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GOTS-Expertenmeeting:Vorderes Kreuzband, 81–94 (2010) www.gots.org 81 R. Seil u. a. · Rupturen des vorderen Kreuzbandes beim Kind RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND Bei vorderen Kreuzbandläsionen im Kindes – und Jugendalter unter- scheidet man zwischen knöchernen Ausrissen und reinen Bandläsionen. Erstere werden eher bei präpubertären Kindern beschrieben (Vaquero 2005), während ligamentäre Läsionen häufiger bei pubertären Jugend- lichen auftreten (Williams 1996). Letztere betreffen etwa 3–4% aller Rupturen des VKB und ihre jährliche Inzidenz wird auf etwa 1/100.000 Einwohner geschätzt (Janarv 2000). Sie treten selten vor dem 9. Lebens- jahr auf und in etwa 3 von 4 Fällen liegt der Verletzung ein Sportunfall zugrunde (Bonnard 2007). Aufgrund der verbesserten klinischen und ap- parativen diagnostischen Maßnahmen, bei gleichzeitiger Zunahme von Risikosportarten im Kindesalter, werden sie zunehmend diagnostiziert (Aichroth 2002; Mohtadi 2006; Seil 2000). VORDERES KREUZBAND RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND Romain Seil, Jürgen Freiwald, Thomas Jöllenbeck, Gerhard Bauer, Holger Schmitt, Alli Gokeler, Martin Engelhardt, Klaus Dann, Karl-Peter Benedetto GOTS - - E E x x p p e e r r t t e e n n m m e e e e t t i i n n g g 2 2 0 0 1 1 0 0 Anteriore Eminentiafrakturen Knöcherne VKB-Ausrisse werden nor- malerweise an der Tibia beobachtet und treten auch bei Erwachsenen auf. Femoral sind sie eine Selten- heit. Bei Kindern unter 12 Jahren treten sie häufiger auf als Bandläsio- nen (Kellenberger 1990). Entspre- chend dem Dislokationsgrad und der Fragmentation der Fraktur werden sie nach Meyers und MacKeever in 4 Gruppen unterteilt (Meyers 1970) (siehe Kapitel Diagnostik). Nicht oder kaum dislozierte Grad-1- und -2- Läsionen können konservativ über eine 4-wöchige Ruhigstellung in Ex- tension behandelt werden. Grad-2- Läsionen mit Weichteileinklemmung [fand sich bei 26% der Fälle, (Kocher 2003)] oder die dislozierten Grad-3- und -4-Läsionen stellen eine Indika- tion zur arthroskopischen Reposition und Osteosynthese dar. Hierbei muss die häufige Interposition des Liga- mentum transversum genus systema- tisch ausgeschlossen werden, da sie ein Repositionshindernis darstellt [in 26% der Grad-2- und 65% der Grad-3-Läsionen: (Kocher 2003), (Senekovic 2003)]. Es wurden ver- schiedene Arten der Fragmentrefixa- tion beschrieben: Schrauben- und Drahtrepositionen sowie Repositio- nen mit transossären Nähten (z. B. PDS, Vicryl, Ethibond). Fugenüber- brückende Schraubenfixationen soll- ten vermieden oder nur temporär belassen werden. Nahtrepositionen haben den Vorteil, dass sie insbe- sondere bei Fragmentation der Emi- nentia eine gute Reposition der häu- fig intakten tibialen ligamentären Insertionsfläche erlauben. Diese Re- fixationen führen in der Regel zu guten Ergebnissen. Dennoch sind sekundäre Instabilitäten auch bei durchgeführter Reposition und Osteo-

VORDERES KREUZBAND RUPTUREN DES VORDEREN … · synthese möglich, da mit der Fraktur oft eine starke Dehnung und plasti-sche Deformierung des Ligamentes assoziiert sind. In solchen

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GOTS-Expertenmeeting: Vorderes Kreuzband, 81–94 (2010)www.gots.org

81R. Seil u. a. · Rupturen des vorderen Kreuzbandes beim Kind

RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND

Bei vorderen Kreuzbandläsionen im Kindes – und Jugendalter unter-scheidet man zwischen knöchernen Ausrissen und reinen Bandläsionen.Erstere werden eher bei präpubertären Kindern beschrieben (Vaquero2005), während ligamentäre Läsionen häufiger bei pubertären Jugend-lichen auftreten (Williams 1996). Letztere betreffen etwa 3–4% allerRupturen des VKB und ihre jährliche Inzidenz wird auf etwa 1/100.000Einwohner geschätzt (Janarv 2000). Sie treten selten vor dem 9. Lebens-jahr auf und in etwa 3 von 4 Fällen liegt der Verletzung ein Sportunfallzugrunde (Bonnard 2007). Aufgrund der verbesserten klinischen und ap-parativen diagnostischen Maßnahmen, bei gleichzeitiger Zunahme vonRisikosportarten im Kindesalter, werden sie zunehmend diagnostiziert(Aichroth 2002; Mohtadi 2006; Seil 2000).

VORDERES KREUZBAND

RUPTUREN DES VORDERENKREUZBANDES BEIM KINDRomain Seil, Jürgen Freiwald, Thomas Jöllenbeck, Gerhard Bauer, Holger Schmitt,Alli Gokeler, Martin Engelhardt, Klaus Dann, Karl-Peter Benedetto

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Anteriore Eminentiafrakturen

Knöcherne VKB-Ausrisse werden nor-malerweise an der Tibia beobachtetund treten auch bei Erwachsenenauf. Femoral sind sie eine Selten-heit. Bei Kindern unter 12 Jahrentreten sie häufiger auf als Bandläsio-nen (Kellenberger 1990). Entspre-chend dem Dislokationsgrad und derFragmentation der Fraktur werdensie nach Meyers und MacKeever in4 Gruppen unterteilt (Meyers 1970)(siehe Kapitel Diagnostik). Nichtoder kaum dislozierte Grad-1- und -2-Läsionen können konservativ übereine 4-wöchige Ruhigstellung in Ex-tension behandelt werden. Grad-2-Läsionen mit Weichteileinklemmung[fand sich bei 26% der Fälle, (Kocher2003)] oder die dislozierten Grad-3-und -4-Läsionen stellen eine Indika-tion zur arthroskopischen Repositionund Osteosynthese dar. Hierbei muss

die häufige Interposition des Liga-mentum transversum genus systema-tisch ausgeschlossen werden, da sieein Repositionshindernis darstellt[in 26% der Grad-2- und 65% derGrad-3-Läsionen: (Kocher 2003),(Senekovic 2003)]. Es wurden ver-schiedene Arten der Fragmentrefixa-tion beschrieben: Schrauben- undDrahtrepositionen sowie Repositio-nen mit transossären Nähten (z. B.PDS, Vicryl, Ethibond). Fugenüber-brückende Schraubenfixationen soll-ten vermieden oder nur temporärbelassen werden. Nahtrepositionenhaben den Vorteil, dass sie insbe-sondere bei Fragmentation der Emi-nentia eine gute Reposition der häu-fig intakten tibialen ligamentärenInsertionsfläche erlauben. Diese Re-fixationen führen in der Regel zuguten Ergebnissen. Dennoch sindsekundäre Instabilitäten auch beidurchgeführter Reposition und Osteo-

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synthese möglich, da mit der Frakturoft eine starke Dehnung und plasti-sche Deformierung des Ligamentesassoziiert sind. In solchen Fällenist es möglich, das elongierte Banddurch ein Ausfräsen der ligamen-tären Bruchstelle etwas tiefer imKnochen zu verankern. Verbleibtpostoperativ oder nach der konser-vativen Behandlung ein Streckdefi-zit muss eine inkomplette Reposi-tion ausgeschlossen und im Falleeiner Bestätigung (re)arthroskopiertwerden. Vor Narkosemobilisationenbei solchen Arthrofibrosen muss ge-warnt werden, da sie zu gravierendenFrakturen führen können (VanderHave 2009).

