerdings bekanntlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Einsatz. Lieber begnügte man sich mit den Ideen des Wirtschaftsliberalismus und hatte damit keinen Erfolg. [Exk.: Bruno Kreisky als typischer Vertreter des Keynesianismus; nach dem Zweiten Welt-krieg griffen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ineinander über.] Lehren aus der WWK

    Es gab keine erprobten Strategien, da es keine vergleichbaren Vorläufer für eine derar-tig große Krise gegeben hatte. Nach 1945 nationalstaatliche Wirtschaftspolitik Aus-richtung nicht mehr auf monetäre Stabilisierungspolitik, sondern auf deficit spending Gründung des modernen Wohlfahrtsstaates J. M. Keynes: Der Staat muß der WWK aktiv entgegentreten. Da die Konsumnachfra-ge abfällt, müssen die Zinsen gesenkt werden um das notwendige Kapital billiger zu machen. In Krisenzeiten muß der Staat öffentliche Arbeitsplätze schaffen, um die Ar-beitslosigkeit zu senken. Soziale Marktwirtschaft: Der gemeinsam erwirtschaftete Reichtum soll gerecht ver-teilt werden und in Krisenzeiten soll der Staat Arbeit schaffen. Der Begriff weist dar-auf hin, daß es nicht nur um hohe Produktivität und Profite geht, sondern auch um staatliche Vorsorge für Krisenzeiten und eine gewisse Umverteilung, damit nicht Teile der Bevölkerung in Arbeitslosigkeit versinken. orthodoxer Glaube an die freie Marktwirtschaft verschwindet

    6 vgl. heutige EU-Politik 7 entwickelt zu Beginn der Dreißiger Jahre, aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise heraus

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    Nach 1945 zielt die Wirtschaftspolitik nicht nur auf Wirtschaftswachstum, sondern auch auf politische und gesellschaftliche Sicherheit ab. Der enorme Ausbau des Wohl-fahrtsstaates in Westeuropa und eine aktive staatliche Wirtschaftspolitik, die nicht nur auf die Kräfte des freien Marktes vertraute, waren die Lehren, die nach dem WK II aus der Weltwirtschaftskrise gezogen wurden.

    V. Politische Entwicklung der Zwischenkriegszeit – die Krise der jungen liberalen Demokratien In der Zwischenkriegszeit war das wirtschaftliche Desaster sehr eng verknüpft mit dem politi-schen Desaster, das ein großer Teil der nach dem WK I etablierten Demokratien erfuhr. Die Pariser Friedensverträge von 1919 hatten einen Gürtel liberaler Demokratien um die SU geschaffen (s. o.). All diese Staaten hatten Verfassungen nach den allerneuesten liberalen Ge-sichtspunkten, z. B. Finnland, baltische Staaten, Polen, Rumänien, Österreich. Der Politologe James Brice schreib 1929 in „Modern Democracies“ von der „universellen Akzeptanz der Demokratie als der normalen und natürlichen Regierungsform.“ Doch der Triumph der libera-len Demokratien erwies sich als sehr kurzlebig. Diese Staaten (als Schutzgürtel installiert) waren eher reaktiv als aktiv, überdies agierten die Eliten primär antikommunistisch, und wa-ren nicht sehr bestrebt, demokratische Strukturen zu stärken. Bsp. Ungarn: Admiral8 M. Horthy mit seinem langlebigen Regime Italien: faschistische Regierung unter Mussolini mit Unterstützung der Liberalen Spanien: Faschismus Portugal: Salazars Diktatur ab 1927 Jugoslawien: Königsdiktatur ab 1929 Polen: 1926 Abwendung von Demokratie, autoritäre Herrschaftsform In den Dreißiger Jahren sah es ganz so aus, als ob dem Parlamentarismus nach kurzer Zeit das gleiche Schicksal bevorstünde wie den Monarchien. Alle Regierungen bewegten sich immer weiter nach rechts, alle Schlüsseldebatten wurden von Rechten geführt. Nur in Nordeuropa konnte sich eine effektive parlamentarische Regierungsform auch halten. Von einer linearen zivilisatorischen Entwicklung konnte summa summarum in Europa jeden-falls keine Rede sein. Auf die große Flut des Parlamentarismus folgte innerhalb weniger Jahre ein anderer, autoritärer Strom, der fast ganz Europa erfaßte. Aus heutiger Sicht sehen wir kaum, daß die damaligen Demokratien eine Neuheit, ein Expe-riment waren – Demokratie war keine Selbstverständlichkeit. 1930 waren demokratisch re-gierte Staaten in Europa die Ausnahme, Totalitarismen waren der Regelfall. Obwohl der Sieg der Demokratie nach 1989 gerne als Beweis dafür genommen wird, wie tief die Demokratie in Europa verwurzelt ist, ist das Gegenteil der Fall: 1918 siegte Demokratie, 1920 war sie ein Auslaufmodell. Mit ihrer Betonung von verfassungsmäßigen Rechten mit gleichzeitiger Vernachlässigung gesellschaftlicher Verantwortung schien sie oft eher fürs 19. denn fürs 20. Jahrhundert gemacht worden zu sein. In den Dreißigern waren die meisten Eu-ropäer deshalb nicht von der Demokratie überzeugt, geschweige denn waren sie bereit, dafür zu kämpfen. Europa fand andere Formen der politischen Ordnung, die seinen Traditionen nicht fremder und auf jeden Fall nicht weniger effizient waren (nämlich autoritäre und totali-täre Systeme).

    6. Nov. 2003 Auftritt Leopold Engleitners nebst Biograph

    8 Ungarn ohne Zugang zum Meer, geschweige denn Inhaber einer Kriegsmarine

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    13. Nov. 2003

    VI. Österreich in der Zwischenkriegszeit 1910 hat Ö.-U. 51 Millionen Einwohner, davon leben 28 Mio. in der westlichen Hälfte und 5.5 Mio. innerhalb der heutigen österreichischen Grenzen. 1918 Entstehung einer Parteiendemokratie. Kennzeichnend ist auch schon die Existenz politi-scher Lager, diese wiederum bestehen aus verschiedenen Gruppierungen:

    1. Christlich-Soziales Lager 2. Sozialistisch-Kommunistisches Lager 3. Liberal-Deutschnationales Lager

    Die Parteien formierten sich sehr rasch als sogenannte Weltanschauungsparteien, d. h. sie wollten mehr, als die Interessen ihrer Wähler durchzusetzen und die Regierungsmacht zu er-lagen, vielmehr erhoben sie einen „Anspruch auf das Ganze“, es ging um Totalentwürfe der Gesellschaft und des gesamten Lebens. Alle Bereiche (Kultur, Wirtschaft, Alltag etc.) wurden mit einbezogen. Dieser Anspruch der Parteien reichte von der Geburt bis zum Tod, vom Kleintierverein bis zum Automobilclub9. Die Fixierung auf Lager war von zentraler Bedeu-tung. Es existierten quasi zwei verschiedene Welten. Entweder man war Teil der einen oder der anderen Welt, man war bestrebt, nur mit den Leuten der eigenen Welt zu verkehren. Ab-solut jeder Gesellschaftsbereich war parteipolitisch zuordenbar (selbst Gasthäuser). Das jeweils andere Lager wurde nicht als Kontrahent, sondern als Feind wahrgenommen, mit dem einen nichts verband. Jedes dieser Lager war mit einer totalitären Versuchung konfrontiert:

    1. Christlich-Soziales Lager: 1934-1938 Austrofaschismus 2. Sozialdemokratisch-Kommunistisches Lager: Möglichkeit der Errichtung einer Räte-

    republik10 3. Deutschnationales Lager: Nationalsozialismus 1938-1945

    Diese Lager setzten sich in der Zweiten Republik in etwas entschärfter Form fort, was auch anhand des hohen Organisationsgrades der Parteien deutlich wird11. Mitte der 80er Jahre dif-fundierten die Lager, was in der hohen Fluktuation bei Wahlen deutlich wird. Die Lagermen-talität löst sich also zunehmend auf. Dies ist einerseits in einer Demokratisierung der Gesell-schaft und einem Aufbruch der althergebrachten politischen Strukturen begründet12, anderer-seits darin, daß die Parteien die Patronagefunktion13 nicht mehr ausüben konnten. Formierung der Parteien im 19. Jahrhundert – Konstituierung der politischen Lager Konfliktzonen / Spaltungslinien:

    Stadt – Land Besitzende – Arbeiter Klerus – Staat

    9 vgl. heute ARBÖ (SPÖ), ÖAMTC (ÖVP) 10 nicht wahrgenommen, im Gegensatz zu 1.) und 3.) 11 bis in die 80er Jahre bei 23 % (d. h. 23 % der Bevölkerung waren Mitglied in Parteien) 12 vgl. Neugründungen von Parteien, z. B. Grüne, LIF 13 Patronagefunktion: Das Leben wird von der Partei geregelt und erleichtert, z. B. Beschaffung von Arbeitsplät-zen oder Wohnungen.

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    1. Christlich-Soziale Partei Formierung Anfang der 1880er Jahre als Gewerbepartei zum Schutz des gewerblichen Mittelstandes. Etablierung gegen die immer stärker werdende liberale modernisierende Industrie. Formulierung der Ziele als antiindustriell und kapitalistisch bei gleichzeiti-ger Aktivierung eines österr. Spezifikums: des politischen Antisemitismus als Teil ei-ner politischen Strategie. Besonders hingewiesen sei auch auf die extrem antisemiti-sche Einstellung Dr. Karl Luegers14. Anfangs waren die Christlich-Sozialen die einzi-ge Partei, die mit Antisemitismus Politik betrieb. Zu diesem Zeitpunkt waren die Christlich-Sozialen noch nahezu identisch mit den Deutsch-Nationalen. Auch Arbeiter stießen nach und nach zur Christlich-Sozialen Partei unter der Führung der Christlich-sozialen Arbeiterbewegung unter Leopold Kunschak. Es handelte sich dabei hauptsächlich um jene, die durch die zunehmende Urbanisierung in die Stadt strömten und grundsätzlich aufgrund der ländlichen Prägung dem rechten Lager nahe-standen. Um die Jahrhundertwende entwickelte sich die Partei zu einer staatstragenden und betonte zunehmend den christlichen Charakter.

    2. Deutschnationale Partei Ende der 1880er Jahre; entstanden aus dem christlich-sozialen Lager heraus als Ant-wort auf die Formierung des politischen Katholizismus; Repräsentant: Georg von Schönerer mit seiner „Los-von-Rom“ – Bewegung, also antiklerikal. Verbindend zum christlich-sozialen Lager nur noch Antisemitismus. Ursprünglich ent-stand das Lager durch die voranschreitende Nationswerdung der Slawen einerseits und durch die Etablierung der Herrschaft der Hohenzollern in Deutschland andererseits. Dadurch entstand ein ethnisch-linguistisches Konfliktfeld: Sicherung der privilegierten Stellung der Deutschen innerhalb der Monarchie, die sich emanzipierenden Nichtdeut-schen strebten einen Zugang zu Elite-Positionen an. Zweifache Option: a) Schönerer strebte die Zerschlagung der Monarchie und einen Anschluß an das Hohenzollern-Reich an. b) Erhaltung der Monarchie, trotzdem be-deutende Stärkung der Stellung der Deutschen. Im Zuge dessen tauchte die Frage danach auf, ob Juden Deutsche wären, bzw. wo sie überhaupt einzuordnen wären. Die Antwort der Liberalen: Ja; Antwort der Deutschna-tionalen: Nein. Neben diesem Konflikt mit den Slawen und der Frage, ob Juden Deutsche wären, blieb der Konflikt mit der übernationalen katholischen Kirche. Eine Hochburg der Deutschnationalen waren die Universitäten, damit gewann das deutschnationale Bildungsbürgertum ebenso wie Gewerbebürgertum an Einfluß. Schönerer und Lueger waren zweifelsfrei die Politiker, die Hitler bezüglich seines An-tisemitismus am meisten beeinflußt hatten. Ersterer blieb jedoch nur Symbolpolitiker im Gegensatz zu Lueger, der eine überaus erfolgreiche Kommunalpolitik betrieb. Ins-gesamt blieb Schönerer in der konkreten Politik nahezu bedeutungslos.

    3. Sozialdemokratie, Kommunisten repräsentierte den moderneren Parteitypus, klassische Mitgliederpartei. Professionelle Politiker standen an der Parteispitze, zentralistische, gut organisierte Parteistruktur. Die enge Kooperation von Partei und Gewerkschaft gab den Sozialdemokraten von Anfang an das Gepräge einer Massenpartei. Eines der ersten Hauptziele war der Kampf um das allgemeine, freie, gleiche etc. Wahlrecht. Das politische Mittel reifte nach und nach zum Zweck heran: Die Erkämpfung der Demokratie wurde ursprünglich nur als Vorstufe zu einer sozialistischen Revolution gesehen. Die Ideologie der klassenlosen Gesellschaft wurde von der österr. Sozialde-

    14 dessen Ernennung zum Bürgermeister von Franz Joseph I. drei Mal verhindert wurde.

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    mokratie nie aufgegriffen. Wegen ihres Antiklerikalismus gelang es der Sozialdemokratie nicht, im ländlichen Bereich Fuß zu fassen; auch gelang es nicht, andere ethnische Gruppierungen als die Deutschen zu integrieren. Der damalige Parteiführer, Viktor Adler, aus dem deutsch-nat. Lager kommend, führte vor dem Ersten Weltkrieg eine international sehr geachtete Partei, die allerdings bei Kriegsbeginn insofern versagte, als sie sich hinter die Kriegspolitik des Deutschen Reiches stellte.

    Die Parteienlandschaft während der ersten Republik galt als relativ stabil, d.h. es gab keine merklichen Veränderungen bei den Wahlergebnissen der Nationalratswahlen von 1919 bis 1930 (abgesehen von einer kontinuierlichen Abnahme der Stimmen für die Deutschnationa-len).

    20. Nov. 2003

    Aus österr. Sicht gab es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nur zwei Optionen: Einerseits die Gründung eines Staatenbundes mit den Nachfolgestaaten der Monarchie. Letztere lehnten das ab, da sie sich als eigenständige Staaten definiert sehen wollten. Die zweite Option wäre eine Angliederung von Deutsch-Österreich an das Deutsche Reich gewesen. Bekanntlich wurde auf keine dieser Optionen zurückgegriffen, übrig blieb die sogenannte „ungeliebte Re-publik“ als Rumpfgebilde. Erst durch die Ablösung der Monarchie kam die Bedeutung der Parteien und der Lager voll zum Tragen. Es kam zu einer Zusammenarbeit der drei Lager bei einer gleichzeitigen schar-fen Profilierung. Allen drei Lagern war gemein, daß sie eine bolschewistische Revolution, wie es sie in Ungarn und Bayern bereits gegeben hatte, fürchteten. Ein Anschluß an das Deutsche Reich war deshalb nicht möglich, weil ein solcher im Frie-densvertrag von St. Germain ausdrücklich untersagt war. Insbesondere die Sozialdemokratie und natürlich die Deutschnationalen waren an einem solchen Anschluß interessiert. Man fürchtete allgemein, daß der neue Kleinstaat Österreich wirtschaftlich nicht überlebensfähig sein würde. Der österr. Taktik, sich bei den Friedensverhandlungen in St. Germain als Opfer zu präsentie-ren, war mäßiger Erfolg beschieden. (Den anderen Nachfolgestaaten der Monarchie war dies durchaus gelungen.) Diese Auffassung war für die Alliierten inakzeptabel, Deutsch-Österreich und in weiterer Folge Österreich wurde als Rechtsnachfolger der Monarchie deklariert.15 Gebietsverluste- und Gewinne: Neben dem Verlust Südtirols bestand die Gefahr, daß der südliche Teil Kärntens an das Königreich Jugoslawien abgetreten werden müsse. In einem Plebiszit von 10.10 1920 sprach sich die Mehrheit (59 %) gegen eine Abtretung an Jugoslawi-en aus. Die Gegend um Krain (Südsteiermark) mußte an Jugoslawien abgetreten werden, da-für kam 1921 das Burgenland von Ungarn hinzu (um die ungar. Räterepublik zu schwächen). Auch in Österreich kam es 1918 bekanntlich zu einem Demokratisierungsschub, vgl. Einfüh-rung des Frauenwahlrechts, Abschaffung des Zensuswahlrechts auf Länder- und Gemeinde-ebene.

