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VorBild Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung

VorBild Theorie 09 11-11 - ph-freiburg.de · Entscheidungswege und -verfahren sowie die Debatten darum. ... nichtssagenden Ritualen und verkrusteten Institutionen ... eu 1982: 620ff;

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VorBildTheoretisch-konzeptuelle Grundlegung

Projekt VorBild

Universität Bielefeld

Fakultät für Gesundheitswissenschaften (Uwe H. Bittlingmayer/Klaus Hurrelmann/Diana Sahrai)

Bundeszentrale für politische Bildung

(Caroline Seige)

Theoretisch-konzeptuelle Grundlegung von Jürgen Gerdes, Helmut Bremer,Johannes Ahrens, Raphael Beer und Barbara Rößer

Inhalt

Vorbemerkung 3

1. Benachteiligte soziale Milieus und (vor-)politische Bildung 5

2. Allgemeine Voraussetzungen politischer Bildung 11

2.1 Bildung 15

2.2 Politik 16

3. Politische Bildung in der Demokratie 24

4. Das Spannungsverhältnis von Demokratie und Menschenrechten 29

5. Demokratische Legitimität als Kern mündiger Urteilsbildung 38

Literatur 43

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Vorbemerkung

Politische Bildung an Förderschulen ist im Schulalltag etwas Ungewöhn-liches. So existiert in den meisten Bundesländern kein Politikunterricht für Förderschülerinnen und Förderschüler. Das ist aus einer demokratischen Perspektive problematisch, denn gerade Schülerinnen und Schüler an Förderschulen sind in Organisationen, Vereinen oder Parteien erheblich unterrepräsentiert. Dazu kommt, dass sozial benachteiligte Gruppen, zu denen die Förderschülerinnen und -schüler zum Teil zählen, auch politisch kaum vertreten werden. Das bedeutet, dass ihre Belange immer weniger durch die Parteiprogrammatiken systematisch Erwähnung finden.

Hieraus kann ein Teufelskreis entstehen: Die fehlende Verankerung politi-scher Bildung an Förderschulen ist eine der Ursachen für die sehr geringe Einbindung in politische Organisationen und Parteien von (ehemaligen) Förderschülerinnen und -schülern. Und durch ihre geringe Präsenz in Organisationen und Parteien werden sie auch immer weniger politisch repräsentiert. Um diesem Kreislauf zu begegnen, haben wir erstmals zielgruppenspezifische Unterrichtsmaterialien zur politischen Bildung und zum sozialen Lernen speziell für Förderschulen entwickelt.

Mit diesem hier vorliegenden Begleitheft der VorBild-DVD beabsichtigen wir zweierlei: Zum einen wollen wir die populäre Diagnose der Politikver-drossenheit bzw. des politischen Desinteresses von Förderschülerinnen und -schülern auf soziologischer Grundlage kritisieren und alternative Perspektiven anbieten. Zum anderen wollen wir unsere theoretischen Hin-tergrundkonzepte vorstellen, die für das VorBild-Projekt maßgeblich sind.

Wichtig ist uns vor allem, dass die Lehrerinnen und Lehrer, die mit den VorBild-Materialien arbeiten möchten, unser Verständnis von Demokratie nachvollziehen können. Klassen, Familien, Vereine oder politische Orga-nisationen und Institutionen sind nach unserer Perspektive eingebunden in ein Spannungs- und Konfliktfeld zwischen demokratischen Prozeduren und individuellen Rechten. Deshalb sind beide Aspekte, demokratische Prozeduren und individuelle Rechte Bestandteile der VorBild-Unterrichts-materialien. Dazu gehört auch die alltägliche Praxis dieses Spannungs-feldes: die Beziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten in demokratischen Gruppen. Die späteren Kapitel präsentieren deshalb eine bestimmte Variante politischer Theorie, die insbesondere den VorBild- Unterrichtsmodulen zur politischen Bildung zu Grunde liegen und hier durch das Begleitheft verständlich gemacht werden sollen.

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1. Benachteiligte soziale Milieus und (vor-)politische Bildung

Untersuchungen, die das Interesse von Jugendlichen an Politik und politischer Bildung analysiert haben, kommen zu dem Ergebnis, dass das Interesse daran am stärksten bei denjenigen ist, die höhere Schulen besuchen bzw. abgeschlossen haben und auch aus Elternhäusern kommen, die über höhere Bildungsniveaus und einen höheren Sozial-status verfügen. Auch Studien zur Erwachsenenbildung bestätigen diese Tendenz; Menschen aus sozialen Milieus, die auf der sozialen Stufenleiter unten stehen, besuchen kaum Veranstaltungen der politischen Bildung. Die Befunde scheinen also eindeutig zu belegen, dass diese Menschen politisch desinteressiert und politisch ungebildet sind. Vor diesem Hintergrund scheint es also um das Politikinteresse und die politische Kompetenz der Schülerinnen und Schüler von Förderschulen nicht gut bestellt zu sein.

Erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass sich die Sache gar nicht so einfach verhält, wie es auf den ersten Blick scheint (vgl. hierzu auch Bittlingmayer 2008). Arbeiten aus der politischen Sozialisation zeigen nämlich, dass die Menschen in allen Milieus sehr wohl über Formen poli-tischen Wissens und politischer Kompetenz verfügen. Es gibt mindestens immer ein ‚Gespür’ für politische Fragen und Themen, etwa in Bezug auf Teilhabe, auf Mitwirkungsmöglichkeiten und auf Gerechtigkeit, und es gibt auch oft recht genaue Vorstellungen davon, wie Gemeinschaft in kleineren und größeren Zusammenhängen gestaltet werden sollte, wie die Welt sozusagen sein sollte. Solche Grundhaltungen, die man als „vor-politi-sche“ politische Einstellungen und Meinungen verstehen kann, werden in der Familie, in den Peergroups, Vereinen und (natürlich) auch in der Schule erworben. Bezieht man solche Befunde mit ein, dann wird deut-lich: Es ist wichtig, das etwas zu differenzieren, was mit „Politik“ gemeint ist.

In der politischen Bildung versucht man dem oft damit gerecht zu werden, indem man ein „weites“ und einem „enges“ Verständnis von Politik unterscheidet. In einem ganz allgemeinen Sinne kann man das Politische dann als die Sphäre bezeichnen, in der Fragen der intersubjektiven Aus-handlung von informellen und teilweise auch formalen kollektiven Regeln des Zusammenlebens in verschiedenen sozialen Einheiten behandelt und entschieden werden, auf die man dann mehr oder weniger Einfluss nehmen kann, will oder darf. Im engeren Sinne bezieht sich Politik hinge-gen auf die etablierten politischen Institutionen und die daran gekoppelten

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Entscheidungswege und -verfahren sowie die Debatten darum. Politische Bildung kann sich generell auf beides beziehen. Wie aber kommt es, dass die sehr wohl vorhandenen „vor-politischen“ Einstellungen nicht wesent-lich stärker in den politischen Diskurs im engeren Sinne gelangen?

Zunächst muss man in Rechnung stellen, dass diese Haltungen in vielen Umfragen gar nicht zum Vorschein kommen. Das liegt daran, dass der Begriff „Politik“ oder auch „politische Bildung“ oft bestimmte Bilder und Vorstellungen hervorruft, und zwar in zweierlei Weise: Zum einen ist Politik heute (nicht nur bei Jugendlichen) oft negativ besetzt, wird mit langweili-gen Diskussionen, nichtssagenden Ritualen und verkrusteten Institutionen und Verbänden in Verbindung gebracht. Das ist im Grunde gemeint, wenn heute von dem Schlagwort der „Politikverdrossenheit“ die Rede ist, die im übrigen viel mehr eine Verdrossenheit über die traditionellen, eta-blierten politischen Parteien und Institutionen ist als über das, was Politik der Sache nach bedeutet.

Politikverdrossenheit oder symbolische Ausgrenzung?Zum anderen aber, und das ist in Zusammenhang mit Schülerinnen und Schülern von Förderschulen wichtig, wird Politik meist als eine Sache von kompetenten Experten angesehen, zu der auch ein bestimmtes Wissen, eine bestimmte Sprache und Kultur gehören (vgl. zum Folgenden Bourdi-eu 1982: 620ff; vgl. als deutsche Aktualisierung Vester et al. 2001). Es ist deswegen in der Bildungsarbeit oft sinnvoll, mindestens am Anfang den Begriff „Politik“ zu vermeiden und stattdessen von dem zu sprechen, was gemeint ist. Politik (im engeren Sinne) bildet sozusagen eine eigene kleine Welt, und um diese zu betreten, benötigt man eine Art Eintrittskarte. Ge-rade Menschen aus unteren Sozialmilieus sehen sich aber als „Laien“. Sie haben selbst den Eindruck – und oft auch die Erfahrung gemacht – dass sie diese Eintrittskarte nicht haben, und die unsichtbare, trotzdem deutlich spürbare Grenze zur engeren Welt der Politik nicht übertreten dürfen; d.h.: Sie trauen sich nicht zu, etwas Relevantes zum Politischen sagen zu können. Bezieht man das oben gesagte ein, dann heißt das, dass zwar in einem erweiterten Verständnis durchaus – und oft auf sehr pointierte – Meinungen zu politischen Fragen und damit auch Dispositi-onen zum politischen Handeln vorhanden sind, aber diese verbleiben oft auf der Ebene des „Vorpolitischen“, des „Moralischen“ oder „Latenten“. Gerade die Menschen aus benachteiligten Sozialmilieus spüren jedoch,

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dass ihr latentes politisches Wissen in der Welt der Politik meist nichts zählt, nicht anerkannt wird, weil sie es nicht so elaboriert ausdrücken kön-nen, und dass ihnen im Grunde vermittelt wird: „So kann man das aber nicht sagen“. Um das zu erfahren, muss man nicht erst in eine Parteiver-anstaltung oder Vergleichbares gehen. Schon beim Verfolgen von Nach-richtensendungen, von politischen Debatten oder Talkshows, oder beim Lesen der Zeitung wird oft zur Genüge deutlich, dass man offensichtlich über Politisches in einer Sprache denken und sprechen muss, die viele selbst als verschlüsselt erleben. Im Ergebnis führt das oft zu der Aussage: „Politik – das ist nichts für mich“.

Insgesamt erscheint es aus dieser Perspektive als vereinfacht, nur politi-sche und unpolitische Menschen zu unterscheiden. Vielmehr könnte man es so sehen, dass es politische Kompetenzen im Sinne von Fähigkeiten gibt, die aber oft nicht anerkannt werden. Der Soziologe Pierre Bourdieu hat das einmal so zugespitzt: „Wenn man einem einfachen Bürger sagt, er sei politisch inkompetent, beschuldigt man ihn, unrechtmäßig Politik zu machen“ (Bourdieu 2001: 44). In gewisser Weise ist es ein kreislauf-artiger Zusammenhang: Gerade wenn man den Eindruck hat, dass man allgemein gar nicht die Kompetenz im Sinne von „Befugnis“ zugestanden bekommt, sich zu so wichtigen Fragen wie denen zur Politik zu äußern, dann sieht man auch wenig Sinn darin, sich die Kompetenz im Sinne von „Fähigkeit“ anzueignen. „Fremdausschließung“ und „Selbstausschließung“ hängen dabei eng zusammen; oft schließt man sich selbst aus den poli-tischen Debatten aus, um der erahnten Ausschließung und Ausgrenzung durch andere zuvorzukommen und die damit verbundene Frustration und Demütigung zu vermeiden (Bremer 2008).

Lerntheoretische Aspekte politischer BildungDiesen kreislaufartigen Zusammenhang kann man mit Erkenntnissen der neueren subjektorientierten Lerntheorie zusammen bringen, wonach Menschen nur dann aus eigener Motivation lernen, wenn sie selbst einen Sinn darin sehen, konkret: Wenn Sie antizipieren, dass sie Gelerntes auch in ihrem alltäglichen Lebenszusammenhang anwenden können. (Solche kontext- und situationsbezogenen Lernkonzepte, die gerade auf die Dispositionen und Haltungen sozial benachteiligter Milieus abge-stimmt sind, stehen Ansätzen gegenüber, die auf abstrakten Lerntransfer fokussieren). Der Psychologe Klaus Holzkamp (1993) spricht dann von

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„expansivem Lernen“, d.h., die Menschen selbst verbinden mit diesem Lernen eine Art Erweiterung ihres Handlungsraums. Davon unterscheidet er „defensives Lernen“, was meint, etwas deshalb zu lernen, um Unheil abzuwenden, oder weil es verlangt wird, so dass man sich eher gegen negative Folgen des Nicht-Lernens oder gar mögliche Sanktionen darauf verteidigt. Versteht man diese Unterscheidung als zwei Pole, dann sollte ein auf Politik bezogenes Lernen (wenn nicht sogar jegliches Lernen) eher dem expansiven Pol nahe stehen. Die Frage ist dann also: Wie kann man Schule und Unterricht so gestalten, dass „expansives politisches Lernen“ möglich wird?

Gerade wenn man pädagogisch den erwähnten kreislaufartigen Zusam-menhang durchbrechen will, ist es wichtig, die zwei Seiten politischer Kompetenz im Auge zu behalten. Zunächst heißt das, davon auszuge-hen, dass die Schüler (wie wir alle) in gewisser Weise politischer sind, als es oft scheint und als sie es selbst von sich sagen würden. Im weiteren aber bedeutet das auch, sich nicht einfach auf ein zunächst nahe liegen-des Ziel politischer Bildung zu beschränken, nämlich das, alle so mit spe-zifischen Kompetenzen – Fähigkeiten – auszustatten, dass sie es mit den im engeren Sinne politischen Experten aufnehmen und sich einmischen können. So naheliegend das ist – realistisch betrachtet kann man an diesem Ziel nur scheitern, und die politische Bildung ist voll von solchen Erfahrungen (vgl. hierzu die lesenswerte Studie von Scherr 1994). Zudem muss man sich klar machen, dass man auf diese Weise das Erwerben von politischen Kompetenzen faktisch zur Bringschuld der Schülerinnen und Schüler macht.