Bandläsionen

Bis vor wenigen Jahren wurden Ver-letzungen des vorderen Kreuzbandesbis zum Wachstumsabschluss über-wiegend konservativ behandelt. InFolge der resultierenden pathologi-schen Laxität und Instabilität desKniegelenks wurden bei diesen Kin-dern und Jugendlichen häufig früh-zeitige sekundäre Meniskusläsionenund bereits Arthrosezeichen beob-achtet. In einer frühen Studie zumThema berichtete Aichroth (Aichroth2002) über eine schlechte Kniefunk-tion und eine schwere Instabilitätbei 23 Kindern und Jugendlichen mitkonservativer Behandlung nach VKB-Ruptur. Bei 15 Patienten wurde einesekundäre Meniskusläsion, bei 3 eineosteochondrale Fraktur und bei 10eine beginnende Arthrose festge-stellt. Zu ähnlichen Ergebnissenkamen Streich u. Mitarb., die bei58% ihrer initial konservativ be-handelten Patienten eine sekundäreVKB-Plastik durchführen mussten. Ineiner frühen Literaturanalyse (Seil2000) fassten wir die Ergebnisse aus17 Arbeiten mit konservativ behan-delten Patienten bzw. Bandnähtenund extraartikulären Bandplastiken

zusammen und konnten feststellen,dass es mit diesen Therapiemaßnah-men in 91% bzw. 73% und 64% derzum damaligen Zeitpunkt in der Lite-ratur beschriebenen Fälle zu einerKniegelenksinstabilität kam. Intra-artikuläre Bandplastiken hingegenführten in 86% der Fälle zu stabilenKniegelenken. Problematisch wurde bislang die Tat-sache angesehen, dass man die kör-perliche Aktivität der Kinder nachüberwundener akuter Verletzungs-phase nur begrenzt einschränkenkann. Deswegen erscheint auch dieVerwendung von Orthesen bei Kin-dern häufig problematisch, zumalderzeit noch kaum Stabilisierungs-orthesen für dieses Patientenkollek-tiv auf dem Markt angeboten wer-den.

Konservative Therapie,Sekundärschäden undFunktionstests

Auch wenn der natürliche Verlaufvon VKB-Rupturen bei Kindern nochnicht vollständig geklärt werdenkonnte, gibt es zahlreiche Hinweisedafür, dass die hieraus resultierendepathologische Laxität eine präarth-rotische Bedingung darstellt (Aich-roth 2002; Bracq 1996; Engebretsen1988; Kannus 1988; Mizuta 1995).Der degenerative Prozess beginnthäufig mit sekundären Meniskuslä-sionen. Initiale Meniskusverletzun-gen wurden bei 36–100% der intra-ligamentären VKB-Rupturen bei Kin-dern beschrieben (Andrews 1994;Bracq 1996; Lipscomb 1986), sekun-däre Meniskusverletzungen fandensich in 75% der Fälle innerhalb des1. Jahres nach VKB-Ruptur (Bracq1996). Hierbei ist es vor allem dermediale Meniskus, der bei chroni-scher vorderer Instabilität Sekundär-schäden erleidet (Henry 2009; Mil-lett 2002). Neueste Daten von La-wrence et al. (Lawrence 2009) erga-

ben, dass eine konservative Therapievon mehr als 12 Wochen das Risikoeines irreparablen medialen Menis-kusschadens vervierfachte, währenddie Wahrscheinlichkeit des Vorlie-gens eines Knorpelschadens im late-ralen Kompartiment um 11-mal unddie eines patellotrochlearen Knor-pelschadens um 3-mal höher imVergleich zu einem frühzeitig ope-rierten Patientenkollektiv lag. Nachstattgefundener „giving-way“-Epi-sode stieg das Risiko eines irrepa-rablen medialen Meniskusschadenssogar auf das 11fache an. Diese An-gaben bestätigen den Trend frühererArbeiten, in denen die Entwicklungeiner Früharthrose bei diesem jun-gen Patientenkollektiv beschriebenwurde (Aichroth 2002; Kannus 1988;Mizuta 1995). Sie stehen allerdingsim Gegensatz zu den Beobachtungenvon Woods u. O’Connor (Woods2004), die möglicherweise als Folgeeines zu kleinen Patientenkollektivs(13 Jugendliche) keine erhöhte Ratean Kniebinnenschäden bei verzöger-ter VKB-Plastik fanden. Es gab aberdennoch einen Trend zu einer höhe-ren Zahl an Innenmeniskusläsionenim Falle einer chronischen VKB-In-suffizienz von mehr als 6 Monaten(Woods 2004).Weiter oben zitierten wir die Arbeitvon Streich und Mitarb., die ergab,dass 58% der initial konservativ be-handelten Patienten sekundär stabi-lisiert werden mussten. Dies bedeu-tet aber auch gleichzeitig, dass 42%der Patienten ohne Operation zu-recht kamen. Zu ähnlichen Ergebnis-sen kam auch die Arbeitsgruppe umEngebretsen aus Norwegen (Moksnes2008) mit ihren Funktionsanalysenund Sprungtests nach VKB-Rupturbei Kindern. In Abhängigkeit derTatsache, ob Patienten ihre VKB-In-suffizienz funktionell kompensierenkonnten oder nicht, wurden sie in„copers“ (Kompensierer) oder „non-copers“ unterteilt. Vier verschiedeneEinbeinsprungtests, isokinetische

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RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND

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RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND

Muskelkraftmessungen und 3 Funk-tionsscores (IKDC 2000, KOS-ADLSund Lysholm) wurden hierzu verwen-det. Nachuntersucht wurden 26 Kin-der (20 nichtoperierte und 6 operier-te). Von den nichtoperierten Pa-tienten kehrten 65% zum Aktivitäts-niveau vor der Verletzung zurück,50% wurden als „Kompensierer“ ein-gestuft; bei 9,5% traten sekundäreMeniskusläsionen auf. In der Gruppeder operierten Patienten wurden67% als „copers“ eingestuft (Moks-nes 2008). Auch wenn diese funk-tionellen Untersuchungen ein erheb-liches Potenzial haben, welches so-wohl bei der Operationsindikationals auch in der Nachbehandlung beider Frage der Wiederaufnahme desSports nützlich sein könnte, so er-scheint es derzeit noch nicht mög-lich, prospektiv die Patienten miteiner funktionellen Instabilität vonsogenannten Kompensierern zu un-terscheiden. Noch nicht abschließend geklärtsind Verlauf und Vorgehensweise beiVKB Partialrupturen. Kocher und Mit-arb. untersuchten 45 Patienten mitoffenen Wachstumsfugen und ar-throskopisch gesicherten Partialrup-turen bei denen initial kein VKB-Er-satz durchgeführt wurde. In einemZeitraum von 2 Jahren nach der Di-agnose musste bei 31% eine VKB-Plastik durchgeführt werden. Diesinsbesondere dann, wenn eine Rup-tur von mehr als 50% des VKB-Durchmessers oder eine Läsion desposterolateralen Bündels vorlag. DieEmpfehlung der Autoren war beiKindern und Jugendlichen unter 14Jahren mit VKB-Partialrupturen zu-nächst eine konservative Behand-lung einzuleiten.Die therapeutische Herausforderungbesteht demnach darin, die Balancezwischen operativer Behandlung,mit dem Risiko von Wachstumsdefor-mitäten bei Epiphysenfugenverlet-zung, und konservativer Therapie,mit der Möglichkeit von sekundären

Meniskusläsionen und folglich derEntwicklung einer Früharthrose, zufinden.