    15 vgl. Situation nach dem Zweiten Weltkrieg

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    Es gab allerdings auch Bereiche, die nicht „ausgetauscht“ wurden, z. B. Verwaltung, Polizei. Die k. u. k. Armee wurde allerdings durchaus umstrukturiert und durch eine neue republikani-sche Armee ersetzt. Die ersten beiden Jahre bis 1920 bezeichnet man auch als „Österreichische Revolution“ (Otto Bauer). Es kam zu einer Entfeudalisierung, einem Zerfall alter Hierarchien (Adel, Sol-datentum), zur Bildung von Selbstschutzverbänden, die nach Parteien strukturiert waren, auch zum Schutz vor einer komm. Revolution. In diesem Bereich stellte sich die Sozialdemokratie gegen eine Bolschewisierung Österreichs und versuchte gemeinsam mit den Christlich-Sozialen und den Deutsch-Nationalen, eine politische Struktur zu etablieren, die einer Revolu-tion entgegenwirken konnte. Es gab zu diesem Zeitpunkt keine Sozialisierungen (Verstaatlichungen etc.) in Österreich, obwohl die Machtverhältnisse dies durchaus zugelassen hätten. Wohl aber gab es einen Schub in Richtung Sozialpolitik. Auf Parteienebene gab es eine Koalition aller drei Lager bis Juni 1920, wonach es zu einer schärferen Polarisierung kam, aber trotzdem noch zusammengearbeitet wurde (z. B. beim Beschluß der Verfassung). Festzuhalten ist, daß die Spaltung in Lager in der Ersten Republik am stärksten ausgeprägt war, die Fragmentierung war am größten. Die politischen Lager erlangten de facto nach und nach das Gewaltmonopol, das sie dem Staat abspenstig machten. Vgl. Schutzbund (Soz.-Dem.), Heimwehren (C.-S.), Frontkämpferbund. Nach der Verabschiedung der Verfassung bedeuteten die vorverlegten Wahlen die Auflösung der großen Koalition. An ihre Stelle trat für zehn Jahre der sog. „Bürger- und Bauernblock“ (unter c.-s. Dominanz) unter Einschluß des Landbundes und des Heimatblocks. Innerhalb dieser Koalition wurden Trennlinien zurückgestellt zwecks Kampf gegen die Sozialdemokra-tie. Gemeinsam war den Lagern auch, daß sie alle die Forderung nach dem Anschluß an Deutsch-land stellten, wissend, daß dies nicht zuletzt aufgrund außenpolitischer Gegebenheiten eine real undurchführbare Forderung war. Auch verschärfte sich die Spaltungslinie zwischen Stadt (Soz.-Dem.) und Land (C.-S) zuse-hends. Ab 1930/31 leitete die Verschränkung einer politischen mit einer ökonomischen Krise die Etablierung einer autoritären Herrschaftsform ein. Durch den Zusammenbruch der Credi-tanstalt kam die Weltwirtschaftskrise auch in Österreich voll zur Auswirkung. Die Arbeitslo-senzahl nahm 1931 gegenüber dem Vorjahr um ca. 70 % zu, was 500.000 Arbeitslose bedeu-tete. Zur Sanierung der Creditanstalt wurde vom Staat eine Völkerbund-Anleihe aufgenommen mit der Auflage, drastische Maßnahmen zur Sanierung des Budgets einzuleiten. Von den Spar-maßnahmen waren besonders die Beamten betroffen, neben Entlassungen wurden deren Löh-ne gekürzt. Das bewog die Deutschnationalen, traditionell Vertreter des Beamtentums, aus der Koalition auszutreten. Die neue Regierung vom Mai 1932 (Dollfuß) verfügte im Parlament nur noch über eine Stimme Mehrheit. Der parlamentarische Rückhalt für eine Krisenlösungs-politik war denkbar schwach. Es wurde offensichtlich, daß die Parlamentskoalition bei Neu-wahlen keine Mehrheit erreichen würde. Erstmals konnte die NSDAP bei den Landtagswahlen 1932 nennenswerte Ergebnisse erzielen (Wien: 16 %). Das traditionelle deutschnationale Lager begann sich aufzulösen, die Mitglie-der und Wähler liefen in Scharen zu den Nationalsozialisten über. Diese waren bei den Wah-len von 1932 auch tief in die c.-s. Wählerschichten eingedrungen. Allgemein wurde ange-nommen, daß bei Parlamentsneuwahlen die NSDAP ca. 20 % erreichen würde. Hier zeichnete

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    sich also (im Vergleich mit Deutschland) eine zeitverzögerte Stärkung der Nationalsozialisten ab. Schon allein aus dem genannten Grund hätte die Regierung Dollfuß bei eventuellen Wah-len sicher keine Koalition bilden können. Ausschaltung des Parlaments Ein Aufrechterhaltung der pol. Struktur schien auf demokratischem Wege nicht möglich. Dollfuß faßte also den Entschluß, den Boden der parlamentarischen Demokratie zu verlassen. Oberste Priorität hatte die Verhinderung von Parlamentsneuwahlen. Außerdem wollte Dollfuß die Stellung der Regierung gegenüber dem Parlament stärken. Für die Lösung dieser beiden Probleme gab es zwei Varianten:

    Partielle Ausschaltung von Parlament und Regierung, Verlagerung auf den Ver-ordnungsweg (nach Vorbild der deutschen Präsidialrepublik unter von Papen). Bis 1932 wurde dieser Weg auch beschritten auf Basis des „Kriegswirtschaftlichen Er-mächtigungsgesetzes“, einem Relikt von 1917, das darauf ausgelegt war, in Kriegszei-ten rasch handeln zu können und deshalb eine Umgehung des Parlaments vorsah. (Dieses Gesetz wurde aus unerfindlichen Gründen 1920 nicht aus der Verfassung ge-kippt. Mögliche Erklärung: Es wurde einfach übersehen.) Zweite Alternative, eingebracht vom damaligen Unterrichtsminister Kurt von Schuschnigg: Ausschaltung des Parlaments und Errichtung einer autoritären Herrschaft. Schneller als erhofft bot sich eine Möglichkeit zur Ausschaltung des NR. Nach Geschäftsordnungsproblemen traten die drei Präsidenten zurück, so war das Par-lament formal blockiert. BP Miklas hätte die Regierung entlassen und Neuwahlen an-ordnen können oder die Regierung hätte das Parlament neu einberufen können, was aber nicht im Interesse Dollfuß’ war. Es handelte sich keinesfalls ums eine „Selbstaus-schaltung“ des Parlaments. Dieser Vorfall war für Dollfuß ein willkommener Anlaß, einen „Staatsstreich auf Raten“ durchzuführen.16