Aus dem oben ausgeführten folgt aber auch, immer wieder in den Blick zu nehmen, ob den Schülern (bisher) überhaupt zugestanden und er-möglicht wurde und wird, politisch zu handeln und auf Politik im engeren Sinne Einfluss zu nehmen. Es gilt also auch, die sozialen Bedingungen für ein solches politisches Artikulieren in den Blick zu nehmen. Das führt zu einer pädagogischen Haltung, die sich nicht nur darauf konzentriert, Fähigkeiten und Wissen zu vermitteln, die zu politischem Handeln führen, sondern die zugleich die Spielregeln der politischen Welt – die geforderte „Eintrittskarte“ – nicht bruchlos akzeptiert, sondern diese in Frage stellt und andere politische Ausdrucksformen – andere „Eintrittskarten“ – aner-kennt (vgl. Bourdieu 1992: 13). Das ermöglicht eine pädagogische Praxis, die daran orientiert ist, den Jugendlichen ausgehend von ihren Lebenszu-sammenhängen und den vorhandenen vor-politischen Kompetenzen zu

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ermöglichen, im schulischen Kontext andere Erfahrungen zu machen als bisher, und diese zu reflektieren.

Die besondere Ausgangssituation für politische Bildung an Förderschulen

Was kennzeichnet nun die besondere Situation von Schülerinnen und Schülern von Förderschulen? Generell kann man sagen, das alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen in einer Welt leben bzw. in diese hineinwachsen, deren Spielregeln überwiegend andere – Erwachsene – gemacht haben, und die in diesem Sinne „fremde“ Regeln sind. Aus dieser oberflächlichen Perspektive haben also alle Jugendlichen in gleicher Weise Nähe und Distanz zur Politik. Aber genauer betrachtet kommt es natürlich sehr darauf an, wie genau die Lebensumstände sind und inwiefern es darin Bereiche und Möglichkeiten von Mitbestimmung und -gestaltung gibt. Hier bestehen dann große Unterschiede.

Schülerinnen und Schüler von Förderschulen kommen häufig aus Fami-lien, die zu den auf der sozialen Stufenleiter unten stehenden Milieus ge-hören. Was bedeutet das? Man erlebt dort die Welt oft als schicksalhaft, sieht sich als Opfer von widrigen Umständen, die sich jederzeit ändern können, gegen die man wenig ausrichten kann, denen man sich, ob man will oder nicht, irgendwie fügen muss. Häufig sind diese Menschen wahre Meister darin, solche schwierigen Lebensumstände, die immer wieder durch Prekarität und Brüche geprägt sein können, mit Flexibilität und Geschick zu bewältigen, und sie suchen und finden auch oft Nischen, in denen mehr Selbstbestimmung möglich ist. Insgesamt sieht man sich aber weniger als ein Subjekt, das seine Umwelt und die Welt an sich aktiv gestalten kann. Kinder, die unter diesen Bedingungen aufwachsen, nei-gen dann auch dazu, sich solche Weltbilder und Handlungsmuster anzu-eignen. Es ist schwierig, sich unter solchen Bedingungen selbst als stark, als gestaltend, als aktiv zu erleben und Selbstbewusstsein in dem Sinne zu entwickeln, dass man sich ermutigt sieht, die Dinge zu beeinflussen. Und besonders darin unterscheiden sich diese Kinder und Jugendlichen von solchen aus weniger benachteiligten oder privilegierten Milieus: den einen „passiert“ das Leben, die anderen „führen“ ihr Leben.

Bezieht man das auf das Feld des Politischen, d.h. die Sphäre, in der es darum geht, aufgrund eigener Neigungen und Interessen die Regeln und

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Formen des Zusammenlebens mit zu bestimmen, dann wird klar: Wer die Welt eher als hinzunehmendes Schicksal erlebt, dem man meistens ohnmächtig ausgeliefert ist, hat in der Regel alle Hände voll damit zu tun, die kleinen und großen Katastrophen zu bewältigen, auf Notwendigkei-ten zu reagieren – und auch der Kopf ist voll davon. Und obwohl man eigentlich ein besonders großes Interesse daran haben müsste, diese (für einen selbst ungünstigen) Spielregeln zu ändern, traut man sich zugleich am wenigstens zu, in das Spielgeschehen eingreifen zu können, weil man selten die Erfahrung gemacht hat, den Gang der Dinge beeinflussen zu beeinflussen.

Für diese ambivalente Situation gilt es, sich zu sensibilisieren. So geht es beispielweise in Modul 4 zunächst darum, den Schülern stärker bewusst zu machen, dass sie in vielen Lebensbereichen – sowohl „privaten“ wie „öffentlichen“ – in Gemeinschaften und Zusammenhänge eingebunden sind, in denen bestimmte Gewohnheiten, Übereinkünfte und Vereinbarun-gen existieren, die das Zusammenleben regeln. Diese sind den Jugendli-chen mal mehr, mal weniger bewusst; sich damit zu arrangieren, fällt mal mehr, mal weniger schwer. Nach und nach soll vom engen lebensweltli-chen Erfahrungsbereich zur lokalen Öffentlichkeit geführt werden, wobei die Verbindung zur Alltagserfahrung im Blick zu behalten ist. Dabei gilt es, die Entwicklung einer Haltung zu fördern, wonach solche Spielregeln nicht einfach als fraglos gegeben hinzunehmen sind. Politisches Handeln im weiteren Sinne fängt da an, sich solche Zusammenhänge klar zu machen und diese in Frage zu stellen. Das heißt nicht unbedingt, sie abzuschaffen, sondern etwa zu fragen: „Könnte das und das nicht auch anders sein?“ Es ist also erst mal wichtig, den Sinn zu erkennen, und davon ausgehend zu überlegen, inwiefern man sich darin wieder findet und nach Möglichkeiten zu suchen, an der Entstehung, Aufrechterhaltung oder Veränderung mitzuwirken.

Dabei muss von vornherein berücksichtigt werden, dass es keinesfalls mit einem einmaligen „Bewusstwerdungsprozess“ getan ist. Die beschriebe-nen Haltungen des Sich-nicht-Befugt-Fühlens sind meist durch wieder-holte Erfahrungen tief verinnerlicht. Man muss Gelegenheiten schaffen, in denen die Schüler nunmehr andere Erfahrungen machen können, sich selbst als wirksam erleben und Selbstbewusstsein entwickeln können. Wichtig ist also, dass sie Anlässe und Räume bekommen, ihre Haltungen, Dispositionen und Interessen in Bezug auf Politik auszudrücken, sich dazu in Beziehung zu setzen. Dabei ist zunächst zweitrangig, auf welche

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Weise das geschieht – visuell, verbal, körperlich, emotional, rational usw. Es gilt, diese Prozesse pädagogisch zu unterstützen, Medien für Ausdrucksmöglichkeiten bereit zu stellen und dann dazu zu ermuntern, Worte zu finden, sich zu artikulieren, der Stimmung Stimme zu geben. Lehrkräfte geraten dabei bisweilen in die Rolle eines „Mäeuten“, also einer Art Geburtshelfer, der dazu beizutragen versucht, vergrabene Dinge ans Tageslicht zu befördern. Dazu gehört eine forschende pädagogische Haltung, die die politischen Ausdrucksformen der Schülerinnen und Schüler nicht von einer erhöhten Position aus betrachtet und das Fehlen „korrekter“, elaborierter Kompetenzen konstatiert, sondern Empathie für das vorhandene Wissen und Können entwickelt. Die generelle Erfah-rungsorientierung findet sich dann auch wieder, wenn im Verlauf von Modul 4 die Klasse ein gemeinsames „politisches“ Projekt entwickeln und umsetzen soll.

Nachdem in diesem ersten Kapitel die Vorstellung politisch desinteres-sierter Schüler und Erwachsener aus schulbildungsfernen und sozial unterprivilegierten sozialen Milieus als Bestandteil einer symbolischen Ausgrenzung durch die Gesamtgesellschaft reformuliert wurde, sollen in den folgenden Kapiteln die theoretisch-konzeptionellen Grundlagen für das VorBild-Projekt umfassender als üblich dargestellt werden. Damit soll nicht nur die zu Grunde liegende eigene Positionierung der VorBild-Ent-wicklerInnen innerhalb der politischen Theorie klar gestellt werden. Viel-mehr soll darüber hinaus auch den Lehrkräften, die mit den VorBild-Ma-terialien arbeiten oder in Zukunft arbeiten wollen die Gelegenheit gegeben werden, sich über den Forschungsstand in der politischen Theorie und der praktischen Philosophie ein umfassendes Bild zu verschaffen. Wenn aufgrund des hohen Abstraktionsgrades einzelner Argumentationsgänge Fragen oder Unklarheiten auf Seiten der Leserinnen und Leser entstehen sollten, steht das VorBild-Projektteam jederzeit für eine Diskussion zur Verfügung ([email protected]).

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2. Allgemeine Voraussetzungen politischer Bildung

Politische Bildung im Allgemeinen hat die Zielsetzung, Bürgerinnen und Bürger zu befähigen, Kernaspekte der Politik verstehen und beurteilen zu können, gleichberechtigt und mündig an politischen Prozessen auf verschiedenen Ebenen zu partizipieren und sich unter Berufung auf individuelle legitime Ansprüche und Rechte gegenüber Zumutungen und Einmischungen von staatlichen Institutionen, gesellschaftlichen Organi-sationen und privaten Dritten kompetent wehren zu können. Im Rahmen einer demokratischen Gesellschaft kommt der politischen Bildung im Besonderen die Aufgabe zu, diese Befähigungen auf die Ideale und die konkreten Institutionen der Demokratie zuzuspitzen. Sie leistet damit im Umkehrschluss einen gewichtigen Beitrag zur Demokratie und zur demo-kratischen Kultur, basieren diese doch schließlich auf der Idee politisch urteilsfähiger, partizipierender und sich selbst bestimmender Staatsbürger, ohne die die Demokratie dauerhaft nicht funktionieren kann.

Adressaten und Urheber demokratischer RechteAbgesehen von den zum Teil anspruchsvollen und vielfältigen Kompeten-zen, die beispielsweise seitens politischer Theorie und Politikwissenschaft von Staatsbürgern erwartet werden, verweist bereits die allgemeinste und konsensfähige Bestimmung der demokratischen Staatsform auf die Notwendigkeit politischer Bildung. Ein als Demokratie zu bezeichnendes politisches Regime und dessen jeweils geltende Gesetze müssen – wie vermittelt auch immer – auf die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zurückgeführt werden können: „Niemand kann eine Gewalt haben, der Gesellschaft Gesetze zu geben, es sei denn aufgrund ihrer eigenen Zu-stimmung und der Autorität, die ihr von ihren Gliedern verliehen wurde.“ (Locke 1690/1992: 284) Eine stärker auf Selbstregierung und politische Partizipation im Anschluss an Rousseau ausgerichtete Definition würde reklamieren, dass die Adressaten politischer Regulierungen sich immer auch als deren Autoren verstehen können müssen (Rousseau 1762/1988; Habermas 1992). Aber schon die weniger anspruchsvolle, aber un-hintergehbare Bedingung demokratischer Legitimität, die die freiwillige Zustimmung der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger als das zentrale Kriterium betrachtet, erfordert offensichtlich Kenntnisse und Urteilskom-petenzen, auf deren Vermittlung Demokratien angewiesen sind. Einerseits müssen die Bürgerinnen und Bürger Gründe haben, die für die relative

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Überlegenheit der Demokratie gegenüber autoritären und diktatorischen Staatsformen sprechen. Damit müssen sie auch wissen, welche Merkma-le Demokratien überhaupt gegenüber anderen Regimeformen auszeich-nen. Andererseits sind Demokratien darauf angewiesen, dass den jeweils geltenden Gesetzen zu einem relevanten Anteil nicht nur aufgrund des Sanktionspotenzials des staatlichen Gewaltmonopols gehorcht wird, sondern aus überzeugter Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit und/oder Gerechtigkeit. Dass die Beurteilung von politischen Regulierungsvorschlä-gen hinsichtlich ihrer Anerkennungswürdigkeit seitens der Bürgerinnen und Bürger bestimmte demokratische Qualifikationen voraussetzt, wird in demokratischen Regimen auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass das zentrale politische Beteiligungsrecht – das aktive und passive Wahlrecht – an das Erreichen eines bestimmten Alters so genannter Voll-jährigkeit gekoppelt ist, mit dem politische Mündigkeit und Urteilsfähigkeit unterstellt wird. Auf der anderen Seite können Demokratien den Zugang zu Staatsbürgerrechten und die Berechtigung zur Partizipation nicht von einem definierten Qualifikationsstandard der Akteure abhängig machen, weil dessen Inhalte, Niveau und Kompetenzen umstritten sind und deswegen nur aus privilegierter oder mindestens partikularer Perspektive bestimmt werden könnten, was die Idee der Demokratie bereits auf der institutionellen Ebene konterkarieren würde.