Differentialdiagnose, Wachstumund kapsuloligamentäreReifung des Kniegelenks

Es erscheint uns wichtig darauf hin-zuweisen, dass die Diagnose derKreuzbandläsion bei Kindern trotzdes heutigen Kenntnisstandes leidernoch allzu häufig mit Verspätung ge-stellt wird [durchschnittlich 1 Jahr

nach dem Erstunfall (Chotel 2007)].Dies ist dadurch bedingt, dass dieDiagnosestellung schwieriger alsbeim erwachsenen Patienten ist. ImAkutstadium tritt häufig ein Häm-arthros ein, der jeweils zu etwaeinem Drittel durch die Kreuzband-läsion, eine Patellaluxation odereine Meniskusläsion bedingt seinkann (Luhmann 2003). Liegt eineKniegelenksblockade vor, so ist siemeist durch eine osteochondraleLäsion oder einen eingeschlagenenMeniskuslappen oder Korbhenkel be-dingt (Abb. 1). Wegen der vermehr-

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Abbildung 1MRT eines 12-jährigen Jungen mit VKB-Läsion, Läsion des Außenmeniskushinterhornes undchondraler Absprengung der posterolateralen Tibiakante (Pfeil); oben rechts: das nichtmehr zu refixierende Knorpelfragment.

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ten Laxität ist die Diagnosestellungbei Kindern schwieriger als bei Er-wachsenen. Deswegen sollte die kli-nische Untersuchung immer im Sei-tenvergleich erfolgen. Das kindliche Kniegelenk hat einegrößere physiologische Laxität alsdas Kniegelenk des Erwachsenen.Bei 10-Jährigen ist eine anterioreLaxität von 4 mm normal (Baxter1988). Hierdurch ist auch der Pivot-Shift -Test trotz intaktem VKB häufigabnormal. Moksnes et al. (Moksnes2008) beschrieben einen pathologi-schen Pivot-Shift-Test Grad C und Dbei 85% der von ihnen untersuchtenunverletzten Kinderkniegelenke. Mitzunehmender Reifung nimmt dieseLaxität etwa ab dem 12. (Mädchen)bzw. 13. Lebensjahr (Jungen) ab.Dies verläuft parallel zur Ausreifungder Wachstumsfugen. Das Wachstum am Kniegelenk wirdvon 3 Wachstumsfugen bestimmt:die Fuge am distalen Femur, die Fugeder proximalen Tibia und ihre ventra-le Ausschwingung nach distal, dieApophyse der Tuberositas tibiae. Siehaben das höchste Wachstums-potenzial im menschlichen Körperund machen 2/3 des Längenwachs-tums der unteren Extremität aus (imSchnitt 34 cm bei Frauen und 38 cmbei Männern). 60% des Wachstumsder unteren Extremität kommen ausder femoralen, 40% aus der tibialenFuge. Das Wachstumspotenzial desKniegelenks beträgt zwischen dem10. und dem 16. Lebensjahr 7,3 cmbei Mädchen und 12,3 cm bei Jungen.Der Fugenverschluss ist bei Mädchenbei einem Skelettalter von 14–15 Jah-ren zu erwarten. Bei Jungen kommt esetwa 2 Jahre später zum physiologi-schen Fugenverschluss (Seil 2004)(Abb. 2). Von Bedeutung bei dieserJahresangabe ist, dass es sich hier-bei nicht um das chronologische,sondern um das interindividuell ver-gleichbarere Skelettalter handelt.Im Hinblick auf die operative Versor-gung sind folgende Faktoren von Be-

deutung: Vor der Pubertät beträgt dieWachstumsgeschwindigkeit der knie-gelenknahen Fugen ca. 2 cm/Jahr.Der pubertäre Wachstumsschub ist ander unteren Extremität geringer aus-geprägt als am Rumpf. Es kommt zueinem leichten Anstieg der Wachs-tumsgeschwindigkeit bei einem Ske-lettalter von 11 Jahren bei Mädchenund 13 Jahren bei Jungen. Ab dem13. Jahr bei Mädchen und dem 15.Jahr bei Jungen nimmt sie rapide ab,um ein Jahr später zum Stillstand zukommen [Abb. 2; (Gicquel 2007)]. Esist nahe liegend, dass während die-ser langsameren Wachstumsphasedie Gefahr eines frühzeitigen iatro-genen Fugenverschlusses am höchs-ten ist, da die Wachstumsfuge nurnoch eine ungenügende Distrak-tionskraft aufbringen kann, um einepermanente Knochenbrückenbildungzu verhindern (Chotel 2010; Wilmes2009). Der Verschluss der Fugen be-ginnt zentral und verläuft zentrifu-gal. Bei transphysären Bohrkanälenist dies v. a. für den femoralen Tun-

nel von Bedeutung, da er exzentrischim posterolateralen Fugenbereichliegt. Demnach ist die Fuge hiernoch länger offen als im zentralergelegenen Bereich des tibialen Bohr-kanals. Die Apophyse der Tuberositastibiae schließt sich erst zwischendem 16. und 18. Lebensjahr (Sasaki2002). Auch diese sollte bei der Prä-paration des tibialen Bohrkanalein-gangs oder der Entnahme der Pes an-serinus-Sehnen geschützt werden.

Präoperative Diagnostik undOperationsplanung

Zur standardmäßigen Röntgendiag-nostik empfehlen wir eine a.p.-,seitliche und patellofemorale Auf-nahmen sowie eine a.p.-Aufnahmein 45° Beugestellung zum Ausschlussder sehr seltenen knöchernen Ausris-se der femoralen Bandinsertion. Die MRT-Diagnostik gehört ebenfallszu den Standarduntersuchungen beiVKB-Läsionen im Kindes- und Ju-

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RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND

männl. 11 Jweibl. 13 J

männl. 13 Jweibl. 15 J

männl. 14 Jweibl. 16 J

Skelettalter

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Abbildung 2Wachstumsgeschwindigkeit der kniegelenknahen Fugen in Abhängigkeit vom Skelettalter.In Phase 1 (gelb) wachsen die Fugen ca. 2 cm/Jahr. In der ersten Phase steigt zum Zeitpunktdes Wachstumsschubes die Geschwindigkeit an. In der Phase 2 (rot) kommt es zu einerAbnahme der Wachstumsgeschwindigkeit (Jungen ca. 15 Jahre, Mädchen ca. 13 Jahre). Hierist das Risiko eines vorzeitigen Fugenschlusses höher. Ggf. sollte hier eine abwartendeStrategie verfolgt werden und die Rekonstruktion nach Abschluss des Wachstums erfolgen(Phase 3, grün) (modifiziert nach Gicquel et al. 2007).

männl. 13 J.weibl. 11 J.

männl. 15 J.weibl. 13 J.

männl. 16 J.weibl. 14 J.