    Nach dem Staatsstreich übernahm die Regierung selbst die Gesetzgebung und stützte sich wiederum auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917, mittels dessen die Regierung eine schrittweise Demontage verfassungsrechtlicher Einrichtungen durchführte und die politischen Freiheitsrechte systematisch einschränkte (z. B. Medienzensur, Einschränkung des Versammlungsrechts, Aussetzung der NR, - Landtags-, Gemeinderatswahlen, Einführung des Standrechtes etc.) Der nach der Ausschaltung des NR entscheidende zweite Schritt war die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofes, da dieser die Möglichkeit gehabt hätte, Gesetze für verfassungs-widrig zu erklären. Der VfGH wurde prophylaktisch mittels Verordnung ausgeschaltet. Damit waren de facto bereits 1933 die rechtsstaatlichen Grundlagen außer Kraft gesetzt. Von März 1933 an gewannen die Heimwehren eindeutig an (auch politischem) Gewicht unter ihrem „Mentor“ Benito Mussolini, dessen Ziel es war, einen faschistischen Staatenbund Itali-en-Österreich-Ungarn gegen die immer stärker werdenden Nationalsozialisten zu bilden, in deren Machtübernahme in Deutschland er eine Schwächung der italienischen Position in Eu-ropa sah. Die Heimwehren waren unter anderem bestrebt, den Kampf gegen die Sozialdemokratie zu verschärfen. Die Regierung hatte ähnliche Bestrebungen, allerdings ging diese langsamer vor. Beispielsweise wurden die 1.-Mai-Feiern und die Schutzbünde verboten. Die Heimwehren hingegen wurden weiter gestärkt, so wurde ein Heimwehrführer zum Innenminister ernannt. Mit der bekannten Durchsuchung des Linzer Parteiheims im Februar 1934 war dann der letz-te Schritt erreicht. Die Soz.-Dem. wehrte sich systematisch gegen ihre Ausschaltung; mit der

    16 siehe auch Tálos-Mitschrift

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    Niederschlagung des Februar-Aufstands und Annullierung der soz.-dem. Mandate in allen Staatsorganen stand der Etablierung des Austrofaschismus nichts mehr im Wege. 1. Mai 1934: Beschluß einer neuen Verfassung (sog. „Mai-Verfassung“), ebenfalls auf Basis des Ermächtigungsgesetzes. Aufgrund der inneren Schwäche des Regimes und aufgrund außenpolitischer Rücksichtnahme wurde zumindest versucht, den Schein von Rechtsstaatlichkeit zu wahren. Der Erlaß der Mai-Verfassung war verfassungswidrig da Verordnungen nach dem Ermächti-gungsgesetz keinen verfassungsändernden Charakter haben durften. Aber mit Hilfe des Ge-setzes konnte der Nationalrat wieder einberufen werden unter Annullierung aller soz.-dem. Mandate. Allerdings wurde das für Verfassungsänderungen nötige Quorum von 83 Mandaten nicht erreicht, der Vorgang war also demokratisch ohnehin nicht legitim. Die Funktion des NR und des BR wurde als erloschen erklärt, alle Befugnisse gingen auf die Regierung über, die Bestimmung, wonach jede Verfassungsänderung einer Volksabstimmung unterzogen werden müsse, wurde außer Kraft gesetzt. Neue Verfassung (auf „ständischer“ Grundlage und anders als zuvor unter Berufung auf Gott), die den Rechtsstaat Österreich völlig veränderte. Der BP erhielt keine zusätzlichen Kompetenzen, gestärkt wurde allerdings die Exekutive. Der rechtsstaatliche Grundsatz der Gewaltenteilung wurde also nahezu aufgehoben, da die Exekutive und die Legislative in der Hand der Regierung waren, d. h., niemand sonst konnte Gesetzesanträge einbringen. Körper-schaften wie der „Bundestag“ wurden eingerichtet, der einen Beschluß über das von der Re-gierung eingebrachte Gesetz fällte; die Abgeordneten, die natürlich alle Mitglieder der Vater-ländischen Front waren, hatten außerdem nur die Möglichkeit, abzustimmen (also keine De-batten). Wahlen wurden natürlich abgeschafft, analog den faschistischen Parteien in Italien und Deutschland wurde eine monopolistische Organisation gebildet, die Vaterländische Front.17 Länderrat, Wirtschaftsrat wurden eingerichtet und hätten eigentlich das Recht auf Begutach-tung gehabt, was aber nicht praktiziert wurde, da von der Regierung unterbunden. Letztere hatte die exekutive und die legislative Gewalt inne (Verschränkung der Gewalten). Ende der Autonomie der Justiz: Als Innovation wurde die Todesstrafe eingeführt18, Einfüh-rung von sogenannten Anhaltelagern. Da die berufsständische Selbstorganisierung bestenfalls eine vage Absichtserklärung darstell-te, aber nie umgesetzt wurde, trat diese Verfassung de facto nie in Kraft.

    27. Nov. 2003

    VII. Nationalsozialismus Die Gründung der EWG ist ohne die Niederlage des NS nicht zu verstehen. 1933 – 1938 Im Austrofaschismus verschwinden zwar viele rechtstaatliche Elemente (Einschränkung der Grundrechte, Beschränkung des Rechtsstaates auf das Formale), aber der Rechtsstaat wird nicht gänzlich zerstört. Bei autoritären Herrschaftsformen ist zu beobachten, daß es zu keinem politischen Eliten-tausch kommt und daß die Regierung einen sehr geringen Gestaltungs- und Umgestaltungs-willen hat. Hauptziel: Erhaltung der bestehenden Verhältnisse Kontinuität. Der Anschluß Österreichs an Deutschland

    17 Was in Deutschland und Italien schon lange existierte, wurde in Österreich binnen kurzem „auf dem Reiß-brett“ installiert und war im Vergleich zur NSDAP ein sehr schwacher Verband. 18 auch in Anwendung gebracht gegenüber einigen soz. Funktionären

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    Zuerst wollte Hitler eine lockere, staatliche Verbindung in Form einer Realunion. Hitler hätte in beiden Staaten das Staatsoberhaupt sein sollen. Erst der triumphale Empfang in Ö. und das Fehlen jeglichen Widerstandes im Ausland19 führten schließlich zum sofortigen Anschluß. (Arthur Seyß-Inquart: Gesetz zur Wiedervereinigung völlig undemokratische Volksab-stimmung im April 1933) Juli 1934: Der Anschluß von Ö an D war von Beginn an ein Ziel der NS-Außenpolitik, doch der Putschversuch scheiterte. Hitler beschloß den Anschluß evolutionär durchzuführen: Er begann systematisch wichtige politische Positionen mit österreichischen NS zu besetzen. Auch der einzige Garant für Österreichs Unabhängigkeit, Mussolini, näherte sich immer mehr Hitler an. Schließlich gab Mussolini der austrofaschistischen Regierung den Rat einen modus vivendi mit D zu finden 1936 Abkommen zw. Hitler und Schuschnigg. Das austrofaschi-stische System wurde von innen her immer mehr von den Nazis durchsetzt. In Ö war aber generell ein hohes NS-Potential vorhanden: bis 1938 konnten die NS ihre An-hängerschaft – trotz des Parteiverbots – vergrößern. Wesentlich dazu beigetragen hat die kata-strophale Lage in Ö und die Tatsache, daß Hitler in D die Arbeitslosigkeit beträchtlich redu-ziert hatte. Der Anschluß im März 1939 war wohl ein „erzwungen-ersehnter“. Bedeutung des Anschluß aus rechtspolitischer Sicht In D waren die NS 1938 bereits 5 Jahre an der Macht. 1933 hatten sie es in D bereits zu Wege gebracht, die wichtigsten Grundrechte außer Kraft zu setzen, da sich die gesamte Legislative in der Hand der NS befand Ausnützung des Ermächtigungsgesetzes (einfache Verfas-sungsgesetze können von der Regierung ohne Zustimmung des Parlaments beschlossen wer-den). In D wurde die föderalistische Struktur aufgehoben, die Länder wurden zu bloßen Ver-waltungssprengeln degradiert. Bald kam es zur Auflösung aller Parteien. Bereits 1933 hatte Hitler den Staatsapparat von Nicht-NS- und Nicht-Arischen Beamten „gesäubert“. Bis 1938 gelang es der NSDAP die dt. Rechtsordnung auf eine rassistische Grundlage zu stellen: „Nürnberger Rassengesetze“ 1935.

