27
1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Von Emerson zu Nietzsche Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons (1803-1882) für Friedrich Nietzsche (1844-1900) nach. Benz rechnet Emerson einer philosophischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts zu, die des Weiteren von Ludwig Büchner (1824-1899), Alfred Wallace (1823-1913) und Eugen Dühring (1833-1921) getra- gen werde. 1 In Emersons Essay Power in Conduct Of Life (1860) wird der plus-man thematisiert, der ein Plus an Kraft, an Vitalität aufweist (überschüssige und strotzende Gesundheit, Vollblütigkeit) und so neue Leistungen, neue Erkenntnisse und ein Voranschreiten der menschlichen Ent- wicklungen ermögliche. Historisch sieht Emerson den plus-man beispielsweise in Shakespeare oder Napoleon realisiert. Gerade angesichts der geschichtlichen plus-men lässt sich Emersons besonderes Interesse am ‘Moment des Übergangs’ ablesen: die Umsetzung körperlicher Kraft in kulturelle, erfinderische, künstlerische oder politisch-soziale Leistung. 2 1850 widmet Emerson ein Werk den großen historischen Männern (Representative Men; dt. Repräsentanten der Menschheit), worin er die Geschichte der großen Männern der Historie 3 als Geschichte der Selbstoffenbarung der Geheimnisse des Universums auffasst. Anknüpfend an Schellings Gottesbegriff (ens manifestativum sui) wird dargelegt, dass Gott sich durch große Männer, welche höhere Bereiche der Wirklichkeit erschließen, selbstoffenbare. Und wenn Emer- son äußert, die Bibel könne nicht geschlossen werden, ehe nicht der letzte große Mensch gebo- ren sei, 4 wird damit über Schelling auch der theosophische und spiritistisch ausgerichtete Theo- loge Friedrich Christoph Oetinger (1702-1788) rezipiert; hinter dem Ausspruch steht die Lehre, dass die Bibel einen Mikrokosmos darstelle, der die Vielfalt des Universums wiedergebe – ebenso wie sich der Kosmos im Menschen widerspiegele 5 . Doch nicht nur einzelne große his- torische Menschen stehen in der Betrachtung Emersons, sondern auch eine Entwicklungsidee, die eine fortschreitende Annäherung des Menschen an die transzendente over-soul an- nimmt. 6 1 Ernst Benz, ‘Das Bild des Übermenschen in der europäischen Geistesgeschichte’, S. 19-161; in: ders,. ‘Der Übermensch. Eine Diskussion’, Zürich 1961. S. 94. 2 Ebd., S. 105ff. 3 Vorbild ist dabei der schottische Historiker Thomas Carlyle (1795-1881); in seinem Heroismus-Aufsatz lobt Emer- son diesen wie folgt: „Thomas Carlyle mit seinem natürlichen Geschmack für das Männliche und Kühne im Charakter ließ in seinen biographischen und historischen Gemälden keinen heldenhaften Wesenszug seiner Lieblinge unberücksichtigt.“– Zit. nach: Ralph Waldo Emerson, ‘Essays. Erste Reihe’, Zürich 1983, S. 193f. – Nietzsche indes ist nicht von Car- lyle beeindruckt, vielmehr hält er u.a. fest: „Ich las das Leben Thomas Carlyle’s, diese farce wider Wissen und Willen, diese heroisch-moralische Interpretation dyseptischer Zustände.“ – Zit. nach: GD, S . 119. 4 Vgl. Ralph Waldo Emerson, ‘Repräsentanten der Menschheit’, Zürich 1987, S. 27. 5 Dabei stehen für Emersons Mikro-Makro-Kosmos-Verständnis nicht nur deutscher Pietismus und deutsche Ro- mantik Pate, sondern auch das Gedankensystem des schwedischen Mystikers Emanuel Swedenborg (1688- 1772), über den aber auch Oetinger arbeitet. – So zitiert Emerson Swedenborg (ohne Quellenangabe): „Der Mensch ist eine Art winziger Himmel, in Einklang mit der Welt des Geistes und mit dem großen Himmel. Jede ein- zelne Idee des Menschen und jede Empfindung, ja selbst der kleinste Teil einer Empfindung ist ein Bild und Ab- bild des Menschen. Ein Geist läßt sich schon aus einem einzigen Gedanken erkennen. Gott ist der überragendste Mensch.“ – Zit. nach: ebd., S. 103. 6 George J. Stack, ‘Nietzsche and Emerson. An Elective Affinity’, Ohio 1992, S. 110f.

Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

1

Roland Wagner

Von Emerson zu NietzscheVon Emerson zu NietzscheVon Emerson zu Nietzsche

Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung

Ralph Wald Emersons (1803-1882) für Friedrich Nietzsche (1844-1900) nach. Benz rechnet

Emerson einer philosophischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts zu, die des Weiteren von

Ludwig Büchner (1824-1899), Alfred Wallace (1823-1913) und Eugen Dühring (1833-1921) getra-

gen werde.1

In Emersons Essay Power in Conduct Of Life (1860) wird der plus-man thematisiert, der ein

Plus an Kraft, an Vitalität aufweist (überschüssige und strotzende Gesundheit, Vollblütigkeit)

und so neue Leistungen, neue Erkenntnisse und ein Voranschreiten der menschlichen Ent-

wicklungen ermögliche. Historisch sieht Emerson den plus-man beispielsweise in Shakespeare

oder Napoleon realisiert. Gerade angesichts der geschichtlichen plus-men lässt sich Emersons

besonderes Interesse am ‘Moment des Übergangs’ ablesen: die Umsetzung körperlicher Kraft in

kulturelle, erfinderische, künstlerische oder politisch-soziale Leistung.2

1850 widmet Emerson ein Werk den großen historischen Männern (Representative Men; dt.

Repräsentanten der Menschheit), worin er die Geschichte der großen Männern der Historie3 als

Geschichte der Selbstoffenbarung der Geheimnisse des Universums auffasst. Anknüpfend an

Schellings Gottesbegriff (ens manifestativum sui) wird dargelegt, dass Gott sich durch große

Männer, welche höhere Bereiche der Wirklichkeit erschließen, selbstoffenbare. Und wenn Emer-

son äußert, die Bibel könne nicht geschlossen werden, ehe nicht der letzte große Mensch gebo-

ren sei,4 wird damit über Schelling auch der theosophische und spiritistisch ausgerichtete Theo-

loge Friedrich Christoph Oetinger (1702-1788) rezipiert; hinter dem Ausspruch steht die Lehre,

dass die Bibel einen Mikrokosmos darstelle, der die Vielfalt des Universums wiedergebe –

ebenso wie sich der Kosmos im Menschen widerspiegele5. Doch nicht nur einzelne große his-

torische Menschen stehen in der Betrachtung Emersons, sondern auch eine Entwicklungsidee,

die eine fortschreitende Annäherung des Menschen an die transzendente over-soul an-

nimmt.6

1Ernst Benz, ‘Das Bild des Übermenschen in der europäischen Geistesgeschichte’, S. 19-161; in: ders,. ‘DerÜbermensch. Eine Diskussion’, Zürich 1961. S. 94.2Ebd., S. 105ff.3Vorbild ist dabei der schottische Historiker Thomas Carlyle (1795-1881); in seinem Heroismus-Aufsatz lobt Emer-son diesen wie folgt:„Thomas Carlyle mit seinem natürlichen Geschmack für das Männliche und Kühne im Charakter ließ in seinenbiographischen und historischen Gemälden keinen heldenhaften Wesenszug seiner Lieblinge unberücksichtigt.“ –Zit. nach: Ralph Waldo Emerson, ‘Essays. Erste Reihe’, Zürich 1983, S. 193f. – Nietzsche indes ist nicht von Car-lyle beeindruckt, vielmehr hält er u.a. fest: „Ich las das Leben Thomas Carlyle’s, diese farce wider Wissen undWillen, diese heroisch-moralische Interpretation dyseptischer Zustände.“ – Zit. nach: GD, S . 119.4Vgl. Ralph Waldo Emerson, ‘Repräsentanten der Menschheit’, Zürich 1987, S. 27.5Dabei stehen für Emersons Mikro-Makro-Kosmos-Verständnis nicht nur deutscher Pietismus und deutsche Ro-mantik Pate, sondern auch das Gedankensystem des schwedischen Mystikers Emanuel Swedenborg (1688-1772), über den aber auch Oetinger arbeitet. – So zitiert Emerson Swedenborg (ohne Quellenangabe): „DerMensch ist eine Art winziger Himmel, in Einklang mit der Welt des Geistes und mit dem großen Himmel. Jede ein-zelne Idee des Menschen und jede Empfindung, ja selbst der kleinste Teil einer Empfindung ist ein Bild und Ab-bild des Menschen. Ein Geist läßt sich schon aus einem einzigen Gedanken erkennen. Gott ist der überragendsteMensch.“ – Zit. nach: ebd., S. 103.6George J. Stack, ‘Nietzsche and Emerson. An Elective Affinity’, Ohio 1992, S. 110f.

Page 2: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

2

Es zeigt sich im Motiv der vitalen Leiblichkeit und der Thematisierung der ‘großen Männer’ eine

Parallele zu Nietzsches Denken, die sich nicht zuletzt auch in den Begriffen des plus-man und

der over-soul als Vorbilder für den Terminus Übermensch fortführt. ‒ Tatsächlich liest Nietz-

sche ab 1862 durch zweieinhalb Jahrzehnte mit großer Freude und großem Profit Emersons

Schriften.7

Der 1882er Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft ist ein Emerson-Zitat als Motto vorangestellt,8

und in der Götzen-Dämmerung drückt Nietzsche seine Bewunderung für Emerson so aus:

„Emerson. – Viel aufgeklärter, schweifender, vielfacher, raffinirter als Carlyle, vor Allem

glücklicher... Ein solcher, der sich instinktiv bloss von Ambrosia nährt [...].” 9

Der Deutsche imitiert den Amerikaner stilistisch und vertritt genau wie jener den Gedanken,

dass unter allen Überdeckungen als Lebensziel die Ekstase liege. Letztlich – so konstatiert

George J. Stack – sei Nietzsches Übermensch den poetisch-philosophischen Skizzen Emersons

vom transzendenten menschlichen Wesen ähnlicher als allen sonstigen Vorbildern und Quel-

len.10

Stack zeichnet eine Entwicklung von Emersons frühem Topos des religiösen außergewöhnli-

chen Individuum (the genuine man), welches sich durch Charakterstärke und Unabhängigkeit

des Geistes auszeichnet, hin zu the true man, welcher zudem mit Selbstvertrauen, Selbstexis-

tenz und Ehrbarkeit ausgestattet ist und sich damit als Antizipation des existentiellen Helden er-

weist. Der Existentialismus des true man äußert sich im Streben danach die Wahrheit zu denk-

en, durch sie zu handeln und zu leben. Das wundersame Phänomen des unabhängigen histori-

schen Synchronismus lässt sich nebenbei anhand Emersons true man beobachten, denn etwas

zeitgleich entwirft Søren Kierkegaard ein ganz ähnliches Modell der menschlichen Außer- orden-

tlichkeit, dem er Jesus Christus zugrundelegt, welchen er als „Modell“, „Prototyp“ und

„Übermensch“ (sic!) bezeichnet.11 Bei Emerson ist aber Christus nur eine Vorbild-Figur unter an-

deren. Immerhin wird Christus bereits im Motto des Geschichte-Essays der ersten Essay-Re-

ihe12 genannt: „Mein ist die Sphäre ganz und gar, / Die sieben Sterne, das Sonnenjahr, / Des

Cäsars Hand und Platos Hirn, / Des Herrn Christus Herz und Shakespeares Stirn.” 13

7Emerson (der nie von Nietzsche hört) gilt als der von Nietzsche meistgelesene Autor. Am Rand von EmersonsWerken notiert Nietzsche Ausrufe wie Ja!, Das ist recht!, Das ist wahr! oder Sehr gut! – Einwände indes notiert erkeine. – Stack, S. 3. ‒ Mit der Emerson-Lektüre beginnt Nietzsche noch bevor er Schopenhauer liest. Emersonindes ist mit Schopenhauers Werk vertraut und beschäftigt sich ebenso wie dieser mit östlicher Philosophie (eineindrucksvoller Satz Emersons, der das Verständnis der illusionären Welt aufgreift, lautet z.B.: „Die Sinneswelt isteine Welt der Schauspiele; sie existiert nicht für sich selbst, sondern hat symbolischen Charakter; [...].“ – Zit.nach: Emerson, Essays I, S. 174.). Nietzsche aber begegnen bei Schopenhauer schließlich Topoi, die ihm vonEmerson her vertraut sind und die Nietzsche selbst sodann aufgreift: ein elitäres kulturelles Wertsystem, die Gott-ähnlichkeit des kreativen Genius, die Verachtung der Mittelmäßigkeit oder der durch die Natur handelnde Wille. –Ebd., S. 6. – Nicht zuletzt begegnet Nietzsche sowohl bei Schopenhauer als auch bei Emerson dem hinduisti-schen Māyā-Begriff und dem Verständnis der Illusionshaftigkeit der Dinge. Daraus formt sich schließlich Nietz-sches eigenes Weltbild.– Vgl. ebd. S. 27ff.8Nämlich: „Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tageheilig, alle Menschen göttlich.“9Zit. nach: GD, S. 120.10Stack., S. 4-8.11Ebd., S. 10f.12Den Essay praktizierte Emerson durchgängig als Form in seinen Schriften. Explizit damit überschrieben sind dieEssays – First Series (1841) und die Essays – Second Series (1844).13Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 9.

