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08.04.2019 https://soziopolis.de/verstehen/was-tut-die-wissenschaft/artikel/was-macht-ein-luhmann-editor-eigentlich-beruflich/ 1/14 Was macht ein Luhmann-Editor eigentlich beruflich? von Johannes Schmidt, Martin Weißmann, Martin Bauer Johannes Schmidt im Gespräch mit Martin Bauer und Martin Weißmann Heute wird das Online-Informationsportal des Niklas-Luhmann-Archivs freigeschaltet. Können Sie uns – zumindest in groben Zügen – eine Vorstellung davon vermitteln, welche editorischen und datentechnischen Vorarbeiten nötig waren, um einen Zugriff auf diese Materialien aus dem Nachlass zu ermöglichen? Anders gefragt: Was macht ein Luhmann-Editor eigentlich beruflich? Was ein Luhmann-Editor beruflich macht, hängt stark davon ab, in welcher Phase der Erschließungs- und Editionsarbeit er sich gerade befindet. Wir haben 2015 mit der Nachlasserschließung begonnen. Trotzdem befinden wir uns noch in der Anfangsphase, die ganz andere Probleme stellt, als ein bereits etabliertes Nachlass- und Erschließungsprojekt. Als wir vor vier Jahren begonnen haben, war es zunächst wichtig, einen ersten Überblick über das vorhandene Material zu erhalten, denn Nachlässe sind ganz selten ordentlich, wenn sie beim Erschließer ankommen.

Was macht ein Luhmann-Editor eigentlich beruflich? · Was ein Luhmann-Editor beruflich macht, hängt stark davon ab, in welcher Phase der Erschließungs- und Editionsarbeit er sich

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Was macht ein Luhmann-Editoreigentlich beruflich?von Johannes Schmidt, Martin Weißmann, Martin Bauer

Johannes Schmidt im Gespräch mit Martin Bauer undMartin Weißmann

Heute wird das Online-Informationsportal des Niklas-Luhmann-Archivsfreigeschaltet. Können Sie uns – zumindest in groben Zügen – eineVorstellung davon vermitteln, welche editorischen und datentechnischenVorarbeiten nötig waren, um einen Zugriff auf diese Materialien aus demNachlass zu ermöglichen? Anders gefragt: Was macht ein Luhmann-Editoreigentlich beruflich?

Was ein Luhmann-Editor beruflich macht, hängt stark davon ab, in welcher Phaseder Erschließungs- und Editionsarbeit er sich gerade befindet. Wir haben 2015 mitder Nachlasserschließung begonnen. Trotzdem befinden wir uns noch in derAnfangsphase, die ganz andere Probleme stellt, als ein bereits etabliertes Nachlass-und Erschließungsprojekt. Als wir vor vier Jahren begonnen haben, war es zunächstwichtig, einen ersten Überblick über das vorhandene Material zu erhalten, dennNachlässe sind ganz selten ordentlich, wenn sie beim Erschließer ankommen.

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(Der Zettelkasten in Luhmanns Arbeitszimmer in Oerlinghausen, Foto:Oerlinghausen Uniarchiv)