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RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND

gendalter, zum einen zur Beurteilungdes VKB selbst, zum anderen zur Ab-klärung von Begleitverletzungen amKnorpel und Meniskus. Hierzu bedarfes eines Kernspintomogramms vonguter Qualität, da die Beurteilungder Kreuzbandläsion bei Kindernschwieriger ist als bei Erwachsenen.Insbesondere in der Altersgruppeunter 12 Jahren konnte gezeigtwerden, dass die Sensitivität derMRT zur Diagnostik von Kniebinnen-schäden lediglich 62% bei einerSpezifität von 90%, betrug. In derAlterskategorie von 12–16 Jahrenverbesserten sich Sensitivität undSpezifität auf 78 bzw. 96% (Kocher2001). Bei gesicherter VKB-Ruptur bei offe-nen Wachstumsfugen sollten eineBestimmung des Skelettalters undeine Wachstumsprognose anhandeiner Röntgenaufnahme der linkenHand und z. B. der Tabellen vonGreulich und Pyle durchgeführt wer-den. Diese Bestimmung ist präziserals die physiologische Reifebestim-mung mit Hilfe der Tanner Stadien.Zur Objektivierung des Restwachs-tums im Knie können die Patientendann in eine der 3 „Wachstumska-tegorien“ des Kniegelenks unterteiltwerden (Abb. 2). Diese Vorgehens-weise hat sich bei Kindern vor oderwährend der Pubertät im klinischenAlltag bestätigt (Wilmes 2009). Einepräoperative Ganzbeinaufnahmedient zur Objektivierung der Achs-verhältnisse und bereits bestehen-der Beinlängendifferenzen.

Indikationsstellung

Die Indikation zur operativen Thera-pie bei Kindern und Jugendlichenwird zunehmend großzügiger ge-stellt (Beynnon 2005). Auf eine Kreuzbandrekonstruktion imAkutstadium sollte dennoch, wennmöglich, verzichtet werden. Kam esbei der Kniedistorsion zu einer osteo-

chondralen Absprengung oder einemeingeschlagenen Korbhenkelriss bzw.einer durch die Meniskusläsion her-vorgerufene Blockade, wird derenarthroskopische Versorgung im Früh-stadium empfohlen. Beim derzeiti-gen Stand der Meniskusreparationenmüssen Korbhenkelresektionen beiKindern und Jugendlichen der Ver-gangenheit angehören. Beherrschtman die Technik der Meniskusrepara-tion nicht, sollte das eingeschlageneGewebe reponiert, das Kniegelenkruhig gestellt und der junge Patientin ein ausgewiesenes Zentrum zurSekundärversorgung überwiesen wer-den. Wird der Meniskus repariert,sollte die VKB-Plastik nur danngleichzeitig erfolgen, wenn der Ope-rateur Erfahrung mit diesen Eingrif-fen bei Kindern besitzt und wenn dieEltern im Vorfeld eingehend auf diespezifischen Komplikationsmöglich-keiten des Eingriffs hingewiesenwurden. Das Risiko der Arthrofibrosenach Kniegelenkseingriffen im Akut-stadium ist nach unserer Erfahrungbei Kindern geringer ausgeprägtals beim Erwachsenen. Meniskusre-konstruktionen ohne gleichzeitigenbzw. sekundären Bandersatz solltenaufgrund der sehr hohen Rerupturra-te der Menisken vermieden werden.Wie bereits erwähnt, sollte im Akut-stadium differentialdiagnostisch dieMöglichkeit der Patellaluxation nichtaußer Acht gelassen werden, da siefür etwa ein Drittel der Fälle eines imRahmen einer Kniedistorsionen auf-tretenden Hämarthros verantwort-lich ist (Luhmann 2003). Liegt keineMeniskus- oder Knorpelläsion vor,die einer akuten Versorgung bedarf,empfehlen wir in den ersten Wochennach der Kniegelenkdistorsion einekonservative Behandlung einzulei-ten. Anschließend schlagen wir einstrukturiertes Rehabilitationspro-gramm über einen Zeitraum von 3–6Monaten vor, mit engmaschigen kli-nischen Kontrollen. Eine normalephysische Aktivität sollte erlaubt

werden mit der Einschränkung, dassdie Teilnahme an so genannten„Pivoting“-Sportarten wenn möglichnur mit einer stabilisierenden Orthe-se erlaubt werden sollte – auch wenndiese häufig nur ungern getragenwerden. Diese Zeit sollte ebenfallsgenutzt werden, um die jungenPatienten und ihre Eltern auf diebei Kindern schwierigere Problema-tik als bei Erwachsenen zu sensibili-sieren. Im chronischen Stadium bzw. beiverspäteter Diagnosestellung hängtdie Indikation zum VKB-Ersatz vonden funktionellen Symptomen undden Begleitläsionen ab. Der Eingriffist dann absolut indiziert, wenn esbereits zu instabilitätsbedingtenMeniskusläsionen gekommen ist.Ziel ist in solchen Fällen die Prä-vention der Früharthrose. Aufgrundder häufig beobachteten sekundärenMeniskusläsionen nach konservativversorgter kindlicher VKB-Ruptur(75% innerhalb des 1. Jahres (Bracq1996) erscheint besonders bei sehrjungen Kindern ein frühzeitigerBandersatz gerechtfertigt. Diesersoll den Kindern ein normales Lebenohne Einschränkung ihrer körper-lichen Alltagsaktivitäten ermög-lichen. Die bei Erwachsenen sehrleicht zu erfragenden subjektivenInstabilitätszeichen (sog. „Giving-way“-Phänomene) können bei Kin-dern häufig nur nach längerem, prä-zisen Nachfragen in Erfahrung ge-bracht werden. Seit wenigen Jahren stehen mit derHilfe von Funktionstests und besse-ren Kenntnissen des kniegelenk-nahen Wachstums neue Instrumentezur Verfügung, die bei der Indika-tionsstellung und Operationspla-nung behilflich sein können. IhreAuswertung ist wissenschaftlichnoch nicht abgeschlossen, sie verfü-gen aber über ein großes Potentialzur objektiven Klärung der Notwen-digkeit der Operationsindikation.Funktionstests können außerhalb

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des Akutstadiums über die subjekti-ve Instabilität Auskunft geben(Moksnes 2008). Es ist bekannt, dassKinder bei der Rezeption einesSprunges ein valgisches Landungs-muster aufweisen, ähnlich dem dasman bei Frauen beobachten kann.Dieses ist mit einem erhöhten Risikovon Kreuzbandverletzungen verge-sellschaftet. Mit zunehmendem Rei-feprozess nehmen die Jungen dannein eher varisches Landungsmusterein (Hewett 2006). Solche Sprung-tests lassen sich unkompliziert inden Behandlungsprozess einbauenund stellen eine einfache Orientie-rungshilfe bei der späteren Entschei-dungsfindung dar (Moksnes 2008).Hinweise auf das verbleibendeWachstumspotential des Kniegelenksliefert die Skelettalterbestimmungin Kombination mit Abb. 2. DieseMethode verdeutlicht auf eine sehreinfache Art und Weise die verblei-bende Zeit bis zum Fugenverschlussund ist insbesondere dann hilfreich,wenn Skelettalter und biologischesAlter nicht übereinstimmen.Die Autoren schlagen demnach fol-genden Behandlungsalgorithmus vor:bei einer isolierten VKB-Ruptur solltezugunsten einer konservativen Be-handlung mit sehr engmaschiger Be-treuung zunächst auf eine frühzeiti-ge Rekonstruktion verzichtet werden.Eine Operationsindikation liegt beisekundären Meniskusläsionen undeinem oder mehreren „Giving-way“-Phänomenen vor (Moksnes 2008).Nach Abschluss des Längenwachs-tums kann wie bei Erwachsenen vor-gegangen werden.