Page 3: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

3

Wie Cäsär, Platon, Shakespeare und andere ‘große Männer’ wird Christus hier als Ausdruck

des Menschen an sich verstanden.14 An anderer Stelle formuliert Emerson diesen Passus auch

prägnant wie folgt: „Jesus und Shakespeare sind Fragmente der Seele, und durch Liebe er-

ringe ich sie und verkörpere sie in meine eigene bewußte Herrschaft.” 15

Emerson, der bereits als unitarianischer Pastor unorthodoxe Perspektiven (wie die Göttlichkeit

des Menschen) prägt, bricht schließlich mit seiner Kirche und formuliert den transzendentalen

Idealismus, welcher eine Synthese der deutschen idealistischen Metaphysik um 1800 und der

Hindu-Philosophie darstellt und die Realisation des perfekten Menschen anstrebt.16

Emerson schreibt diese Realisation ein in eine Evolutionstheorie, die (20 Jahre vor Darwins The

Origin of Species von 1859) von einer Entwicklung des Lebens von einfachen zu komplexen

Formen ausgeht. Für Emerson spielt dabei die (Zunahme der) Leistungsfähigkeit eine beson-

dere Rolle. Wenn in diesem Zusammenhang vom Wurm, der zum Menschen wird, gesprochen

wird, ist das eine Formulierung die Nietzsche aufgreift:17„Ihr habt den Weg vom Wurme zum

Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm.” 18

Zunächst nimmt der Mensch in der Naturentwicklung nach Emerson nur eine geringfügige Rolle

ein: Er ist für Emerson lediglich Tendenz oder Symptom.19 Zudem wird der Lauf der natürlichen

Entwicklung als langsam und allmählich verstanden.20 Dabei sei er indes stet, wie Emerson

beispielsweise ausdrückt, wenn er das Wirken eines ‘höchsten Guten’ thematisiert:

„Das Weltall ist von Millionen von Kanälen für sein Wirken durchzogen. Alles befindet sich in

ständiger Aufwärtsbewe- gung.” 21

Nicht nur stet und ständig ist für Emerson diese Aufwärtsbewegung, sondern auch unendlich:

„Und die ansteigende Stufenleiter hat keine Grenzen, Reihe folgt auf Reihe. [...] Unsere Anla-

gen weisen ins Unendliche. [...] In der Natur gibt es kein Ende, sondern jedes Ding, das sei-

nen Zweck erfüllt hat, wird zu einer höheren Aufgabe bestimmt, und das stetige Ansteigen die-

ser Dinge führt ins Dämonische und ins Himmlische.” 22 ‒ Mit dem Rekurrieren auf das Un-

endliche zeigt sich, dass bei Emerson der Mensch nicht eine derart demütige Rolle inne hat,

wie zunächst zu mutmaßen war.

Gegen eine positivistische Fortschrittsideologie allerdings bezieht Emerson Stellung.23 So wird

auch (insbesondere gegen einen technischen Fortschritt) formuliert:

14Mit diesem Gedanken leitet auch der erste Essay (History) der ersten Reihe, also direkt auf das teilweise zitierteMotto folgend, ein: „Ein Geist ist allen individuellen Menschen eigen. Jeder Mensch hat Zugang zu demselbenund zu allen dieses Geistes. Wer einmal Zutritt zum Reich der Vernunft erlangt hat, wird ein Bürger des ganzenReiches. Was Platon gedacht hat, er kann es denken; was ein Heiliger gefühlt hat, er kann es fühlen; was jemalsMenschen zugekommen ist, er kann es verstehen. Wer zu diesem universellen Geist Zutritt hat, ist Teil alles des-sen, was ist oder getan werden kann, denn nur dieser ist das einzig und unumschränkte Wirkende.“ – Zit. nach:ebd., S. 11.15Zit. nach: ebd., S. 99.16Ebd., S. 11ff.17Ebd., S. 89.18Zit. nach: Friedrich Nietzsche, ‘Also sprach Zarathustra’, München 1999, S. 14.19Emerson, Repräsentanten, S. 24.20Vgl. ebd., S 24.21Zit.nach: ebd., S. 70.22Zit. nach: ebd., S. 97.23Vgl. z.B. ebd., S. 28.

Page 4: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

4

„Die Gesellschaft macht niemals Fortschritte. Sie weicht auf einer Seite so weit zurück, wie sie

auf der anderen vorschreitet. Sie unterliegt fortwährendem Wechsel: sie ist barbarisch, sie ist zi-

vilisiert, sie ist christianisiert, sie ist reich, sie ist wissenschaftlich; doch dieser Wechsel ist keine

Verbesserung. Für alles was gegeben wird, wird etwas genommen. Die Gesellschaft erringt sich

neue Künste und verliert alte Instinkte.” 24

Konsequenz wäre demnach, dass ein gesellschaftlicher Fortschritt (wenn überhaupt) nur dann

möglich wäre, wenn die ‘alten Instinkte’ integriert würden. Indes scheint Emerson hier (so wie

wir, die wir alle Kulturen als gleichwertig betrachten) den gesellschaftlichen und kulturellen Fort-

schrittsbegriff völlig zu negieren, denn er äußert auch:

„Heute gibt es keine größere Menschen, als es sie früher gab. [...] Die Künste und Erfindun-

gen einer jeden Periode sind nur ihr Kostüm, sie stärken nicht die Menschen.” 25

Darüber hinaus wird darauf verweisen, dass einem Kolumbus oder einem Napoleon die eigene

innere Kraft und nicht technische Hilfsmittel den Erfolg gesichert hätten26 – worüber man freilich

geteilter Meinung sein kann. – Der Verweis auf die Kraft des Kolumbus oder des Napoleons

zeigt überdies auf, dass Emerson (wie er andernorts expliziert) durchaus einem Fortschrittsge-

danken anhängt: Einem, der auf die innere Kraft bezogen ist. Diese hat sich aber freizumachen

von vermeintlichen Fortschritts- produkten, was im quasi-kommunistischen Imperativ kulminiert:

„Ein kultivierter Mensch dagegen schämt sich seiner Besitzgüter aus einer neuen Achtung für

seine Natur. Insbesondere haßt er, was er hat, [...]; es gehört ihm nicht, es hat in ihm keine

Wurzel und liegt nur da, weil es keine Revolution, keine Räuber fortnehmen.” 27

Darüber hinaus impliziert Emersons Gedanke vom Fortschritt auch, dass es kein festes Sein

des Menschen gebe: „Des Menschen Leben ist ein Fortschreiten, kein Stillestehen. Sein Instinkt

ist Vertrauen.” 28

In dem Essay Prudence indes wendet Emerson Grade des Fortschritts auf die ‘Welterkenntnis’

an; will sagen, es werden Stufen der Bewusstseinsevolution ausgemacht:

„[I.] Eine Klasse lebt für die Nützlichkeit des Symbols, Gesundheit und Wohllstand dabei als

Endzweck einschätzend. [II.] Eine andere Klasse lebt, über diese Markierung hinausgehend,

der Schönheit des Symbols, wie der Dichter und Künstler, der Naturforscher und der Mann der

Wissenschaft. [III.] Eine dritte Klasse lebt, über die Schönheit des Symbols hinausgehend, der

Schönheit des bezeichneten Dinges; dieses sind weise Menschen. Die erste Klasse hat

gesunden Menschenverstand; die zweite Geschmack; und die dritte geistige Wahrneh-

mung.”29

Letzteres ist klarer Ausdruck einer veränderten Wahrnehmung, die im Übermensch-Diskurs

häufig formuliert wird. Bei Emerson zeigt sich sehr eindrücklich, dass über die Gruppen I, II

und III auch eine Veränderung des Schönheitsbegriffes damit einhergeht. Bedenklich ist, dass

Emerson hier von Klassen spricht, was auf das Modell einer rigiden Klassengesellschaft ver-

weisen könnte, auch Nietzsche ist in diesem Punkt nicht freizusprechen.

24Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 625Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 70.26Ebd., S. 71.27Zit. nach: ebd., S. 71f.28Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 98.29Zit. nach: ebd., S. 174.

Page 5: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

5

Zentral in Emersons Denken ist die Macht/Kraft (power), die als der Gott im Menschen und

als fundamentale Realität im Kosmos verstanden wird. Nietzsche orientiert sich mit seinen

Äußerungen zur Kraft an Emerson.30

Stack verweist auf eine Notiz Nietzsches von 1887, die ausdrückt, wie sehr sich Nietzsche am

Macht-Verständnis Emersons fixiert. Zudem zeigt die Sentenz, dass auch der späte Nietzsche

noch den Gottesbegriff verwendet.31 Für Emerson ist Gott the supreme power und er asso-

ziiert hier Kraft/Macht mit dem Topos der Natur. Nach Stack sind einige Hypothesen von

Nietzsches Willen zur Macht recht nahe an dieser Konzeption Emersons.32

Obschon das Motiv der Macht in der menschlichen Natur bereits von Platon oder Thomas

Hobbes angesprochen wird, ist Emerson als der erste Mentor von Macht als zentral in der

menschlichen Existenz und Motivation zu betrachten.33

Stack resümiert: „The evolution of the intellect adds a significant dimension to man’s „organic

power“. The intellect serves as a conscious means of continuing the unconscions organic ten-

dency towards growth. Throughout all of the nature there is an immanence of power and an im-

manent „spiritual“ nisus towards the attainment of power. Although he does not express it in pre-

cisely this way, it could be said that, for Emerson, in the evolution of consciousness in man this

natural striving for power comes to self-consciousness.” 34

Nietzsches Philosophie der Leiblichkeit – organisch und naturhaft – lässt sich somit als Fort-

setzung von Emersons Denken verstehen.

Beide Denker führen auch den Begriff der ‘blonden Bestie’ ein, den sie gegen den schwächli-

chen Mensch der Moderne stellen, ohne dabei eine Rousseau’sche Rückkehr zur Natur zu

fordern (Nietzsche formuliert ganz konkret, dass die Rückkehr zur Natur eine Rückkehr zu Bru-

talität und mutwilligem Blutvergießen wäre, was er ablehnt). Vielmehr fordern sowohl Emerson

als auch Nietzsche die surplus energy des Naturmannes (der ‘Bestie’ also) in den modernen

Menschen zu infusionieren und somit eine Synthese aus ‘primitiver’ Energie und überströmen-

der Vitalität mit Intelligenz, Wissen und Selbstkontrolle zu erreichen.35 Tatsächlich hat (bei aller

Wertschätzung der Natur) Emerson eine pessimistisch-realistische Auffassung von der- selben,

wie er im Essay Fatum darlegt: „Wir müssen sehen, daß die Welt rauh und grimmig ist, und

30Stack, S. 13ff.31An anderer Stelle äußert Stack ganz richtig, dass Nietzsche Gott in folgenden Punkten verneint: als moralischenRichter, als Schöpfer des Universums aus dem Nichts, als Figuration in jüdisch-christlicher Form; indes sei dieIdee von Gott nicht vollkommen aus Nietzsches Gedanken ausgeschlossen, so wenn er Gott als den Moment derKulmination und höchsten Punkt der Macht begreife. – Ebd., S. 159.32Ebd., S. 142. – Im Weiteren verweist Stack darauf, dass Nietzsche diese Konzeption freilich auch in Anlehnungan Schopenhauer ausformuliert, welcher die Macht des Willens in Natur und Mensch ebenso wie Emerson akzen-tuiert (sie allerdings parallel zu asiatischer Philosophie als Grund des Leidens versteht und so ein Aufgeben desWillens postuliert). – Ebd., S. 153.33Ebd., S. 156.34Zit. nach: ebd., S. 157.35Ebd., S. 159f. Der Bezug auf das moderne Selbst wohnt auch dem Kraftbegriff Emersons an sich inne, wasdeutlich wird, wenn er sagt:„Nur wenn der Mensch alle fremde Hilfe von sich weist und auf eigenen Füßen steht, sehe ich ihn stark sein undden Sieg davontragen. [...] Wer weiß, daß die Kraft angeboren ist, [...], wer dies begreift und sich ohne Zögernauf sein Denken wirft, der richtet sich wieder auf, steht aufrecht da, beherrscht seine Glieder, wirkt Wunder; [...].So benutze alles, was Schicksal genannt wird. Die meisten Menschen spielen damit und gewinnen alles und ver-lieren alles, so wie sein Rad sich dreht. Aber du lasse von diesem Gewinn als etwas Ungesetzlichem ab, undgehe um mit Ursache und Wirkung, den Kanzlern Gottes. Im Willen wirke und erwerbe [...].“ ‒ Zit. nach: Emer-son, Essays I, S. 72f.

Page 6: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

6

daß ihr gar nichts daran gelegen ist, einen Mann oder ein Weib zu ersäufen, daß sie Schiffe

verschlingt wie Staubkörner. Die rücksichtslose Kälte macht das Blut erstarren und betäubt die

Glieder und läßt einen Menschen erfrieren, wie einen Apfel.” 36

Andererseits hat sich der Mensch – für Emerson wie für Nietzsche – die Rauheit der Natur zu

eigen zu machen, so heißt es in The Conduct of Life:

„Der wahre Gebrauch des Fatums ist der, unsere eigene Lebensführung bis zur Erhabenheit der

Natur zu steigern. Die Elemente sind rauh und unbezwinglich, außer für sich selbst. So soll der

Mensch sein.” 37

Beiden Denkern geht es um eine Synthese, in die die Naturhaftigkeit einbezogen wird. Für den

Amerikaner kommt diese Synthese durch die Natur einerseits, den kulturellen Schönheitssinn

andererseits zustande, dabei favorisiert er ebenso wie der Deutsche das archaische, vorklassi-

sche Griechentum als Ausdruck der Kultur.38 Aber Träger der ‘Kraft’ ist beispielsweise auch, wie

Emerson mit einer Goethe-Zitierung herausstellt, ein anderer Fixstern Nietzsches: „„Napoleon,“

sagt Goethe, „besuchte die Pestkranken, um zu beweisen, daß ein Mensch, der die Furcht be-

siegen kann, auch die Pest besiegen kann; und er hatte recht. Es ist unglaublich, welche Kraft

der Wille in solchen Fällen hat: er durchdringt den Körper und versetzt ihn in einen Zustand der

Aktivität, der alle schädlichen Einflüsse abhält; während Furcht sie herbeiruft.“” 39

Zur Freisetzung der Kraft beruft sich Emerson auch auf ein recht herkömmliches ‘durch

Schwäche zur Stärke’,40 à la dem antiken per aspera ad astra. Bei Nietzsche finden sich dito

Variationen zum Topos, wobei der Philosoph freilich der Leidensmetaphysik an sich abschwört.