Die Demokratie als Tyrannei der Mehrheit?Dennoch sind in der politischen Ideengeschichte immer wieder Postulate vorgetragen worden, den Zugang zur Politik nur für ‚Gebildete’ zu öffnen (paradigmatisch Platon 1989; für den modernen Liberalismus vgl. Mac-pherson 1973), um die Rationalität und Moralität politischer Entscheidun-gen zu gewährleisten und den Einfluss demagogischer Interventionen und populistischer Strömungen einzudämmen. Daran ist zweifellos richtig, dass auch Demokratien gerade nicht vor der Gefahr der Dominanz unmittelbarer und unreflektierter Präferenzen, partikularer Interessen und entfesselter Leidenschaften in großflächigen Massengesellschaften gefeit sind, was vor allem im Kontext von Ereignissen wie Kriegen, Terrorismus, Mordserien, Wirtschaftskrisen u. ä. dazu führen kann, dass ihre eigenen Grundlagen untergraben werden. Insbesondere wenn man davon ausgeht, dass Demokratie mehr ist als ein Entscheidungsverfahren nach der Mehrheitsregel und vielmehr auch die Beachtung und Gewährleis-tung von Grund- und Menschenrechten umfasst, bedarf es offenkundig

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institutioneller Vorkehrungen und kultureller Bedingungen, die verhindern, dass eine „Tyrannei der Mehrheit“ (paradigmatisch Tocqueville 1835/1976 und Mill 1859/1974) die Grundrechte von Minderheiten einschränkt oder auf die generelle Relativierung als unbedingt geltender Menschenrechte hinwirkt, wie beispielsweise auf eine Duldung von Foltermethoden oder die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die politische Steuerung der Gesellschaft kann nur dann im Interesse aller Beteiligten sein, wenn diese Steuerung (wenigstens minimalen) humanistischen Gehalten folgt, wie sie etwa im Namen der Menschenwürde in der Erklärung der Menschen-rechte und den nachfolgenden Menschenrechtskonventionen formuliert wurden, deren Kerninhalte in politischer Gleichheit, unantastbarer privater Grundfreiheiten, dem Diskriminierungsverbot und dem Toleranzgebot gegenüber alternativen Lebensentwürfen bestehen. Auf institutioneller Ebene sollen Grund- und Menschenrechte gegenüber der potenziellen Mehrheitstyrannei insbesondere durch Verfassungen, rechtsstaatliche Prinzipien und Mechanismen der Gewaltenteilung geschützt werden. Daneben aber wird allgemein davon ausgegangen, dass Demokratien zusätzlich auf günstige Bedingungen politischer Kultur angewiesen sind, als dessen Basis ein verbreitetes demokratisches Bewusstsein gelten kann, dass außerdem dazu geeignet ist, zu oft so genanntem zivilgesell-schaftlichem Engagement zu motivieren, wenn es darauf ankommt, den Gehalt der Grundrechte in lebensweltlichen Kontexten anzuwenden oder durchzusetzen oder aber im Rahmen sozialer Bewegungen gegenüber politischen Ein- und Übergriffen zu verteidigen. Neben der Gewähr von Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit kann nur politische Bildung zur Erhaltung einer vitalen demokratischen Kultur beitragen. Dass ein nachhaltiges Verständnis von Sinn und Gehalt der Menschenrechte auf Bildung angewiesen ist (Beer 2002), richtet sich gleichzeitig gegen die These, es gäbe ‚Ungebildete’ von Natur aus, also Menschen, die nicht in der Lage sind, sich Bildung anzueignen. Nicht nur ist die These einer gleichsam ontologischen „Natürlichkeit“ des Menschen philosophisch kaum zu begründen (Hume 1793/1989, 1748/1993; Kant 1781[7]/1992; Jannich 2005); sie widerspricht in ihrem Kern der Idee der Demokratie: Diese muss schließlich davon ausgehen, dass grundsätzlich alle Menschen befähigt (wenn auch nicht notwendig willens) sind, sich Bil-dung anzueignen, um die wesentlichen Aspekte politischer Einfluss- und Entscheidungskanäle zu verstehen, unter Gesichtspunkten demokrati-scher Legitimität zu beurteilen und die je eigenen Möglichkeiten für eine gleichberechtigte und mündige Partizipation zu realisieren. Politische

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Bildung, will sie ein Beitrag zur Demokratie sein, muss also von diesem Grundsatz ausgehen, ansonsten würde sie sich selbst ad absurdum führen.

Die Notwendigkeit verständiger RechtssubjekteWenn demokratische Kultur, politische Urteilsfähigkeit und politische Be-teiligungen Bedingungen für das Funktionieren der Demokratie sind, und politische Bildung dazu dient, diese Bedingungen zu realisieren, kann die politische Bildung als eine Säule demokratischer Gesellschaften verstan-den werden. Aber auch aus der Perspektive der individuellen Bürger lässt sich die Notwendigkeit politischer Bildung begründen. Im Namen einer effektiven Verwirklichung und Durchsetzung von Menschenrechten kann geltend gemacht werden, dass eine Menschenrechtsbildung unverzicht-bar ist, die die Individuen befähigt, ihre Rechte zu erkennen, deren inter-subjektive, gesellschaftliche, administrative und politische Anerkennung ggf. einzufordern oder gar unter Inanspruchnahme der Institutionen des Rechtsschutzes notfalls auch einzuklagen. Nicht zuletzt enthält die Allge-meine Erklärung der Menschenrechte selbst ein individuelles Recht auf Bildung, das u. a. „die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung und Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben“ soll (Artikel 26).

Auch wenn mit den obigen Bemerkungen schon implizit Antworten auf die Frage der genaueren Inhalte politischer Bildung gegeben worden sind, bedarf es noch einer genaueren Klärung des Konzepts politischer Bildung, weil sowohl der Begriff der Bildung als auch der Begriff des Politischen einen breiten Bedeutungshof haben. Um daher Klarheit in eine mögliche Antwort zu bringen, sollen diese Begriffe für die weitere Verwen-dung (grob) definiert und erläutert werden. Weil es politische Bildung im Gegensatz zur Politikwissenschaft insbesondere mit Demokratie und der Vermittlung demokratischer Kompetenzen zu tun hat, wird im VorBild-Projekt ein Konzept politischer Bildung vertreten, dass Demokratie und Menschenrechte als zentrale Legitimitätskriterien moderner Politik und individueller politischer Urteils- und Handlungsfähigkeit beinhaltet.

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2.1 Bildung

Begriffe sollten möglichst trennscharf und eindeutig gebildet und ver-wendet werden. Eine gehaltvolle Begriffsbestimmung zielt zudem auf eine Abgrenzung zu oppositionellen und verwandten Begriffen. In diesem Sinne kann der Bildungsbegriff abgegrenzt werden von einem reinen Wissensbegriff. Dieser meint das Haben von spezifischen Wissensinhal-ten, die sich möglichst standardisieren lassen und auf Anfrage abgerufen werden können (z. B. Klausur). Damit soll Wissen keineswegs abgewertet werden. Wissensinhalte besitzen einen hohen pragmatischen Nutzen, da sie für die Auseinandersetzung mit der materiellen und sozialen Umwelt unabdingbar sind. Unsere Umwelt erschließt sich uns schließlich über das Wissen, das wir von ihr haben, und das wir gegebenenfalls zur Verfügung haben müssen, um uns zu orientieren. In einem ontogenetischen Sinne verweist der Wissensbegriff auf den Begriff des Lernens, der aus dieser Perspektive zunächst einen rein additiven Vorgang meint: Die Akkumu-lation von Wissen. Wissen ist damit ein Begriff der sich eindeutig nicht auf den homo sapiens beschränkt und möglicherweise auch im Bereich der Computertechnologie sinnvoll angewendet werden kann. Und wie die neuere Hirnforschung vermutet, bezieht sich Lernen bereits auf unser neuronales Netzwerk, also eine rein biologisch gedachte Entität (Spitzer 2000; Singer 2002).

Bildung dagegen kann als die Reflexivform des Wissens verstanden werden. Hier geht es nicht so sehr darum, in bestimmten Situationen ein bestimmtes Wissen zur Anwendung zu bringen, sondern dieses Wissen in einen breiteren Kontext zu stellen und gegebenenfalls kritisch zu hinter-fragen (Habermas 1968; Piaget 1980, Adorno 1997). Gemeint ist damit die Fähigkeit, bestimmte Wissensinhalte begründen und (notwendige) Konsequenzen und Ableitungen aus diesem Wissen folgern zu können. Dies impliziert, dass mindestens eine Alternative bekannt ist, um den Wissensinhalt so in eine Differenz zu bringen, dass der Wissensinhalt eine gehaltvolle Information wird (Baetson 1987). Einen emanzipatorischen Charakter bekommt Bildung dadurch, dass Bildung ermöglicht, eigenes Wissen zu generieren und auf sozial vermitteltes Wissen mit einer Ja / Nein-Stellungnahme zu reagieren. Ontogenetisch grenzt sich Bildung vom Wissensbegriff vor allem dadurch ab, dass Bildung kein additives Akkumulieren erlaubt.

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Wenngleich also mit dem Bildungsbegriff mehr ein Sein (im Sinne von allgemeiner Befähigung) als ein Haben (von konkreten Wissensinhalten) beschrieben wird, ist der Bildungsbegriff nicht unabhängig vom Wissens-begriff. Dies zum Einen schon deshalb, weil sich Bildungskompetenzen auf Wissen beziehen. Dies zum Anderen, weil vermutet werden kann, dass erst sich widersprechende Wissensinhalte (also ein Unterschied, der einen Unterschied macht) eine Ontogenese anschieben, die dazu anregt, überhaupt reflexiv auf Wissen zuzugreifen (Piaget 1976).

2.2 Politik

Einer vielfach verwendeten Definition nach wird der Begriff des Politischen als der gesellschaftliche Bereich verstanden, in dem kollektiv verbindliche Entscheidungen in einem als politische Einheit markierten Gemeinwesen getroffen werden (vgl. z.B. Luhmann 2002). Explizit ausgenommen sind damit andere Handlungsbereiche der Gesellschaft, wie beispielsweise Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Kunst, Sport usw. Ebenso ausge-schlossen ist damit der Bereich des Privaten, der persönlichen Beziehun-gen und der Familie, der gemeinhin als ein Raum aufgefasst wird, der vor staatlichen Eingriffen stärker zu schützen ist (siehe dazu Rössler 2001). Innerhalb dieser nicht-politischen Bereiche kann zwar Politik eine Rolle spielen – beispielsweise indem politische Regeln und Gesetze dort jeweils hineinwirken oder von dort aus gefordert werden oder aber politische Themen besprochen und diskutiert werden können –, aber die primären Zwecke und Funktionen sind jeweils andere als Politik.

Defizite eines klassischen Verständnisses von institutionalisierter PolitikDiese Definition von Politik als ein Handlungsbereich, der sich in einem gemeinhin als politisches System bezeichneten institutionell abgegrenzten Raum vollzieht, hat nun offenkundig zwei kaum zu übersehende Defizite. Zum einen ignoriert sie die Dimension demokratischer Legitimität, weil sie als eine empirisch-analytische und übergreifende Bestimmung der Logik des Politischen die Demokratie – wie auch immer sie im Einzelnen definiert wird und institutionalisiert ist – nur als eine bestimmte historische Variante der Verfasstheit politischer Systeme auffasst. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass Politik nur noch in demokratischer Gestalt zu recht-

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fertigen ist, muss die Definition von Politik als die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen in einer politischen Einheit um die Legiti-mitätskriterien des demokratischen Charakters der politischen Entschei-dungsverfahren und der Kompatibilität mit Grund- und Menschenrechten erweitert werden. Darüber hinaus ist politische Bildung ohnehin nicht mit Politikwissenschaft zu verwechseln, weil diese als Staatsbürger(innen)-Qualifikation (im Zuge europäischer Harmonisierung dieses Bereichs ist die Rede von citizenship education) und nicht etwa als Belehrung von Un-tertanen ja zur Reproduktion der kulturellen Bedingungen der Demokratie selbst beitragen soll. In Deutschland ist es ohnehin weitgehend Konsens, dass nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus politische Bildung als ein Element der Demokratisierung und der demokratischen Kultur aufzufassen ist (vgl. Sander 2005a).

Das zweite Problem der o.a. Definition von Politik als Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen besteht darin, dass damit eine Perspek-tive auf politische Institutionen in einem engeren Sinn, wenn nicht gar auf dezidiert staatliche bzw. administrative Institutionen, eingeführt wird. Richtig daran ist sicher, dass auch in modernen Demokratien kollektiv verbindliche Entscheidungen (zumindest solche, die für die ganze Ge-sellschaft des betreffenden Gemeinwesens verbindlich sind) zumindest überwiegend durch spezifisch dafür vorgesehene Institutionen (Parteien, Wahlen, Parlamente, Regierungen) getroffen werden. Andererseits aber sind die politischen Institutionen und die kollektiv verbindlichen Entschei-dungen, die innerhalb der politischen Institutionen getroffen werden, auf die Akzeptanz und teilweise auch die Unterstützung von Bürgerinnen und Bürgern und deren Zusammenschlüssen in gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen angewiesen. Aus demokratischer Perspektive sollen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger politischen Regulierungen ja zumin-dest in der Mehrheit zustimmen (können) oder sich gar an der Artikula-tion politischer Interessen und der Formulierung politischer Programme beteiligen. Und in der Tat stellen die verschiedensten Gruppen, Vereine und Verbände aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auch Forderungen an die Politik, weil sie zur Verwirklichung ihrer jeweiligen Ziele und Zwecke auf die politische Bewältigung sie betreffender sozialer Probleme oder politisch gesetzter Rahmenbedingungen angewiesen sein können oder aber auch sich gegen als illegitim erachtete politische Eingriffe zur Wehr setzen.