Operative Technik

In der Literatur findet sich eine Viel-zahl an Techniken zur VKB-Plastikbei Kindern. Sie unterscheiden sichin Bezug auf Art, Verlauf und Fixa-tion des Sehnentransplantats. Eswird unterschieden zwischen Verfah-

ren, bei denen die Bohrkanäle diefemorale und die tibiale Wachstums-fuge kreuzen (transepiphysäre Tech-niken), und solchen, bei denenweder die tibiale noch die femoraleFuge verletzt wird (Abb. 3). Bei letz-teren differenziert man Eingriffe,bei denen das Transplantat um dieWachstumsfuge herumgeleitet wer-den kann (extraepiphysäre Techni-ken), von solchen, bei denen dieBohrkanäle ausschließlich durch dieEpiphyse führen (epiphysäre Techni-ken). Beide sind technisch an-spruchsvoller als die transepiphysäreTechnik. Während die extraepiphysä-re VKB-Plastik keinen anatomischenVKB-Ersatz ermöglicht, bergen epi-physäre VKB-Plastiken ein größeresVerletzungsrisiko für die Wachstums-fugen.Die früher bei Kindern häufig ver-wendeten extraartikulären Bandplas-

tiken werden heute nur noch verein-zelt durchgeführt (Gebhard 2006).Wie bei Erwachsenen werden auchbei Kindern heute überwiegend intra-artikuläre Bandplastiken empfohlen.Im deutschen Sprachraum scheintdie arthroskopische transepiphysäreEinkanalrekonstruktion die am wei-testen verbreitete Technik zu sein(Abb. 4). Sie wird mit einem 3-oder 4-bündeligen Semitendinosus-sehnentransplantat durchgeführt.Die Transplantatfixation erfolgt ge-lenkfern und extrakortikal (femoralerKippknopf, z. B. Endobutton, Smith &Nephew oder Retrobutton, Arthrex;tibialer Nahtknopf, z. B. Suture Disc,Aesculap bzw. über eine Poller-schraube). Eine direkte Sehnenfixa-tion mit einer biodegradierbaren ti-bialen Interferenzschraube wurdevon Jäger und Mitarb. (Ulmer 2008)beschrieben wenn die Distanz zwi-

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RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND

a b c

Abbildung 3Zusammenfassung der verschiedenen Operationstechniken zum VKB-Ersatz bei offenenWachstumsfugen. Man unterscheidet zwischen transepiphysären (bei denen die Bohrkanäledie femorale und die tibiale Wachstumsfuge kreuzen, a), extraepiphysären (bei denen dasTransplantat um die Wachstumsfuge herumgeleitet wird, b) und epiphysären Techniken(bei denen die Bohrkanäle ausschließlich durch die Epiphyse führen, c). Darüber hinaus gibtes noch Mischformen bei denen an Tibia und Femur mit unterschiedlicher Technik operiertwurde.

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RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND

schen tibialem Tunneleingang undtibialer Wachstumsfuge groß genugwar um die Schraube zu verankern.Mit Ausnahme der spezifischen Be-rücksichtigung der Anatomie deskindlichen Kniegelenks unterschei-det das Verfahren sich nur unwesent-lich von der gleichen Technik beimErwachsenen. Der Durchmesser desTransplantats beträgt in der Regel6–7 mm (maximal 8 mm). Obwohldie Sehnen gewöhnlich dünner alsbeim Erwachsenen sind, gelingt esmeistens dennoch, den gewünschtenTransplantatdurchmesser zu erhal-ten. Sollte dies nicht der Fall sein,oder im Falle einer inkomplettenSehnenstrangentnahme, kann alter-nativ oder zusätzlich auf einen Seh-nenstreifen ohne Knochenblöckchenaus der Patellar- oder Quadrizeps-sehne zurückgegriffen werden. ZurVermeidung einer möglichen Kno-

chenbrückenbildung wird empfoh-len, das Transplantat dem Kanal-durchmesser anzupassen („press-fit“). Um die tibiale Fugenverletzungzu minimieren, wird der tibiale Bohr-kanal (Abb. 5) etwas vertikaler posi-tioniert als beim Erwachsenen undder Tunneleingang etwas weitermedial, um die Apophyse der Tubero-sitas tibiae nicht zu verletzen. ZurMinimierung des Risikos einer se-kundären Wachstumsstimulierungsollte versucht werden, möglichstweichteilschonend zu operieren. Sosollte beispielsweise auf eine ag-gressive Deperiostierung des tibia-len Tunneleingangs verzichtet wer-den (Chotel 2010). Femoral sollte das VKB möglichstanatomisch positioniert werden. So-genannte „over-the-top“-Technikenwurden weitgehend verlassen. ZurVermeidung einer Verletzung der pe-

richondralen Strukturen oder einesAusbrechens der dorsalen Femurkor-tikalis wurde empfohlen, auch beiKindern ein femorales Zielgerät miteiner 5-mm-Stufe („offset“) zu be-nutzen (Seil 2008). Bohrt man denfemoralen Tunnel transtibial, kommtes in der Regel zu einer vertikalerenPositionierung des Transplantats,welches eine geringere Kontrolle derfemorotibialen Rotationsstabilitätzur Folge haben kann (siehe KapitelTunnelposition). Wird der femoraleKanal durch das anteromediale Por-tal angebracht, kommt es zwar zueiner horizontaleren und anatomi-scheren Positionierung des Trans-plantats und somit möglicherweisezu einer Verbesserung der Rotations-stabilität, allerdings wird hierbei diefemorale Wachstumsfuge in einemschrägeren Winkel angebohrt. Hier-durch entsteht eine um ein Viel-

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Abbildung 4A.p.- und Seitaufnahme eines Jungen, der im Alter von 11 Jahren mit einer transepiphysären 4-fach-Semitendinosus-Grazilisplastik und ge-lenkferner, extrakortikaler Fixation versorgt wurde (links). Fünf Jahre später, bei fast abgeschlossenem Längenwachstum (20 cm seit derOperation) (rechts), fanden sich weder Beinlängendifferenz noch Achsabweichung. Der femorale Fixationsknopf hat sich durch das Wachs-tum nach proximal verschoben. Bei der letzten klinischen Untersuchung fanden sich ein negatives Lachman-Zeichen sowie ein negativerPivot-shift-Test.

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faches größere Fugenläsion als beider transtibialen Tunnelanlage. In-wiefern dies zum vermehrten Auftre-ten von Wachstumsschäden führenkann, wurde noch nicht abschlie-ßend geklärt. Ein Mittelweg bestehtdarin über den Tibiakanal von para-sagittal medial unter maximalerAngulation des Zielhakens im Tibi-kanal und Flexion des Kniegelenksvon 90–100° femoral das Sacklochzu präparieren. Alternativ kann einerein epiphysäre Technik gewähltwerden, bei der der femorale Kanalvon aussen nach innen bzw. vonintraartikulär nach extraartikulär mitHilfe von neu entwickelten speziel-len Bohrtechniken (z. B. Retrodrilloder Flippcutter, Arthrex) gebohrtwird. Der Bohrer muss kaudal und pa-rallel zur Epiphysenfuge liegen. Wirdletztere tangiert entsteht ein sehrgrosser Fugenschaden mit hohem

Risiko einer Wachstumsstörung. Des-wegen sollte bei dieser Technik diesystematische intraoperative Zu-hilfenahme eines Bildwandlers ge-fordert werden. Diese verschiedenentechnischen Variationen im Zusam-menhang mit dem femoralen Bohr-kanal zeigen, dass diesbezüglichnoch kein Konsens gefunden werdenkonnte und für den Operateurweiterhin Spielraum für eine indivi-duelle Betreuung dieses sehr spezifi-schen Problems besteht.Die in >50% der Fälle assoziiertenMeniskusläsionen (Bracq 1996; Moks-nes 2008; Wilmes 2009) sollten wennimmer möglich repariert werden.Resektionen von Korbhenkelläsionensind nur noch in Ausnahmefällen zuempfehlen (lange Luxationszeit desKorbhenkels mit sekundärer plasti-scher Deformierung des Meniskusge-webes, spontane Reluxation nach

Reposition bei 90° gebeugtem Knie-gelenk) und sollten wenn möglichsystematisch repariert werden.