Auf den ersten Blick vergleichsweise einfach war es beim Zettelkasten, der ineinem geordneten Zustand vor uns stand. Die Herausforderung bestand darin, zumeinen die Ordnungs- und Strukturprinzipien zu verstehen, nach denen Luhmannden Kasten aufgebaut hat – hier gab es Andeutungen Luhmanns in seinemZettelkastenaufsatz von Anfang der 1980er-Jahre, an denen wir ansetzen konnten.Und zum anderen war natürlich die Menge der Notizzettel eine schon reinpraktische Herausforderung: 90 000 Zettel blättert man nicht einfach mal so durch,und es gab von Luhmann keinerlei Inhaltsverzeichnis oder ähnliches, die Kästenwaren ja noch nicht einmal von außen beschriftet. Um zu überprüfen, ob dieSammlung überhaupt vollständig ist und wie sie inhaltlich strukturiert ist, mussteich notgedrungen tatsächlich alle Zettel einmal in die Hand nehmen. Bei dieserGelegenheit habe ich gleich eine Inhaltsübersicht erstellt. Sie hat sich imWesentlichen einerseits an der Nummernsystematik orientiert, die allerdingsgerade keine hierarchische Ordnung darstellt, und andererseits an denLuhmannschen Unterstreichungen auf den Zetteln. So ist am Ende eine Liste vonetwa 150 DIN-A4-Seiten entstanden, die jetzt auch die Basis für eineInhaltsübersicht im Portal liefern wird. In einem zweiten Schritt haben Mitarbeiterdes Nachlassprojektes alle Zettel beidseitig gescannt, um sie archivarisch zusichern und für die digitale Aufbereitung des Kastens vorzubereiten. Dabei musstenicht nur jeder Zettel in einer separaten Datei abgespeichert werden, sondern auchmanuell mit der jeweiligen Nummer und einem Suffix versehen werden, der bereitseine Information über die Art des Zettels enthält. Allein diese Arbeit hat fast zwei

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Jahre in Anspruch genommen.

Ein Zettel über den Zettelkasten, kleine Lesehilfe:"Zettelkastenals kybernetisches System

Kombination von Unordnung und Ordnung,von Klumpenbildung und unvorhersbarer,im ad hoc Zugriff realisierter Kombination

Vorbedingung: Verzicht auf festgelegte Ordnung.Die vorgeschaltete Differenzierung: Suchhilfenvs. Inhalt; Register, Fragestellungen, Einfällevs. Vorhandenes überformt und macht z.T.entbehrlich, das, was an innerer Ordnungvorausgesetzt werden muss."(Foto: Uni Bielefeld)

Bei den Manuskripten war die Situation weniger einfach. Es gab eine große Mengevon Texten – wir zählen heute, nach gut anderthalb Jahren Erschließungsarbeit,

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nahezu 3.000 Manuskriptbestandteile –, die in einem ziemlich ungeordnetenZustand vorlagen. Also musste zunächst erst einmal erfasst werden, was überhauptda war: Welche Publikationsvorhaben? Welche Fassungen? Das war alles sorgfältigund sauber, das heißt mit einer kurzen Beschreibung in eine Liste einzutragen,damit am Ende die verschiedenen Fassungen physisch zusammengeführt undkorrekt archiviert werden können. Für die Feinerschließung, die sich jetztanschließt, wollten wir sie gleich beisammen zur Hand haben.

Die andere große Herausforderung eines solchen Editionsprojekts in derStartphase ist natürlich konzeptioneller Art: Wie soll der Nachlass eigentlich ediertwerden? Dabei ist heute eine Printpublikation allein keine Option mehr, bei denForschungsförderinstitutionen, die ja die Finanzierungen übernehmen, ist dasmittlerweile eine Standarderwartung. Abgesehen von der prinzipiellen Frage, inwelchem Verhältnis beide Editionsformen stehen sollten, wirft eine Onlineeditionganz andere Probleme auf als eine Printedition, die vergleichsweise trivial ist. BeiPrinteditionen stellt sich vielleicht die Frage: kritische Edition oder doch eineprimär auf die Lesbarkeit der Texte hin orientierte Edition – wir optieren bei denManuskripten für das Letztere und überlassen die kritische Edition einer Luhmann-Gesamtausgabe, die später vielleicht einmal kommen wird –, aber die Kriterien undAnforderungen sind hier doch klar und etabliert. Schwieriger ist das bei derOnlineedition, nicht nur, weil es schlicht noch keine große Editionstradition unddamit auch keine lehrreichen Erfahrungen gibt, sondern auch, weil die Technikweitaus mehr Möglichkeiten bietet. Da muss nicht nur entschieden werden:Faksimiles oder Transkription – bei den Manuskripten, die in der Regelmaschinenschriftlich sind, wird es größtenteils Ersteres sein, beim Zettelkasten mitseinen handbeschriebenen Zetteln wird es beides sein –, sondern auch: Wieorganisiert und vernetzt man eigentlich die Bestände, wenn sie ins Netz gestelltwerden?