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Ein funktionalistisches Verständnis von PolitikVor diesem Hintergrund bietet sich eher ein funktional bestimmter Politik-begriff an, der Politik als einen Handlungsmodus auffasst, „der in erster Linie an seinen Zwecken und Wirkungen und nicht an den Formen seiner Organisation und Institutionalisierung zu bemessen ist.“ (Meyer 2000: 22) Politik wäre dann die Gesamtheit der Aktivitäten zur Herstellung oder Kri-tik gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen und Regeln, ganz gleich von welchen Organisationen und Akteuren sie jeweils ausgehen. Immer dann, wenn Probleme als politische adressiert werden und wenn Regelungen, Deregulierungen oder der Verzicht auf Regeln im Kontext ei-ner politischen Einheit (z.B. Kommune, Land, Staat, EU, Institutionen der UN) gefordert oder vorgeschlagen werden, handelt es sich demnach um Politik. Da außerdem auch innerhalb verschiedener sozialer und kollektiver Einheiten (z.B. Familien, Bekanntenkreisen, Vereinen, Stammtischen, Firmen) über Politik gesprochen und diskutiert werden kann, ohne dass die jeweilige Einheit direkt von politischen Regeln betroffen sein muss oder sie selbst betreffende politische Forderungen artikulieren, muss ein demokratischer Politikbegriff auch in dieser Richtung ausgedehnt werden. Solche Diskussionen betreffen etwa tagespolitische Aktualitäten, gesellschaftspolitische Visionen, die Institutionen der Demokratie und das Demokratieverständnis selbst. Solche Diskussionen tragen zweifelsoh-ne zur Meinungsbildung einzelner Akteure bei und stellen somit einen Raum zur Verfügung, innerhalb dessen die öffentliche Meinungsbildung ausprobiert und vorbereitet werden kann. Wird auch dieser Aspekt in die Definition des Politischen aufgenommen, modifiziert sich der demokrati-sche Politikbegriff dahingehend, dass das Politische alle Kommunikatio-nen und Aktivitäten umfasst, die informell oder formell zur Entscheidung oder Beurteilung kollektiv verbindlicher und legitimer Entscheidungen im Rahmen eines politisch definierten Gemeinwesens beitragen.

Ein solcher Politikbegriff hat mehrere Vorteile. Erstens ist der jeweilige Gegenstand der Politik sachlich und zeitlich variabel, so dass es von den politischen Kommunikationen und Handlungen der verschiedenen Akteure abhängt, ob, um nur zwei Beispiele zu nennen, ökonomische Verhältnisse auch politische Relevanz gewinnen oder das Private etwa in Gestalt der Geschlechterverhältnisse als politisch aufgefasst wird. Zwei-tens kann damit eine im modernen Demokratieverständnis wesentliche Instanz in den Politikbegriff einbezogen werden, die ansonsten notwendig marginalisiert würde: nämlich die Sphäre der Öffentlichkeit, die im Prozess

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der Verhandlung kollektiv verbindlicher Entscheidungen berücksichtigt werden muss (Habermas 1992).

Demokratie und ÖffentlichkeitDas zeigt sich allein schon daran, dass selbst politische Programme und Gesetzesvorschläge aus dem politischen System der sie betreffenden Gesellschaft gegenüber transparent sein, d. h. mindestens Interessierten zugänglich sein müssen. Darüber hinaus müssen sie im Allgemeinen öffentlich gerechtfertigt werden, um Aussicht auf eine mehrheitliche Un-terstützung in der Gesellschaft zu haben. In anspruchsvolleren Demokra-tiekonzeptionen wird zudem davon ausgegangen, dass sich im Rahmen gewährleisteter Grundrechte politischer Beteiligung aus der Gesellschaft heraus Initiativen und Zusammenschlüsse bilden, die Bedürfnisse politischer Regulierung artikulieren, aggregieren und an die etablierten politischen Akteure und Institutionen adressieren und damit u. U. auch die Bedingungen gesamtgesellschaftlicher Konsense beeinflussen und je-weilige Verfassungsinterpretationen verändern (Rödel/Frankenberg/Dubiel 1989). Ein die Öffentlichkeit einbeziehendes Demokratieverständnis kann also nicht von einer gegenüber dem politischen System abgegrenzten unpolitischen Gesellschaft ausgehen.

Vielmehr spielt die Gesellschaft in bestimmten Konstellationen eine vari-ierende politische Rolle, was im Allgemeinen in der vielzitierten Rede von der „Zivilgesellschaft“ zum Ausdruck gebracht wird. Damit werden in der Regel vom politischen und ökonomischen System relativ unabhängige kollektive Akteure bezeichnet, die als Teil der Öffentlichkeit fungieren und einen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung ausüben. Zu denken ist hier an Interessengruppen, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen. Vermittels der Mitgliedschaft in solchen Kollektiven können die Bürgerinnen und Bürger an demokratischen Entscheidungsprozessen teilnehmen. Das allerdings wirft die Frage der sowohl internen als auch externen demokratischen Qualität solcher gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen auf. Erstens kann man nicht generell von einer internen demokratischen Organisation von Kollektiven in der Gesellschaft ausgehen. Bekanntlich gibt es zahlreiche religiöse und ethnisch-nationa-listische Gruppen und Bewegungen, die intern hierarchisch organisiert sind und nicht in jedem Fall die Freiheit ihrer Mitglieder fördern. Manche fundamentalistische und sektenförmige Gruppen haben ein komplexes

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System von Verpflichtungsappellen, Drohungen, Strafen und manchmal auch individueller Bespitzelung ausgebildet, um die kollektive Integri-tät zu bewahren und individuellen Widerspruch und Abwanderung zu verhindern. Aber auch etablierte und anerkannte Organisationen wie Kirchen, Wissenschafts-, Wirtschafts- und Berufsverbände vertreten teilweise eher die Interessen ihrer jeweiligen Eliten als die ihrer Mitglieder. In dieser Hinsicht muss aus demokratischer Perspektive gewährleistet werden, dass, je mehr solche Organisationen einen offiziellen Einfluss auf den politischen Prozess ausüben, sie auch nach internen demokra-tischen Verfahren organisiert sein sollten. In externer Hinsicht ergibt sich ein weiteres Problem zentrales Problem: lange nicht alle Vereinigungen artikulieren Problemlagen von gesamtgesellschaftlichem Interesse und handeln im Sinn eines wie auch immer genauer verstandenen Gemein-wohls. Zahlreiche Bürgerinitiativen formieren sich um eindeutig partikulare Interessen oder versuchen gar, die Risiken und Probleme von teilweise für im Prinzip richtig gehaltenen gesellschaftlichen und technologischen Einrichtungen und infrastrukturellen Maßnahmen auf andere Gebiete und Bevölkerungsgruppen abzuschieben. Die Beispiele sind zahlreich: Mit der Parole „aber nicht bei uns“ wird regional nicht selten z.B. gegen den Bau von Kraftwerken, Eisenbahnstrecken, Autobahnen und Moscheen oder gegen die Einrichtung von Asylbewerberheimen oder Aufenthaltsräumen für Obdachlose oder Drogenabhängige usw. mobilisiert. In dieser Hinsicht bleibt nichts anderes als darauf zu vertrauen, dass vitale Zivilgesellschaf-ten genügend freiwillige Initiativen und Bürgerbewegungen hervorbrin-gen, die politischen Zielen und Forderungen aus der Gesellschaft einen öffentlichen „Verallgemeinerungstest“ abverlangen und dementsprechend partikulare Interessen de-legitimieren können.

Das Spannungsverhältnis zwischen Politik, Gesellschaft und ÖffentlichkeitDer Verzicht auf eine kategoriale Abgrenzung von Politik und Gesell-schaft bedeutet indes nicht, die Rolle dezidiert politischer Akteure und Institutionen bei der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen gering zu schätzen. Auch Habermas siedelt seinen Demokratiebegriff auf der liberalen Vorstellung einer Trennung von Gesellschaft und Staat an (Engländer 1995; Habermas 1996) und sieht die Realisierung des Regelbedarfs moderner Gesellschaften erst dann gewährleistet, wenn er von den aufwendigen Kommunikationsprozessen aller (möglicherweise)

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Betroffenen entlastet ist. Dennoch gründet sein Verständnis der Demokra-tie insofern in diesen Kommunikationsprozessen, als diese sich so zu einer öffentlichen Meinungsmacht verdichten sollen, dass sie die Rechts-setzungsinstitutionen umlagern und programmieren (vgl. auch Heming 1997), diese also nicht unabhängig von öffentlichen Diskursen sind. Eine solche Konzeption demokratischer Legitimität geht davon aus, dass über die öffentlichen Diskurse neben partikularen Interessen und Machtmoti-ven auch gerade ethische Überlegungen und moralische Intuitionen der Akteure in die parlamentarischen Debatten einfließen. Ethische Gründe und Argumente betreffen nach Habermas die Vereinbarkeit einer vorge-schlagenen politischen Maßnahme mit dem geteilten Selbstverständnis der jeweils relevanten Gemeinschaft bzw. der jeweils als Gemeinwohl erachteten kollektiven Zielsetzungen. Moralische Gründe und Argumente basieren auf der grundlegenden Intuition, dass bestimmte Handlungskon-flikte unter unparteilicher Berücksichtigung der legitimen Interessen aller Betroffenen gelöst werden sollten.

Nach der von Habermas vertretenen diskursethischen Lesart wären so nur solche Normen und Regelungen zu rechtfertigen, die die zwanglose Zustimmung aller Betroffenen in einem herrschaftsfreien und unparteili-chen Diskurs finden können (Habermas 1991). Die aber wohl beste allge-meine Erläuterung des moralischen Standpunkts bietet aber wahrschein-lich die Fassung des Kantischen Kategorischen Imperativs, nach der Personen nie bloß als Mittel, sondern immer auch als Zwecke betrachtet und behandelt werden sollten (vgl. Tugendhat 1993). Entscheidend ist die allgemein geteilte moralische Intuition, dass es jedenfalls Grenzen der Ins-trumentalisierung, Verzweckung und Verdinglichung von individuellen Per-sonen geben sollte, wie auch immer diese genau spezifiziert und konkreti-siert werden. Dass Menschen in diesem Sinn als individuelle Personen mit eigenem Willen, eigenen Interessen, Bindungen und Überzeugungen zu respektieren sind, wird letztlich im Begriff der Menschenwürde verdichtet, die wiederum auf staatlicher Ebene vorrangig durch institutionalisierte individuelle Grund- und Freiheitsrechte zu gewährleisten ist.

Demokratie, Interessen und StrategienNun kann selbstverständlich weder der politische Prozess im Ganzen noch die rhetorischen Auseinandersetzungen politischer Akteure um politische Regulierung allein auf ethische und moralische Überlegungen

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in öffentlichen Kontexten zurückgeführt werden. Ein wesentlicher Teil des politischen Prozesses besteht bekanntlich aus Interessen, die auf Basis der Verfügung ungleich verteilter Ressourcen wie ökonomischem Kapital, Bildung, kollektiver Organisationsfähigkeit, Prestige und Prominenz versuchen, sich einen privilegierten Einfluss zu verschaffen und Status-, Macht- und Herrschaftsansprüche zu realisieren. Auch in Demokratien werden Konflikte um knappe Ressourcen häufig auf Basis von Verhand-lungen gelöst, die keineswegs die Interessen und Überzeugungen aller betroffenen Bürger einschließen, sondern den jeweiligen Drohpotentialen einflussreicher organisierter Interessen entsprechen. Selbst auf der Ebene politischer und öffentlicher Debatten dominieren oft nicht unbedingt Argu-mente im strengen Sinn: definiert als eine spezifische Form der Kommu-nikation, in der Aussagen mit bestimmten Gründen verteidigt werden, um bestimmte Adressaten zu überzeugen und so einen rational motivierten und freiwillig akzeptierten Konsens herbeizuführen (vgl. Toulmin 1958).

Stattdessen gibt es in der Politik viele Sprechakte anderer Art, wie bspw. nicht näher spezifizierte Ankündigungen, Vorschläge und Versprechun-gen, bloße Bekenntnisse, Mutmaßungen und Unterstellungen über die Motive der jeweiligen politischen Gegner und nicht selten Drohungen ver-schiedener Art. Ein großer Anteil politischer Kommunikation besteht, wie man täglich beobachten kann, in der Kritik und Diffamierung des politi-schen Gegners, dem z.B. Inkonsistenzen der Haltung und Programmatik, innerparteiliche Zerrissenheit und Unaufrichtigkeit vorgeworfen werden, und, korrespondierend, in der jeweils eigenen positiven Selbstdarstellung, indem z.B. auf die Konsistenz und Kohärenz des eigenen Standpunkts verwiesen wird und selbst erklärte eigene Verdienste beschworen werden. Hinzu kommen bewusste Strategien der durchaus manipulativ gemeinten „Begriffsbesetzung“ als ein Aspekt der inzwischen allgemein üblichen systematischen parteipolitischen Kampagnenplanung zur Erlangung kul-tureller Hegemonie als Voraussetzung politischer Mehrheitsfähigkeit. Ein oft genanntes Beispiel der Verwendung vor allem positiv konnotierter zen-traler Begriffe – womit gleichzeitig sozusagen die Handlungskompetenz der politischen Akteure betont werden soll, regulierende Eingriffe in der natürlichen und sozialen Welt in einem gewünschten Sinn durchführen zu können – besteht in der Rede von „Herausforderungen“ statt von „Prob-lemen“. Populistische Taktiken der Skandalisierung und Personalisierung, die vor allem Emotionen adressieren oder gar vorhandene Ressentiments

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systematisch in Regie nehmen wollen, sind ebenso kontinuierlich wieder-kehrende Phänomene politischer Auseinandersetzungen.

Die unhintergehbare Normativität des PolitischenGerade jedoch im Sinne der Zielsetzung politischer Bildung, die zu kritischem Urteilen und zur Partizipation möglichst breiter Bevölkerungs-schichten an der Demokratie befähigen soll, erscheint es angemessen, Politik vorrangig in ihrer normativen Dimension in den Blick zu nehmen. Bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse werden in Demokratien unter Rückgriff auf ihre allgemein geteilten Werte und Legitimitätsprinzipi-en gerechtfertigt und kritisiert. Demokratische Staaten lassen sich nicht allein durch Referenz auf ihre jeweilige offizielle und regierungsamtliche Selbstbeschreibung charakterisieren, weil sie dann von Diktaturen, die sich heutzutage in der Regel ebenso als demokratisch, „volksdemokra-tisch“ oder „Demokratie im Übergang“ o.ä. nicht unterscheidbar wären. Demokratien zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass ihre idealen Werte und Prinzipien selbst einen „Sitz in der Realität“ haben, nämlich im Bewusstsein und Verhalten ihrer Bürgerinnen und Bürger selbst, in der Programmatik politischer Akteure und in den Funktionen ihrer politischen Institutionen. Die demokratischen politischen Parteien beziehen sich gemeinhin auf die Werte der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, wobei die wesentlichen programmatischen Unterschiede in verschiedenen Interpretationen der einzelnen Werte und insbesondere deren Verhältnis zueinander bestehen.