    4. Dez. 2003

    Die Konstituierungsphasen sowohl des Austrofaschismus 1933/34 als auch des Nationalsozia-lismus weisen durchaus Parallelismen auf. Unterschiede zwischen der Konstituierung des NS und des Austrofaschismus:

    Beim NS war Rassismus von Anfang an zugegen (Unterscheidung in Reichsbürger und Staatsangehörige) Umgestaltung der Rechtsordnung. Durchsetzung des Führerprinzips auf allen Ebenen (Hitler als „Führer und Reichskanzler“, der alle politischen Funktionen vereinigte)

    Gemeinsamkeiten: Konzentration der Legislative bei der Regierung Etablierung einer Staatspartei Grundrechte wurden eingeschränkt, auf gewisse Rechte konnte man sich jedoch ver-lassen

    „Völkischer Staat“ des NS: Die sog. völkische Rechtsordnung bedeutete eine völlige Abkehr von allen Verfassungstradi-tionen. Die gesamte deutsche Rechtsordnung erfuhr einen grundlegenden Wandel durch Erlaß neuer Gesetze, vielmehr aber noch durch Uminterpretation von bestehenden Gesetzen. Vor 1933 bestehende Gesetze wurden pervertiert, indem mit Hilfe von Verfassungsjuristen immer

    19 einzig Mexiko protestierte gegen den Einmarsch

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    jene Auslegung gewählt wurde, die dem „völkischen Gemeinschaftsrecht“ entsprach. Der NS-Staat besaß als weiteres Spezifikum keine eigene Verfassung20. Als grundlegendes Recht galt kein gesatztes Recht, sondern ein völkisches Naturrecht, eine „vom Führer erschaute Ordnung“. An die Stelle der Gleichheit aller Staatsbürger trat die völ-kische Ungleichheit (Trennung zwischen Ariern und Nicht-Ariern). Diese sog. Rechts-Urquelle basierte auf Quellen wie Blut, Volksgeist, Volks- und Rassenseele etc, allesamt höchst eigenartige und heute lächerlich klingende Begriffe. Führer und Gesellschaft bildeten die sogenannte Volksgemeinschaft, insofern als Volkes Wil-le im Führer zum Ausdruck kommt und nur von diesem rein und unverfälscht wiedergegeben wurde, quasi eine Inkarnation des deutschen Volkes. Als solche war Hitler keiner wie auch immer gearteten Kontrolle unterworfen. 1942 etwa beschloß der Reichstag ausdrücklich, daß Hitler an keine bestehenden Rechtsordnungen gebunden sei. Eine Aufhebung jeglicher Ge-waltenteilung war selbstverständlich. Der Führerbefehl hatte höchste Rechtsgültigkeit, Hitler war der alleinige Gesetzgeber, von dem sich jedes weitere Gesetzgebungsrecht ableitete, wo-bei es völlig unerheblich war, in welcher Form die Anordnungen ergingen (Gesetz bis formlo-ser Befehl). Die Konzentrations- und Vernichtungslager bildeten den traurigen Höhepunkt und unterstan-den dem Reichsführer SS und Polizei Heinrich Himmler (Verschmelzung von Polizei und einem Parteiorgan). SS und Polizei bildeten einen Staat im Staat und unterstanden keiner Kontrolle durch normale Gerichte, sondern hatten eine eigene Gerichtsbarkeit, verfügten wei-ters über ein auf Zwangsarbeit basierendes Wirtschaftsimperium. zurück nach Österreich: Noch beim Einmarsch am 12. 3. 1938 sah Hitler nicht sofort die Zerstörung der österr. Eigen-staatlichkeit vor, vielmehr sah er eine lockere staatliche Verbindung in Form einer Realunion vor mit Hitler als Staatsoberhaupt. Es war erst der euphorische Empfang und das Ausbleiben internationaler Proteste, die Hitler bewogen, Österreich sofort „anzuschließen“. Am darauf-folgenden Tag wurde das BVG über die „Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich“ be-schlossen. Volksabstimmung 10. 4.: Über 99,7 % Zustimmung21 zum Anschluß bedeutete nur noch eine nachträgliche Scheinlegitimierung, da alle Juden und bereits Verhaftete nicht mehr zugelassen waren. Natürlich ist diese Zahl nicht ernstzunehmen, in jedem anderen total. System würden ähnliche Zahlen zustandekommen. Sowohl Kardinal Innitzer als auch Karl Renner hatten öffentlich zu einem Ja zum Anschluß aufgerufen, es bestand also seitens der Kirche und der Sozialdemokraten zumindest kein Widerstand. Verwaltungsstrukturen nach dem Anschluß: Ö. wurde zu Verwaltungssprengel des Deut-schen Reiches, alle Verwaltungskompetenzen wurden abgegeben. Kurzzeit-Bundeskanzler Arthur Seyß-Inquart wurde zum „Reichsstatthalter“ ernannt, ihm wurde eine österr. Landes-regierung mit vier Ministern (Inneres, Wirtschaft, Arbeit, Ernährung) unterstellt, es gab also formal noch eine Regierung, die allerdings nur noch Verwaltungskompetenzen hatte. Das war aber nur eine Übergangsphase, im April 1939 wurde das Land Österreich beseitigt, an seine Stelle traten die reichsunmittelbaren Reichsgaue, die in etwa den ehem. Bundesländern ent-sprachen (offizielle Bezeichnung: Alpen- und Donaureichsgaue). Die Landesregierung Öster-reichs wurde aufgelöst. An der Spitze jedes dieser Reichsgaue stand ein Reichsstatthalter, der auch das Amt des Gauleiters der NSDAP bekleidete und so die Einheit von Partei und Staat garantierte.