Da kommt jetzt Köln ins Spiel, oder?

Ja, genau. In enger Abstimmung mit den Kolleginnen und Kollegen am CologneCenter for eHumanities (CCeH) haben wir festgelegt, wie wir die Dokumenteerfassen, damit nicht nur eine funktionierende editorische Bearbeitung möglich ist,sondern auch die nutzerfreundliche Präsentation auf dem Portal. Sie müssen sicheinmal vorstellen, mit welch ungeheuren Datenmengen wir beim Zettelkastenarbeiten. Da sind Fragen der Arbeits- wie der Datenorganisation essenziell, umeinerseits einen funktionierenden Editionsalltag sicherzustellen und andererseitsmit den erzeugten Daten nicht im Chaos zu versinken. Das sind alles eminentwichtige Dinge, die auf der Hinterbühne der Edition stattfinden. Keine Nutzerinwird sie jemals zu Gesicht bekommen: Es muss festgelegt werden, wie dieverschiedenen Datenbestände organisiert und miteinander verbunden werden.Wenn man wie wir beim digitalen Zettelkasten mit einer unglaublich großen Menge

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von Relationierungen einzelner Daten in Gestalt von Verweisen auf andereNotizzettel oder andere bibliografische Zettel zu tun hat, wenn man mit der von unsvorgenommenen, editorischen Verbindung einzelner Zettel zu ganzenZettelsträngen arbeitet, dann müssen von vorneherein Vorkehrungen getroffenwerden, damit eine systematische Fehlerkontrolle möglich wird etc. Undselbstverständlich stellt sich die ganz zentrale Frage, wie die Bestände im Internetpräsentiert werden können, also wie die grundlegende Struktur der Seite angelegtsein soll und wie man den digitalen Kasten so „designt“, um es neudeutsch zusagen, dass die Präsentation dem Original gerecht wird. Gleichzeitig will man aberdie zusätzlichen Möglichkeiten des Digitalen so ausgeschöpft sehen, dassschlussendlich eine weitgehend intuitiv bedienbare und technisch funktionierendeSeite entsteht. Für das alles haben wir einen Vorlauf von drei Jahren benötigt.Diese Arbeit war nötig, damit wir jetzt online gehen können.

Welche Inhalte sind schon jetzt auf dem Onlineportal abrufbar und welcheInhalte werden Sie in den kommenden Monaten und Jahren Ihrer Arbeitnoch ergänzen?

Unsere Seite ist in drei Rubriken gegliedert, wobei ich jetzt die online verfügbarenInformationen zum Projekt selbst nicht mitzähle. Also gibt es: Informationen zuPerson und Theorie, zum Nachlass und – als zentralen Bereich – den Online-Bestand, das heißt die digitale Präsentation von Nachlassmaterialien.

Dieser Onlinebestand wird von uns schrittweise auf dem Portal veröffentlicht. Wases seit heute gibt, ist die transkribierte und vollverlinkte Fassung des erstenAuszugs des ersten Kastens. Dabei handelt es sich immerhin um gut 3.300 Zettel,die man sich jetzt im Netz anschauen kann.

Ein ziemlich stattliches Konvolut, oder?

Ja, aber weniger als 5 Prozent der Sammlung! Außerdem sind auch schon diebeiden bibliografischen Abteilungen und das Schlagwortregister dieser Sammlungtranskribiert, die, wenn Sie es ganz genau wissen wollen, im physischen Kasten, mitdem Luhmann selbst gearbeitet hat, im Auszug 17 der zweiten Sammlung stehen.Für die weitere Bearbeitung benötigen meine Mitarbeiter jeweils ungefähr einhalbes Jahr pro Auszug, so dass die erste Sammlung mit ihren sieben Auszügen inetwa drei Jahren komplett ediert sein dürfte. Es ist nicht die schnöde Transkriptiondes Textes, die so viel Zeit in Anspruch nimmt. Das ist vergleichsweise trivial, auchwenn wir manchmal über bestimmten Wörtern grübeln. Die wesentliche Arbeit liegt