Vereine und Verbände artikulieren ihre partikularen Interessen stets unter Bezug auf gemeinwohlverträgliche oder -förderliche Aspekte. Die Verfassungen demokratischer Gemeinwesen ebenso wie internationale Konventionen und Verträge auf Basis der Charta der Vereinten Nationen beziehen sich bekanntlich auf die beiden grundlegenden Legitimitäts-prinzipien der Demokratie und Menschenrechte. Politik wird nicht von ungefähr in modernen, säkularen Gesellschaften als die einzig verbliebene Sphäre ihrer moralischen Integration betrachtet; insbesondere die Allge-meine Erklärung der Menschenrechte ist als Reaktion auf die Barbarei des deutschen Nationalsozialismus als die „lingua franca des weltweiten moralischen Denkens“ bezeichnet worden (Ignatieff 2002: 74). Politische Interessen und Vorschläge kollektiv verbindlicher Regelungen müssen sich vor dem Hintergrund dieser Werte und Prinzipien legitimieren. In

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demokratischen Staaten gibt es deswegen eine Reihe von Institutionen, die eine kritische Prüfung und Beratung von politischen Initiativen und Gesetzesvorschlägen ermöglichen sollen, insbesondere z.B. Parteitage, Parlamente, Ausschüsse und Gerichte.

Für die politische Bildung ist aber die Frage zentral, in welcher Weise die möglichst weitreichende Kenntnis und ein reflektiertes Verständnis dieser normativen Prinzipien der Demokratie als Kriterien politisch-demokrati-scher Urteilsbildung bestmöglich zu vermitteln sind. Die nachfolgenden Überlegungen laufen darauf hinaus, dass die normativen Legitimitätsprin-zipien demokratischer Gesellschaften, insbesondere in Gestalt von Demo-kratie und Grundrechten, als Prüfkriterien realer politischer Prozesse ihren Sitz im Bewusstsein demokratisch kompetenter Bürger haben (sollten).

3. Politische Bildung in der Demokratie

Der politischen Bildung im Rahmen demokratischer Gesellschaften kommt also die besondere Aufgabe zu, die individuelle als auch gemein-same Befähigung zur politischen Urteilsfähigkeit, zur passiven und aktiven Partizipation am demokratischen Prozess und zur selbstbestimmten Ausschöpfung grundrechtlich geschützter Handlungsspielräume zu un-terstützen bzw. anzuschieben. Obwohl die Inhalte der politischen Bildung in der Demokratie dadurch bereits angedeutet worden sind und obwohl im Großen und Ganzen Einigkeit darüber besteht, dass Demokratie ein zentraler Referenzpunkt politischer Bildung sein muss, bleibt damit noch offen, ob sich das zu vermittelnde Demokratieverständnis eher auf ein bereits etabliertes System demokratischer Institutionen beziehen soll oder aber auf ein aus der Ideengeschichte abgeleitetes Konzept, das grund-legendere Kriterien der Beurteilung und möglichen Kritik realer politischer Prozesse bereitstellt.

Zum einen kann der Fokus politischer Bildung auf die Funktionsweise eines Systems demokratischer Institutionen gelegt werden, in dem De-mokratie in einer spezifischen Weise verankert ist und auf Basis dessen interpretiert wird. Der Vorteil dabei wäre, dass damit die politische Bildung die entsprechenden Zielgruppen direkt auf ein Verständnis von und eine politische Partizipation an existierenden Institutionen (z.B. Parteien, Wah-len, Verbände) befähigen könnte. Der Nachteil dabei aber ist, dass im de-mokratischen Selbstverständigungsprozess auch die Idee der Demokratie

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selbst und die zu einem historischen Zeitpunkt realisierte Demokratieform und deren korrespondierenden Institutionen in den öffentlichen Meinungs-austausch einbezogen werden müssen, soll die Demokratie nicht als autoritäres oder paternalistisches Projekt enden.

Der ideengeschichtliche Zugang zur DemokratieDie alternative Möglichkeit, die diesen Punkt berücksichtigt, ist das Bemühen die Idee der Demokratie aus der Ideengeschichte abzuleiten. Der (scheinbare) Nachteil ist dann zwar, dass damit einzig ein abstrakter Begriffsrahmen extrahiert wird. Dies ist jedoch zugleich der Vorteil dieser Strategie, weil damit ein Demokratiebegriff gefunden wird, der hinreichend allgemein ist, um die ideellen Grundlagen der Demokratie zu verstehen, der also befähigt, die Idee der Demokratie selbst und die Institutionen in den Sog der Problematisierung zu ziehen. Wird diese Strategie gewählt, zeigt sich indessen ein zweiter damit zusammenhängender Vorteil. Die Idee der Demokratie ist nämlich in der Ideengeschichte keineswegs eine eindeutig festgelegte Angelegenheit. Vielmehr wird spätestens seit der Aufklärung um die Auslegung bzw. Interpretation der demokratischen Idee eine Kontroverse geführt, die die Breite des Demokratiebegriffes absteckt, und deren ansatzweise und perspektivische Kenntnis zweifels-ohne eine gewichtige Voraussetzung ist, um gleichberechtigt und mündig am demokratischen Diskurs auch über die Demokratie selbst und ihre Institutionen zu partizipieren. Denn die Vermittlung von Prinzipien demo-kratischer Legitimität als Kriterien kritischer Urteilsbildung und mögliches Motiv kritisch-politischer Beteiligung ist gerade in der politischen Bildung von Bedeutung, als politische Partizipation in einer Demokratie ihrem eigenen Selbstverständnis nach gerade nicht auf die Teilnahme in einem von politischen Eliten und Experten vorgegebenen institutionellen Proze-dere beschränkt werden kann. Damit wären die Aspekte eines idealen Konzepts der Demokratie – z.B. staatsbürgerliche Gleichheit, Identität von Regierenden und Regierten, menschenrechtliche Kompatibilität politischer Entscheidungen – eher kritische Kriterien der Beurteilung statt der Dar-stellung realer sich als demokratisch beschreibender Verhältnisse.

Varianten demokratischer VergesellschaftungMit einem kurzen Blick in die Demokratietheorie lässt sich illustrieren, dass bereits die verschiedenen Modelle der Demokratie, die in der Theorie übli-

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cherweise unterschieden werden, allesamt bestimmte Defizite aufweisen, die zentrale demokratische Kriterien wie etwa die gleiche Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger und allen von politischen Entscheidungen Betroffenen gleichermaßen gerecht werdende Ergebnisse unzureichend realisieren. Repräsentative Demokratien laufen mit der Etablierung pro-fessioneller politischer Eliten Gefahr, dass sich die gewählten Repräsen-tanten vom „Volkswillen“ entfremden. Außerdem kann die Anwendung der Mehrheitsregel immer auf eine „Tyrannei der Mehrheit“ hinauslau-fen, wodurch die unterlegenen Minderheiten ihrer Repräsentation und eventuell gar ihrer Rechte beraubt werden. Basis- und Rätedemokratien privilegieren eine politische Existenzweise der Bürgerinnen und Bürger, die aber möglicherweise viele andere Verpflichtungen und auch Interessen haben, für deren Verfolgung die individuellen Grundrechte ihnen schließ-lich Handlungsfreiheiten gewähren, die eine mögliche freiwillige Abstinenz von Politik einschließen. Im Ergebnis kann eine im Übermaß auf politische Mitwirkung in verschiedenen Gremien auf unterschiedlichen Ebenen angelegte Verpflichtung zu einer Herrschaft der politisch Interessierten und Engagierten führen. Plebiszitäre Demokratien, in denen ein breites Spektrum politischer Fragen durch Volksabstimmungen entschieden wird, bergen die Gefahr, dass politische Entscheidungsprozesse im Übermaß von egozentrischen, unvermittelten und unaufgeklärten Präferenzen, aktuellen öffentlichen Stimmungen und demagogischen Einflussnahmen abhängig sind, was die erwähnten negativen Konsequenzen der Anwen-dung der Mehrheitsregel verschlimmern kann. Pluralistische Demokratien, die davon ausgehen, dass sich die in einer Gesellschaft existierenden In-teressen in Organisationen (Vereinen, Verbänden, Parteien) pyramidenför-mig nach oben aggregieren, ignorieren das Problem, dass sich so in der Gesellschaft bereits vorhandene soziale Machtverhältnisse unvermittelt in politische übersetzen und damit politisch reproduziert und strukturell verfestigt werden. Sowohl faktisch unorganisierte Interessen als auch von der Sache her schwerer organisierbare Interessen wie beispielsweise die von Hausfrauen oder -männern oder die des Umweltschutzes werden damit strukturell benachteiligt (vgl. Offe 1971).

Die in politischer Theorie und Politikwissenschaft in jüngerer Zeit eine starke Konjunktur erfahrenen Modelle deliberativer Demokratie, die in ihrem Kern davon ausgehen, dass sich private und partikulare Interessen in Foren ausführlicher und rationaler Beratung in öffentliche verallgemei-nerungs- und konsensfähige Standpunkte und in von allen Beteiligten

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akzeptable Regeln transformieren lassen, stehen vor dem Problem, dass entsprechende Beratungsgremien in modernen Massendemokratien nur partiell vorstellbar und institutionalisierbar sind. Wenn zudem politische Entscheidungen ausschließlich oder auch nur überwiegend auf Basis von Konsensentscheidungen getroffen werden (sollen), besteht die Gefahr, dass bestimmte dringende politische Fragen beim Fortbestehen tiefgrei-fender Dissense unentschieden bleiben. Das würde dem demokratischen Selbstverständnis insofern widersprechen, als Demokratie nicht nur in ihrer partizipatorischen Komponente (Herrschaft durch das Volk) besteht, sondern auch in dem Element der effektiven Regulierung drängender politischer Probleme (Herrschaft für das Volk). Zudem kann durch eine übermäßige Ausrichtung auf Beratung bei den Bürgerinnen und Bürgern leicht der Eindruck entstehen, dass im politischen Bereich überwiegend geredet, statt dass das Notwendige getan wird.

Das normative Spannungsfeld der Demokratie als theoretisch-konzeptioneller Ausgangspunkt des VorBild-ProjektsIn diesem Sinn steht Demokratie als ideales Konzept und als moralisches Prinzip der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger in einem notwendigen Spannungsverhältnis zu den immer unvollkommenen konkreten Insti-tutionen real existierender demokratischer Staaten. Im Rahmen dieses Projekts werden das Bewusstsein und die Erfahrung dieses Spannungs-verhältnisses von Idee und Wirklichkeit der Demokratie als ein zentrales Element politischer Urteilsfähigkeit demokratischer und kritischer Bürge-rinnen und Bürger aufgefasst, dem politische Bildung eine systematische Aufmerksamkeit widmen sollte. Das klingt weitaus abstrakter als es ist. Wenn man davon ausgeht, dass auch im Rahmen von Schule und Klas-senverband kollektive Entscheidungen unter Mitwirkung der Schülerinnen und Schüler sowohl über intern geltende Regelungen als auch über ge-meinsame Aktivitäten und mögliche Projekte getroffen werden (können), können im Rahmen dessen verschiedene demokratische Entscheidungs-verfahren angewandt werden, die auch in der „großen Politik“ eine Rolle spielen. Die Möglichkeiten und der Wert demokratischer Entscheidungen als auch deren Grenzen und Defizite können so konkret erfahrbar werden. Darüber hinaus ist in Theorien und Konzepten politischer Bildung wieder-holt darauf hingewiesen worden, dass soziale und politische Kompeten-zen mindestens in einer Reihe von Aspekten eine gewisse Verwandtschaft aufweisen, beispielsweise wenn man an individuelle Einstellungen wie

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Toleranz, Gewaltverzicht, Kooperationsbereitschaft, Anerkennung anderer Meinungen, Interessen und Lebensformen, Diskursfähigkeit, Empathie und Fairness denkt.

Im nachhaltigen Fokus auf den Begriff der Demokratie wird hier damit in gewisser Weise an neuere Konzepte in der politischen Bildung ange-knüpft, die unter dem Titel Demokratie-Lernen bekannt geworden sind (z.B. Edelstein/Fauser 2001; Himmelmann 2001). Allerdings führt in diesen Ansätzen die im Prinzip richtige Ausrichtung auf den Zusammen-hang von sozialen und politischen Kompetenzen zu einem der Tendenz nach zu weiten Politikbegriff, der die Aushandlung von kollektiven Regeln in allen intersubjektiven Verhältnissen und sozialen Einheiten immer auch schon als Politik versteht, wodurch „die strukturellen Unterschiede zwischen den zumeist noch überschaubaren Gruppen in Schulen und den hochdifferenzierten und formalisierten großen wirtschaftlichen und bürokratischen Organisationen wie die Unterschiede zwischen pädago-gischem und politischem Handeln“ unterschätzt werden (Massing 2004: 81). Die Beziehungen in und zwischen sozialen Nahbereichen, sozialen Einheiten und gesellschaftlichen Zusammenschlüssen, politischer Öffent-lichkeit und politischen Institutionen werden in diesen Konzepten als eine Art Kontinuum gedacht und Demokratie als ein Organisationsprinzip aller intersubjektiven und kollektiven Kontexte vorgestellt.