Fugenverletzung beiarthroskopischer VKB-Plastik

Verletzungen der kniegelenknahenWachstumsfugen können zu Epiphy-siodesen und sekundären Beinver-kürzungen oder Achsabweichungenführen. Die Wachstumsfugen tolerie-ren aber ein gewisses Grad an Trau-matisierung, ohne dass es zu diesenunerwünschten Ereignissen kommt.Wird die Fuge durchbohrt, regene-riert sich der Fugenknorpel nicht undder Bohrkanal füllt sich mit Kno-chen. Durch das weitere Wachstumerzeugt die verbleibende Fuge eineDistraktionskraft, die dazu führt,dass die entstandene Knochenbrückesich dem Wachstum anpasst undständig umgebaut wird. Tierversuchehaben ergeben, dass dieser knöcher-ne Remodellierungsprozess ab einerVerletzung von 7–10% der Wachs-tumsfugenfläche nicht mehr statt-finden kann und Wachstumsstörun-gen zu erwarten sind. Übertragen aufein a.p.-Röntgenbild beim Kind ent-spricht dieser Grenzwert etwa 20%der Wachstumsfugenbreite. Wähltman eine VKB-Plastik, bei der es zueiner Durchbohrung der Fuge kommt,sollte der Durchmesser des Bohr-kanals möglichst klein gewählt wer-den. Es konnte gezeigt werden, dassmit einem Bohrkanal von 6–8 mmbei einem 10-jährigen Kind wenigerals 5% der tibialen Wachstumsfugeverletzt werden. Füllt man den Bohr-kanal mit Weichteilgewebe, kann dieBildung einer vollständig ausgepräg-ten Knochenbrücke verhindert werden(Stadelmaier 1995; Wilmes 2009).Neuere Untersuchungen an knapphundert VKB-Plastiken bei präpuber-tären Kindern haben gezeigt, dass eseinen Zusammenhang zwischen derBeinachse sowie der Beinlänge und

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Abbildung 5Sicht in einen tibialen Bohrkanal bei einem 12-jährigen Jungen. Die Wachstumsfuge ist guterkennbar (Pfeile).

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RUPTUREN DES VORDEREN KREUZBANDES BEIM KIND

dem Bohrkanaldurchmesser gibt.Wurde ein Bohrkanaldurchmesservon 9 oder mehr mm angelegt kam estendenziell zu einer Beinverlänge-rung und einer Valgisierung derBeinachse auf der operierten Seite(Chotel 2007). Wir empfehlen des-halb bei offenen Wachstumsfugenimmer einen Bohrkanal von wenigerals 9 mm Durchmesser zu wählen.Bei der transepiphysären VKB-Plas-tik, wie wir sie auch klassischerweisevom Erwachsenen kennen unter-scheiden sich beide Bohrkanäledurch ihre Lage erheblich voneinan-der. Während der tibiale Bohrkanaldie Fuge in ihrem Zentrum durch-quert, wird die femorale Fuge durchdie posterolaterale Lage des Bohr-kanals an ihrer Peripherie verletzt.Neuere Tierversuche am Schafsmo-dell ergaben, dass das Risiko einesFugenverschlusses mit Achsabwei-chung femoral höher ist als tibial(Wilmes 2009). Zentrale Läsionender tibialen Wachstumsfuge hattenhier keine Wachstumsschäden zurFolge. Am peripheren Femur hinge-gen führten posterolaterale Fugen-verletzungen bei leeren Bohrkanälenzu Femurverkürzungen, Valgus- undFlexionsdeformitäten. Die histologi-schen Untersuchungen zeigten einefeste Knochenbrücke sowie eine Ver-letzung eigenständiger histologi-scher Strukturen an der Peripherieder Wachstumsfuge, dem Ranvier-schen Schnürring und dem perichon-dralen Ring von LaCroix. Sofern mandie Ergebnisse dieser Tierversucheauf das menschliche Knie übertragenkann, scheint es demnach empfeh-lenswert diese histologischen Struk-turen zu schonen. Sie können durchein Ausbrechen der dorsalen Femurk-ortikalis („posterior blow out“) oderdurch eine zu starke Deperiostierungbei der früher häufig verwendetensogenannten „over the Top Technik“verletzt werden. Bei der Durchführung einer VKB-Plastik bei Kindern erscheint uns die

exakte Kenntnis der spezifischenanatomischen Gegebenheiten undder hieraus resultierenden Opera-tionsrisiken von großer Bedeutung.Eine Zusammenfassung der opera-tionstechnischen Empfehlungen beitransepiphysärer VKB-Plastik ist inTabelle 1 dargestellt.

Nachbehandlung

Die Nachbehandlung wird in der Re-gel vorsichtiger gehandhabt als beimErwachsenen. Postoperativ ist eineOrthesenanlage notwendig, dies ausGründen des Transplantatschutzes,aber insbesondere auch zur Sensibi-lisierung des Kindes und seiner Mit-schüler. Die Kinder dürfen das ope-rierte Bein mit einer Orthese für 6Wochen in Streckstellung belasten.Kontaktsportarten werden frühes-tens ab 6 Monaten freigegeben. DerEntscheid zur Freigabe obliegt demOperateur in Zusammenarbeit mitden behandelnden Physiotherapeu-ten und Trainern. Sie sollte idealer-weise erst nach erfolgreich bestan-dener Sprungtestreihe und Funk-

tionstests erfolgen (Risberg 1994,Gustavsson 2006, Neeter 2006,Moksnes 2008).

Ergebnisse

Die weiter oben bereits zitierte Mul-tizenterstudie aus Frankreich stelltdie derzeit größte publizierte Serievon Kreuzbandplastiken bei offenenWachstumsfugen dar (Bonnard 2007).Von 119 operierten Kindern standen102 (86%) zur Nachuntersuchungzur Verfügung. Der mittlere Zeitraumzwischen Verletzung und Operationbetrug 10,4 (1–65) Monate. ZumZeitpunkt der Operation betrug dasmittlere Alter 12,3 (6,4–15,1) Jahre.In 3 von 4 Fällen wurde die Indika-tion aufgrund einer Instabilität, ineinem von 4 Fällen wegen sekundä-rer Meniskusschäden gestellt; einPatient wurde wegen seiner Aktivitätals Hochleistungssportler operiert.Fünf unterschiedliche Technikenwurden angewendet: Technik nachClocheville (63 Fälle), Technik nachDebrousse (14 Fälle), Over-the-top-Technik mit Fascia lata (14 Fälle),

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Technische Empfehlungen zur VKB-Rekonstruktion bei Kindern

� Bestimmung der Wachstumsprognose des Kniegelenks

� Berücksichtigung der spezifischen Anatomie des kindlichen Knie-gelenks

� Anpassung des Bohrkanaldurchmessers an die Größe des Kniegelenks(kleinstmöglicher Durchmesser)

� Vermeidung einer Verletzung des Ranvierschen Schnürrings

� Überbrückung der Wachstumsfugen in den Bohrkanälen mit Sehnen-material

� Vermeidung einer zu hohen Transplantatspannung

� Vermeidung einer fugenüberbrückenden Transplantatfixation mitFixationsmaterial oder Knochenblöckchen

Tabelle 1Technische Empfehlungen zur VKB-Rekonstruktion bei Kindern.