Emerson nun hat zudem die Anschauung, dass das Leiden & Ringen letztlich illusionär sei,

„[d]enn es ist nur das Endliche, das ringt und leidet; das Unendliche liegt da in lächelnder

Ruhe.” 41

Dass die ‘Kraft’ selbst für Emerson das Absolute ist, umreißt eine Textpassage aus The Con-

duct of Life prägnant:

„Es giebt ein Prinzip, das die Basis aller Dinge ist, das alle Worte zu sagen und alle Handlungen

zu entwickeln streben, eine einfache, stille, nie beschriebene und unbeschreibliche Gegenwart,

– ein Ding, das höchst friedlich in uns weilt, eben weil es unser rechtmäßiger Herr ist, ein

Gefühl, das uns sagt: unser ist es nicht, zu thun, sondern thun zu lassen; nicht zu wirken, son-

dern die Kraft in uns wirken zu lassen; und mit diesem Gottesdienste sind alle denkenden und

gerechten Menschen aller Zeiten und aller Zustände einverstanden. Dieses Gefühl erzeugt un-

geheure und plötzliche Erhöhungen unserer Kraft.” 42

36Zit. nach: Ralph Waldo Emerson, ‘Lebensführung’, Minden 1902, S. 4.37Zit. nach: ebd., S. 20.38Im Power-Essay aus The Conduct of Life heißt es so: „Der große Moment in der Geschichte tritt ein, wenn derWilde gerade aufhört ein Wilder zu sein, und seine ganze zottige, pelasgische Kraft seinem sich eben erschlie-ßenden Schönheitssinn gehorsam wird: – dann ersteht ein Perikles, ein Phidias – ein Schönheitssinn, der nochnicht korinthischer Weichlichkeit entartet ist. Alles Gute in der Natur und in der Welt liegt in diesem Augenblickdes Übergangs, wenn die schwärzlichen Säfte noch üppig aus den Quellen der Natur strömen, aber ihre Herbheitund Säure durch Menschlichkeit und hohe Ethik eliminiert ist.“ – Zit. nach: ebd., S. 60.39Zit. nach: ebd., S. 194; Emerson bezieht sich hier auf eine Passage aus Eckermanns Aufzeichnungen (vgl. Jo-hann Peter Eckermann, ‘Gespräche mit Goethe in den Letzten Jahren seines Lebens: 1823-1832’, Bd. 2, Leipzig1836, S. 114); tatsächlich endet die Goethe-Zitierung mit „er hatte recht“; der folgende Satz ist von Emerson.40Emerson, Essays I, S. 94ff.41Zit. nach: ebd., S. 105.42Zit. nach: Emerson, Lebensführung, S. 177. ‒ Freilich ist diese quasi-taoistische Lehre vom ‘Nicht-Tun’ nicht mitEmersons andernorts postulierten Arbeitsideologie in Einklang zu bringen.

Page 7: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

7

Ausdruck findet nach Emerson die ektstatische Kraft im Mystiker, wie er im Swedenborg-Kapi-

tel von Repräsentanten der Menschheit ausführt:

„Dieser Pfad ist schwierig, unwegsam und mit Gefahren verbunden. Die Alten nannten ihn

Ekstase oder Abwesenheitszustand – gewissermaßen ein Heraustreten aus dem Körper, um zu

denken. die Geschichte aller Religionen enthält Verzückungen heiliger Menschen – eine

Glückseligkeit ohne Anzeichen von Freude, Ernst, Verlassenheit oder Trauer. Plotinus nennt es

»die Flucht des Einsamen in die Einsamkeit«. Mυεσις, das Schließen der Augen, woher auch

unser Wort Mystik stammt.[...] Aber ebenso rasch denken wir an die krankhaften Begleiterschei-

nungen dieses Zustands. Die Glückseligkeit beginnt mit Schrecken und trifft die Seele mit harten

Erschütterungen. »Sie überfordert den Erdenkloß Mensch«, treibt ihn zum Wahnsinn oder gibt

ihm eine gewisse leidenschaftliche Neigung zu dem, was sein Urteil trübt: In den wichtigsten

Beispielen religiöser Erleuchtung ist immer auch etwas Krankhaftes, trotz der offensichtlichen

Steigerung geistiger Kraft.” 43

Die Erwähnung eines ‘Wahnsinns’ ist hier nicht im übertragenen Sinne gemeint. An anderer

Stelle schreibt Emerson ganz konkret: „Immer hat eine bestimmte Neigung zum Wahnsinn die

Öffnung des religiösen Sinnes im Menschen begleitet, [...].“44 Der Transzendentalist rekurriert

an dieser Textstelle sowohl auf die Erweckungsbewegungen (Quäker, mär ische Brüder,

Quietisten, Neu-Jerusalem-Kirche, Methodisten), als auch auf die Erfahrungen des Sokrates,

des Plotin, des Porpyrios, des Paulus, des Jakob Böhme, des George Fox und des Emanuel

Swedenborg.45

Hervorragendes Beispiel des ekstatischen Mystikers der neueren Zeit ist für Emerson Letzterer,

der ihn sichtlich fasziniert. Faszination also statt Kant’scher Polemik gegen den ‘Geisterseher’

Swedenborg; wobei Emerson im Laufe seines Essays durchaus auch Kritik an dem schwedi-

schen Mystiker übt. – Zu allererst aber ist Swedenborg für Emerson Ausdruck von Kraft und

Ekstase, was allerdings auch rassenideologisch begründet wird („Kühnheit und Kraft des wildes-

ten Wikingers, den sein rauhes Schweden je in eine Schlacht gesandt hatte” 46).

Dass der Kraftbegriff von Emerson an eine ‘nordische Rasse’ gekoppelt wird, ist kein Einzelfall

in seinen Schriften; so formuliert er z.B. im Vokabular der germanischen Mythologie: „[...] laßt

uns wenigstens unseren Versuchungen widerstehen; laßt uns in den Kriegszustand eintreten

und Thor und Wotan, Mut und Standhaftigkeit in unserer Sachsenbrust erwecken.” 47

In Emersons Essay-Sammlung zur Lebensführung wird verschiedentlich auf den Topos der

‘Rasse’ eingegangen, so heißt es dort gleich zu Beginn des ersten Essays über das ‘Menschen-

material’, welches in den Schulen vorgefunden werde: „Aber Knaben und Mädchen sind nicht

bildsam; es läßt sich nichts aus ihnen machen. Wir schließen, daß sie nicht von guter Rasse

sind.” 48 Karl Federn bemerkt in einem Vorwort, dass für Emersons Kraftbegriff in erster Linie

43Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 86f.44Zit. nach: Emersons, Essays I, S. 219.45Ebd., S. 219.46Zit. nach: ebd., S. 95.47Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 61.48Zit. nach: Emerson, Lebensführung, S. 2.

Page 8: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

8

„die Natur, die eherene Bestimmung, die Rassenanlage, die erbliche Disposition“ eine Grenze

bilden. Andererseits besteht diese ‘rassische’ Grenze für die ‘großen Menschen’ nicht.49

So wie Nietzsche die Dekadenz seiner Zeit als Folie seiner Philosophie verwendet, konstatiert

auch Emerson eine verweichlichte Epoche, die zunächst eine schlechte Voraussetzung für eine

Entwicklung der Kraft sei. Angesichts der Verweichlichung werde die Freisetzung der Kraft indes

umso mehr evoziert.50

Mögen die Verweise auf den erleuchteten Mystiker und auf die ‘nordische Rasse’, denen eine

allgemeine Degeneration gegenübergestellt wird, die Mutmaßung hervorrufen, dass nur aus-

gewählten Menschen die Emerson’sche Kraft zukommt resp. ‘zusteht’, so steht dem eine (zu-

mindest formulierte51) Allgemeingültigkeit entgegen: „Jeder Mensch hat diesen Ruf der Kraft,

etwas Einzigartiges zu tun.” 52

‘Kraft’ meint in diesem Kontext auch ‘Berufung’ resp. die Erkenntnis der Berufung:

„Die gewöhnliche Erfahrung zeigt, daß der Mensch sich, so gut er kann, den üblichen Einzel-

heiten der Arbeit oder des Geschäfts, in das er hineinfällt, anpaßt, und es betreibt wie ein Hund,

der einen Bratspieß dreht. Dann ist er ein Teil der Maschine, die er in Bewegung setzt; der

Mensch ist verloren. Bis es ihm gelingt, sich anderen in seiner vollen Größe und Proportion mit-

zuteilen, findet er nicht seine Berufung.” 53

Damit wird deutlich, dass auch die mystische, ekstatische Kraft grundsätzlich jedem offensteht.

Anschaulich wird dies, wenn Emerson power in Begriffen umschreibt, die nicht von einer Ex-

klusivität geprägt, sondern für jedermann nachvollziehbar sind: Power ist die jugendliche Lei-

denschaft, ist wie ein Verlieben.54 Diese Leidenschaft verhilft laut Emerson dem Menschen zu

seiner Evolution, wobei bei der Explikation auch der Passus der ‘neuen Wahrnehmung’ verwen-

det wird: „Er ist ein neuer Mensch, mit neuen Wahrnehmungen und eifrigen Vorsätzen und einer

religiösen Feierlichkeit des Charakters und seiner Ziele. Er gehört nicht länger seiner Familie

und der Gesellschaft an; Er ist etwas. Er ist eine Person, Er ist Seele.” 55

Wie schon erwähnt, gründet Emersons Begriff der Kraft in starkem Maße in Leiblichkeit und Na-

turhaftigkeit. Stack vollzieht dazu den Abgleich mit Nietzsche und schreibt: „In the progression

of their thought both Emerson and Nietzsche follow a path of nature-mysticism that leads far

beyond the human, all-too-human world, that leads to a Promethean emulation of a divine vision

of creative and destructive cosmos. Both have their feet firmly planted on the ground of nature

and both pro- pound a deliberately paradoxical existential mysticism.” 56

Die ‘Kraft’ beschreibt Emerson auch als ‘Wille’, der Mensch sei Wille – Emerson antizipiert da-

mit Nietzsches Umwendung des fatalistischen Willensbegriffs Schopenhauers hin zum Willen als

bejahendes Lebensprinzip; in The Conduct of Life heißt es: „Aber Erkenntnis ist nicht Wille, und

auch Liebe ist noch nicht Wille. [...] Beide Elemente müssen verschmolzen sein, um Willensen-

49Karl Federn, ‘Einleitung’ zu :Emerson, Lebensführung, S. Xf.50Emerson, Essays I, S. 63.51Dass von dieser Allgemeingültigkeit Abstriche zu machen sind, sei unten erläutert.52Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 112; anknüpfend an diesen Passus in dem Essay Spiritual Laws, verweistEmerson zudem eindrücklich darauf, dass es beim Zugang zur ‘Kraft’ nicht darum gehe, eine äußerliche Persön-lichkeit darzustellen. Auf die Person komme es gerade nicht an, sondern es gelte, „daß in allen Individuen einGeist ist, bei dem es kein Ansehen der Person gibt.“ – Ebd., S. 112.53Zit. nach: ebd., S. 113.54Ebd., S. 138f.55Zit. nach: ebd., S. 139.56Zit. nach: Stack, S- 198.

Page 9: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

9

ergie zu erzeugen. Die wahre treibende Kraft entsteht nur durch die Umwandlung des Men-

schen in seinen Willen, so daß er der Wille wird und der Wille er. [...] Das einzige ernst zu

nehmende und furchtbare Element in der Natur ist ein Menschenwille. Die Gesellschaft ist

sklavisch aus Mangel an Willen, [...].” 57

Ist an dieser Stelle lediglich vom Willen zu lesen, so ergibt durchaus eine Koppelung an die

Kraft oder Macht (power), welche ebenso als eigentliche Natur des Menschen beschrieben wird:

„Das Leben ist ein Verlangen nach Macht; [...]. Jeder Mensch [...] mag Ereignisse und Be-

sitztümer und den Odem seines Lebens ruhig fahren lassen, wenn er ihren Wert in der Form

von Macht sich zu eigen gemacht hat.” 58Die eigentliche Natur des Menschen verweist auf den

Topos der Natur bei Emerson, welcher auch mit dem Sein der ‘großen Men- schen’ zusammen-

zubringen ist.

Wurde oben bereits mit Stack auf das Substrat von Emersons Representative Men, der ‘großen

Männer’ also, hingewiesen, so ist ein vertiefender Blick in dieses Werk Emersons durchaus

lohnend. Schon der Emerson’sche Introduktionssatz verweist auf den Bezug zur conditio hu-

mana per se: „Es liegt in unserer Natur, an große Menschen zu glauben.” 59

Freilich meint Emerson große Männer, auch wenn es im Original zweideutig „believe in great

men” 60 heißt. An späterer Stelle wird geäußert: „Wir wollen ein starkes, männliches Leben

führen, [...].” 61 Darin liegt Emerson voll und ganz auf einer Linie mit Nietzsche, der ähnliche

Formulierungen verwendet.

Wohnt Emersons Stilisierung der ‘großen Männer’ die Problematik inne, dass er jene gegen

eine ‘dumpfe Masse’ stellt (vgl. unten), so wird am Anfang des Shakespeare-Essays eine an-

dere Perspektive gezeichnet. Die großen Männer würden sich nicht durch eine Verschiedenheit

vom Durchschnittsmenschen auszeichnen, sondern gerade dadurch, dass sie die Allgemein-

heit in sich aufnehmen würden:

„Der Held steht mitten im Gedränge der Ritter, im Brennpunkt der Ereignisse. [...] Das größte

Genie ist zugleich auch der sich am meisten verpflichtet fühlende Mensch. [...] Der Genius des

Lebens [...] läßt Größe des Individuums nur innerhalb der Allgemeinheit gelten. [...] [Der große

Mensch] befindet sich mitten im Strom der Gedanken und Ereignisse, die Ideen und Be-

dürfnisse seiner Zeitgenossen sind seine treibende Kraft. [...] Jeder Meister hat sein Material

vorgefunden, seine Stärke lag in der Übereinstimmung mit seinem Volk und in der Liebe zum

Material, das er bearbeitete. [...] Man könnte beinahe sagen, daß wirkliche Größe darin besteht,

überhaupt nicht originell, sondern rezeptiv zu sein, der Welt ihren Lauf zu lassen und lediglich

den Zeitgeist ungehindert auf sich einwirken zu lassen.” 62

57Zit. nach: Emerson, Lebensführung, S. 24f.58Zit. nach: ebd., S. 44f.59Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 9.60Zit. nach: Ralph Waldo Emerson, ‘Representative Men. Seven Lectures’, London 1850, S. 1.61Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 144.62Zit. nach: ebd., S. 173ff.

Page 10: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

10

Bezeichnend bei diesen Ausführungen ist, dass der große Mensch sowohl als schaffender

Künstler identifiziert wird, als auch dem Diesseits und der Materie (seinem Material63) verhaftet.

Darüber hinaus lässt sich hier ein Andenken der Synthese zwischen Allgemein- heit und Einzel-

heit erahnen.