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vielmehr in der zusätzlichen Auszeichnung von Textmerkmalen und denLuhmannschen Verweisungen, den von uns zusätzlich erstelltenZettelverknüpfungen und der Erstellung bibliografischer Einträge. Die kannziemlich zeitraubend werden, etwa wenn sich Luhmann auf dem jeweiligen Zettelnur kryptische Kurzbelege notiert hat, für die es keine Entsprechungen in derBibliografie gibt. Worauf es uns vor allem ankommt, ist die sorgfältige Verlinkungvon Zetteln zu Lesewegen und die Erstellung eines Textbildes, das die Merkmaledes Originals weitgehend reproduziert.

Schon vor der Onlinepräsentation der transkribierten und edierten Auszüge kannman aber die Bilddigitalisate der Zettel abrufen. Im Augenblick sind das alle Zettelder ersten Sammlung und ein Teil der zweiten. Die dort noch ausstehendenAuszüge kommen dann im Laufe dieses und des nächsten Jahres hinzu. Wenn mansich mit Luhmanns Handschrift vertraut gemacht hat und sie lesen kann – wasübrigens mit ein bisschen Eingewöhnung auf den meisten Zetteln kein Problem ist –, so lassen sich für diese Zettelkastenbereiche die digitalen Möglichkeiten zwarnoch nicht nutzen, doch kann man den Zettelkasten auf seinem Computer in etwaso durchblättern, wie Luhmann es in seinem Arbeitszimmer analog auch getan hat.Im Moment ist dieses Vorgehen noch etwas mühsamer, aber wir versuchenzukünftig Hilfestellung zu geben, indem auch beim zweiten Kasten (wie jetzt schonbeim ersten) die ausführliche Inhaltsübersicht bald bereitgestellt sein wird. Von derausgehend kann man dann ganz einfach auf die jeweiligen Abteilungen springen.Hinzukommen soll 2019 schließlich auch die digitale Fassung des LuhmannschenSchlagwortverzeichnisses des ersten Auszuges – für ihn war dieses Verzeichnis jadas zentrale Einstiegsinstrument in den Kasten. Ein editorisch bearbeitetes, alsoerweitertes und bereits in sich vernetztes Schlagwortregister, das den Umgang mitdem Kasten noch weiter erleichtern dürfte, wird und kann es allerdings erst nachAbschluss der Transkription der ersten Sammlung geben.

Bis jetzt haben Sie nur von Texten und Zetteln gesprochen. Bleibt dasGanze derart buchstabenlastig?

Nein, nein. Im Augenblick wirkt es wohl eher noch wie ein Appetizer, aber imOnline-Bestand finden sich bereits ein paar Audio- und Videoaufnahmen vonVorträgen und Interviews. Wir werden kontinuierlich weitere Aufnahmen onlinestellen, insbesondere auch von Vorlesungen aus den 1990er-Jahren, die unsfreundlicherweise Kollegen und teilweise auch Medienanstalten zur Verfügunggestellt haben. So werden sich diejenigen, die Luhmann nicht mehr in personamerlebt haben, einen Eindruck davon verschaffen können, wie er bei Vorlesungenund Vorträgen aufgetreten ist. Es gibt ja eine bemerkenswerte Differenz zwischendem Autor und dem Lehrenden, gerade was die Verständlich- und Zugänglichkeitseiner Aussagen angeht.