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transphysäre Technik mit Semitendi-nosustransplantat (5 Fälle), femora-le epiphysäre Technik (6 Fälle).Zum Zeitpunkt der operativenErstversorgung lagen 34 Meniskus-läsionen (23 Außenmenisken, 11Innenmenisken) vor, wovon 30 re-konstruiert werden konnten.Der mittlere Nachuntersuchungszei-traum betrug 3,5 ± 2,7 (1–14) Jahre.Der mittlere Zufriedenheitskoeffi-zient betrug 8,5/10 (n = 101), wobei70% der Patienten zu keinem Zeit-punkt Schmerzen im Bereich desoperierten Kniegelenks angaben. Dermittlere subjektive IKDC-Score lagbei 91 ± 13 (39–100). Die Wiederauf-nahme des Sports erfolgte nach11 ± 4,5 Monaten (n = 85), 18% derPatienten erlangten hierbei ein hö-heres Niveau als vor der Verletzung,11% dagegen mussten ihr Sport-niveau reduzieren bzw. die Sportaus-übung aufgeben.Fünf Rerupturen wurden beobachtet,wovon 2 auf technisches, eine aufbiologisches Versagen und 2 auf einerneutes Trauma zurückgeführt wur-den. Bei 21 Patienten wurde einekonstitutionelle Bandlaxität festge-stellt. Die Laxitätsmessungen wur-den als differenzielle Werte nachUntersuchung mit dem KT-1000 be-stimmt. Bezüglich der a.p.-Laxitätwurden 77% der Patienten in dieIKDC-Kategorie A, 18% in die Kate-gorie B und 2 bzw. 5% in die Kate-gorien C und D eingestuft. Insge-samt wurden 84% gute Ergebnissenach dem IKDC-Score beobachtetund 9 IKDC-Werte <72 erhoben. DieErfolgsrate nach Meniskuserhalt be-trug 83%. Lediglich eine sekundäreMeniskusläsion trat nach 3,5 Jahrenauf. Diese detaillierte Darstellungzeigt, dass die Ergebnisse der VKB-Er-satzplastik bei offenen Wachstums-fugen sehr ansprechend und durchausmit den Ergebnissen von erwachse-nen Patienten vergleichbar sind.Eine interessante Vergleichsstudiezwischen operativem und konserva-

tivem Behandlungsschema führtenStreich und Mitarb. (Streich 2010)durch. In einem Zeitraum von 5 Jah-ren schlossen sie 31 Kinder im Tan-ner Stadium 1 oder 2 (mittleres Alter11 Jahre) in ihre Studie ein. 17 Pa-tienten, bei denen eine assoziierteintraartikuläre Pathologie (Menis-kusschaden oder osteochondraleLäsion) vorlag wurden mit einerautologen, transphysären Semiten-dinosussehnenrekonstruktion ver-sorgt, während die 14 verbleibendenPatienten mit einer isolierten VKB-Ruptur konservativ behandelt wur-den. 28 Patienten konnten nachdurchschnittlich 70 Monaten nach-untersucht werden. Es fand sich keinPatient mit einer Varus- oder Valgus-deformität oder Beinlängendiffe-renz. Das mittlere Körperwachstumbetrug 20,3 cm. Die operativ ver-sorgten Patienten hatten signifikantbessere klinische Ergebnisse sowohlin Bezug auf Kniestabilität (KT-1000und „pivot shift“) als auch Funktion(IKDC median 95 gegen 87; Lysholmscore median 93 gegen 84). Auchder Tegner Score erwies sich bei denoperierten als signifikant besser.58% der initial konservativ be-handelten Patienten mussten beipersistierender Instabilität einernachfolgenden Operation zugeführtwerden.Courvoisier und Mitarb. (Courvoisier2010) untersuchten 38 Kinder undJugendliche, welche mit einer VKB-Plastik bei offenen Wachstumsfugenund transphysärer 4-fach Semiten-dinosusgrazilissehnentransplantatenversorgt wurden. Nach Wachstums-abschluss erreichten 28 einen IKDCscore A (74%), 4 B (11%) und 5 D(13%). Es fanden sich keine Wachs-tumsstörungen. Fünf Patienten muss-ten reoperiert werden (3 wegen einertraumatischen Reruptur und 2 wegeneiner verbleibenden Instabilität).Ähnlich gute klinische und röntge-nologische Ergebnisse mit der trans-epiphysären 4-fach Semitendinosus-

technik wurden von Cohen et al.,Liddle und McIntosh vorgestellt(Cohen 2009; Liddle 2008; McIntosh2006). Auch bei Marx u. Mitarb. fan-den sich bei 55 Patienten zwischen 8und 16 Jahren gute klinische Ergeb-nisse (IKDC A und B bei 90,7% derPatienten). Die Laxitätswerte konn-ten von präoperativ 5,8 mm auf 1,0mm (0–4 mm) verbessert werden.Die traumatische Rerupturrate lagbei 5,5% und in 2 Fällen konnte einePartialruptur des Transplantats ar-throskopisch gesichert werden.Wachstumsstörungen wurden keinefestgestellt.

Komplikationennach VKB-Plastik bei Kindern

Neben den allgemeinen Operations-risiken bestehen die Hauptkomplika-tionen nach VKB-Plastiken bei Kin-dern in postoperativen Wachstums-störungen. Chotel (Chotel 2010)unterteilte sie vor kurzem in 3 ver-schiedene Kategorien: A) einem de-finitiven Wachstumsstillstand („Ar-rest“); B) einer Wachstumsstimulie-rung („Boost“) und C) einer Verlang-samung des Wachstums („deCelera-tion“) (Abb. 6). Sie verdeutlichen,dass die jungen Patienten postope-rativ in regelmäßigen Abständen biszum Abschluss ihrer Wachstums-phase klinisch und röntgenologischuntersucht werden sollten. Charak-teristisch für das Auftreten einer sol-chen Komplikation sind die rönt-genologisch leicht erkennbaren so-genannten Harris-Linien. Liegt dieWachstumsstörung in der Peripherieder Wachstumsfuge, kommt es zueiner Achsabweichung. Durch die de-zentrale Lage des femoralen Bohr-kanals ist dieses am ehesten am dis-talen Femur zu erwarten. Liegt dieUrsache der Wachstumsstörung imZentrum der Wachstumsfuge, kommtes zu einer symmetrischen Verände-rung, am ehesten einer Beinverkür-

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zung. Erstmalig berichtete Chotelkürzlich über die Notwendigkeiteines Zweiteingriffs wegen einerpostoperativen Beinverlängerung.Bislang wurden etwa 30 Fälle vonWachstumsstörungen nach VKB-Plastik bei Kindern in der Literaturbeschrieben. Eine Umfrage unter denMitgliedern der „Herodicus Society“und des „ACL Study Group“ konnte15 Fälle von Wachstumsschädennach VKB-Plastik erheben. Diesegliederten sich in 8 Valgusdeformitä-ten der distalen lateralen Femurepi-physe, 3 sekundäre Rekurvatumfehl-stellungen nach Verletzungen derTuberositasapophyse, 2 Valgusfehl-stellungen und 2 Beinverkürzungenauf. Die meisten Fälle waren auf ope-rationstechnische Mängel zurückzu-führen, insbesondere auf fugenüber-

brückende Transplantatfixationenmit Knochenblöcken (bei Patellar-sehnentransplantaten) oder Metall-implantaten. Andere Komplikationentraten auf bei zu großen Bohrkanä-len, Verletzungen des RanvierschenSchnürrings am Femur sowie beigleichzeitig durchgeführten extra-artikulären Tenodesen. Bei letzterenwar möglicherweise der auch experi-mentell nachgewiesene Tenodese-effekt bei zu großer Transplantat-spannung für die Wachstumsstörungverantwortlich. Des Weiteren wurdenein aggressives Aufraspeln der femo-ralen „Over-the-top“-Position sowiedie Naht nahe der Tuberositasapo-physe als Ursachen angeführt (Ko-cher 2002).In der bereits erwähnten französi-schen Multizenterstudie (Chotel