Grenzen des Demokratie-Lernens an SchulenDiese Auffassung muss dahingehend relativiert werden, dass gesell-schaftliche Vereinigungen und Institutionen nicht als autonome politische Einheiten zu begreifen sind, die allein mittels bestimmter demokratischer Verfahren über sich selbst bestimmen (könnten). Wie oben bereits an-gedeutet wurde, wird einerseits mit gesamtgesellschaftlich verbindlichen Gesetzen und politischen Maßnahmen in die jeweiligen gesellschaft-lichen Einheiten der Gesellschaft „hineinregiert“, andererseits können Forderungen nach politischer Regulierung von dort aus an das politische System adressiert werden, die mit jeweils eigenen Mitteln nicht bewältigt werden können. Die Beschränkung von Selbstregierungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Einheiten und Institutionen durch politische Rahmen-bedingungen muss im Übrigen auch keineswegs negativ interpretiert werden, wenn man sich klarmacht, dass die effektive Durchsetzung von Grundrechten wie bspw. das Verbot körperlicher Gewalt in Schulen und

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Familien anders kaum vorstellbar ist. Darüber hinaus erfüllen gesellschaft-liche Institutionen wie Schulen, Universitäten, soziale Einrichtungen, Sportvereine und Unternehmen bestimmte in der Regel auch politisch definierte gesamtgesellschaftliche Aufgaben und Funktionen, die eine umfassende Selbststeuerung ausschließen.

Die Frage der Demokratisierungsmöglichkeiten interner Entscheidungs-strukturen innerhalb von Schulen, Universitäten, Unternehmen, Kirchen und Familien ist außerdem bekanntlich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene politisch umstritten. Von diesen Einschränkungen abgesehen, kann man dennoch davon ausgehen, dass es einen variierenden Umfang an Fragen und Problemen gibt, die auch innerhalb gesellschaftlicher Organisationen und Institutionen zu entscheiden sind. Insofern ist es richtig, demokratische Methoden beispielhaft in der Schule und im Klas-senverband zu praktizieren, wenn außerdem in einem zusätzlichen bzw. nachfolgenden Schritt die systematischen Differenzen zur Funktion explizit politischer Organisationen und Institutionen auf der „höheren Ebene“, die eben auf die Herstellung von gesellschaftliche Teilbereiche übergreifende verbindliche Regeln ausgerichtet sind, thematisiert werden.

Ein weiterer zentraler Aspekt der Kritik an den Konzepten des Demokra-tie-Lernens besteht darin, dass einem überwiegend negativ konnotier-ten Politikbegriff als strategisch motivierter Machtkampf, Durchsetzung partikularer Interessen oder schlicht im Sinn des vielzitierten „schmutzigen Geschäfts“ ein zu idealistischer Demokratiebegriff gegenübergestellt werde (Massing 2004, Sander 2005b). Insbesondere die Rede davon, dass „Gewalt“ und „Demokratie“ als zwei einander entgegenstehende Prinzipien menschlichen Zusammenlebens aufgefasst werden müssten (Edelstein/Fauser 2001: 17), ignoriere, dass Demokratie auch eine Herr-schaftsform sei, deren Absicherung auf dem durch Polizei und Gerichte ausgeübten staatlichen Gewaltmonopol basiere. Deswegen würden moderne politische Systeme gleichermaßen auf Prinzipien der Menschen-rechte, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung aufruhen, die das demokratische Prinzip begrenzen (Sander 2005b: 344). Dieser in der Tat gewichtige Einwand kann aber damit abgefangen werden, dass man, wie oben ausgeführt, die Differenz von Demokratie als Ideal und Demokratie in der Wirklichkeit präsent hält. Einerseits kann es ja im Prinzip kaum ein Zweifel darüber geben, dass eine demokratische Form der Konfliktregu-lierung jeder autoritären und gewaltförmigen Oktroyierung von Verhalten vorzuziehen ist. Andererseits darf eine bestimmte Form der Anwendung

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oder Institutionalisierung von Demokratie nicht mit der vollständigen Realisierung der der demokratischen Idee zugrunde liegenden idealen Prinzipien – bspw. dem der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger – verwechselt werden. Richtig aber ist auch, dass Demokratie, wenn man diese ausschließlich als kollektives Entscheidungsverfahren begreift, im Namen der Menschenwürde und der dieser korrespondierenden individu-ellen Grundrechte beschränkt werden muss und innerhalb real existieren-der politischer Institutionen ja auch in diesem Sinn beschränkt wird. Das Verhältnis von kollektiven demokratischen Entscheidungen und Grund- und Menschenrechten ist selbst wiederum ein zentraler Gegenstand philosophischer und politischer Interpretationen.

4. Das Spannungsverhältnis von Demokratie und Menschenrechten

In den meisten heutigen Definitionen der Demokratie wird diese nicht nur als ein Verfahren kollektiver Entscheidungen verstanden, sondern außerdem die Dimension der rechtsstaatlichen Verankerung von Grund- und Menschenrechten als ein integraler Bestandteil mit aufgenommen (vgl. Schmidt 2000). Diese weitere Definition der Demokratie ändert aber nichts an dem existierenden strukturellen Spannungsverhältnis zwischen demokratischem Entscheidungsverfahren und der Gewährleistung von Grund- und Menschenrechten. Grundsätzlich ist immer die Frage, wie weit demokratisch legitimierte staatliche Regulierungen in die durch Grundrechte gesicherten Freiheitsspielräume der Bürgerinnen und Bürger eingreifen können oder, andersherum, inwieweit Staaten im Auftrag ihrer Bürgerinnen und Bürger eine effektive Durchsetzung von Grundrechten überhaupt erst gewährleisten, von der in einem unpolitischen Naturzu-stand nicht auszugehen ist.

Liberalismus und Republikanismus/KommunitarismusIn der politischen Theorie firmieren die entsprechenden Paradigmen, die jeweils den einen oder den anderen Pol stärker akzentuieren, unter den Labeln der liberalen bzw. liberalistischen (Vgl. Locke 1690/1992; Mac-pherson 1973; Rawls 1971/1979; Waldron 1993) und der republikanisti-schen bzw. kommunitaristischen (Vgl. Rousseau (1755/1993, 1762/1988; Walzer 1983/1992; Honneth 1995; Taylor 1992, 1995, 1997; MacIntyre 1987) Philosophie. Der Kern des philosophischen Liberalismus besteht

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in der Referenz auf das unabhängige und autonome Individuum, dessen Freiheit über gleiche, formale und individuelle Rechte konstituiert wird und das möglichst selbstverantwortlich über ethische Fragen des guten Lebens entscheidet. Damit korreliert ein Staatsverständnis, das den Staat auf eine ethisch neutrale Instanz zur Gewährleistung der individuellen Freiheit zurückzieht. Formelhaft wird dies durch den Vorrang des Rechten vor dem Guten umschrieben. Damit ist gemeint, dass moderne Gesell-schaften vor allem deshalb nicht mehr anders als durch Recht integriert werden könnten, weil eine vorhandene und unausweichliche Pluralität von Werten, Weltbildern, Interessen und Lebensweisen keine andere legitime Grundlage der Gemeinsamkeit mehr zulasse. Das politische System müsse deshalb auf stärker abstrakte Prinzipien und Verfahren rekurrieren, die sich so weit wie möglich durch Neutralität gegenüber den Werten und Zielen unterschiedlicher Lebensformen auszeichnen. Daraus folgt dann auch, dass kollektive und politische Regulierungen in ihrer Reichweite durch die vorrangige Geltung von Menschen- und Grundrechten be-schränkt werden.

Im Gegensatz dazu geht der philosophische Republikanismus davon aus, dass sowohl eine stärkere Loyalität und Identifikation von Bürgern ihren demokratischen Gemeinwesen gegenüber als auch eine größere interne staatsbürgerliche Solidarität notwendig ist, um demokratische Staaten vor totalitären Tendenzen zu schützen und die nur im Kontext politischer Gemeinwesen zu schützenden individuellen Freiheiten zu bewahren. Die Mitgliedschaft in modernen politischen Gemeinwesen, in denen sich Bürger wechselseitig Rechte zuerkennen und gemeinsame Institutio-nen schaffen, die eine effektive Realisierung und Durchsetzung dieser Grundrechte gewährleisten, gilt in republikanischer Perspektive als die zentrale Voraussetzung individueller und politischer Freiheit (Walzer 1992: insbesondere 65ff.). Staatsbürgerschaft sei das wichtigste Grundrecht bzw. das „einzige Menschenrecht“, weil es gleichbedeutend ist mit dem „Recht, Rechte zu haben“ (Arendt 1981: 158).

In seiner modernen kommunitaristischen Variante vertritt der Republika-nismus die These, dass sich auch die Integration moderner pluralistischer Gesellschaft auf gemeinsam geteilte Werte beziehen muss, um auf dieser Grundlage bürgerschaftliche Einstellungen der Gemeinwohlorientierung generieren zu können. Dem Liberalismus wird vorgeworfen, dass eine auf die prinzipielle Priorität von individuellen Rechten basierende Gesellschaft Gefahr läuft zu zerfallen, weil voneinander isolierte individuelle Personen

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ihre durch Grundrechte gewährleisteten Freiheitsspielräume im Namen größtmöglichen egoistischen Nutzens ausbeuten und die den individuel-len Rechten korrespondierenden Pflichten, z.B. in Gestalt bspw. der Re-spektierung der Rechte anderer Personen, der Akzeptanz von demokra-tischen Mehrheitsentscheidungen und der Erfüllung von Steuerpflichten, vernachlässigen. Die ethische Neutralität eines liberalistischen Staates und die daraus resultierende relative Trennung von Staat und Gesellschaft kehren sich im republikanischen Paradigma in eine stärker auf gemein-samen Werten integrierte Einheit von Staat und Gesellschaft um. Das liberalistische Porträt einer sozial und kulturell pluralistischen Gesellschaft individueller Privatpersonen wird mit der Vorstellung einer vorpolitisch-nationalistischen oder demokratisch-partizipatorischen Integration der Gesellschaft ersetzt. Im Republikanismus bzw. Kommunitarismus greift der Staat damit stärker in die ethische Selbstbestimmung der Bürgerin-nen und Bürger ein und deren Freiheit besteht vorrangig in der demo-kratischen Partizipation und politischen Einbindung in ein Gemeinwesen, das die Selbstbestimmung des Einzelnen tendenziell mit der kollektiven Selbstbestimmung identifiziert. Die Formel vom Vorrang des Rechten dreht sich um in den Vorrang des Guten. Wenn aber Bürgerinnen und Bürger ihre privaten Interessen grundsätzlich hinter die Orientierung am Allgemeinwohl zurück zu stellen haben, besteht immer die Gefahr von staatlichen Eingriffen in Freiheitsrechte, die u. U. auch mit entsprechen-den Sanktionen oktroyiert werden, auch wenn diese unter dem Primat der Volkssouveränität gerechtfertigt werden.

Negative und positive Freiheit Ein wichtiger Aspekt dabei ist ferner, dass diesen beiden Strömungen der politischen Theorie unterschiedliche Verständnisse individueller Freiheit korrespondieren. Ein liberales Verständnis negativer Freiheit (Freiheit von) favorisiert eine Definition von Freiheit als Abwesenheit von äußeren (staat-lichen und gesellschaftlichen) Zwängen und Übergriffen (Berlin 1995). Ein republikanisches Verständnis positiver Freiheit akzentuiert demgegenüber die Verwirklichung von Freiheit (Freiheit zu) in Richtung auf das Ideal kol-lektiver und demokratischer Selbstbestimmung, die wiederum vielfach als Voraussetzung gesehen wird, effektive Standards sozialer Gerechtigkeit allgemeinverbindlich zu rechtfertigen und durchzusetzen (Barber 1994). Ein in bestimmten kommunitaristischen Ansätzen vertretenes positives Freiheitsverständnis betont darüber hinaus die im Rahmen moderner

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demokratischer Staaten entstandenen zivilisatorischen Voraussetzungen der Verwirklichung individueller Autonomie (Taylor 1992). Wenn Personen eine gelingende individuelle Autonomie nicht in selbstgenügsamer Iso-lation, sondern nur unter bestimmten sozialen (z.B. Familien, Vereinen), infrastrukturellen (z.B. Stromnetze, Eisenbahnen), institutionellen (z.B. Parteien, Parlamente, Gerichtshöfe, soziale Sicherungssysteme) und kul-turellen (z.B. Massenmedien, Bildungseinrichtungen, Museen) Rahmen-bedingungen ausbilden und fortentwickeln können, müsste einem Prinzip der Zugehörigkeit und Verpflichtung gegenüber einem solchen Staats- und Gesellschaftstyp neben dem Prinzip individueller Rechte gleichbe-rechtigt Geltung verschafft werden (Taylor 1995). Andererseits muss der Sinn negativer Freiheit in demokratischen Gesellschaften insofern erhalten bleiben, als den Bürgerinnen und Bürgern eine Verpflichtung zu gemein-wohlfördernden Einstellungen und Beiträgen nicht gesetzlich verordnet oder gar durch Sanktionen erzwungen werden können.

In der politischen Theorie gibt es natürlich Versuche, dieses prinzipielle Spannungsverhältnis von Grundrechten und staatlichen Aufgaben, von Rechtsstaat und Demokratie und von negativer und positiver Freiheit in philosophischer Perspektive aufzulösen. Das wahrscheinlich berühmteste Beispiel ist die diskurstheoretische Rekonstruktion des demokratischen Rechtsstaats (Habermas 1992; Beer 1999). Nach Habermas sind die subjektiven inklusive der negativen Freiheitsrechte als die bedingende Möglichkeit einer gleichberechtigten Partizipation, also der Inanspruch-nahme objektiver bzw. positiver Freiheitsrechte, zu betrachten. Mit dem diskurstheoretischen Paradigma lässt sich, so der Anspruch, eine Volkssouveränität ausweisen, die sich als prozeduraler Verständigungsakt zwischen mit gleichen (Menschen-)Rechten ausgestatteten Rechtsgenos-sen darstellt.