    20 Vielmehr existierte die Weimarer Verfassung weiter und wurde nicht außer Kraft gesetzt. 21 in Linz sogar über 99,9 % Zustimmung

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    Vom 13. März 1938 bis Anfang Mai 194522 war Österreich Teil des NS-Regimes und keines-wegs nur als Opfer Nazi-Deutschlands, sondern auch als Täter-Gesellschaft zu bezeichnen. Zahlreiche Österreicher zählten als Mitglieder der Deutschen Herrenrasse und verhielten sich auch entsprechend. Z. B.: Gleich nach dem Anschluß begannen Übergriffe gegen die jüdische Bevölkerung, wie sie selbst in Deutschland noch nicht vorgekommen waren. Die Pogrome entstanden übrigens ohne Zutun der NSDAP, die sich sogar dazu gezwungen sah, gegen „wil-de Arisierungen“ einzuschreiten und die Vertreibung der Juden in geordnete Bahnen zu len-ken. Ein zweiter Indikator: Fast 700.000 Österreicher waren Mitglieder der NSDAP, über 20.000 in der SS, 1 Mill. kämpfte in der Wehrmacht. Im Besatzungsapparat in den neu hinzu-gewonnenen Gebieten waren Österreicher, die neue Karrierechancen nutzten, überproportio-nal vertreten, vor allem in den Niederlanden23. Ebenso fanden sich in den Spitzenpositionen des Polizei- und Vernichtungsapparates zahlreiche Österreicher, z. B. waren die Vertreter Himmlers im Balkanraum, die höheren SS- und Polizeiführer, allesamt Österreicher. Auch der Stab von Adolf Eichmann setzte sich fast ausschließlich aus Österreichern zusammen, z. B. Alois Brunner24, Novak25. Der SS- und Polizeiführer in Ostpolen Glowotschnig hatte eben-falls seinen Stab von Wien und Kärnten mitgenommen. Der Begriff Kollaboration greift hier also eindeutig zu kurz und spiegelt nicht die tatsächli-chen Zusammenhänge wider. [Exk.: Der Stalinismus steht für die Ermordung realer und imaginierter politischer Gegner, während der Nationalsozialismus für die Ermordung der gesamten jüdischen oder als min-derwertig apostrophierten Bevölkerung verantwortlich ist.] Wofür steht diese Judenvernichtung, wie ist sie in einer politischen Theorie unterzubringen? Zum einen ist die Judenvernichtung ein historisches Faktum. Der Monstrosität dieses bis dato einmaligen Verbrechens stehen geradezu armselige Versuche gegenüber, dies wissenschaft-lich zu analysieren und zu verstehen. Auf die Frage, wie so etwas in hochzivilisierten Gesell-schaften möglich gewesen ist, gibt es nur sehr karge Antworten und Erklärungsversuche, wird nach wie vor als nicht nachvollziehbar, als nicht verständlich bezeichnet. Wie spielte sich die Judenvernichtung gesellschaftlich ab? Raul Hilberg26: 1. christlicher Antisemitismus: „Ihr habt kein Recht als Juden unter uns zu leben.“ 2. weltliche Herrscher: „Ihr habt kein Recht unter uns zu leben.“ 3. NS: „Ihr habt kein Recht zu leben.“ Der Prozeß der Judenvernichtung war ein von absolut allen Säulen (Wehrmacht, Partei, Wirt-schaft) getragenes Unternehmen. Er wurde nichts von einigen wenigen am Volks „vorbeige-mogelt“. Es ist zwar richtig, daß wenige alles wußten, aber fast niemand wußte nichts. Nur wenige Stellen waren ausschließlich mit der Judenvernichtung beschäftigt (Besatzung in Ghettos, Stab Adolf Eichmanns, Sonderformationen eigens für den Judenmord im Osten). Der gesamte Apparat war hingegen teilweise auf vielfältige Art in den Vernichtungskrieg invol-viert gewesen, das Schlagwort hiefür lautete „Ausrottung des jüdischen Bolschewismus“. Und 22 27. April: Unabhängigkeitserklärung in Wien, gleichzeitig war die NS-Herrschaft in den westl. Bundesländern noch nicht beendet. Endgültig: 8. Mai 23 Seyß-Inquart wurde zum Chef der Besatzung in den Niederlanden ernannt, sein ganzer Stab bestand aus Öster-reichern, genannt „Donauclub“. 24 der möglicherweise noch in Syrien lebt 25 „Fahrdienstleiter des Todes“ genannt 26 zentrales Werk erschienen in den 60er Jahren in den USA, dt. „Die Ermordung der europäischen Juden“, gilt als umfassendste Strukturgeschichte des Holocaust. Hilberg stammt aus Wien und emigrierte 1938 und unter-richtete bis vor wenigen Jahren Politikwissenschaft in den USA.

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    je detaillierter die Forschung wird, umso erschreckender wird das Gesamtbild. Die Wehr-machtsausstellung in Wien 2001 machte deutlich, welche Rolle die Wehrmacht tatsächlich spielte und zeigte, wie aus ganz normalen Männern, die aus der Mitte der Gesellschaft kamen, Mörder wurden. Es stellt sich die Frage nach den Motivationen dieser Männer, wenn sich beispielsweise in Feldpost nicht die Spur von Mitleid mit den Juden findet und Stereotype begeistert wiederge-geben werden. Der amerikanische Politologe Daniel Goldhagen bietet die sensationsträchtige These an, daß der Holocaust ein Großprojekt aller Deutschen war eindimensional, nicht haltbar. Kann weder den Genozid an Sinti und Roma erklären noch die Mitwirkung von z. B. Ukrainern. Er unterschlägt, daß sich die NS-Utopie nicht auf die Ausmerzung der Juden beschränkte, son-dern auch andere Gruppen wie z. B. Homosexuelle oder Behinderte umfaßte. Mit dieser mo-nokausalen These vom Vernichtungswunsch der Deutschen findet man jedenfalls keine hin-reichende Erklärung. Dennoch muß uns als Österreicher die These von Goldhagen irritieren, denn in der Praxis ging das antisemitische Programm anfangs nicht über das hinaus, was die christlich-soziale Elite schon lange vorher vorgeschlagen hatte27, i. e. Vertreibung der Juden nach Palästina, Ausschluß von Juden aus bestimmten Berufsgruppen etc. 4 Phasen des Vorgehens gegen Juden (teilweise ineinander übergreifend):

    1. Ausschluß der jüdischen Bevölkerung aus der Gesamtbevölkerung auf rechtlicher Ebene

    2. Aktivierung mit dem Anschluß Österreichs: Vertreibungsphase28 3. ab Kriegsbeginn März 1939: Ghettoisierungsphase, insbesondere in Osteuropa.

    “Madagaskar-Plan“ 1940/41: Alle Juden sollten nach Madagaskar verschifft worden, um sie dort zugrunde gehen zu lassen. Völlig absurd.

    4. Vernichtungsphase, ab Sommer 1941 mit Überfall auf Sowjetunion: Beginn der sy-stematischen Ermordung aller Juden, derer man habhaft werden konnte. Westeuropa: Abtransport aller westeuropäischen Juden in osteuropäische Vernichtungsanlagen.29 In Osteuropa hingegen werden die Juden auf „traditionelle“ Art und Weise umgebracht (erschossen).

    Die Technologie der Vernichtungszentren (Ermordung mit Gas) wurde im übrigen zuerst in umgebauten Lastwagen „erprobt“. Die Exzesse gegen die Juden in den Tagen des Anschlusses waren gleichzusetzen mit Pogro-men und waren, wie gesagt, „hausgemacht“, d. h. nicht maßgeblich in einer Agitation der NSDAP begründet. Im Frühjahr 1945 ermordeten lokale Gendarmeriebeamte, Hitlerjungen und Volkssturmange-hörige ca. 100.000 Juden auf offener Straße am Weg ins Konzentrationslager Mauthausen vor den Augen der Bevölkerung in ganz Österreich. Hier kommt eine Verstrickung der Volksge-meinschaft in die Judenvernichtung deutlich zum Ausdruck. Bemerkenswert, daß noch heute hartnäckig am Mythos der kollektiven Unschuld Österreichs festgehalten wird. Das Bild von einigen wenigen fanatischen SS-Leuten am Rande der Gesellschaft ist also nicht im geringsten angebracht. Der Judenmord kann nicht als Werk von pathologischen Tätern gesehen werden, sondern muß als potentieller Bestandteil moderner Gesellschaften untersucht werden. Kernthese: Judenvernichtung war kein Werk von Einzeltätern, sondern ein politischer Prozeß der Willens- und Entscheidungsfindung (vgl. politics). Dies ist einer der am besten erforsch-ten Bereiche zu diesem Thema, zu dem vor allem international bedeutende Ergebnisse vorlie-

    27 von den chistlich-sozialen nicht umgesetzt, sondern nur gefordert 28 fälschlich Emigration genannt 29 In Auschwitz wurden bis zu 9.000 Juden pro Tag ermordet.