Doch nicht nur die Größen der Historie zieht Emerson heran, sondern – wie sein Heroism-Es-

say zeigt64 – auch dramatische Helden. Der Heroismus-Begriff wird sowohl auf historische

Männer und mythologische Helden65, als auch Bühnenhelden bezogen; als Urvater des Helden

wird Plutarch66 gerühmt. Kernaspekt des Heroismus ist für Emerson das Kriegerische, das er

als notwendiges Mittel gegen die Dekadenz seiner Zeit versteht:

„Unsere Kultur darf daher die Bewaffnung des Menschen nicht versäumen. Laß ihn zu rechter

Zeit vernehmen, daß er im Kriegszustande geboren ist [...]. / [...] Dieser kriegerischen Seelen-

haltung geben wir den Namen Heroismus.” 67 Nietzsche wird analog den Krieg als Heilmittel be-

zeichnen, welches gegen die Mattigkeit der Völker einzusetzen sei.68

Für Emerson aber definiert sich der Held über seinen Willen („Der Held ist ein Geist von sol-

chem Gleichgewicht, daß keine Störung seinen Willen erschüttern kann, [...].“), durch eine ge-

wisse Egozentrik69 und als Tätiger – dessen Tat jenseits der Beurteilungen von Theologie oder

Ethik liegen würde – und (was ein überraschender Aspekt ist) durch ein Erheben über den

Körper. Bezüglich Letzterem wird konkret auf die plotinische Lehre verwiesen.70 Der Emer-

son’sche Heldensbegriff hat somit sowohl starke Ähnlichkeiten zu Nietzsches ‘Ideal’ (Willensbe-

griff, das ‘Jenseits’ der herrschenden Moral) als auch eine starke Differenz, die sich insb. in

der platonisch-plotinischen Abwendung vom Leib ausdrückt.

Zu Letzterem sei angemerkt, dass Emerson zwar einerseits eine gewisse Verachtung des

Körperlichen setzt,71 es würde aber zu weit gehen, von einer expliziten Leibfeindlichkeit zu

63Wobei hier schlechterdings der problematische Topos des ‘Menschenmaterials’ angesprochen wird. Auch pflegtEmerson eine ‘technische’ Auffassung vom Menschen, die sich in seine Auffassung vom ’Menschenmaterial’einfügt: „Der Mensch weiß kaum, wie sehr er eine Maschine ist, [...]. Ein Mensch soll vor einen Webstuhl tretenund es wagen, sich mit ihm zu vergleichen; Maschine steht dann vor Maschine, und wir wollen sehen, wer dabeibesser herauskommt.“ ‒ Zit. nach: Emerson, Lebensführung, S. 69. – Wobei anzufügen ist, dass zu Emersonsfortschrittsfanatischen Zeiten der Maschinenvergleich für den Menschen auch noch das höchste Lob sein kannund keine negative Konnotierung enthält.64Emerson, Essays I, S. 191ff.65Den mythologischen Helden deutet Emerson (recht modern) psychologisch aus, was mit seiner Ansicht korres-pondiert, dass ‘große Männer’ Ausdruck des universellen Genius seien, zu dem jeder Mensch Zugang erlangenkönne: „Die über das Natürliche hinausgehende Tapferkeit des Helden, das Geschenk ewiger Jugend und der-gleichen sind gleichermaßen das Bestreben des menschlichen Geistes, »den Schein der Dinge dem Verlangendes Geistes zu unterwerfen«.“‒ Zit. nach: ebd., S. 33.66Plutarchs biographischen Schriften werden auch als Heilmittel gegen die ‘politische Dekadenz’ des 19. Jahrhun-derts empfohlen: „Jede seiner ›Lebensbeschreibungen‹ ist eine Widerlegung der Mutlosigkeit und Feigheit unser-er religiösen und politischen Theoretiker. [...] Wir brauchen Bücher von solch herber, reinigender Tugend mehrals Bücher über politische Wissenschaft oder über private Wirtschaft. Nur dem Weisen ist das Leben ein Fest.[...]“ – Zit.nach: ebd., S. 194.67Zit. nach: ebd., S. 195.68MA II, S. 272.69Emerson beschreibt diese als negativ und hebt sie nicht etwa als ein bewunderswerten Aspekt hervor. Nichts-destotrotz solle die Egozentrik nicht den Gesamtblick auf den Helden verstellen: „Es liegt etwas Unphiloso-phisches im Heroismus, etwas, das nicht heilig ist; er scheint nicht zu wissen, daß andere Seelen die gleiche Be-schaffenheit haben; er hat ja Stolz; er ist das Extrem individueller Natur. Um nichts weniger müssen wir ihn abertief verehren.“ – Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 195.70Ebd., S. 195ff.71Er spricht hier von einer Beschämung angesichts des Körpers; im Original heißt es: „Heroism, like Plotinus, isalmost ashamed of its bo- dy.“ – Zit. nach: http://www.rwe.org/works/Essays-1st_Series_08_Heroism.htm(21.09.2010).

Page 11: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

11

sprechen, dagegen steht Emersons Partizipation an der Leibmetaphysik. Auch wenn an dieser

speziellen Stelle keinesfalls eine Kongruenz zu Nietzsches Philosophie des Leibes ausgemacht

werden kann, lässt sich am besten wohl von einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem

Körperlichen oder sogar einer Transzendenz des Körperlichen sprechen. Im Weiteren mag das

deutlicher werden, wenn Emerson sagt:

„Die Mäßigung des Helden geht aus dem selben Wunsche hervor, der Würde, die er hat, keine

Unehre zu machen. Aber er liebt sie wegen ihrer Feinheit und nicht wegen ihrer Strenge. Es

scheint ihm der Mühe nicht wert, feierlich zu sein und mit Bitterkeit den Fleischgenuß, das Wein-

trinken und die Benutzung von Tabak, Opium, Tee, Seide oder Gold öffentlich anzuprangern.

Ein großer Mensch weiß kaum wie er speist, wie er sich kleidet, und ohne Spott und ohne pein-

liche Genauigkeit ist sein Leben natürlich und poetisch.” 72

Emerson stellt sich hiermit in Opposition zu der im 19. Jahrhundert einsetzenden Diätetik-Be-

wegung (die später auch als Aspekt der Lebenskunst resp. Ästhetik der Existenz verstanden

wird). Schlussendlich vergisst Emerson aber auch nicht zu thematisieren, welchen Stellenwert

die Ästhetik des großen Mannes hat: „Die Leute können sich nicht sattsehen, sind entzückt von

ihm. Was für ein Kopf! Was für eine Erscheinung! Was für eine Stirn! Was für Augen! Schultern

hat der Mann wie ein Atlas, seine Haltung ist die eines Helden, in ihm lebt die Kraft, den großen

Mechanismus zu bewegen!” 73

Die ganz handfesten und auch ästhetisch konkretisierbaren ‘großen Männer’ stehen in engem

Zusammenhang mit dem philosophischen Topos vom ‘universellen Geist’, es sei eine obige Zi-

tierung wiederholt:

„Ein Geist ist allen individuellen Menschen eigen. Jeder Mensch hat Zugang zu demselben und

zu allen dieses Geistes. Wer einmal Zutritt zum Reich der Vernunft erlangt hat, wird ein Bürger

des ganzen Reiches. Was Platon gedacht hat, er kann es denken; was ein Heiliger gefühlt hat,

er kann es fühlen; was jemals Menschen zugekommen ist, er kann es verstehen. Wer zu die-

sem universellen Geist Zutritt hat, ist Teil alles dessen, was ist oder getan werden kann, denn

nur dieser ist das einzig und unumschränkte Wirkende.” 74

Die Anschauung besagt nicht nur, dass ein jeder Mensch potentiell an den großen Genien parti-

zipiere, sondern auch an kulturellen, geschichtlichen und politischen Prozessen;75 für den zur

Vernunft erwachten Menschen postuliert Emerson so:

72Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 198.73Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 21.74Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 11. ‒ In den Repräsentanten der Menschheit ist Emersons erstes Beispiel fürdie Beschaffenheit des universellen Genius Platon: In jenem sei nicht nur das Christentum, sondern auch die Mo-rallehre des Islam und anhand des Phaidon sogar der Calvinismus ausgedrückt ‒ Emerson, Repräsentanten, S.44. ‒ , es sei somit ein universeller Genius der sich in Platon, Christentum, muslimischer Moral oder Calvinismusmanifestiere. Bereits Platon selbst erkenne, was Emerson wie folgt formuliert: „Der Große lebt in mehrerenKörpern und schreibt oder malt oder handelt mit vielen Händen [...].“ ‒ Zit. nach: ebd., S. 45. ‒ Für das einzelneGenie – wie Platon – zieht Emerson folgerichtig einen Schluss, der erst in der Postmoderne (firmierend als ‘DerAutor ist tot’) allgemeine Geltung erlangen wird: „Große Genies haben die kürzesten Biographien. [...] Platos Bi-ographie ist eine innere.“ ‒ Zit. nach: ebd., S. 46f. ‒ Dennoch kennt Emersons Hochachtung vor der Person Pla-ton (und hierin wird ihm der späte Nietzsche bekanntlich nicht folgen) kaum Grenzen: Für ihn ist Platon Stifter ei-ner Synthese zwischen asiatischem, abstrakten Einheitsdenken und dem europäischen, individuellen schöpferi-schen Genius. ‒ Vgl. ebd., S. 54ff. – Und weiter bemerkt Emerson, worin Sokrates-Verachter Nietzsche noch we-niger folgt, dass Sokrates die Synthese des Platon noch übertreffe. – Vgl. ebd., S. 75.‒ Zudem drücke sich inPlaton die stete Aufwärtsbewegung des ‘höchsten Guten’ aus. ‒ Vgl. ebd., S. 70.75Ebd., S. 12.

Page 12: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

12

„Stelle dich vor ein jedes dieser Konzepte und sage: ›Hinter dieser Maske verbarg sich meine

Proteusnatur‹.” 76

Ebenso reflektiere die gegenwärtige Umwelt den universellen Genius.77 Als prädestiniert für die

Verbindung mit dem universellen Geist sei dabei der Künstler,78 der das Menschsein in seinem

vollen Potential ausdrücke: „Ein Mensch, der am richtigen Platz steht, ist schöpferisch, produk-

tiv, von magnetischer Anziehungskraft, flößt ganzen Armeen seinen Willen ein, und sie führen

ihn aus. [...] Der wahre Künstler macht den ganzen Erdball zu seinem Sockel; [...].” 79 Dieses

Zitat würde auch ein Nietzsche wortwörtlich unterschreiben.

Bei Emerson ist Sinn der Konnektion mit dem universellen Geist (den Nietzsche wohl eher als

universell Dionysisches oder Wille zur Macht bezeichnen würde) ‒ z.B. in seiner antiken Aus-

prägung ‒ kein nostalgischer Rückkehrgedanke, sondern die Synthese mit dem gegenwärtigen

universellen Genius: Nach Emerson verbinde sich so das ‘kindliche’ Griechentum mit der ‘er-

wachsenen’ Moderne auf fruchtbare Weise.80

Der geschichtliche Prozess wie die historischen großen Gestalten gleichermaßen werden so lei-

blich, organisch im gegenwärtigen Menschen: „Die Geschichte soll nicht länger ein langweiliges

Buch sein. Sie soll mit jedem gerechten und weisen Menschen zu Fleisch geworden einherge-

hen.” 81

Freilich gelte es für den Menschen zunächst die Verbindung zum Genius herzustellen – Emer-

son schlägt dafür ein kontemplatives Auffinden einer inneren Wahrheit, welche dem universellen

Genius entspreche, vor. Um das auszudrücken wird ebenso eine Lichtmetaphorik als auch der

Verweis auf das Kunstschaffen (in welchem der Genius sich manifestiere) herbeizitiert:

„Deinem eigenen Gedanken Glauben zu schenken, zu glauben, daß da, was für dein persön-

liches Herz wahr ist, für alle Menschen wahr ist, das ist Genius. Sprich deine verborgene

Überzeugung aus, und sie wird universell sein; [...]. [...] Der Mensch sollte lernen, jenes Lich-

terglimmen aufzufinden und zu beobachten, das seinen Geist von innen her überstrahlt, [...].

[...] In jedem Werk des Genius erkennen wir unsere eigenen zurückgestoßenen Gedanken

wieder: sie kommen zurück zu uns mit einer gewissen entfremdeten Majestät. Große Kunst-

werke enthalten keine ergreifender Lehre als eben diese.” 82

Der Mensch soll sich mit den kulturellen Hervorbringungen der Menschheit identifizieren, wo-

durch er erkenne, dass er (und hier wählt Emerson ein Motiv des Märchens zur Verdeutli-

chung) ein verwunschener Prinz sei, der sich seiner Prinzenhaftigkeit bis dato nicht bewusst

gewesen sei.83 Das Motiv kennt in anderen Terminologien selbstredend auch die spirituelle Tra-

dition: Der verlorene Sohne, der sich seiner Sohnschaft nicht bewusst sei; der Mensch, der

sich seines Buddhaseins nicht bewusst sei. ‒ Nach Emerson nun sei die Bewusstwerdung des

76Zit. nach: ebd., S. 12.77Ebd., S. 25.78Ebd., S. 20.79Zit. nach. Emerson, Repräsentanten, S. 13.80Ebd., S. 26f.81Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 36. – Das lässt Emerson im Weiteren zu einer Kritik der tatsächlichen Ge-schichtsschreibung kommen, die er als „seichtes Dorfgeschwätz“ bezeichnet. – Vgl. ebd., S. 37.82Zit. nach: ebd., S. 41.83Vgl. ebd., S. 53. – Polemisch sei angemerkt: Freilich wird hier nicht das Bild der schlafenden Prinzessin ver-wendet.