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Also ein paar Horsd'œuvres für die Augen gibt es schon, ohne dass damitdie Gewichte verschoben würden. In Kern bleibt es bei der Edition vonZetteln, Texten und Büchern…

Richtig. Aber wir stellen als kleine Dienstleistung zusätzlich auch noch eineLuhmann-Gesamtbibliografie ins Netz, die alle mittlerweile 2.100 PublikationenLuhmanns, inklusive aller Erst- und Nachdrucke sowie der vielen Übersetzungenversammelt. Es ist ein Sonderprojekt, das nicht direkt zum Nachlass gehört.Glücklicherweise konnten wir auf einem Datenbestand von Klaus Dammannaufbauen, den er seit den 1990er-Jahren hier in Bielefeld aufgebaut hat. Ihnerweitern und aktualisieren wir. Diese ganze Literatur ist über die Datenbank imBestandsregister recherchierbar, so dass man relativ komfortabel und extremschnell einen Überblick darüber gewinnt, welche Bücher, Aufsätze, Texte etc. wowiedergedruckt oder übersetzt worden sind.

Droht angesichts einer solchen Fülle an Information nicht die finaleÜberversorgung?

Nein. Es gibt durchaus noch Lücken und schmerzhafte Defizite. Noch gar nichtbefüllt, und das wird manche vielleicht enttäuschen, ist die Rubrik „Manuskripte“.Dafür sind primär bearbeitungstechnische Gründe verantwortlich. Unserepersonellen Kapazitäten sind mit vier Mitarbeitern und drei wissenschaftlichenHilfskräften beschränkt. Und außerdem waren wir durch die Vorarbeiten für dieZettelkastenedition, die Manuskripterfassung selbst und natürlich auch durch dieerste Publikation, die wir aus dem Nachlass vorgenommen haben, das heißt durchdie Edition von Luhmanns „Systemtheorie der Gesellschaft“, die ja vor zwei Jahrenbei Suhrkamp erschienen ist, einfach ausgelastet. So können wir erst in diesemJahr damit beginnen, erste Faksimiles von Manuskripten einzustellen. Aber auchdamit nicht genug. Tatsächlich gibt es im Nachlass eine beeindruckende Menge vonüber 500 Vortragsskizzen Luhmanns aus den Jahren 1966 bis 1996. Auch die wollenwir im Netz zugänglich machen. Und im nächsten Jahr kommen dann noch dieDigitalisate von erstaunlich umfangreichen Vorlesungsskripten sowie Faksimileseiniger Manuskripte hinzu.

Lassen Sie mich – und damit soll es dann auch genug sein – noch ein paar Sätzeüber weitere Materialien verlieren, die online gehen werden. Als ein Ergebnisunserer Transkriptionsarbeit ist eine Bestandsbibliografie entstanden, in der wir ineiner durchsuchbaren Datenbank alle bibliografischen Angaben, die von uns imZuge der Nachlassarbeit erfasst wurden, versammeln. Das sind im Augenblick –neben der Luhmann-Gesamtbibliografie, die ich gerade erwähnt hatte – dieAngaben aus den beiden bibliografischen Abteilungen des ersten Zettelkastenssowie die dort nicht aufgeführten aus dem ersten Auszug, soweit wir sie bis dato

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erfasst haben. Ich rede von insgesamt 2.800 zusätzlichen Einträgen. DieseDatensätze sind auch deshalb nützlich und interessant, weil sie einenautorenbezogenen Einstieg in den Zettelkasten gestatten. Luhmann selbst hattediesen Zugriff auf seine Notate geplant, doch nur in Ansätzen umgesetzt. Durch dieMöglichkeiten digitaler Technik haben wir es da viel leichter: Wenn wir auf demNotizzettel einen Link auf den bibliografischen Eintrag setzen, so wird dortautomatisch die Zettelnummer eingetragen; man kann dann beim Aufrufen diesesEintrags nicht nur mit einem Blick sehen, wo diese Literatur im Kasten verarbeitetwurde, sondern von dort aus auch auf die entsprechenden Zettel springen.