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    gen. Vergleichsweise bescheiden nehmen sich die Ergebnisse der Politischen Theorie aus. Es besteht ein zunehmender Bedarf an Erklärungsmodellen. In den letzten zehn Jahren hat nicht nur in Fachkreisen eine intensive Auseinandersetzung damit stattgefunden. Sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der öffentlichen Diskussion galt der Holocaust lange Zeit als irrational, er wurde als außerhalb der Zivilisation gesehen, als abgespalten vom Projekt der Moderne, begriffen. Der Normalzustand im 20. Jh. war nicht ohne staatlich organisierte Massenverbrechen, diese waren also nicht die Ausnahme, sondern Teil der zivilisatorischen Normalität.

    11. Dez. 2003 Was hat Holocaust mit Moderne, mit Zivilisation zu tun, welches Verhältnis besteht zwischen den beiden, oder fällt die Judenvernichtung völlig aus dem Rahmen zivilisatorischer Entwick-lung? Kernthese (s. o.): Die Judenvernichtung war kein Werk von Einzeltätern, sondern als ein politischer Prozeß zu verstehen, an dem ein erheblicher Teil der staatlichen Institutionen mit-gewirkt hat. Die Judenvernichtung stand also nicht nur in der Mitte der Gesellschaft, sondern auch der Staat war maßgeblich daran beteiligt. Anders wäre dieses Judenvernichtungsprogramm in dieser Form nicht durchführbar gewesen. In der öffentlichen Diskussion galt der Holocaust lange als außerhalb der Zivilisation stehend, als abgespalten vom Projekt der Moderne. „Moderne“: Zivilisationsprozeß, in dem staatliches Gewalthandeln tabuisiert ist, Affektkon-trolle und Selbststeuerung herrschen und in dem der Einbruch von Destruktivität den Rang einer Normabweichung besitzt. Diese Begriffsbestimmung hält aber einer Betrachtung des 20. Jh. nicht stand. In diesem war nämlich das Massenverbrechen nicht die Ausnahme, sondern, wie erwähnt, Teil der zivilisato-rischen Normalität. (Der Holocaust ist nur ein Beispiel hiefür, wenn auch das extremste.) Der Prozeß der Judenvernichtung beginnt nicht in den Konzentrationslagern, sondern inmitten der Gesellschaft. Er ist nicht eine Unterbrechung des normalen Gangs der Geschichte. Der Antisemitismus war schon vor dem Nationalsozialismus ein integraler Bestandteil der politischen Kultur sowohl in Deutschland als auch in Österreich (aber auch in anderen Län-dern). Beispiel Viktor Klemperer: Tagebücher30 von 1933-45, machen deutlich, daß es schon vor den Vernichtungslagern entsprechende Tendenzen gab. Diese Tagebücher erschienen Mitte der 90er. Klemperer war Sprachwissenschafter an der Uni Dresden und wurde 1933 als Jude der Hochschule verwiesen, war aber durch seine Ehe mit einer Nichtjüdin geschützt. So konn-te Klemperer den Alltag von Juden anschaulich beschreiben, stellvertretend für alle anderen Juden. Allein aus diesen Tagebüchern wird klar, daß auch zuvor schon unglaubliche Zivilisa-tionsverbrechen vorhanden waren. Klemperer beschreibt aber auch, was ab 1943 in Ausch-witz passierte. Das beweist, daß man auch bei sehr eingeschränkten Informationsmöglichkei-ten wissen konnte, was in den Lagern vor sich ging. Beispiel Wehrmachtsausstellung: In dieser wurde die Partizipation der Wehrmacht am Ho-locaust gezeigt (bewiesen?) und vor Augen geführt, daß auch bei der aktiven physischen Ver-nichtung der Juden „ganz normale Männer“ maßgeblich beteiligt waren. Faktum ist jedenfalls, daß der Holocaust im Rahmen zivilisierter moderner Gesellschaft statt-fand. (Begriff „zivilisiert“: Ein demokratisches Parteiensystem war vorhanden, ebenfalls eine

    30 Titel: „Zeugnis ablegen bis zum Letzten“

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    funktionierende Ökonomie, hoher Bildungsgrad war gegeben, eine produktive Kulturland-schaft war vorhanden.) Die Weltwirtschaftskrise kann deshalb nicht als mitverantwortlich für die Entwicklung ge-macht werden, da Österreich und Deutschland bekanntlich nicht die einzigen betroffenen Staaten waren. Theoretische Modelle zur Erklärung des Unfaßbaren – wie ist der Holocaust auf einer solch hohen Zivilisationsstufe erklärbar? Ist es ein Bruch, ein Produkt der Moderne, die Kehrseite der Moderne, oder die Moderne in ultimativer Konsequenz, oder ein „Betriebsunfall der Mo-derne“ etc.? Begriffe der Moderne im Bezug auf den Holocaust

    1. Technokratischer Begriff der Moderne wertfrei, frei von allen normativen Elementen, das heißt im Zusammenhang mit dem NS, daß man sich mit harten Strukturdaten beschäftigt, z. B. Grad der Säkularisierung, Verbesserung sozialer Aufstiegschancen, Entwicklung des technischen Fortschritts, Anstieg der Massenproduktion etc. Reduziert man die Moderne auf ökonomische Ef-fekte und klammert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aus, unter denen diese Elemente zum Tragen kamen und die Bedingungen, unter denen sie umgesetzt wur-den, so ist der NS durchaus in einen Begriff der Moderne integrierbar. Es ist in diesem Fall völlig belanglos, daß diese Modernisierung auf dem Rücken eines Teils der Ge-sellschaft stattfand, der schlicht als minderwertig angesehen wurde. “Wenn z. B. der Output der Wirtschaft höher war als in demokratischen Gesellschaf-ten, war der NS moderner.“ In diesem Zusammenhang würde sich auch die Frage stel-len, ob die Judenvernichtung in dieser Form „effizient“ war.

    2. Normativer Begriff der Moderne umfaßt zusätzlich politisch-ethische Dimensionen, die sich am westlichen Modell der Gesellschaft orientieren. Das Projekt der Moderne erhebt den Anspruch, Industrialisie-rung und Demokratisierung in Einklang zu bringen. Hier wird die Moderne allgemein als Zivilisationsprozeß gedeutet, in dem staatliches Gewalthandeln tabuisiert ist und eine Ausnahmeerscheinung darstellt (darstellen würde). Wenn diese normative Defini-tion der Moderne nicht die direkte Realität des 20. Jh. wiederspiegelt, worauf gründet sie sich dann? Es ist viel weniger eine Definition oder ein empirischer Befund, son-dern vielmehr eine Anweisung: “Verstehe den vom Verbrechen abgegrenzten Zustand (i. e. Friede) als die Regel, das Verbrechen als die erklärungsbedürftige Ausnahme, und versuche es (das Verbrechen, Anm.) aus Funktionsdefiziten des Normalzustandes zu erklären.“ Diese Anweisung versperrt den Blick auf eine andere Sichtweise, nämlich das (staatli-che) Verbrechen als einen integralen Teil der Gesellschaft zu verstehen.

