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Wandel der Arbeit – Stress und psychische
BelastungVortrag im Rahmen der Veranstaltung
„Wandel der Arbeit und betriebliche Gesundheitsförderung“
Kooperationsstelle Hochschulen & Gewerkschaften, 30.10.2008, Hannover
Dr. Anja GerlmaierIAQ, Universität Duisburg/Essen
Wandel der Arbeit – bedeutsame Triebkräfte
• Globalisierung: internationale Märkte und Arbeitsmärkte, Verlagerung von Produktionsstandorten, neue Konkurrenzsituationen Arbeitsstandards in den hoch entwickelten Industrieländern geraten unter Druck
• Informatisierung: Durchdringung der Arbeit mit neuen IuK-Technologien, mehr Informationsberufe Bedeutungsgewinn geistiger Tätigkeiten (Tertiärisierung)
• Finanzialisierung: Rückzug von Banken aus langfristigen Industriefinanzierungen, Bedeutungsgewinn von Aktienkursen als Indikatoren für Unternehmenswert, Shareholdervalue-Erwartungen als Legitimierung für Unternehmensreorganisationen
Umbrüche in der Unternehmensorganisation• „Vermarktlichung“ (Sauer, 2005, 180): marktorientierte Kennziffern gewinnen als Steuerungsinstrumente an Bedeutung• flexible Kapazitätsplanung: Ausweitung der Nutzung von Randbelegschaften (bedarfsgerechte Personalplanung) Zunahme atypischer, prekärer Beschäftigung• Erhöhung der Einsatzflexibilität durch neue Arbeitszeitmodelle („Atmende Fabrik“)• ergebnis- und erfolgsorientierte Lohnpolitik bis in die unteren Beschäftigungsgruppen• Abbau von Hierarchien, Bedeutungsgewinn von Selbstorganisation und Aufgabenerweiterung bei knappen Ressourcen
(…)
Rahmenbedingungen der Arbeit: früher und heute
Gerlmaier/Kastner, 2003, mod.)
standardisierte Erwerbsverläufe
geregeltes Arbeitsverhältnis
Planbarkeit durch Stabilität
partialisierte, fremdbestimmte Handlungen
Selbstorganisation, Trend zu auftrags-bezogenen Leistungsverhältnissen
flexible Erwerbsverhältnisse, brüchige Erwerbsverläufe
Verschwimmen von Begrenzungen
Ungewissheit, Optionalität
ganzheitliche, verantwortungsvolle Tätigkeiten < - > Retaylorisierung
langfristig angelegte Austauschbeziehungen und Organisationsstrukturen
lebenslanges Lernen als Entwicklungspotenzial
Beanspruchung durchphysikalische Schädigung, Monotonie
Reorganisation als Dauerzustand, flexible Austauschbeziehungen (z.B. Freelancing)
Zwang zu lernen
Überforderung, Burnout,psychische Ermüdung
Heteronomie, klare Anweisungs-/Kontrollstrukturen
Arbeitsschutz im Wandel
• Deregulierung im staatlichen AGS: Wegfall verbindlicher Regelungen und Standards in verschiedenen Regelungsbereichen, z.B. Arbeitsstättenverordnung (Reusch, 2003)
• „Verschlankung“ im Bereich des institutionellen AGS (BGen, staatl. Aufsichtsämter), Veränderungen der Aufgaben (mehr Beratung als Kontrolle)
• „Entbetrieblichung des betrieblichen AGS“: Trend zur Auslagerung von AGS-Dienstleistungen
Wandel der Arbeit – Herausforderungen für den AGS der Zukunft
• Neue Beanspruchungs- und Belastungsmuster durch veränderte Rahmenbedingungen der Arbeit Zunahme psychischer Belastungen, bei denen die Methoden des klassischen AGS wenig wirkungsvoll sind