„Der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Volksouveränität besteht dann darin, dass das Erfordernis der rechtli-chen Institutionalisierung einer staatsbürgerlichen Praxis des öffentlichen Gebrauchs kommunikativer Freiheiten eben durch die Menschenrechte erfüllt wird. Menschenrechte, die die Ausübung der Volkssouveränität ermöglichen, können dieser Praxis nicht als Beschränkung von außen auferlegt werden.“ (Habermas 1996: 300)

Mit beiden Paradigmen der Demokratietheorie wird somit ernst gemacht. Einerseits verfügen die Akteure über Rechte, die ihnen den Status eines

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unabhängigen Individuums garantieren, andererseits folgt die Rechtsset-zung dem republikanischem Ideal einer Selbstgesetzgebung: Die mit glei-chen Rechten ausgestatteten Rechtsgenossen verständigen sich auch auf solche Rechtsgrundsätze, denen alle möglicherweise Betroffenen zwanglos zustimmen können.

Die ethische Doppelstellung des StaatesDies entspricht der theoretischen Figur einer Identität von Regierenden und Regierten. Kurz: Die subjektiven Rechte konstituieren überhaupt erst die Möglichkeit einer gleichberechtigten Partizipation, die ihrerseits im Akt der Rechtssetzung diese zirkulär bestätigt und auf Dauer stellt. Liberalis-mus und Republikanismus werden so in ein funktionales Ergänzungsver-hältnis gebracht, das beide Freiheitsvorstellungen integrieren kann. Der Staat erhält auf diese Weise eine ethische Doppelstellung. Einerseits folgt er der liberalistischen Prämisse der Zurücknahme auf eine richterliche Hoheitsfunktion, d.h. er garantiert die ethische Selbstbestimmung des Einzelnen. Andererseits setzt er die konstitutiven Moralinhalte, die der diskursiven Rechtssetzung zugrunde liegen, als ethische Grundlage der Gesellschaft, die als unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit einen kulturellen Konsens darstellen können (Habermas 1998). Habermas begreift dieses Zusammenspiel der demokratietheoretischen Paradigmen als eine logische Genese von Rechten, die sowohl die klassischen Rechte auf die Autonomie der freien Rechtsperson implizieren, als auch Rechte auf den gleichberechtigten Gebrauch von kommunikativen Freiheiten, die eine deliberierende Öffentlichkeit (Heming 1997) und die demokratische Rechtssetzung konstituieren. Da diese Rechte einen transzendentalen Status besitzen, gehen sie nicht in einer empirisch etablierten Verfassung auf. Unterschiedliche Realisierungen dieser Grundrechte sind daher nicht nur theoretisch möglich, sondern auch praktisch wahrscheinlich. Insofern eignet sich das diskurstheoretische Rechtssystem als Kandidat für einen analytischen Demokratiebegriff, der den Grundgehalt der diversen moder-nen Demokratien zusammenfasst. Anders formuliert: In allen modernen Demokratien lassen sich sowohl die liberalen Abwehrrechte als auch die republikanischen Partizipationsrechte und die Etablierung einer freien Öffentlichkeit als konstitutives Merkmal finden.

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Das konstitutive Spannungsfeld der Demokratie: 3 BeispieleDa aber die je konkrete politische Bewältigung des Verhältnisses von staatlicher Regulierung und Menschenrechten wiederum dem demokra-tischen Prozess selbst überantwortet ist, bleibt die Spannung zwischen den beiden grundlegenden Legitimationsprinzipien demokratischer Staa-ten immer präsent und wird unter dem Einfluss bestehender politischer Institutionen, existierender politischer Kräfteverhältnisse und der Art der Wahrnehmung politischer Probleme verschieden interpretiert. Man kann davon ausgehen, dass eine Vielzahl politischer Probleme und ihrer Regu-lierung im Kontext dieses Spannungsfeldes anzusiedeln ist.

Drei Beispiele von politischen Bereichen, innerhalb derer in jüngerer Zeit zahlreiche Gesetze erlassen worden sind, sollen das kurz verdeutlichen. Der in dieser Hinsicht offensichtlichste Fall ist die Gesetzgebung, die seit dem 11. September 2001 im Namen der Bekämpfung des Terrorismus implementiert wurde und die zahlreiche Fragen nach dem angemessenen Verhältnis von Sicherheit und Freiheit aufgeworfen hat. Im Namen einer, wie Kritiker monieren, von staatlichen Eliten vorangetriebenen Transfor-mation des Rechtsstaates in einen präventiven Sicherheitsstaat werden, unabhängig von der jeweiligen pragmatischen Eignung der Maßnahmen, zahlreiche Grundrechte tangiert. So genannte Lauschangriffe auf Basis von mehr oder weniger konkreten Verdachtsmomenten verletzen das individuelle Recht auf Privatsphäre, neue gesetzliche Bestimmungen gegen so genannte „Hassprediger“ greifen in das Recht auf freie Meinung ein, die Ausweisung von Immigranten nicht-deutscher Staatsangehö-rigkeit auf Basis bloßen Verdachts der Gefährdung öffentlicher Sicher-heit, für die zudem ein öffentlich nicht transparenter geheimdienstlicher Befund ausreicht, entzieht betroffenen Personen ansonsten bestehende Aufenthaltsrechte. Im Kontext von diesbezüglichen öffentlichen Debatten sind bekanntlich sogar als absolut geltende Menschenrechte wie bspw. das Folterverbot in Frage gestellt worden (vgl. Beestermüller/Brunkhorst 2006). Das demokratische Dilemma besteht darin, dass die meisten dieser gesetzlichen Maßnahmen von einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unterstützt werden.

Das zweite Politikfeld, an dem sich das Spannungsverhältnis von Demo-kratie und Menschenrechten gut exemplifizieren lässt, betrifft Regelungen der Zuwanderungspolitik und der Integration von Immigranten. Spätes-tens seit der umfangreichen Diskussion um das Zuwanderungsgesetz ab dem Jahre 2000 sind zunehmend Kriterien entwickelt worden, die die

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Voraussetzungen von Zuwanderung und Integration im Namen des nati-onalen Interesses der „einheimischen“ Mehrheitsgesellschaft definieren. Andererseits besteht eine verfassungsrechtliche und europarechtliche Verpflichtung auf die Menschenrechte, die auch gegenüber Personen gelten, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben (vgl. Benha-bib 2004). Die prinzipielle Frage ist nun, wieweit menschenrechtliche Ansprüche auf Zuwanderung (z.B. Asylrecht, Recht auf Familienzusam-menführung) und auf Aufenthalt im Namen wirtschaftlicher und nationaler Interessen konditioniert oder relativiert werden dürfen, die sich z.B. auf Sprachkompetenzen, Bildungsstandards und Verfassungstreue der Immi-granten beziehen.

Die zentrale Frage, inwieweit individuelle Rechte im Interesse der Mehrheit interpretiert und von individuellen Vorleistungen oder der Erfüllung be-stimmter Pflichten abhängig gemacht werden können, stellt sich auch im Bereich der jüngeren Reformen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, die unter dem vielzitierten Label „Fördern und Fordern“ bekannt geworden sind. Die Maßnahmen sogenannter aktivierender Arbeitsmarktpolitik wurden unter anderem damit gerechtfertigt, dass das Verhältnis von Rechten und Pflichten neu zu definieren sei (vgl. Giddens 1999). Arbeits- und Mitwirkungspflichten werden zunehmend als Voraussetzungen für den Bezug von Sozialleistungen angesehen und gesetzlich fixiert. Mit der Rede vom „vorsorgenden Sozialstaat“ bzw. „Sozialinvestitionsstaat“ wird eine Perspektive des gesamtgesellschaftlichen Interesses betont, nach der vorrangig in die Bildung und Entwicklung von „Humankapital“ inves-tiert werden soll, statt in oft so genannte nachsorgende Transferleistun-gen. Dabei werden im Namen einer Perspektive gesamtgesellschaftlichen Nutzens offenbar aber nicht nur soziale Rechte, deren Geltungsreichweite nicht nur in Deutschland ohnehin umstritten und politisch prekärer ist, relativiert, sondern auch in der Regel für bedeutend gehaltene zivile individuelle Grundrechte, wie insbesondere die Vertragsfreiheit und das in Artikel 12 des Grundgesetzes verankerte Recht auf freie Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes (Gerdes 2006).

In all diesen Beispielen ist die zentrale Frage, in welchen Fällen und wie weit sich Wirtschaft, Gesellschaft, demokratische Mehrheit und Staat im Namen eines gesamtgesellschaftlichen Interesses – vorausgesetzt, dass darüber in pluralistischen Gesellschaften überhaupt ein weitgehender Konsens herstellbar ist – in die durch Grundrechte geschützten Freiheits-spielräume und die Interessen von Minderheiten einmischen dürfen, ohne

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dass deren Grund- und Menschenrechte beeinträchtigt werden. Es dürfte klar sein, dass Menschen- und Grundrechte verschwinden würden, wenn sie in ganzem Umfang der jeweiligen Interpretation gesellschaftlicher und politischer Mehrheiten überlassen werden würden:

„Die Existenz von Rechten gegenüber dem Staat würde gefährdet, wenn der Staat in der Lage wäre, ein solches Recht durch Berufung darauf zu Fall zu bringen, dass eine demokratische Mehrheit das Recht hat, ihren Willen durchzusetzen. Ein Recht gegenüber dem Staat muss ein Recht sein, etwas selbst dann zu tun, wenn es der Mehrheit schlechter ginge, falls es getan würde. Wenn wir jetzt sagen, dass die Gesellschaft ein Recht hat, alles zu tun, was im allgemeinen Nutzen ist, oder das Recht hat, jede Art von Umwelt zu erhalten, in der die Mehrheit leben will, und wenn wir meinen, dass diese Rechte von derjenigen Art sind, wie sie eine Rechtfertigung für das Umstoßen beliebiger Rechte gegenüber der Regie-rung sind, die in Konflikt stehen könnten, dann haben wir die letzteren Rechte aufgehoben.“ (Dworkin 1990: 318f.)

Die interne Konkurrenz von Grund- und MenschenrechtenEiner beliebigen Instrumentalisierung und kollektiven Funktionalisierung von Personen zu anderen Zwecken steht der Begriff der unantastbaren Menschenwürde entgegen, die jedem Menschen unabhängig von seiner Leistung und Nützlichkeit zukommen soll. In der deutschen Verfassungs-interpretation gilt die Menschenwürdegarantie im berühmten Artikel 1 des Grundgesetzes als eine Grund- und Leitnorm, die die Auslegung der in den nachfolgenden Artikeln verankerten Grund- und Menschenrechte präformiert. Auch das deutsche Verfassungsgericht hat darauf hingewie-sen, dass jeder Mensch in gleichem Maße Menschenwürde besitzt, und zwar „ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. […] Selbst durch ‚unwürdiges‘ Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden.“ (zitiert in: Stern 2004: 586) Die vielleicht berühmteste philosophische Formulierung des Kerngehalts der Menschenwürde ist die zweite Formel des Kanti-schen Kategorischen Imperativs:

„Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichte-

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ten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ (Kant 1785/1991a: 59f., Hervorh. im Orig.)

Dennoch kommt es nicht selten zu Konflikten von Grundrechten. In solchen Fällen ist eine Einschränkung von bestimmten individuellen Grundrechten im Namen der Gewährleistung anderer Grundrechte bzw. der Grundrechte anderer notwendig. Während in der liberalen politischen Philosophie die Betroffenheit konkurrierender Grundrechte als die einzige Möglichkeit der Grundrechtsbeschränkung betrachtet wird, sind solche Beschränkungen in republikanischen Theorien und in der politischen Praxis auch dann legitimierbar, wenn hochrangige konkurrierende Verfassungswerte, die staatliche Sicherheit oder die Funktionsfähigkeit demokratischer und staatlicher Institutionen als solcher gefährdet wird.

Im Fall von konkreten Grundrechtskonflikten gilt im Allgemeinen, dass die betroffenen Grundrechtspositionen zu einem fairen und schonenden Ausgleich gebracht werden sollen, was gleichzeitig bedeutet, dass ein Grundrecht nicht zugunsten eines anderen in vollem Umfang weggenom-men werden darf. Solche Grundrechtsabwägungen können, umso mehr Grundrechte und Grundrechtspositionen betroffen sind, sehr komplexe Formen annehmen und höchst kontroverse Diskussionen auslösen.

Ein entsprechendes Beispiel aus dem Schulbereich stellt die Debatte um ein Kopftuchverbot muslimischer Lehrerinnen dar, in der es mindes-tens um die Abwägung der folgenden Grundrechtspositionen ging: der positiven Religionsfreiheit von Lehrerinnen (Art. 4 GG), der negativen Re-ligionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler (Art. 4 GG), dem Erziehungs-recht der Eltern und deren negativer Religionsfreiheit (Art. 4, 6, 7 GG) und schließlich dem staatlichen Bildungsauftrag (Art. 7 GG), dem man ein korrespondierendes Recht auf Bildung zuschreiben kann.

Ein Problembewusstsein der Notwendigkeit eines fairen, möglichst ge-rechten und demokratischen Ausgleichs unterschiedlicher legitimer indivi-dueller Rechte wie auch der Bewahrung von Grund- und Menschenrech-ten gegenüber staatlichen Interventionen ist jedenfalls in der politischen Bildung in der Demokratie von herausragender Bedeutung.