    Der Holocaust hat in diesen Modernisierungstheorien schlicht keinen Platz. Wenn der NS überhaupt berücksichtig wird, dann mit Formeln wie „Modernisierung wider Willen“. All diesen Theorien gemein ist die Ausblendung eines Spezifikums des NS, nämlich des indu-strialisierten Mordes. Eine Ausklammerung dieses Kernpunktes aus der Analyse bedeutet eine absolute Verzerrung der Realität und abstrahiert von der politischen Spezifik der NS-Herrschaft, nämlich das rassistische Primat. In der Bestimmung des Verhältnisses von Moderne lassen sich vier Grundpositionen ausmachen:31

    1. NS als „Rückfall in die Barbarei“, als „Betriebsunfall“ auf einem an sich linear anstei-genden Weg zivilisatorischer Entwicklung. Erklärungsmuster: „Sonderweg Deutsch-lands“, der im wesentlichen darauf basiert, daß in Deutschland keine wirkliche bürger-

    31 Da Manoschek keine genauen Abgrenzungen zwischen den einzelnen Ansätzen machte, bin ich auf derer sechs gekommen und weiß nicht genau, was zusammengehört.

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    liche Revolution stattgefunden hat, daß der Nationsbildungsprozeß verspätet erfolgt war, daß der NS eigentlich nur eine Reaktion auf den Bolschewismus gewesen wäre.

    2. sozialpsychologischer Erklärungsversuch: „Vom Führer verführte Gesellschaft“, NS wäre eine säkularisierte politische Religion mit dem Ziel einer charismatischen Herr-schaft

    3. wirtschafts- und demokratiepolitische Erklärungsmuster: Bezug auf Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Legitimationskrisen der parlamentarischen Systems, Versagen de-mokratischen Krisenlösungsversuche etc. All dies würde Verunsicherung auslösen, auf der Suche nach Stabilität und Gemeinschaft und Ausgrenzung des ethisch fremden setzt sich das Prinzip der Volksgemeinschaft durch.

    4. NS als historischer Sonderfall Hitler als bewußter Modernisierer, der unter anderem das Ziel hatte, die Situation der Masse zu verbessern. Minderheitenansatz, läßt vieles völlig außer acht, z. B. Rassismus und Antisemitismus. Diese angeblich intendierten Modernisierungskonzepte des NS galten nur für die Mit-glieder der sog. Volksgemeinschaft. Dies müßte in eine derartige Theoriebildung ein-fließen. Dieser Ansatz dient der Verharmlosung und Relativierung des NS und des Holocaust.

    5. ökonomistischer (linker) Ansatz: Auschwitz als spezifisch deutscher Beitrag zur euro-päischen Moderne und Kritik am Kapitalismus, der notfalls über Leichen gehen wür-de. Nicht die NS-Ideologie wäre die Triebfeder gewesen, sondern ökonomische Erwä-gungen. Verantwortlich gemacht wird der wirtschaftlich-industrielle Komplex.

    6. Holocaust als Konsequenz der Moderne, die von einem Ordnungswahn geprägt ist und bestrebt ist, alle Ambivalenz in einer Gesellschaft auszulöschen. Vision von einer harmonischen Gesamtheit. „Social engineering“ nach modernen bürokratischen Effi-zienzkriterien.

    Der produktivste Ansatz, um zu versuchen, den Holocaust zu verstehen, ist derjenige, der ver-sucht, sich mit der inneren Logik des NS anzulegen, um zu verstehen, was die Absicht des NS-Gesellschaftssystems war, sie also nicht von vorneherein als völlig wahnsinnig abzutun. Nur so kann man das Phänomen der Massenvernichtung begreifen. Nationalsozialistische Moderne als Gesellschaftspolitik, die auf der Idee der Schaffung eines rassisch homogenen Volkskörpers basiert: Der Glaube an eine glückliche Volksgemeinschaft durch rassische Hygiene und Homogenität war gegeben, ebenso die Ansicht, eine absolute Steuerung der Gesellschaft durchführen zu können im Hinblick auf die Ausmerzung aller „Gemeinschaftsunfähiger“. Dahinter stand eine gesellschaftssanitäre Utopie mit monströsen Dimensionen: Die Erzeugung eines rassisch ge-sunden Volkskörpers galt als eine unabdingbare Notwendigkeit zur Etablierung eines tausend-jährigen Reichs. Die österr. und deutsche Gesellschaft glaubte an diese Utopie, so absurd sie heute erscheinen mag, deshalb ist sie ernst zu nehmen. Dieser „Gefühls-Antisemitismus“32 wurde abgelöst von einem Pseudo-wissenschaftlichen Antisemitismus, der die Juden als „Seuchenherd im Volkskörper“ sah. So wurde der Begriff der „Ausmerzung der jüdischen Rasse“ etwa nach und nach positiv besetzt. Die Umsetzung dieses utopischen Gesellschaftsentwurfes erfolgte nicht nach einem ausformulierten Stufen-plan, da es keine Vorbilder gab, vielmehr war es ein vorsichtiges Vortasten, bei dem innen- und außenpolitische Gegebenheiten berücksichtigt werden mußten; manche Maßnahmen mußten zurückgenommen oder aufgeschoben werden, z. B. Euthanasie33, die auf den Wider-stand z. B. der Kirche stieß. 32 i. e. Aussagen wie: „Die Juden sind unser Unglück, sie müssen verschwinden.“ 33 1941 offiziell eingestellt; „wilde“ Euthanasie wurde weiterbetrieben

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    an der Realisierung des rassistischen Gesamtprojektes beteiligte Apparate: Einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft entsprechend, waren an der Ordnung der Ver-nichtung sämtliche gesellschaftliche Institutionen beteiligt. Die Träger waren die NSDAP, die Wehrmacht, die staatliche Verwaltung, die Wirtschaft. Mit Ausnahme der SS-Einsatzgruppen gab es keine Institution, die spezifisch und ausschließlich mit dem Judenmord beschäftigt war. Es war geradezu Voraussetzung, daß das gesamte politische System daran arbeitsteilig teilnahm. Organisationssoziologisch würde man vom Holocaust als einem „Verwaltungs-Massenmord“ sprechen. Die funktionale Arbeitsteilung innerhalb einer Demokratie bedeutet, daß der einzelne Bürokrat nur einen Einzelschritt in einem Gesamtprozeß durchführt34. Der einzelne hat mit dem Vollzug nichts zu tun, er kann ihn sich nicht vorstellen, jedenfalls ist es nicht in seinem Verantwortungsbereich. Er trägt als Beamter keine moralische, sondern nur eine technische Verantwortung, die darauf beschränkt ist, daß seine konkrete Maßnahme um-gesetzt wird und funktioniert. Wenn diese Kette an Schritten, die notwendig sind, um jemanden zu ermorden, lange genug ist, dann läßt er gegenüber dem einzelnen nur eine Indifferenz entstehen. Das, wofür er die Verantwortung trägt, hängt in diesem System nicht direkt mit dem Endzweck zusammen. Für eine moderne Bürokratie gilt der Satz des englischen Soziologen Siegmund Bauman: „Mora-lische Maßstäbe sind für den technischen Erfolg des bürokratischen Apparats irrelevant.“ Für den Holocaust bedeutet dies den Rückgriff auf eine moderne, eingespielte, effiziente Verwal-tung als Unabdingbarkeit. Die physische Massenvernichtung der europäischen Juden fand im wesentlichen im Osten statt. Die westlichen Juden mußten mittels komplexer Verfahren in die Vernichtungslager in Polen gebracht werden, und das in Kriegszeiten. Es bedeutete also einen enormen logistischen und administrativen Aufwand, auch die „Vorarbeit“. Zwischen der Ersterfassung eines Juden und dem Eintreffen in einem Vernichtungslager konnten Jahre vergehen und hunderte Beamte damit befaßt sein. Die Ketten waren also sehr lang, eine Unzahl von Schritten hatte zu erfol-gen, um eine soziale Distanz zu schaffen („Judenmordpolitik“). Bei den im Osten lebenden Juden hingegen stellt sich die Lage gänzlich anders dar, insbeson-dere in der Sowjetunion. Hier begaben sich die