Page 13: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

13

tatsächlichen menschlichen Seins, die Kontaktaufnahme mit dem Genius, darüber hinaus ein

Bezug zu dem Göttlichen und ermögliche eine Realisation der eigenen menschlichen Größe,

auf dass der Mensch nicht ein „Minderjährige[r] und Invalide” 84 sei, sondern ein „Führer, Erlös-

er und Wohltäter“.85 Statt Sklavenmoral zu praktizieren, möge der Mensch sich also seines

Herrentums bewusst werden. ‒ Dabei argumentiert Emerson bzgl. des Gottesbegriffes durch-

aus ähnlich wie Feuerbach, auch wenn er nicht von der Gattung, sondern dem Geist oder Gen-

ius spricht: „Unser Gottesbegriff ist die geläuterte Form des menschlichen Geistes.” 86 Nicht ver-

gessen sei, dass sich für Emerson der geniale Geist in einer Schönheit, die seine Göttlichkeit

widerspiegelt, manifestiert.87

Mit der Relativierung des Gottesbegriffes klingt ein weiterer für Emerson zentraler Aspekt an:

die Dogmenlosigkeit. Jene wird in Repräsentanten der Menschheit hergeleitet von der Tat-

sache, dass „[j]eder Sachverhalt [...] zwei Seiten [habe], eine sinnliche und wahrnehmbare und

eine geistige. [...] Das ganze Leben ist ein solches Pfennigspiel: Kopf oder Zahl.” 88

Aus dem Dualismus der Welt aber ergibt sich für Emerson die Notwendigkeit, dass der Mensch

sich nicht auf eine einseitige Position festlege, sondern vielmehr abwäge: „Ich behaupte nichts,

und ich leugne nichts, sondern ich bin da, um den Fall zu un- tersuchen. Ich habe nur zu be-

trachten – σκεπτειν –, zu betrachten, wie die Sache sich verhält. Ich will versuchen, das

Gleichgewicht zu halten.” 89 Das menschliche Selbst ist so für Emerson Aufheber der Dualität-

en, während für Nietzsche das leibliche Selbst die Dualitäten zusammendenkt. ‒ Die Emer-

son’sche Position lässt sich auch mit dem Begriff der Skepsis umreißen und für den Amerikaner

ist Montaigne (den auch Nietzsche hoch schätzt) herausragen- der Vertreter derselben:90

„Montaigne suchte und hielt das Gleichgewicht. Über seinen Namen zeichnete er als Symbol

zwei Waagschalen und schrieb darunter Que sçais-je?” 91 Auch in seiner Stilistik kann Mon-

taigne als Vorbild des Undogmatischen zitiert werden. Emerson begreift das Montaigne’sche

Werk als schlichte Lebendigkeit: „Ich kenne kein Buch, das weniger Literatur ist. Es ist Um-

gangssprache, übertragen in ein Buch. Würde man diese Worte anschneiden, sie würden blut-

en, denn sie sind voll mit Blutgefäßen und Leben.” 92 Es sei daran erinnert, dass Nietzsche ein

Schreiben mit Blut postuliert.

Blut und Lebendigkeit verweisen bei beiden Denkern darauf, dass eine undogmatische Skepsis

dem menschlichen Sein (resp. Werden) entspricht; in einer schönen Metapher formuliert Emer-

son dies wie folgt: „Der Standpunkt des Skeptikers ist der Vorhof des Tempels.” 93

84Darin steckt freilich eine Abwertung von Minderjährigen und Invaliden.85Ebd., S. 42f.86Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 10f.87Emerson, Lebensführung, S. 253.88Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 135.89Zit. nach: ebd., S. 142.90Vgl. ebd., S. 143ff.91Zit. nach: ebd., S. 151.92Zit. nach: ebd., S. 152.93Zit. nach: ebd., S. 156.

Page 14: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

14

Wenn Emerson die Dogmenlosigkeit auch auf die conditio humana anwendet, antizipiert er dam-

it sowohl Nietzsches „der Mensch das noch nicht festgestellte Thier” 94 als auch die moderne

Anthropologie mit ihrer Feststellung des Menschen als offene Lebensform. – Emerson führt

aus, dass dem Menschen als unbestimmten Wesen eine ebenso flexible Philosophie ‒ die

sich, was Emerson nicht wissen kann, mit Nietzsche und seinen postmodernen Adepten reali-

sieren wird ‒ zukommen solle:

„Die Philosophie, die wir benötigen, muß fließend und beweglich sein. Das spartanische und

stoische System ist zu starr und steif für unseren Bedarf. Andererseits scheint die Lehre des hei-

ligen Johannes keinen Widerstand zu leisten, zu dünn und zu ätherisch. Wir brauchen ein Ge-

wand, gewoben aus elastischem Stahl, stark wie das eine System und geschmeidig wie das an-

dere. Wir brauchen ein Schiff, um auf den Wellen zu wohnen. Ein eckiges, dogmatisches Haus

würde in diesem Sturm der Elemente in Splitter und Trümmer zerreißen. Nein, es muß dicht

sein und der menschlichen Gestalt angepaßt, [...]. Anpassungsfähigkeit ist eine Eigenheit der

menschlichen Natur. Wir sind goldener Durchschnitt, schwankende Stabilitäten, ausgeglichene

oder immer wiederkehrende Irrtümer, Häuser, die im Meer stehen.” 95

Der Mensch hat sich also keiner Lehre oder keinem Dogma zu unterwerfen; brillant formuliert

Emerson das in folgendem Im-perativ: „Laß deine Theorie zurück, wie Joseph seinen Mantel bei

der Hure, und fliehe. “96

Z.B. in Calvin, den ersten Quäkern und in Swedenborg sieht Emerson eine Durchsetzung des

Undogmatischen, das von den späteren Nachfolgern indes wieder in einer Gesetzlichkeit zur Er-

starrung gebracht werde. 22297676767 Die geistige Offenheit der jeweiligen Menschen spielt dabei zudem

eine Rolle (Nietzsche formuliert analog, dass nicht jeder Mensch offen für den Tod Gottes sei),

wozu Emerson schreibt: „Sie bemerken noch nicht, daß das Licht ohne ein System, ungehindert

in jede Hütte, auch in die ihre, eindringen wird.” 98

Die Dogmenlosigkeit Emersons mündet darin, dass allein das ‘Gesetz des Bewusstseins’ Gel-

tung habe; es bleibt dem Interpreten überlassen, darin ein neues Dogma oder die Realisation

des Undogmatischen zu sehen. Emerson schreibt:

„Das Volk meint, deine Zurückweisung allgemeiner Regeln sei eine Zurückweisung aller Regeln

und grundsätzliche Gegnerschaft gegen Gesetz und Gesetzlichkeit; [...]. Aber das Gesetz des

Bewußtseins bleibt. [...] Und wahrlich, es muß etwas Gottähnliches in dem sein, der die allge-

meinen Motive der Menschheit abgeworfen hat und es gewagt hat, sich selbst als dem eigenen

Aufseher zu vertrauen. Groß sei sein Herz, treu sein Wille, klar sein Blick.” 99 Obgleich der Ter-

minologie des Bewusstsein-Gesetzes und des Aufsehers seiner selbst, sei diese Passage hier

als Ausdruck der Dogmenlosigkeit und als eine Antizipation von Nietzsches Selbstermächtigung

(und deren postmodernen Rezeption) verstanden. – Eingängig formuliert Emerson die moderne

Ermächtigung des eigenen Selbst zudem wie folgt „Beharre auf dir selbst; ahme niemals nach.”100

94Zit. nach: Friedrich Nietzsche, ‘Jenseits von Gut un Böse’, München 1999, S. 81.95Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 145f.96Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 40.97Emerson, Essays I, S. 66.98Zit. nach: ebd., S. 66.99Zit. nach. Emerson, Essays I, S. 62.100Zit. nach: ebd., S., S. 68.

Page 15: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

15

Ebenso wie Nietzsche nach ihm, fordert Emerson (hier, wie auch aufs Ganze gesehen) eine

Überwindung des Individualismus’. In diesem Zusammenhang postuliert er ein ‘Prinzip der Ver-

nunft’, das im (nicht zwingenden) Verständnis als eine ‘andere Vernunft’ mit Nietzsche einig ge-

hen kann:

„Aber der Größte ist für mich der, der sich selbst und alle Helden überflüssig macht, indem er

das Prinzip der Vernunft walten läßt, das nicht auf die Person schaut – diese subtile, unwider-

stehlich aufwärts treibende Kraft, die dem Individualismus unseres Denkens ein Ende setzt,

diese gewaltige Macht, die einen Herrscher zum Nichts werden läßt.” 101

Und an anderer Stelle heißt es: „Alles, was mit dem Individuum zusammenhängt, ist vorüberge-

hend und weist in die Zukunft, wie das Individuum selbst über seine Schranken hinweg ein um-

fassendes Dasein an- strebt.” 102

Mit dem Überindividuellen knüpft Emerson an vedisches Denken an; er zitiert so auch eine

Krishna zugeschriebene Aussage : „Die Worte ich und mein bedeuten Unwissenheit.” 103 An an-

derer Stelle heißt es kristallklar: „Solange wir noch ganz in der Einzelpersönlichkeit und dem

Einzelerlebnis untertauchen, können wir das Problem des Daseins nicht erkennen.” 104

Die Absage an die Individualität ist getragen von einer Dialektik des ‘Guten’ und des ‘Bösen’

resp. einer Ganzheitlichkeit der Dualismen. Emerson spricht hier von Kompensation und deutet

dieselbe als Göttlichkeit.105 Die Kompensationslehre Emersons geht von einer Verflochtenheit

der Dinge aus, und dass sich (gemäß dem Verständnis von Mikro- und Makrokosmos) alles in

allem spiegele – was letztlich die Allgegenwart des Absoluten sei, welches zudem mit den bes-

ten Absichten agiere:106

„Gerechtigkeit ist nicht aufgeschoben. Eine vollkommene Ausgewogenheit herrscht mit ihrem

Gleichgewicht in allen Teilen des Lebens. [...] Die Würfel Gottes fallen immer richtig.” 107

Sei im Weiteren auf Parallelen zu Nietzsches Denken gedeutet, so ist hier zu sagen, dass bei

Nietzsche freilich die Würfel des Zufalls fallen und dies zufällig.

Für den Menschen fordert Emerson im Weiteren, dass dieser nicht einseitig agiere, sondern –

wie die Welt in ihrer Ganzheitlichkeit – ausgewogen gemäß der Dialektik des ‘Guten’ und des

‘Bösen’.108 Wenn Emerson auf den letzten Seiten des Kompensation-Essays seine Anschauung

noch einmal explizit auf den Menschen und die menschlichen Seele (die tatsächlich eine

göttliche sei) bezieht, kommt er zu einer ähnlichen Formulierung wie Nietzsche mit dem ‘Heili-

gen Ja-Sagen’:

101Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 28.102Zit. nach: Ebd., S. 39.103Zit.nach: Ebd., S. 52.104Zit. nach: Ralph Waldo Emerson, ‘Essays: Reihe 2’, Jena 1904, S. 106.105Poetisch formuliert Emerson: „Es schien mir auch, daß darin [in der Kompensation, R.W.] den Menschen einStrahl des Göttlichen, das gegenseitige Wirken der Seele dieser Welt, frei von jeglicher Spur der Tradition, ge-zeigt werden könnte und so das Herz des Menschen eingetaucht sein könnte in die überfließende ewige Liebe,dadurch, daß er eintritt in ein Gespräch mit dem, von dem er weiß, daß es immer ge- wesen ist und immer seinmuß, da es jetzt wirklich ist.“ – Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 77.106Ebd., S. 82f.107Zit. nach: ebd., S.83.108Ebd., S. 84f.

Page 16: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

16

„Jedes Ding hat zwei Seiten, eine gute und eine schlechte. Jeder Vorteil hat seinen Preis. Ich

lerne zufrieden sein, aber die Lehre der Kompensation ist nicht die Lehre der Indifferenz. [...] /

Es liegt eine tiefere Tatsache in der Seele als die Kompensation, nämlich ihre eigene Natur.

Die Seele ist nicht eine Kompensation, sondern ein Leben. Die Seele ist. Unter diesem wo-

genden Meer der Umstände, deren Wasser in vollkommenem Gleichmaß ebben und fluten, liegt

der ursprüngliche Abgrund ihres wirklichen Seins. Die Essenz oder Gott ist nicht eine Bezie-

hung oder ein Teil, sondern das Ganze. Das Sein ist die gewaltige Bejahung, die die Vernei-

nung ausschließt, sich selbst im Gleichgewicht hält und alle Beziehungen, Teile und Zeiten in

sich aufnimmt.” 109 Das bezieht Emerson, ebenso wie Nietzsche auch auf das menschliche

Agieren: „In einer tugendhaften Handlung bin ich im eigentlichen Sinne; in einem tugendhaften

Akt füge ich der Welt etwas bei; ich pflanze in Wüsten, die dem Chaos und dem Nichts abge-

rungen sind, und sehe die Grenzen des Horizonts zurückweichen. Es kann für die Liebe kein

Übermaß geben; keines für die Erkenntnis; keines für die Schönheit, wenn diese Attribute im re-

insten Sinne betrachtet werden. Die Seele verweigert alle Grenzen und bejaht stets einen Op-

timismus, niemals einen Pessimismus.” 110 Zunächst mag man die Parallelität zu Nietzsche da-

durch verdeckt sehen, dass Emerson hier mit einem Tugendbegriff argumentiert; indes meint

Emerson eine ‘wahre Tugend’, nämlich die Aufrichtigkeit, welche auch immanenter Faktor in

Nietzsches Denken ist.111

Neben dem Begriff der Kompensation, der Zusammendenken und Relativierung von Mensch

und Welt gleichermaßen ist, verwendet Emerson auch den Terminus des Kreises resp. der inei-

nandergeschachtelten Kreise, welche den Kosmos bilden würden; damit aber wird eine Rela-

tivität des Seins formuliert, wie sie auch Nietzsche kennt. Mit kirchenväterlicher Herbeizitierung

schreibt Emerson:

„[Die Figur des Kreises] ist das höchste Emblem in der Geheimschrift der Welt. Der heilige Au-

gustinus beschreibt das Wesen Gottes in einem Kreis, dessen Mittelpunkt überall, und des-

sen Peripherie nirgends ist.” 112

Das ‘Wesen Gottes’ ist für Emerson freilich das Wesen des Universums. Dabei ist der Unend-

lichkeitsfaktor der sich umgebenden Kreise denkwürdig, der so kein starres System errichtet,

sondern vielmehr jeden ‘Kreis’ als vorübergehend und relativ setzt: Stets ein weiterer Kreis um-

gebe ihn.

Die ‘Kreishaftigkeit’ des Kosmos bezieht Emerson zudem auf den Menschen, der zwar der „ent-

fliehenden Vollkommenheit“ nicht habhaft werden könne, sie nicht festhalten könne, jedoch von

jener ständig zu Schöpfungen und Kreativität inspiriert werde.113 Für das Sein des Menschen

wird weiter konstatiert:

„Das Leben des Menschen ist ein sich selbst entwickelnder Kreis, der, ausgehend von einem

nicht wahrnehmbaren kleinen Kreis, nach allen Seiten hin neue und größere Kreise sich ohne

Ende ausdehnt. Die Ausdehnung, die diese Generation von Kreisen, Kreisrund vor Kreisrund,

109Zit. nach: ebd., S. 96f.110Zit. nach: ebd., S. 97.111Zum Begriff von honesty /Aufrichtigkeit bei Emerson und Nietzsche vgl. Stack, S. 10.112Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 233.113Ebd., S. 233.