• Veränderungen im Gefüge des betrieblichen AGS: z.T. geringere Einsatzzeiten, neue Aufgabenfelder, z.B. Umgang mit Leiharbeitern, Fremdfirmen
• Polarisierung im betrieblichen AGS: zunehmendes Auseinanderklaffen von betrieblichen AGS-Standards und deren Umsetzung („Vorzeigeunternehmen“ vs. „regulierungsfreie Zonen“)
• Individualisierung im AGS: Prävention wird zur Aufgabe des Einzelnen erklärt, Bedeutungsverlust von Arbeitsgestaltung in den letzten 15 Jahren
Neue Arbeitswelten – Neue Gesundheitsrisiken am Beispiel Stress
23
20
23
32
1214
0
5
10
15
20
25
30
35
EU-Gesamt alteBundesländer
neueBundesländer
Großbritanien Schweden Niederlande
(Quelle: European Research Group, 2003)
• 19% der Arbeiter und 21% der Angestellten in der EU erleben Stress
• Psychische Befindensstörungen führen jährlich zu Produktionsausfällen im Bereich von 5,6 Mrd. € (Richter, 2003)
• Psychische Erkrankungen stehen als Gründe für einen vorzeitigen Rentenantritt inzwischen an erster Stelle (29%) (BauA, 2005)
Arbeitsintensität: Entwicklungstendenzen EU / Deutschland
42
33
44
39
4441
50
44
0
10
20
30
40
50
60
Deutschland EU-Durchschnitt
1991199520002005
(Quelle: European Foundation 2007: Deutschland/ EU-15, Angaben in %)
Entwicklung bei den psychischen Belastungen: Deutschland 1999-2008
50
42
34
53
59
46
0 10 20 30 40 50 60 70
Arbeits-/Termindruck
verschiedene Aufgabengleichzeitig
Arbeitsunterbrechungen
1999 2006
Quelle: BIBB/IAB-Befragung 1998/99, BAuA/BIBB-Befragung 2005/6
Zusammenhang von Arbeit und Stress: StressmodelleAnforderungs-Kontroll-Modell (demand-control-support-model)
von Karasek
Annahmen:• Stressbezogene Befindlichkeitsstörungen werden im Wesentlichen
durch drei Faktoren erklärt: Arbeitsanforderungen (Arbeitsintensität und Qualifikationsniveau) x Kontrolle (Beteiligung an Entscheidungen, selbständige Planung und Einteilung von Arbeit) x soziale Unterstützung
• Tätigkeiten mit geringem Kontrollspielraum und hohen Arbeitsanforderungen haben ein höheres gesundheitliches Risiko als Tätigkeiten mit hohem Kontrollspielraum
besonders betroffene Berufsgruppen laut Modell: Fließbandarbeit, einfache Dienstleistungsjobs
empirische Bestätigung insbesondere bei epidemiologisch angelegten Studien
Demand-Control-Modell nach Karasek (Oesterreich, 1999, S. 158)
high strain jobviele gesundh.
Beschweren
Active jobaktive
Freizeitgestaltung
Passive jobpassive
Freizeitgestaltung
Low strain jobwenig gesundh.
Beschwerden
low demands high demands
low decision
high decision
Modell der Gratifikationskrisen (Effort-Reward-Imbalance) von SiegristAnnahmen:• Arbeitsbedingter Stress entsteht, wenn ein Ungleichgewicht
besteht zwischen den geforderten Anforderungen und den erwarteten Belohnungen. Je höher die Diskrepanz zwischen Anforderungen und erwarteten Belohnungen (z.B. Lohn, Anerkennung, Arbeitsplatzsicherheit), desto eher entsteht eine „Gratifikationskrise“.
• Ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Anerkennung fördert die Verausgabungsneigung (persönliche Disposition)
Befundlage: • Epidemiologische Befunde zeigen, dass Personen mit
Anerkennungskrise ein erhöhtes Herz-Kreislauf-Risiko aufweisen, häufiger unter Erschöpfung und Schlafstörungen bzw. Depressionen leiden
• Besonders betroffene Berufsgruppen laut Modell: gering Qualifizierte, Ältere, kompetitive Tätigkeiten (Dragano/Siegrist 2006)
Stress in der Arbeitswelt: Theorie und aktuelle Befunde I
erlebter Stress
17%
18%
23%
25%
27%
32%
35%
40%
0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% 45%
Hilfsarbeiter
Beschäftigte Landwirtschaft
Handwerker
Bürokräfte
Dienstleistungsberufe
Führungskräfte
Techniker
Wissenschaftler
erlebter Stress
(Quelle: Eurofound, 2007)
Stress in der Arbeitswelt: Theorie und aktuelle Befunde II
Vergleichsstudie von Lehrerinnen und Bürofachkräften zur Arbeitsfähigkeit und Burnout (Spitzer 2007):
• 31% der Lehrkräfte, aber nur 7% der Büroangestellten weisen kritische Werte bei der Erholungsunfähigkeit
• 58% der Lehrer haben Burnoutsymptome, aber nur 25% der Bürofachkräfte
• Lehrerinnen hatten ein höheres Efford-Reward-Ungleichgewicht als Bürofachkräfte
das Stressrisiko für Berufsgruppen in der Wissensarbeit wird in beiden Stressmodellen unzureichend berücksichtigt (de-kontextualisierte Perspektive)
25%
31%
31%
41%
72%
58%
11%
27%
42%
17%
21%
16%
0 10 20 30 40 50 60 70 80
Rückenschmerzen
Kopfschmerzen
Magenschmerzen
Schlafstörungen
Nervosität
Müdigkeit
Projektmitarbeiter ISO-Beschäftigtenbefragung
Häufigkeit von gesundheitlichen Beschwerden: Vergleich von Projektbeschäftigten mit Personen einer repräsentativen Beschäftigtenumfrage (Bauer et al. 2004, Gerlmaier/Latniak 2005a)
Wang (2007) findet in einer Studie mit 24.000 Teilnehmern, unterschiedliche Belastungen als Ursachen von Depressionen bei erwerbstätigen Männer und Frauen
• Einflussfaktoren Männer: Arbeitsplatzunsicherheit, hohe Anforderungen
• Einflussfaktoren Frauen: mangelnde soziale Unterstützung
Geschlechts-Bias: ERI- und DC-Modelle orientieren sich stark an arbeitsbezogenen Belastungsfaktoren. „Frauentypische“ Belastungsfaktoren (Emotionsarbeit, Rollenkonflikte Arbeit – Familie) werden weitgehend ausgeblendet => dies führt zu einer Risikounterschätzung
Ergebnisse u.a. von EUROFOUND zeigen, dass erwerbstätige Frauen mehr Stress und arbeitsbedingte Beschwerden haben als Männer
Stress in der Arbeitswelt: Theorie und aktuelle Befunde III
Alternative Ansätze: Das relationale Belastungskonzept (Moldaschl, 2006; Gerlmaier/Latniak, 2006)
Handlungsvorausetzungen Bewältigungsformen
Output
Anforde-rungen
Ausführungs-bedingungen
Aneignungs-bedingungen
Arbeitsbe-zogene Ziele/
Ergebnisse
Subjekt-bezogene
Normen/ Wert-vorstellungen
Subjektbezogene Bedingungen des sozialen
Kontextes
Psychische Belastungen- Zusatzaufwand- Unterbrechungen- Zeitdruck- Konflikte
Be-schränkung von Hand-lungsmög-lichkeiten
- Kompetenzgewinn- Zufriedenheit- Wohlbefinden
Bewältigung der Belastungen
- Ärger- Befindensbeeinträchtigungen- chronische Erschöpfung- Rückzug- Unzufriedenheit- reduziertes Selbstwertgefühl- reduzierte Freizeitaktivität- Konflikte mit dem Partner
Nutzung von Hand-lungsmög-lichkeiten
Problemlösung- Erfolgserlebnis- Selbstwirksam- keitserfahrung
(Gerlmaier/Latniak, 2007, 136, erweitert)
Das relationale Belastungs-/Ressourcenmodell - Annahmen• Psychische Belastungen sind die Folge von Widersprüchen
zwischen Zielen, Regeln, Ressourcen, die Arbeitende an der Erreichung des Arbeitszieles hindern und mit negativen Konsequenzen verbunden sind (z.B. Zusatzaufwand, Zeitdruck, Lohneinbußen)
• Ob die Widersprüche oder Dilemmata sich als psychische Belastungen manifestieren und ein Stressrisiko darstellen, hängt davon ab, ob dem Handelnden Ressourcen zum Umgang mit den Widersprüchen zur Verfügung stehen oder ob sie ihm verwehrt sind
• Ressourcen puffern nicht Belastungen ab, sondern tragen dazu bei, dass psychische Belastungen gar nicht erst entstehen und sich manifestieren