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5. Demokratische Legitimität als Kern mündiger Urteilsbildung

Die Idee der modernen Demokratie lässt sich also unter Gesichtspunkten ihrer Legitimität zusammenfassen in der Gewährung einerseits liberaler Grundrechte und republikanischer Partizipationsrechte und anderer-seits von institutionalisierten demokratischen Verfahren der kollektiven Entscheidungsfindung, die wiederum idealerweise von einer kritischen Öffentlichkeit und vitalen Zivilgesellschaft beobachtet und beeinflusst werden sollten. Einer demokratischen politischen Bildung kommt dabei insbesondere die Aufgabe zu, das Personen in Demokratien unausweich-lich zukommende, legitime Recht auf Rechte zu akzentuieren und dessen Stellenwert für den demokratischen Rechtssetzungsprozess zu verdeut-lichen. Die Vermittlung der unterschiedlichen Rechte steht dabei jedoch vor Schwierigkeiten. Einerseits sollen der Sinn individueller Rechte und ihr jeweiliger Gehalt nachvollziehbar werden, andererseits muss die poten-zielle und konkrete Konflikthaftigkeit der verschiedenen Rechte möglichst transparent werden. Das meint, es muss in der Vermittlung dieser Rechte deutlich werden, dass die unterschiedlichen Rechte grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis stehen.

Das Spannungsverhältnis von Menschenrechten und Demokratie als Ausgangspunkt politischer Bildung an FörderschulenFür politische Bildung im Sinn demokratischer Urteils- und Partizipati-onskompetenz wäre es nach der Auffassung des VorBild-Projekts ein großer Gewinn, wenn insbesondere ein Verständnis des oben erläu-terten Spannungsverhältnisses von Demokratie und Menschenrechten als das fundamentale Problem politischer Prozesse in demokratischen Gemeinwesen eine zentrale Rolle spielen würde. Eine Verabsolutierung von so genannten negativen Grundrechten als individuelle Abwehr- und Nichteinmischungsrechte kann etwa dazu führen, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu verunmöglichen bzw. auf einen den politischen Pro-blemen gegenüber unangemessenen geringen Umfang von politischen Regelungen einzuschränken. Eine starke Fixierung auf Partizipationsrech-te und Überbetonung der Rechtmäßigkeit von Mehrheitsentscheidungen kann demgegenüber zu einer Unterordnung des Individuums unter ein Kollektiv führen. Wenn aber die Demokratie diese beiden Schlagseiten hat und gleichzeitig gerade deswegen auch bezüglich ihres allgemeinen Gehalts wie den jeweils konkreten politischen Entscheidungen Gegen-

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stand der demokratischen Diskussion sein muss, ist damit klar, dass eine Vermittlung dieser beiden Pole nicht aus privilegierter Perspektive vorent-schieden werden kann. Vielmehr müssen die Bürgerinnen und Bürger, aber genau so die Gruppe der Förderschülerinnen und Förderschüler als Adressaten politischer Bildung möglichst weitgehend befähigt werden, jeweils selbst eine Gewichtung und Ausbalancierung dieser Rechtsan-sprüche vorzunehmen, diese gegebenenfalls begründen zu können und sich über die Konsequenzen von jeweiligen Entscheidungen in diesem Sinne möglichst klar zu sein.

Die in dem VorBild-Projekt favorisierte Akzentuierung des Spannungsver-hältnisses von Demokratie und Menschenrechten und die immer wieder notwendige Balancierung dieser beiden Prinzipien als ein Kern politischer Urteilskompetenz versteht sich gleichzeitig als eine Kritik an Konzepten, die zu einseitig die Frage der demokratischen Partizipation, insbesondere in den existierenden politischen Institutionen in den Mittelpunkt stellen. Vor dem Hintergrund von zeitgenössischen Diagnosen, die die „Politikver-drossenheit“ und „politische Apathie“ insbesondere von Jugendlichen mit ihrer jeweiligen politischen Abstinenz bei Wahlen und ihrer Distanz gegen-über der Mitarbeit in Parteien und Verbänden in das Zentrum stellen, ist zunehmend auch in der politischen Bildung die Rede davon, dass es in diesem Sinn allein auf die Förderungsmöglichkeiten der Teilhabe, Inklusion und Partizipation in bestehenden Institutionen ankäme. Ebenso wenig aber wie die vielfach beschworene bloße Teilhabe an der Arbeitsgesell-schaft noch nichts darüber aussagt, unter welchen Lohn- und Arbeits-bedingungen und mit welchen sozialen Risikoabsicherungen bestimmte Gruppen arbeiten, sagt eine Partizipation an etablierten politischen Institu-tionen nichts darüber aus, welchen Einfluss auf politische Entscheidungen Einzelne oder Minderheiten dadurch ausüben und ob legitime individuelle Ansprüche und Rechte damit gewahrt bleiben.

Demgegenüber muss eine reflektierte individuelle Entscheidung der Nicht-Teilnahme oder der Abwanderung ebenso als eine dezidiert politische Entscheidung betrachtet werden, ganz abgesehen von ihrer ohnehin geltenden Legitimität im Sinn negativer Grundrechte. Andererseits kann ein Bewusstsein über die Bedeutung und die reale politische Fragilität von der der Menschenwürde korrespondierenden Rechten auch die Einsicht fördern, dass es zur Sicherung individueller Rechte geeigneter Formen politischen Engagements bedarf, das auch die politische Partizipation in Parteien, Gewerkschaften und Bürgerbewegungen einschließen kann.

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In beiden Fällen wäre aber eine Vermittlung des Sinns von individuellen Grund- und Menschenrechten eine unabdingbare Voraussetzung, die zu einer Partizipationsorientierung politischer Bildung mindestens hinzutreten müsste.

Die Lebenswelt als mögliches Fundament politischer BildungDie Fokussierung auf die (idealen) Legitimitätskerne moderner Demo-kratien als auch deren Spannungsverhältnis hat mehrere didaktisch-praktische Konsequenzen, die zugleich den möglichen Eindruck eines zu hohen Abstraktionsgrads entschärfen können. Erstens würde dies bedeuten, dass die jeweils gewählten konkreten Themen und Inhalte der politischen Bildung sekundär sind, insofern sie sich dafür eignen, das Spannungsverhältnis von demokratischem Mehrheitswillen und zu respektierenden Grundrechten von Minderheiten zu exemplifizieren. Wie oben mit einigen Beispielen angedeutet wurde, ist davon auszugehen, dass sich eine sehr breite Palette von politischen, aber auch lebenswelt-lich verankerten Themen dazu eignet.

Zweitens kann davon ausgegangen werden, dass das Spannungsver-hältnis von kollektiven Regeln und legitimen Ansprüchen auf individuelle Autonomie ein Aspekt gelingender Integration auch in sozialen Einheiten und Zusammenschlüssen wie beispielsweise Klassenverbänden eine gewichtige Rolle spielt. Ein Verständnis von sozialer Integration als „ein gelungenes Verhältnis von Freiheit und Bindung“ (Peters 1993: 92) gilt in allgemeinerer Weise für moderne Gesellschaften, die zumindest in einem normativen Sinn durch Prozesse der Individualisierung, der Pluralisierung von Lebensformen und der Abkehr von verbindlichen Rollenerwartungen geprägt sind (vgl. Beck: 1996).

Das meint, dass auch in überwiegend nicht-politischen Einheiten und Kollektiven wie Familien, persönlichen Beziehungen, Cliquen und Vereinen die individuelle Zustimmung der Mitglieder zu den jeweils geltenden kol-lektiven Regeln sowie deren Revision auf Basis kollektiver Aushandlungs-prozesse eine wachsende Bedeutung haben bzw. haben sollten. Dabei spielt die Frage, inwieweit kollektive Regeln individuelle Entscheidungs- und Handlungsspielräume eröffnen oder beschränken, ebenfalls eine gewichtige Rolle. Der den individuellen Grundrechten korrespondierende Maßstab ist dabei, ob den Personen zureichende ethische Selbstbestim-mungsmöglichkeiten über ihre individuellen Ziele und Lebensweisen ver-

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bleiben oder ob sie darin von kollektiven Entscheidungen und Zwängen unzulässig bevormundet werden. Die möglichst weitgehende Neutralität des jeweils entscheidenden Kollektivs gegenüber ethischen Selbstbe-stimmungsansprüchen, die Berücksichtigung von individuellen Interessen und die Toleranz der Beteiligten gegenüber abweichenden Auffassungen, Weltanschauungen und Lebensinhalten nehmen in solchen kleineren sozialen Einheiten einen ähnlich zentralen Stellenwert ein wie in legitimen politischen Prozessen. In diesem Sinn können auch soziale und kollektive Verhältnisse in der Gesellschaft als demokratische Einheiten betrachtet werden, innerhalb derer dieselben Prinzipien, die auch in der „großen Poli-tik“ den Kern politischer Legitimität bilden, praktisch erfahrbar werden.

Auch in gesellschaftlichen Institutionen spielt der adäquate und gerechte Umgang mit sozialer und kultureller Diversität eine zunehmende Rolle. Auch wenn dort die Demokratisierungs- und Selbstbestimmungsmög-lichkeiten durch die jeweiligen Funktionszuweisungen im Rahmen der Gesamtgesellschaft beschränkter sind, kann davon ausgegangen wer-den, dass ein bestimmter Umfang der kollektiven Regeln verhandelbar ist. In der Schule gibt es darüber hinaus Möglichkeiten der auch bewussten lernorientierten Einführung und Einübung von demokratischen Verfahren und der Problematisierung dieser Verfahren hinsichtlich der Berücksichti-gung legitimer individueller Interessen, Ansprüche und Rechte.

Der hier vertretene Ansatz geht also davon aus, dass die Thematisie-rung und Problematisierung des Spannungsverhältnisses von geltenden kollektiven Regeln und individuellen Selbstbestimmungsmöglichkeiten in sozialen Kontexten eher eine Voraussetzung des Verstehens und Vermit-telns von Politik in der Demokratie bildet als die unmittelbare und selektive Thematisierung bestimmter dezidiert politischer Themen, Institutionen und Prozesse auf der Ebene des poltischen Systems. Weder das politische Interesse noch die politische Urteilskompetenz Jugendlicher lässt sich über die „Verabreichung“ von so genanntem politischem Grundwissen in diesem engeren Sinn, wie beispielsweise von Kenntnissen über die Wahl des Bundespräsidenten in der Bundesversammlung (vgl. Breit 2004: 203), fördern. Es ist vielmehr anzunehmen, dass erstens soziale Kompetenzen zum Teil bereits identisch mit, zum Teil Voraussetzung für politische Kompetenzen sind, und zweitens, dass auch eine Anschluss-fähigkeit zu „eigentlich“ politischen Inhalten auf Basis der erwähnten strukturellen Analogie der Probleme sozialer und politischer Integration in modernen Gesellschaften besser geleistet werden kann. Wenn man dies

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voraussetzt, wäre auch die Kluft zwischen der „Psychologik“ bildungsfer-ner Milieus und der „Sachlogik“ großer Politik offenbar lange nicht mehr so groß wie teilweise angenommen wird (Detjen 2007), so dass vorpoliti-sche Konzepte politischer Bildung nicht per se gezwungen wären, wegen begrenzter psychosozialer Voraussetzungen Abstriche in der Vermittlung politischer Inhalte zu machen zu müssen.

Gleichwohl bleibt trotz dieser strukturellen Analogie in gesellschaftlichen Verhältnissen und politischen Prozessen immer noch eine pädagogische Übersetzungsleistung von vorpolitischer zu politischer Bildung zu voll-bringen, in der gerade auch die Differenzen zu politischen Prozessen im engeren Sinn herausgearbeitet werden. Dazu gehört beispielsweise, dass auf der Ebene sich selbst regulierender politischer Gemeinwesen Demo-kratie in einer sowohl umfassenderen als auch institutionell komplexeren Weise gelten muss als in intern oder extern mit begrenzteren Aufgaben und Zielen befassten sozialen Einheiten. Dazu gehört auch, dass die Realisierung und Durchsetzung von Grundrechten in der Gesellschaft auf komplexere Institutionen auf politischer Ebene angewiesen ist. Im Idealfall kann in diesem Zusammenhang die „vorpolitische“ Förderung der selbst-bewussten Formulierung von Interessen schließlich dazu führen, dass Einsicht und Motivation reifen, dass diese Interessen, möglicherweise unter Bezug auf individuelle Rechte, auch politisch artikuliert und vertreten werden.

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53Impressum DVD VorBild

Impressum

VorBild ist ein Kooperationsprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung und der Universität Bielefeld.

VorBild-Projektleitung – Universität BielefeldProf. Dr. Uwe Bittlingmayer Prof. Dr. Klaus Hurrelmann Diana Sahrai VorBild-Projektmanagement – Bundeszentrale für politische BildungThorsten Schilling ( V.i.S.d.P.)Caroline Seige

Wissenschaftliche Ausarbeitung der ModuleJohannes Ahrens, Ullrich Bauer, Raphael Beer, Helmut Bremer, Birgit Danicke, Jürgen Gerdes, Lars Heinemann, Günther Hennig, Irene Moor, Barbara Rösser, Ute Sauer, Simone Schulze

DVD-Team Autorin: Miriam Grabenheinrich Kamera: Beate Middeke Ton: Arne Siekmann, Daniel Gerlich Schnitt: Beate Middeke, Carolyn Daughton Layout DVD-Cover: Stefanie Wawer DVD-Programmierung: Klaus Udo Hennings Layout Modul-Hefte: Laila Sahrai

Für ihre Mitarbeit und Unterstützung danken wirElke Lotysch und der Klasse 6b Förderzentrum Huchting, BremenSabine Schmitz-Bracht und der Klasse 6a Pestalozzischule, WittenTheo Stiller und der Klasse 6b Comeniusschule, Bielefeld sowie den weiteren Kooperationsschulen Allgemeine Förderschule Clara Zetkin, Straußberg Allgemeine Förderschule Erkner, Erkner Schule an der Vegesackerstraße, Bremen Schule am Kupferhammer, Bielefeld Fröbelschule, Gütersloh Uppenbergschule, Münster

Ein Kooperationsprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und der Universität Bielefeld

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