Neben diesem Onlinebestand bietet das Portal, ich hatte es eingangs angetippt,noch einige, ziemliche basale Informationen zu Person und Theorie. DieseBasisversorgung werden wir im Laufe dieses und des nächsten Jahres noch deutlichaufstocken. Schon jetzt gibt es – aufbauend auf der Gesamtbibliografie, die wegenihres Umfangs kaum mehr in Listenform handhabbar ist – ein Werkverzeichnis, dasalle Erstdrucke Luhmannscher Publikationen auflistet. In den nächsten Jahren wirdes noch durch die Liste der Manuskripte ergänzt. Und dann findet man unter derRubrik „Über den Nachlass“ schließlich Angaben zur Orientierung im gesamtenNachlassmaterial. Im Augenblick bieten wir eine erste, noch ziemlich kursorischeÜbersicht. Im Sommer stellen wir dann das Findbuch unseres Archivars dazu, sodass man nachsehen kann, wie der Nachlass im Detail aussieht. Hier werden wirdann auch eine Datenbank einstellen, die alle Titel von Luhmanns Arbeitsbibliothekaufführt. An derselben Stelle sind auch detailliertere Erläuterungen zumZettelkasten greifbar. Und sobald wir die angesprochene Feinerschließung derManuskripte abgeschlossen haben werden, kann man sich in dieser Rubrik auchüber deren Eigen- und Besonderheiten informieren.

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(Foto: Uni Bielefeld)

Sie betonen, dass im Zentrum von Luhmanns Theoriearbeit über vierzigJahre lang die Verfertigung von Notizzetteln für den Zettelkasten und derAusbau des Ordnungssystems stand, das den Kasten zu einer – mit IhremWort – „Theoriebildungs- und Publikationsmaschine“ gemacht hat. WennSie diese Maschine nun der Öffentlichkeit zugänglich machen, schwebtIhnen da das Bild einer idealen Nutzerin vor?

Nein, ein solches Bild habe ich nicht – und das wäre editorisch vermutlich auchnicht ganz unproblematisch, weil wir dann eine bestimmte Lesart des Zettelkastensin unsere digitale Umsetzung hineinlegen würden. Bei unseren konzeptionellenEntscheidungen haben wir uns an drei Leitgesichtspunkten orientiert: Wir wolltenden Zettelkasten ‚nur‘ digitalisieren, das heißt mit den Möglichkeiten, die dieseTechnik bietet, zunächst einmal dessen Benutzbarkeit optimieren. Denn letztlich istder Zettelkasten genau so gebaut, wie man heute anspruchsvolle digitaleDatenbanken konstruiert – mit dem erheblichen Schönheitsfehler, dass das Materialeben analog war, so dass er zu Luhmanns Zeiten seine ganze Funktionalitätvermutlich überhaupt nicht ausspielen konnte. Zumindest kann ich mir kaumvorstellen, wie Luhmann den Kasten überhaupt zum flüssigen Sprechen bringenkonnte, wenn man sich den Aufwand des Suchens und Findens von Zetteln in dendicht gepackten Auszügen vergegenwärtigt.

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Der zweite Leitgesichtspunkt war, dass wir den Kasten als ein historischesDokument verstehen: Von Rudolf Stichweh, dem direkten LehrstuhlnachfolgerLuhmanns, stammt die schöne und treffende Formulierung, die ich deshalb auchgerne selbst benutze, dass der Kasten die intellektuelle Autobiografie Luhmannssei. Es ist das Dokument einer Theoriegenese, wobei sowohl die Theorie wie dasDokument ihresgleichen suchen, und das nicht nur in der Soziologie. Wir versuchenbei der Edition, diese Genese etwas transparenter zu machen, indem wireditorische Lesewege vorschlagen, die zugleich die historische Einstellpraxiszumindest in Ansätzen berücksichtigen. Allerdings macht es Luhmann uns nichtleicht, da alle Zettel undatiert sind und er sich, zumindest im ersten Kasten, auchnicht sklavisch an sein eigenes Nummerierungsprinzip hält.