Page 17: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

17

annimmt, hängt von der Kraft oder Wahrhaftigkeit der individuellen Seele ab. [...] Wenn die

Seele aber schnell und stark ist, durchbricht sie auf allen Seiten diese Begrenzungen und dehnt

auf der großen Tiefe einen weiteren Kreis aus, [...]” 114 Damit drückt Emerson deutliches über-

menschliches Potential des Bewusstseins aus, das gen Unendlichkeit tendiere. Eindeutig wird

so auch formuliert:

„Es gibt kein Außen, keine einschließende Mauer, keine Peripherie für uns.” 115

Die Offenheit, die sich so für den Menschen ergibt, hat durchaus proto-postmoderne Züge. Das

wird besonders deutlich, wenn Emerson schreibt: „Wenn wir an das Bewußtsein appelieren, gibt

es für den Menschen nichts Feststehendes.” 116

Das impliziert dito die Relativität des Wahrheitsbe- griffes,117 wie sie auch Nietzsche vorformu-

liert. Mit brillanter Klarheit bezieht Emerson die Relativität des Seins auch wider reaktionäre

Rückgewinnungsmodelle (sei es von vermeintlichem Urparadies oder iealer Antike), denn alles

befindet sich im Fließen: „Die griechische Skulptur ist völlig dahingeschmolzen, als habe sie nur

aus Eisstatuen bestanden, [...]. Denn der Genius, der sie schuf, schafft jetzt etwas anderes.”118

De(kon)struktion ist dabei ebenfalls ein Begriff, der auf Emerson zutrifft; von Brillianz zeugt

der Satz: „Gott erbaut seinen Tempel im Herzen, auf den Trümmern von Kirchen und Religio-

nen.” 119 Das De(kon)struieren der Religionen führt Emerson aus, indem er sie als „entweder

kindisch und bedeutungslos oder unmännlich und entnervend“ charakterisiert, und ihnen für die

„Übergangszeit“ des 19. Jahrhunderts jegliche Aktualität abspricht.120

Emersons Anschauuung eines fließenden ‘Ganzen’, das gleichsam ein Jenseits von dem ge-

wohnten Weltverständnis darstellt, führt auch zu einem neuen Schönheitsbegriff (dessen Konse-

quenz eine rein technische Kunstgeschichte übrigens obsolet werden lässt), nämlich einer

Ästhetik die auch ein ‘Jenseits’ erklärt:

„Die Statue ist dann schön, wenn sie anfängt, unverstehbar zu werden, wenn sie alle Kritik

übersteigt und nicht länger mit dem Zirkel und Meßstab bestimmt werden kann, sondern eine

tätige Vorstellungskraft verlangt, die mit ihr einhergeht und sagt, was sie im Akte des Tuns ist.

Der Gott oder der Held des Bildhauers wird stets in einem Übergang repräsentiert, von dem,

was den Sinnen dargestellt werden kann, zu dem, was nicht dargestellt werden kann.” 121

Besondere Aufmerksamkeit verdient hier der Begriff des ‘Übergangs’ – steht er doch erstens in

einem religiösen Kontext (von der Überquerung des Styx bis hin zum Übergang ins christliche

Jenseits), kann er doch zwei- tens in der Evolutionsbiologie seine Anwendung finden (die Ent-

114Zit. nach: ebd., S. 235.115Zit. nach: ebd., S. 235.116Zit. nach: ebd., S. 236.117Vgl. ebd., S. 239.118Zit. nach: ebd., S. 234.119Zit. nach: Emerson, Lebensführung, S. 169f.; vgl weiterführend auch ebd., S. 171.120Ebd., S. 172. – Im Weiteren geht Emerson darauf ein, dass die Übergangszeit zudem problematische religiöseTendenzen hervorbringt, wie „’Wiedererweckungen’, die Milleniumsberechnungen, die pomphaften Rituale, dieRückschritte zum Papsttum, das Gemurmel der Mormonen, die Unsauberkeiten des Mesmerismus, die Verrückt-heiten des Tischklopfens, die Ratten- und Mäuseoffenbarungen, Daumen in Tischladen und schwarze Magie.“ –Zit. nach: ebd., S. 173.121Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 141.

Page 18: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

18

wicklung, der Übergang von einer Art zu einer neuen) und antizipiert er doch drittens die

(post-)moderne Terminologie des ‘Überschreitens’.

Die künstlerische Schönheit ist bei Emerson nun eng mit des Menschens Schönheit verknüpft –

ist für den amerikanischen Transzendentalisten doch, wie im Weiteren über die Traditionslinie

Nietzsche-Foucault, der menschliche Existenzmodus mit dem Skulpturalen vergleichbar122 –

und so folgt nach der Explikation über die Schönheit der Statue auch sofort der Bezug auf den

Menschen:

„Ebenso ist persönliche Schönheit erst dann bezaubernd und ganz sie selbst, wenn sie uns mit

jedem Ziele unbefriedigt läßt; wenn sie eine Geschichte ohne Ende wird; wenn sie uns Strahlen

und Visionen eingibt und nicht irdische Befriedigungen; wenn sie den Betrachter seine Un-

würdigkeit empfinden läßt; wenn er fühlt, daß er kein Recht an ihr hat, und wäre er auch Cäsar;

er kann nicht mehr Recht auf sie empfinden als auf das Firmament und die Pracht eines Son-

nen-aufganges. / Daher entstand das Wort: »Und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?«

Wir sagen das, weil wir fühlen, daß dasjenige, was wir lieben, nicht in deinem Willen liegt, son-

dern über ihm. Nicht du selbst bist es, sondern dein Strahlenglanz.” 123

Kurzum: Hier wird ein Schönheitsbegriff für den Menschen vorgelegt, der jenseits von Schönheit

und Hässlichkeit angesiedelt ist, der göttlich oder übermenschlich ist und auf den die indivdiuelle

Person kein Besitz- oder Urheberrecht hat. Gleichsam gilt der hier vorgelegte Begriff in starkem

Maße nicht nur für eine optische Ästhetik, sondern auch eine moralische Ästhetik – oder die

Schönheit der Seele.124

Ein anderer Topos, an dem sich ein ‘Jenseits des Konventionellen’ bei Emerson ausdrückt, ist

der der Freundschaft. Schlechterdings an das romantische Freundschaftssujet anknüpfend, wird

gleichzeitig damit eine Philosophie des Paradoxen vorbereitet, die von Nietzsche bis ins 21.

Jahrhundert ihre Berechtigung hat: „

Mein Freund gönnt mir eine Aufnahme, ohne von meiner Seite irgendeine Bedingung zu for-

dern. Daher ist ein Freund eine Art Paradoxie in der Natur.[...] [...]; so daß ein Freund

sehr wohl als das Meisterstück der Natur angesehen werden kann.” 125

Zudem schreibt Emerson die Freundschaft in einen paradox-dialektischen Prozess ein, der von

einem Entgegenstreben zu einem ‘Höheren’ ausgeht:

„Laßt uns sogar unseren liebsten Freunden Lebewohl wünschen und ihnen trotzen, indem wir

sagen: ›Wer seid ihr? Laßt mich los! Nicht länger mehr will ich abhängig sein.‹ Ah! siehst du

denn nicht, mein Bruder, daß wir uns so nur trennen, um uns auf höherer Stufe wiederzusehen

und um einander mehr zu sein, weil wir mehr wir selbst sind. Ein Freund ist ein Januskopf: er

122Vgl. Stack, S. 315.123Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 141.124Mit deutlichem Platon-Bezug schreibt Emerson anschließend an den zitierten Abschnitt über jene ‘hoheSchönheitsphilosophie’, die die optische Schönheit als Abglanz der Seelenschönheit versteht. – Vgl. ebd., S. 142.125Zit. nach: ebd., S. 160f. – Darüber hinaus hat der Emerson’sche Freundschaftsbegriff aber auch, unter anderenKomplexen, die Dimension der olympischen Disziplin (analog zu Sloterdijks 2009 vorgelegtem – freilich weiter ge-fassten – Athletik-Begriff): „Wer sich selbst als Bewerber für jenes Bündnis anbietet, tritt wie ein Olympier die gro-ßen Spiele an, in denen die Erstgeborenen der Welt die Wettstreiter sind. Er setzt sich bei Wettkämpfen ein, wodie Zeit, die Not und die Gefahr auf den Listen stehen, und nur der allein ist Sieger, der in seiner Wesensbeschaf-fenheit ausreichend Wahrheit hat, um die Zartheit seiner Schönheit vor dem Verschleiß all dieser zu schützen.“ –Zit. nach: ebd., S. 159.

Page 19: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

19

blickt in die Vergangenheit und in die Zukunft. Er ist das Kind all meiner vorausgegangenen

Stunden, der Prophet aller die da kommen werden und der Vorläufer eines größeren

Freundes.“126 Dito Nietzsche wird die Freundschaft als in ihrer Tiefe paradox ausmalen: „Man

soll in seinem Freunde noch den Feind ehren.” 127

Was Emerson problematisch macht, sind seine bisweiligen Äußerungen, die von einer Verach-

tung des Volkes gekennzeichnet sind und seine Ausführungen so – im typisch ‘liberalen’ Sinne,

der die Liberalität nur dem ‘ehrbaren’ Bürger zukommen lässt128, was zuweilen auch Nietzsche

vorgeworfen wird – allein für eine gehobene Schicht gelten zu lassen scheinen. Aber es lässt

sich bei Emerson auch eine Schnittstelle zwischen erkennendem dialektischem Verständnis

und Abwertung eines ‘Niederen’ ausdeuten. So werden in einer Textpassage im Power-Essay

einerseits Aspekte als ‘böse’ gebrandmarkt, sie aber dennoch akzeptiert:

„[...] daß alle Arten von Kräften in der Regel gleichzeitig auftreten, die guten Energien, wie die

bösen, die Kraft des Geistes und die physische Gesundheit, die Exstatsen der Frömmigkeit und

die entsetzlichsten Ausschweifungen.” 129

Ebenso fügen sich die folgenden Äußerungen ins Bild: „Es ist eine Geheimlehre der Gesell-

schaft, daß ein bißchen Schlechtigkeit gut für die Muskulatur ist [...]“ , und dass „[...] in allen

Giften auch eine Heilkraft steckt, [...].” 130

Problematischer ist es, wenn es heißt: „Der Pöbel ist eine Gesellschaft solcher, die sich freiwillig

der Vernunft berauben und ihr Werk durchkreuzen. Der Pöbel ist ein Mensch, der freiwillig zur

Natur des Tieres herabsteigt.” 131Oder: „Große Bevölkerungsmassen von lauter Nichtsnutzen je-

doch sind etwas Widerliches, wie zerfließender Käse oder Haufen von Ameisen oder Flöhen –

je mehr davon, desto schlimmer.” 132

An anderen Stellen steht bei Emerson indes der Verachtung der Masse eine sinnige Ableh-

nung des Herdenbegriffes und die Wertschätzung eines jeden Menschen gegenüber;133 und zu-

dem ein allgemeingültiger Humanitätsbegriff wird in einer Textpassage formuliert („Alle Men-

schen sind von meinem Blute und ich von ihrem.” 134).

Aufs Ganze gesehen ist Emerson jedoch oft in einem ausgeprägten Klassendenken befangen:

In typisch liberaler Manier wendet er sich gegen Wohlfahrt und Volksbildung, auch wenn er das

mit einer z.T. nachvollziehbaren Begründung tut: dass mit diesen Maßnahmen allein die bürger-

126Zit. nach: ebd., S. 168.127Zi. nach: Z, S. 70.128Sehr schön ist diese Tradition, in die Emerson gestellt werden kann, aufgezeigt worden in: Domenico Losurdo,‘Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus’, Köln 2011.129Zit. nach: Emerson, Lebensführung, S. 54.130Zit. nach: ebd., S. 56.131Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 96.132Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 10.133So z.B.: „Wir reden von einer großen Masse, von den gewöhnlichen Leuten – es gibt keine gewöhnliche Leute.Jeder Mensch hat im Grun- de eine gewisse Größe. Und wahre Kunst ist nur denkbar durch die Überzeugung,daß jedes Talent einmal seine Anerkennung finden wird.” – Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 36.134Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 60.

Page 20: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

20

liche Tugend gesichert werden solle.135 Zudem wird von dem Amerikaner ein proto-sozialdarwi-

nistisches ‘Überleben des Stärkeren’ aufgestellt, was damit illustriert wird, dass schwarze

Slaven („eine Rotte Neger“), wenn sie denn den Charakter eines Washington hätten, sich selbst

von ihren Ketten befreien würden.136 Und selbst Emersons naturmystischen Betrachtungen sind

von Klassendenken befangen, wenn von den natürlichen „Söhne[n] hohen Adels“ und den „Aris-

tokraten der Natur“ gesprochen wird.137 Man mag hier wie bei Nietzsche argumentieren, dass

(über Nietzsche wie Emerson hinaus) nichts dagegen spricht, jenes Aristokratentum jedem zu-

zusprechen.