2007) konnten 11 Wachstumsstörun-gen (12%) mit verschiedenen Opera-tionstechniken beobachtet werden.In einem Fall war eine Korrektur-osteotomie in Form einer varisieren-den Femurosteotomie notwendig.An der Tibia wurden ein Verkürzung(–13 mm), 2 Varus- und 3 Valgusde-formitäten erhoben, „Slope“-Verän-derungen lagen nicht vor. Als Mecha-nismen wurden der Tenodeseeffektund die Wachstumsstimulation durchDeperiostierung beschrieben. Femo-ral dagegen fanden sich eine Verlän-gerung von 11 mm und 4 Valgusde-formitäten, wobei ein femoraler Tun-neldurchmesser ≥9 mm mit einemfemoralen Valgus korrelierte. Es fandsich ebenfalls eine eindeutige posi-tive Korrelation zwischen der Bein-länge und dem benutzten Tunnel-

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b

a

p-

p

p-

p a

b

p+

p+

b

pp-

a b cAbbildung 6Mögliche Komplikationsarten nach VKB-Ersatz bei Kindern (modifiziert nach Chotel et al. 2010). Chotel et al. beschrieben 3 Arten derWachstumsstörung nach VKB-Ersatzplastik bei Kindern: a) Hier kommt es zu einem kompletten Wachstumsstop (Typ A: „Arrest“) welcherdurch eine über die Wachstumsfuge reichende Knochenbrücke hervorgerufen wird. Der Wachstumsschaden ist irreversibel und entwickeltsich bis zum Abschluss des Längenwachstums. Das Ausmass der Deformität ist proportional zur Lokalisation und Grösse der initialenFugenläsion. Bei sehr jungen Kindern kann es wegen des hohen Wachstumspotentials und der entsprechend hohen Distraktionskraft zueiner spontanen Auflösung der Knochenbrücke kommen. b) Typ B („Boost“): Eine Wachstumsbeschleunigung (p+) kann sich vermutlich inFolge einer postoperativen Hypervaskularisierung entwickeln. Sie ist häufig nur vorübergehend und entwickelt sich innerhalb der ersten2 Jahre nach dem Eingriff. c) Typ C („DeCeleration“): Wachstumsretardierung (p–), welche durch einen Tenoepiphysiodeseeffekt (zu hoheTransplantatspannung) hervorgerufen werden kann. (p = physiologischer Wachstumsprozess; gestrichelte Linie = physiologische Wachs-tumsretardierungslinie; durchgezogene Linie = pathologische Linie welche einen kompletten Wachstumsstop darstellt.

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durchmesser. Mit Ausnahme einerValgusfehlstellung von 13° warenalle anderen Störungen klinischnicht relevant. Ihre Auswirkung aufdie langfristige Ausbildung einerSekundärarthrose bleibt offen (Bon-nard 2007).Zur Minimierung des Komplikations-risikos sind die zu beachtendenGrundregeln bei transepiphysärenVKB-Plastiken bei Kindern in Tabelle1zusammengefasst.

Diskussion

Bei einer isolierten VKB-Ruptur imKindesalter sollte zunächst einefunktionelle Behandlung eingeleitetwerden. Sie sollte abschwellendeMaßnahmen, eine Wiedererlangungder Kniegelenkbeweglichkeit, einKoordinationstraining und eine Kräf-tigung der Oberschenkelmuskulaturbeinhalten. Wird eine konservativeBehandlung eingeleitet, sollte derPatient engmaschig kontrolliert wer-den. Insbesondere sollten hierbeiInstabilitätsprobleme und Sublu-xationsphänomene erfragt werden,die von den Kindern häufig nicht alsproblematisch erkannt werden. Ineinigen Fällen kann mit der Kreuz-bandplastik bis zum Ende des Wachs-tums der unteren Extremität abge-wartet werden.Als hilfreich hat sich in unserer Pra-xis die in Abb. 2 gezeigte Grafik derWachstumsgeschwindigkeit der knie-gelenknahen Fugen in Abhängigkeitvom Skelettalter ergeben. In derPhase der abnehmenden Wachstums-geschwindigkeit kann der Operationin manchen Fällen eine mehrmona-tige abwartende Haltung vorgezogenwerden. Aufgrund der sehr hohenRate an sekundären Meniskusläsio-nen ist ein operatives Vorgehenhäufig aber bereits früher indiziert.Spätestens nach dem Auftreten einersekundären Meniskusläsion ist dieoperative Stabilisierung dringend zu

empfehlen. Wegen der möglichenWachstumsstörungen müssen derEingriff, die postoperative Nachbe-handlung und die regelmäßigen Kon-trollen bis zum Wachstumsabschlusseingehend mit der Familie bespro-chen werden. Bei mangelnder Bereit-schaft hierzu ist eine abwartendeHaltung empfehlenswert.Im Einzelfall gilt es immer die Vor-und Nachteile des konservativen undoperativen Vorgehens abzuwägen.Entscheidet man sich zu Letzterem,sollte eine intraartikuläre VKB-Plas-tik durchgeführt werden. Die früherempfohlenen extraartikulären Band-plastiken sind nicht ausreichend(Wilmes 2009). Von den vielen intra-artikulären Techniken hat sich bis-lang keine als wesentlich vorteilhafterwiesen (Sasaki 2002). Seit kurzemliegen nun auch größere Fallzahlenpräpubertärer Kinder vor, die gezeigthaben, dass der VKB-Ersatz beimKind bei technisch korrekter Durch-führung in ausgewählten Zentren zuguten Ergebnissen führt (Bonnard2007). Fast alle der in der Litera-tur beschriebenen schwerwiegendenWachstumsschäden waren auf opera-tionstechnische Probleme zurück-zuführen. Wachstumsstörungen, diebei technisch korrekter Durchfüh-rung der Operation auftraten, warengering und klinisch nicht relevant.Regelmäßige postoperative Kontrol-len bis zum Wachstumsabschlusssind dennoch systematisch zu emp-fehlen.In den letzten 5–10 Jahren wurdezunehmend über VKB-Plastiken beiKindern berichtet. Operationstech-nisch erfreut sich die transepiphys-äre 4-fach Semitendinosustechnikweltweit zunehmender Beliebtheit.Ihre Ergebnisse sind gut, Komplika-tionen treten – unter Berücksichti-gung der anatomischen Besonder-heiten bei offenen Wachstumsfugen– selten auf und die Rerupturrate er-scheint gegenüber dem Erwachse-nenkollektiv nicht wesentlich erhöht

zu sein. Langfristige Ergebnisse ste-hen aber noch aus. Inwiefern dieBandplastik bei offenen Wachstums-fugen eine Rückkehr in den Leis-tungssport ermöglicht oder im Hin-blick auf die langfristige beruflichePrognose auch sinnvoll ist konntenoch nicht abschließend geklärtwerden.

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