• Es gibt keine Universalressourcen, die bei der Bewältigung von Dilemmata immer hilfreich sind, die Entlastungswirkung ist stark kontextabhängig und u.U. berufsgruppenspezifisch unterschiedlich
Einfluss von Ressourcen (Gestaltungseinfluss) auf Belastungen (IT-Fachkräfte, N=89)
2,86
2,8
2,77
2,09
2,36
3,73
3,44
3,46
2,43
2,81
1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5
Zeitdruck**
Zusatzaufwand**
Arbeitsunterbrechungen**
widersprüchlicheArbeitsaufträge*
sozioemotionaleBelastungen**
Gestaltungseinfluss hoch Gestaltungseinfluss gering
Personen mit viel Gestaltungseinfluss haben weniger psychische Belastungen
Hohe Werte = hohe Ausprägung
* = signifikant ** = hoch signifikant
Empirische Prüfung: Einfluss von Gestaltungsspielraum auf Stress und psychososomatische Beschwerden (IT-Fachkräfte, N=89)
1,95
2,51
2,42
2,34
3,15
3,03
1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5 5
psychsom.Beschwerden**
emo. Erschöpfung**
Gereiztheit/Stress**
Gestaltungseinfluss hoch Gestaltungseinfluss gering
Personen mit viel Gestaltungsspielraum erleben weniger Stress
Hohe Werte = hohe Ausprägung
* = signifikant ** = hoch signifikant
Verhältnisse
• Belastungs-/Gefährdungsermittlung
• Ergonomie (Geräuschpegel in Großraumbüros)
• Pausenmanagement• Reorganisation von
Arbeitsabläufen• Führung• Arbeitsklima/Leistungskultur• Regulierung (z.B. Arbeitszeiten,
Schichtarbeit)
Maßnahmen
Ansatzpunkte der Stressprävention
Verhalten
• Stressmanagement/ Psychotherapie
• Coaching• Seminare zu
Entspannungs-methoden (z.B. autogenes Training)
• Angebote zur Fitness-/Ausdauersport
• Massagen (z.T. am Arbeitsplatz – kurativ)
• (…)
Forschungsstand in der Stressprävention
Ergebnisse der Wissenschaft• Verhältnisprävention sollte Vorrang vor
Verhaltensprävention haben (Ulich, 2008)• Systematische Managementkonzepte besitzen die
höchste Nachhaltigkeit
Betriebliche Praxis • In den Betrieben deutliches Übergewicht bei
Verhaltensprävention: 60%, 10% Arbeitsplatzgestaltung (Hartmann/Traue, 1996 in Stefgen 2004), ähnliche Befunde Gröben/Bös (1999)
• Verhaltensbezogene Einzelmaßnahmen überwiegen, obwohl die Wirksamkeit am geringsten ist
Neue Wege der Stressprävention: Ansatzpunkte und Gestaltungsfelder
Subjektivierung von Arbeit erfordert ein neues Präventionsverständnis:
• Organisationen, die Beschäftigten die Gestaltung ihrer Arbeit weitgehend selbst überlassen, müssen dafür sorgen, dass diese für diese Gestaltungsaufgabe ausreichend qualifiziert sind und einen ausreichenden Gestaltungseinfluss besitzen, um auf ihre Arbeitssituation Einfluss zu nehmen
• die Arbeits- und Leistungskultur (implizite Normen) tritt als Präventionsfeld in den Vordergrund
• klare Regelungen und Verantwortlichkeiten zur Beanspruchungsbegrenzung sind als „Haltegriffe“ für die Beschäftigten weiterhin von großer Bedeutung
• verhaltens- und verhältnispräventive Elemente müssen ineinander greifen, um nachhaltige Effekte bei der Stressminderung zu erzielen. aktives Stresscoping setzt Gestaltungseinfluss voraus (Nomura et al., 2007). Umgekehrt bewirkt akuter Stress einen Tunnelblick, die Kenntnis von Methoden der individuellen Stressminderung ist oft notwendig, um überhaupt wieder handlungsfähig zu werden
Zentrale Elemente einer nachhaltigen Stressprävention
Subjekt Organisation Sensibilisierung für Stressfolgen und –ursachen Aufbau individuellen Gestaltungswissens bei MA/FK (z.B. Pausenverhalten, Arbeitsorganisation)
Förderung einer gesundheitsgerechten ArbeitskulturEinführung „entlastender“ Routinen (z.B. Kurzpausen, (Wieder)-Einführung gemeinsamer Teepausen)
„Rückkehr“ von Regeln als Haltegriffe
+ Kontrolle der Einhaltung
z.B. Umgang mit Bereitschaftsdiensten
Belastung als Bestandteil von
Routinekommunikation verankern
(Thematisierung ist zentrale Voraussetzung
für Gestaltung)
Nachhaltige Prävention erfordert
integrative Maßnahmen
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!