Indes, wenn Emerson Napoleon seinen Tribut erweist, lässt sich daran wiederum das Liberalis-

mus-Problem eruieren. Zwar versteht Emerson Napoleon als einen Träger der Allgemeinheit,138

indes handelt es sich hier nur um eine begrenzte Allgemeinheit, nämlich das kapitalistische

Bürgertum:

„[Diese Klasse] fordert den allen offenen Weg des freien Wettbewerbs und die Erweiterung der

Chancen: Es ist die Klasse der Geschäftsleute Amerikas, Englands, Frankreichs, ganz Europas,

die Klasse der Fleißigen und Könner. Napoleon ist ihr Repräsentant. Der Instinkt der aktiven,

mutigen und fähigen Angehörigen der Mittelklasse der ganzen Welt hat Napoleon als Verkörper-

ung des Demokratischen erkannt. [...] Alle geistigen und seelischen Kräf- te werden dem Ziel

des materiellen Erfolgs untergeordnet. Das Ziel ist reich zu werden.” 139

Auch im Wealth-Kapitel von The Conduct of Life propagiert Emerson eine kapitalistische Arbeits-

und Reichtumsideologie: „Die Gesellschaft bleibt barbarisch, solange nicht jeder thätige Mensch

ohne unehrliche Praktiken seinen Unterhalt zu schaffen vermag. / Jeder Mensch ist ein Konsu-

ment und sollte ein Produzent sein.” 140

Des Weiteren widerspricht der Amerikaner hier der Idee der Besitzlosigkeit, und favorisiert die

Ausbeutungspraxis: „[...] die Philosophen haben die Größe des Menschen darin sehen wollen,

daß er seine Bedürfnisse verringert; aber wird sich ein Mensch mit einer Hütte und einer Hand-

voll trockener Erbsen zufrieden geben? Er ist geboren, reich zu sein. [...] bis er sein Wohlsein

135Vgl. ebd., S. 46f. ‒ Emerson geht zudem davon aus, dass die angenommene Dekadenz des 19. Jahrhundertsmit einer (ideologisch heiklen) Kombination aus Erbsünde- und Degenerationsidee erklärbar sei: „Die Verletzun-gen der Naturgesetze durch unsere Vorgänger und Zeitgenossen finden auch in uns ihre Bestrafung. Krankheitund Ungestaltetheit, die uns umgeben, beweisen den Bruch von natürlichen, intellektuellen und moralischen Ge-setzen, [...]; Krieg, Pest, Cholera, Hungersnot zeigen eine gewisse Grausamkeit in der Natur an, die, da sie Ein-zug hielt durch menschliche Verbrechen, ihren Ausgang durch menschliches Leiden nehmen muß.“ ‒ Zit. nach:ebd., S. S. 194f.136Emerson, Essays II, S. 170f.137Ebd., S. 230.138Emerson kommt zu diesem Schluss über Swedenborgs Lehre: „Nach Swedenborgs Theorie setzt sich jeder Or-ganismus aus gleichartigen Einzelteilen zusammen [...]. Wenn es einen Menschen gibt, der die Kraft und Neigun-gen so vieler verkörpert, wenn Napoleon Frankreich ist, dann nur, weil die Völker, die er beherrscht, lauter kleineNapoleons sind.“ – Zit. nach: Emerson, Repräsentanten, S. 205.139Zit. nach: ebd., S. 206.140Zit. nach: Emerson, Lebensführung, S. 71f. – Indes unterscheidet sich Emersons Postulat von der kapitalisti-schen Doktrin dadurch, dass der Reichtum nicht durch die schlichte Leistungsideologie, sondern durch die Geist-Natur-Synthese zustande komme. – Vgl. ebd., S. 72. – An anderer Stelle dient die Arbeitsideologie auch dazu,den spirituellen Inhalt von der ‘Überwindung’ auszudrücken und eine Schaffensphilosophie (wie von Nietzscheausformuliert) in der Stilistik des american way auszudrücken: „Der Weg, den fremden Handwerker zu überwin-den, ist nicht der, ihn zu töten, sondern sein Werk zu schlagen. Und die Krystallpaläste und Welt-Ausstellungenmit ihren Komitees und Preisen für alle Arten der Industrie sind Ausdruck dieses Gefühls. Der amerikanische Ar-beiter, der zehn Schläge mit seinem Hammer führt, während der fremde Arbeiter nur einen schlägt, ringt diesenFremden ebenso thatsächlich nieder, als ob die Schläge gegen seine Person geführt wären.“– Zit. nach: ebd., S. 188.

Page 21: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

21

im Gebrauch des ganzen Planeten und mehr Planeten als seines eigenen findet. [...] Der reiche

Mann ist der, der sich die Fähigkeiten aller anderen zu nutze machen kann. Der Reichste ist

der, der aus der Arbeit der größten Zahl von Menschen Nutzen zu ziehen weiß, [...].” 141

Für die nächsten tausend Jahre prophezeit Emerson in diesem Zusammenhang den (An-

gel-)Sachsen die Position jener ausbeutenden, reichen ‘Rasse’.142 Dabei spricht sich der Ameri-

kaner allerdings dafür aus, dass die Allgemeinheit von dem Reichtum profitiere und verweist

auf eine freie Zugänglichkeit des kulturellen Wissens in Museen wie dem Louvre oder dem Briti-

schen Museum, dem Jardin des Plantes, in naturwissenschaftlichen Akademie und in Biblio-

theken. Hier nun verweist Emerson gar im positiven Sinne auf den Sozialismus:

„Der Sozialismus unserer Tage hat uns gute Dienste gethan, indem er die Menschen anregte,

darüber nachzudenken, wie gewisse Vorteile und Wohlthaten der Kultur, deren sich jetzt nur die

Wohlhabenden erfreuen können, allen zugänglich gemacht werden; wie man z.B. jedem Men-

schen den Zugang zur Wissenschaft und zu den Künsten öffnen könnte.” 143

Es sei dahingestellt ob Emerson damit (zumindest augenblicksweise) die Abwertung der gesell-

schaftlich Schwachen zurücknimmt, oder ob es hier allein um die Freiheit und den Wohlstand

des Bürgertums geht.

Die Napoleon-Projektion aber erweist sich als liberal par excellence, wenn Emerson hier die

Ablehnung revolutionär-radikaler Ideen und keinerlei Behinderung durch Mitleidsgefühle aus-

macht.144 Letzteres geht freilich zu Lasten der Humanität – was Emerson, selbst Liberaler,

freilich nicht erkennt. Was sich für uns als Menschenverachtung liest, ist für Emerson zu- nächst

höchste Wertschätzung:

„Napoleon verzichtete ein für allemal auf Gefühle und Gefühlsäußerungen und verließ sich nur

auf seine Hände und auf seinen Kopf. [...] Seine Arbeitsmaterialien sind Erz, Eisen, Holz, Erde,

sind Straßen, Gebäude, Geld und Truppen [...].” 145

Nicht der Tatsache, dass Napoleon Vertreter allein der kapitalistischen Bourgousie ist, gilt Emer-

sons abschließende Kritik, sondern ein Mangel an „edlen Gefühlen“. Emerson charakterisiert

den Franzosenkaiser auf den letzten Seiten seines Napoleon-Essays als kaltblütig, verlogen,

skrupellos, hassend, egoistisch und hinterlistig.146 Obschon das für Emerson immerhin keine

bewundernswerten Eigenschaften sind, wohnt der Kritik doch keine Offenlegung des liberalen

Übels zu Lasten des Sozialen inne.

Letztlich postuliert Emerson so statt einer sozialen Wohlfahrt ‒ ausgehend von seinen Kraft- und

Willebegriffen – eine Wohlfahrt der Härte: „Unzufriedenheit ist Mangel an Selbstvertrauen: ist

141Zit. nach: ebd., S. 74f.142Vgl. ebd., S. 76.143Zit. nach: ebd., S. 82.144Vgl. ebd., S. 209.145Zit. nach: ebd., S. 209f.146Vgl. ebd., S. 231ff. – Letztlich zieht Emerson folgendes Fazit: „Napoleon war ein Experiment, in dem sichzeigte, was gewissenlose Verstandeskraft unter den denkbar günstigen Bedingungen zustandebringt. [...] Undwas war das Ergebnis dieser unermeßlichen Begabung und Macht, des Aufgebots riesiger Heere, der Einäsche-rung von Städten, des Verschleuderns großer Reichtümer, des Verschleißens von Millionen von Menschen, derDemoralisierung Europas? Nichts kam dabei heraus.“ – Zit. nach: ebd., S. 235 – Hier gilt es genau zu lesen:Nicht der Verschleiß von Millionen Menschen wird an erster Stelle kritisiert, sondern, dass dabei nichts herausge-kommen sei!

Page 22: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

22

Krankheit des Willens. [...] Wir gehen zu denen, die töricht weinen, setzen uns zu ihnen und

weinen mit ihnen, statt ihnen mit kräftigen elektrischen Schocks Wahrheit und Gesundheit mitzu-

teilen, was sie wieder mit ihrer eigenen Vernunft in Verbindung bringt. [...] Wie die Gebete der

Menschen eine Krankheit des Willens sind, so sind ihre Bekenntnisse eine Krankheit des Intel-

lekts.” 147 Und wer jener ‘Krankheit des Intellekts’ erliege, der – so will es die liberale Doktrin –

sei daran selbst schuld. Es sei wiederholt: „Der Pöbel ist eine Gesellschaft solcher, die sich frei-

willig der Vernunft berauben und ihr Werk durchkreuzen. Der Pöbel ist ein Mensch, der freiwillig

zur Natur des Tieres herabsteigt.” 148

Ganz klar wird so der Kraft-/Machtbegriff als Beherrschungsinstrument über die Ohnmacht ei-

ner unteren Kaste definiert:149„Das ist es, was den Starken ihre Kraft giebt – daß die Menge

kein Selbstvertrauen, keine ursprüngliche Aktionskraft besitzt.” 150

In dieses Schema reiht sich auch eine fatale Erblehre ein, die das Physiologische und Leibme-

taphysische ideologisch wendet:

„[...]; ich glaube, wenn nur unsere Vergrößerungsgläser scharf genug wären, dann könnten

Frauenhofer oder Dr. Carpenter eines Tages dahin gelangen, am vierten Tag im Embryo zu er-

kennen, ob ein Whig aus ihm werden wird oder ein Free-Soiler [amerik. Parteien vor dem

Bürgerkrieg; R.W.]. [...] Ein guter Teil unserer politischen Ansichten ist rein physiologisch. [...]

Alle wirklichen Konservativen sind es durch einen persönlichen Defekt.” 151

Es ist so höchst ambivalent, wenn Emerson das Leibliche mit dem Geistigen verschränkt, denn

daraus kann auch Folgendes formuliert werden: „Der Geist liebt keine Krüppel und Mißgestal-

ten.” 152 Damit wird ein Schönheitsideal mit fataler politischer Dimension formuliert, das seine

physiologisch-rassistischen Tendenzen im folgenden Zitat offen zeigt:

„Jede Starrheit, jede Anhäufung, jede Konzentration auf einen Zug – eine lange Nase, ein

scharfes Kinn, ein Buckel – widerspricht dem Gesetz des Strömens und entstellt.” 153

Selbst wenn bei Emerson das Erkennen einer Dialektik auszumachen ist, schreibt diese sich al-

lerdings in eine problematische Rassenlehre ein und vollzieht das Dialektische damit auch nicht

voll (so gibt es bei Emerson keine Integration des Schwachen oder vorhergehender Kulturstu-

fen):

„Aber wenn eine Rasse ihr Zeit gelebt hat, kommt sie nicht mehr wieder. / Die Bevölkerung der

Welt ist eine bedingte Bevölkerung; nicht die beste, aber die beste, die heute da sein könnte;

und die Stufenleiter der Menschenstämme und die Stetigkeit, mit der der Sieg sich an einen

Stamm heftet und Niederlage an einen andern, ist so gleichförmig und regelmäßig, wie die

Schichtung der geologischen Strata. Wir wissen aus der Geschichte, welche Bedeutung die

Rasse hat; [...]. Wir folgen den Schritten des Juden, des Indianers, des Negers. [...] Man lese

die unangenehmen Schlüsse, zu denen Knox in seinem „Fragment über die Rassen“ gelangt:

147Zit.nach: Emerson, Essays I, S. 65.148Zit. nach: ebd., S. 96.149Vgl. Emerson, Lebensführung, S. 45f.150Zit. nach: ebd., S. 46.151Zit. nach: ebd., S. 10; [Joseph von Fraunhofer (1787-1826), dt. Optiker und Physiker, begründet u.a. den wis-senschaftlichen Fernrohrbau; William Benjamin Carpenter (1813-1885), engl. Naturforscher und Physiologe].152Zit. nach: ebd., S. 199.153Zit. nach: ebd., S. 243; vgl. auch ebd., S. 248.

Page 23: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

23

– ein etwas rascher und unbefriedigender Schriftsteller, der aber schneidende und unverges-

sene Wahrheiten schrieb. „Die Natur respektiert die Rasse, aber keine Bastar-de.” 154

Im Anschluss an diese Textpassage verweist Emerson auf die zeitgenössische (und für ihn zwar

unschöne aber notwendige155) Sklavenkaste, bestehend aus schwarzen Sklaven, sowie irischen

und deutschen Zwangsarbeitern:

„Die deutschen und irischen Millionen haben wie die Neger einen guten Teil Düngers in ihrer

Bestimmung. Sie werden über den Atlantischen Ozean verschifft und über Amerika verfrachtet,

um zu schaufeln, um zu graben und Knechtsarbeit zu leisten, das Korn billig zu machen und

sich dann vorzeitig niederzulegen und einen Fleck grünen Grases auf der Prairie zu bilden.” 156

Ähnlich wie Nietzsche nach ihm, konstatiert Emerson, dass „nichts widerwärtiger ist, als das

Freiheitsgekreisch der Sklaven, wie es die meisten Menschen sind“.157

Das Motiv der ‘Kälte’ und die Bevorzugung der (angel-)sächischen ‘Rasse’ geraten passagenwe-

ise zur unvermittelten Herrenvolk democracy 158:

„Die Kälte und das Meer erziehen eine weltbeherrschende ‘Sachsenrasse’, die die Natur nicht

entbehren kann, und nachdem sie sie ein Jahrtausend in jenem England gehegt und ausgebrü-

tet, giebt sie ihnen hundert Englands, hundert Mexikos. Alles Blut der Erde wird sie aussaugen

und überwältigen; [...].” 159

Der soziale Chauvinismus Emersons wie seine Partizipation am (Neo-)Liberalen trägt sich in

seinen Erben weiter, seien es die Christian Science von Mary Baker-Eddy, das Positive Think-

ing Joseph Murphys oder die New Age-Bewegung. ‒ Dennoch lässt sich aus Emerson ein reich-

er positiver Gewinn ziehen, wenn man seine Gedanken aus der Befangenheit der Klassenge-

sellschaft herauslöst. Der Abschluss des Emerson’schen Denkens in den Begriffen der

oversoul, der synthesis und dem plus- man, mag durchaus den Weg zu anderen Bewusstseins-

zuständen weisen, sofern man solche für möglich hält.

Sowohl für Ereignisse als auch Gedanken eruiert Emerson einen Ursprung in der Überseele, in

der der moderne zersplitterte Mensch seine Einheit (wieder-)finden könne:

„Wenn ich jenen fließenden Strom betrachte, der aus Regionen, die ich nicht sehe, eine Zeitlang

seine Fluten in mich ergießt, so sehe ich, daß ich ein Empfänger bin, daß ich nicht die Ursache,

sondern nur ein überraschter Zuschauer dieses ätherischen Wassers bin; daß ich strebe und

emporschaue und eine empfangende Haltung einnehme; aber von einer mir fremden Energie

stammen diese Visionen. [...] Wir leben in Wechselfolgen, im Geteiltsein, in Teilen und Split-

tern. Indessen ist im Menschen die Seele des Ganzen, das weise Schwingen, die allumfas-

154Zit. nach: ebd., S. 12f. ‒ Robert Knox (1791-1862), schottischer Arzt, Naturwissenschaftler und Anthropologe.In seinem The Races of Men, a Fragment (1850) führt er erstmals den Gedanken ein, dass auf der Erde verschie-dene humanoide Spezies nebeneinander leben, wobei die Angelsachsen die Krönung der Schöpfung seien,während die tasmanischen Aborigines die niederste Spezies (nahe dem Menschenaffen) darstellen würden.155Anderenorts kritisiert Emerson aber die Sklaverei auch entschieden. – Vgl. ebd., S. 174.156Zit. nach: ebd., S. 13.157Zit. nach. Emerson, Lebensführung, S. 19.158US-amerikanische Gesellschaftswissenschaftler haben in den 1980ern diesen Begriff für ein politisches Systemgeprägt, das eine auserwählte Elite oder Schicht bevorzugt, wie den WASP (White Anglo-Saxon Protestant).159Zit. nach: Emerson, Lebensführung, S. 27.

Page 24: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

24

sende Schön- heit, zu der jeder Teil und jeder Splitter gleichermaßen in Beziehung steht; das

ewig eine.” 160

Dabei bedient sich Emerson buddhistischen Gedankenguts um das mystische „ewig eine“

verständlich zu machen, es werde erfasst, wenn „der Akt des Sehens und das gesehene Ding,

der Betrachter und das Betrachtete, Subjekt und Objekt, sind eins.” 161

Zudem wird das ewig Eine, die Überseele (an der der Mensch partizipiere) auch in mystischer

Tradition als Licht aufgefasst:

„Alles zielt darauf ab, zu zeigen, daß die Seele des Menschen [...] ein Licht, nicht der Intellekt

oder der Wille selbst ist, sondern Herrscher über den Intellekt und den Willen; daß sie der Hin-

tergrund unseres Seins ist, [...]. Von innen heraus oder von hinten scheint ein Licht durch uns

hindurch auf die Dinge und läßt uns gewahr werden, daß wir nichts sind, aber das Licht alles ist.

Der Mensch ist die Fassade eines Tempels, worin alle Weisheit und alles Gute weilt.” 162

MIt (Über-)Seele meint Emerson eine Kollektivkraft, die dem Menschen zur Verfügung stehe.

Die Anbindung an die kollektive Kraft meint aber keinen fixen Zustand, sondern es setze ein

Werden und Wachsen in Gang: „Die Seele schaut beständig vorwärts, vor sich eine Welt schaf-

fend, Welten hinter sich lassen.” 163 Durch das Partizipieren an der oversoul aber werde der

Mensch zum Übermenschen, oder in Emersons Worten: „Der einfachste Mensch, der in seiner

Lauterkeit Gott verehrt, wird Gott. Und doch ist das Einströmen dieses besseren und univer-

sellen Selbst für immer neu und unerforschlich.” 164

Stack zieht das Fazit, dass Emersons ‘Lehre’ auf dem Glauben an höhere Existenzformen des

Lebens basiere. Dabei sei eine ästhetische Grundlage gegeben: die Fusion von Schönheit &

Wille, von Schönheit & Macht, von Schönheit & Stärke. Zudem werde die übermenschliche Ex-

istenzform von Emerson in künstlerischen Begriffen charakterisiert: Sie sei Synthese aus

Kunst & Natur, sei lebende Skulptur.165

Im ersten Absatz seines Love-Essays beschreibt Emerson diese Synthese auch – à la deut-

schem Idealismus und deutscher Romantik – schlechterdings als Liebe, welche Einzel- und All-

gemeinheit miteinander verbinde:

„Die Natur, unfaßbar, fließend, vorausschauend, erahnt bereits in der ersten Empfindung von

Freundlichkeit ein Wohlwollen, das jede Rücksicht in seinem allgemeinen Licht verlieren wird.

Die Einführung in diese Glückseligkeit liegt in einer persönlichen und zarten Beziehung von ei-

nem zum anderen, was den Zauber des menschlichen Lebens ausmacht; welche, gleich einem

göttlichen Eifer und Enthusiasmus, den Menschen zu einer Zeit ergreift und in seinem Geist und

Körper eine Umwälzung bewirkt, ihn seinem Geschlecht vereinigt, [...].” 166

Die Vereinigung des Menschen mit der Menschheit, sowie darüber hinaus die Vereinigung mit

dem ‘Ganzen’ ist es, um die es Emerson geht. Im Weiteren legt er explizit dar, dass der Ein-

zelne als Einzelheit letztlich nicht nur vom ‘Ganzen’, sondern auch vom Leben an sich abge-

schnitten sei, resp. dass die Perspektive auf das Einzelne (womit auch die Individualität einer

160Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 210.161Zit.nach: ebd., S. 210.162Zit. nach: ebd., S. 211.163Zit. nach: ebd., S. 214.164Zit. nach: ebd., S. 227.165Stack, S. 315.166Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 133.

Page 25: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

25

Person gemeint ist) eine letztlich inkommensurabele sei, da sie nicht den großen Kontext beach-

te:

„Einzelheiten sind melancholisch; der Plan [des ‘Ganzen’; R.W.] ist geziemend und edel. In der

tatsächlichen Welt – dem schmerzvollen Reich der Zeit und des Raumes [also der ‘Einzel-

heiten’; R.W.] – wohnen Mühe, nagender Kummer und Furcht. Mit dem Gedanken, mit dem

Ideal, geht unsterbliche Heiterkeit einher, die Rose der Freude. Um sie herum singen alle Mu-

sen. Aber Gram haftet an Namen und Personen und den Teilinteressen des Heute und Ges-

tern.“167 Und in dem Fatum- Essay heißt es: „Einen Schlüssel, eine Lösung giebt es für die Ge-

heimnisse des Menschenzustands, eine Lösung für den uralten Knoten von Fatum, Freiheit und

Vorauswissen: die These vom doppelten Bewußtsein. Der Mensch muß abwechselnd auf den

Rossen seiner individuellen und seiner allgemeinen Natur zu reiten wissen.” 168

Der einzelne Mensch hat für Emerson so mit stetem Bezug auf den größeren Kontext zu han-

deln, auf „[...] daß alles, was der Mensch tun kann, auf göttliche Weise getan werden kann.” 169

Der Mensch realisiert somit gemäß Emerson sein Potential zum Gottsein, zum plus-man. Der

plus-man ist freilich nicht im 19. Jahrhundert realisiert und Emersons Beschreibung hat so etwas

Utopisches:

„In dem Gedanken von Morgen liegt eine Kraft, [...]. Jeder Mensch ist nicht so sehr Arbeiter auf

Erden, als wie er eine Andeutung dessen ist, was er sein sollte. Die Menschen wandeln als

Prophezeiungen des nächsten Zeitalters.” 170

Obgleich der Mensch sich nach Emerson erst in der Zukunft realisiere, was auch mit dem Auf-

steigen auf einer Leiter ausgedrückt wird, und was mit einer Skepsis und einem Verwerfen des

‘Alten’ einhergeht, so ist kein ungezügelter Aufstieg gleichsam einem Ikarus gemeint, vielmehr

steht der Mensch in einem Spannungsfeld zwischen ‘Unten’ und ‘Oben’: „Ich bin Gott in der Na-

tur; ich bin ein Unkraut an der Mauer.” 171

Kritisch ist dennoch anzumerken, dass der plus-man ‒ wie bereits in der Zurechnung Emersons

zu der liberalen Tradition deutlich wurde ‒ eine gewisse Verachtung gegenüber dem ‘Unten’ an

den Tag legt, wie z.B. aus einer Absage an das Menschliche herauszulesen ist:

„Die Menschen hören auf, uns zu interessieren, sobald wir ihre Grenzen erkennen. Die einzige

Sünde ist Begrenzung.” 172

Der ‘begrenzte Mensch’ wird damit verworfen. Ebenso polemisiert Emerson gegen das hohe Al-

ter, es sei die einzige Krankheit, die alle anderen Krankheiten beinhalte; namentlich: Fieber, Un-

mäßigkeit, Wahnsinn, Dummheit und Verbrechen.173 Auch heißt es explizit:

167Zit. nach: ebd., S. 135.168Zit. nach: Emerson, Lebensführung, S. 40.169Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 113:170Zit. nach: ebd., S. 236.171Zit. nach: ebd., S. 237.172Zit. nach: ebd., S. 238.173Vgl. ebd., S. 246.

Page 26: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

26

„Kann der höhere Kulturstandpunkt den niedrigeren nicht zu sich erheben, so macht er ihn un-

schädlich, wie der Mensch den Widerstand der niederen Lebewesen durch Betäubung nieder-

schlägt.” 174

Als positiv ist hingegen zu konnotieren, wenn der plus-man überkommene Werte verwirft. Bei ei-

ner bezeichnenden Textpassage Emersons muss man unweigerlich an Nietzsches Abrechnung

mit alten Werten und sein Philosophieren mit dem Hammer denken:

„Seht euch vor, wenn der große Gott einen Denker auf dieser Erde entbindet. Dann ist alles in

Gefahr. Es ist, wie wenn in einer großen Stadt eine Feuersbrunst ausgebrochen ist, und nie-

mand weiß, was noch unsicher ist und wo es enden wird. Da gibt es kein literarisches Ansehen

mehr, noch die sogenannten ewigen Berühmtheiten, die nicht noch einmal geprüft und dann

verworfen werden.” 175

Analog zu Nietzsches Umwertung aller Werte176 bemerkt Emerson zudem: „Eine neue Lehre

scheint am Anfang eine Umkehrung all unserer Meinungen, unseres Geschmacks und unserer

Lebensweise zu sein.” 177

Stack führt aus, dass Nietzsche Emersons plus-man als Mensch des Überschusses zu verste-

hen sei, der sich in kreativen Genies wie Michelangelo oder Cellini realisiere.178 Der plus-man

ist letztlich aber nicht Ausdruck von Individualität, sondern von Allgemeinheit: „Jeder Plus-

Mensch repräsentiert eine ganze Gruppe, [...].“ Gleichsam trete er für die Allgemeinheit ein:

„Für einen Starken ist überall Raum, und er schafft Raum für viele.” 179 Dabei sei bedacht, dass

in diesen Beschreibungen indes der Gedanke mitschwingt, dass innerhalb der Allgeminheit eine

ganze Kaste zugunsten des plus-man und der Allgemeinheit geopfert werden mag.

Auf viele Parallelen zwischen Emersons und Nietzsches Dennken wurde auf den vorhergehen-

den Seiten hingewiesen. ‒ Insbesondere lässt sich eine Analogie zwischen der Kraft- und Lei-

besmetaphysik ausmachen. Explizit sei hinsichtlich dessen darauf hingewiesen, dass eine Text-

stelle im Zarathustra ‒ nämlich: „Mit lässigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem Willen: das

ist das Schwerste euch Allen, ihr Erhabenen!”180 ‒ für Stack eine Wiederholung Emersons

sei: „The images, the tone, and the content of this significant allusion of the qualities of the

Übermensch are surely derived from Emerson.” 181

174Zit. nach: Emerson, Essays II, S. 169.175Zit. nach: Emerson, Essays I, S. 238.176In seinem Fatum-Essay knüpft Emerson aber auch an die biblische Umwertung aller Werte an (dass das Nie-drige erhöht werde, vgl. Lk. 1,52 u. Lk. 14, 11) und schreibt über das Prinzip des Fatums: „Und ganz zuletzt, hochüber allen Ideen, erscheint in der Welt das Schicksal als Ausgleicher und Rächer, der die Hohen sürzt, die Niedri-gen emporhebt, Gerechtigkeit unter den Menschen gebietet und immer früher oder später zerschmetternd trifft,wo Gerechtigkeit nicht gethan wird. Was nützlich ist, ist dauernd, was schädlich ist, muß zu Grunde gehen.“ ‒ Zit.nach: Emerson, Lebensführung, S 17. – Indes fordert Emerson damit keine sozialistische Revolution; einige Sei-ten früher hat er die Notwendigkeit einer Sklavenkaste und die Überwindung von ‘schwachen Rassen’ themati-siert. Das Niedrige, dass hier nach Emerson an die Macht komme, sei das ‘eigentlich Hohe’, welches das bis datoHerrschende vernichte – das ‘eigentlich Niedrige’ gebe es auch in der neuen Ordnung als ‘Bodensatz’ oder ‘Skla-venkaste’.177Zit. nach: ebd., S. 204. ‒ Dabei postuliert Emerson es als letztlich gleichgültig, welche Lehre im individuellenLeben als beunruhigender Meteor wirke, der sich schließlich in einen glänzenden Stern verwandele. Als möglicheVorbilder ‒ wobei es durchaus sein möge, dass der einzelne Mensch sich einigen hintereinander zuwende ‒nennt Emerson recht abwechslungsreich: Platon, Bacon, Spinoza, Swedenborg, Kant, Coleridge, Hegel oderSchelling. ‒ Vgl. ebd., S. 264f.178Stack, S. 312.179Zit. nach: ebd., S. 48f.180Zit. nach: Zarathustra, S. 152.181Zit. nach: Stack, S. 332.

Page 27: Von Emerson zu Nietzsche€¦ · 1 Roland Wagner Von Emerson zu Nietzsche Schon Ernst Benz zeichnet 1961 in seinem Übermensch-Aufsatz die herausragende Bedeutung Ralph Wald Emersons

27

Schon Emerson verwendet auch den Terminus von „der Kraft der Selbstgenesung”,182 themati-

siert einen Wiederkehrgedanken im Sinne einer differenzierten Wiederholung,183 konstatiert ein

Ende der traditionellen Künste, auf dass der Mensch neue Schaffensformen finde184 ‒ fast

postmodern mutet dabei die Artifizierung des Alltags und des Situativen an. Und wie Nietz-

sche den Übermenschen, so postuliert Emerson den plus-man (es wurde schon erwähnt) als

den schaffenden Künstler.185 Und dito wie Nietzsche verweist Emerson auf das Autonome und

gleichsam Unausprechliche des kommenden Menschen:

„[Der Mensch] darf keine Mitarbeiter erwarten; kein Gefährte wird mit ihm gehen. Nur der na-

menlose Gedanke, nur die namenlose Macht, das überpersönliche Herz, – auf sie allein wird er

sich stützen können.” 186

182Emerson, Essays I, S. 239.183Ebd., S. 271.184Ebd., S. 280ff.185Emerson, Essays II, S. 116ff.186Zit. nach. Emerson, Lebensführung, S. 201f.