Und drittens schließlich haben wir uns natürlich gefragt: Wer wird das überhauptalles lesen (wollen)? Die Antwort lautet schlicht: Wir wissen es nicht. Natürlichrechnen wir mit Fachkolleginnen, aber da fängt die Unsicherheit schon an: Werdenes mit der Theorie Vertraute sein? Und natürlich werden es nicht nur Soziologinnensein, sondern zum Beispiel auch Philosophen. Es wird Nutzer geben, die sich nurfür ein bestimmtes Thema interessieren, andere für die Theoriegenese, dritte fürdas technische Design etc. etc. Für alle diese ganz verschiedenen Forschungs- undLektüreinteressen muss unsere Version offen und nutzbar sein. Wir hatten bei derKonzeption also mit uns unbekannten und auch unvorstellbaren Fragestellungen zurechnen – klar, das ist ein Paradox, das sich nicht auflösen lässt. Man kann esallenfalls mindern, indem möglichst viele unterschiedliche Zugänge undLesemöglichkeiten offeriert werden – oder wie Luhmann vielleicht gesagt hätte,indem Kontingenz nicht voreilig ausgeschlossen wird. Denn genauso hat er seinenKasten ja verstanden, nämlich als einen Überraschungsgenerator.

Luhmann ist, was schon die Lektüre eines einzigen Aufsatzes verdeutlicht,ein ebenso extensiver wie intensiver Leser der Fachliteratur gewesen. Darfman deshalb erwarten, dass die Arbeit am und mit dem Zettelkastenzugleich mindestens vier Jahrzehnte internationaler soziologischerForschung zutage treten lässt? Und wenn, um ein prominentes Beispiel ausder jüngeren Editionsgeschichte heranzuziehen, etwa der NachlassNietzsches das Europa des Fin de Siècle auf ganz eigene Weise erkennbarmacht, was wäre nach Ihrem Eindruck die Zeit und Welt, die uns inLuhmanns Zettelkasten noch einmal entgegentritt?

Da muss man differenzieren. Im ersten Kasten (1952–1963) ist mit Händen zugreifen, dass Luhmann intensivst die damals aktuelle Forschung gelesen undrezipiert hat. Seine Lesefrüchte dokumentiert er in diesem Kasten häufig sogarfließtextartig. Doch waren seine Interessen während dieser Jahrzehnte keineswegsauf die Soziologie beschränkt. Vielmehr kommt er als gelernter Jurist vomStaatsrecht erst über die Verwaltungs- und Organisationswissenschaft zur

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Soziologie (und damit insbesondere zum Funktionalismus sowie zu Parsons).Außerdem geht er in diesen Jahren seinen massiven Interessen an derPhänomenologie nach, setzt sich insbesondere mit Husserl auseinander. Natürlichdokumentieren die zigtausend Literaturbelege die ungeheure BelesenheitLuhmanns, aber eben nicht nur in der soziologischen Literatur. Im zweiten Kastenfinden die Lektüreergebnisse dann schon einen deutlicher verfremdetenNiederschlag. Jetzt schließen sie in aller Regel an das an, was bereits im Kastenverzettelt wurde oder von Luhmann bereits bedacht war. Die Notizen sind deutlicheigenständiger, thesenfreundlicher und die Frage, was rezipiert wurde, lässt sich invielen Fällen nur noch anhand der bibliografischen Einträge feststellen, aber nichtzwingend aus den Inhalten erschließen, die auf dem Zettel festgehalten sind.

Dieser Verfremdungsaspekt bestätigt, wenn ich das sagen darf, im Übrigen meineetwas deprimierende Erfahrung als Student. Wenn man im Zuge einer Hausarbeitdie Luhmannschen Fußnoten in einem seiner Texte studierte und die dortherangezogene Literatur konsultierte, fand man häufig partout das nicht, für wasLuhmann sie zitierte. Vielleicht lag es ja an der Abstraktheit seines Zugriffs,vielleicht aber auch daran, dass die Referenz einen mehrfachenTransformationsprozess durchlaufen hatte: Luhmann notierte nämlich nicht nur beider Lektüre bereits extrem selektiv, was an den Exzerpten auf den Rückseiten vonBibliografiezetteln sofort sichtbar wird, sondern bereits dort nicht nur mit Blick aufaktuelle Forschungsfragen, sondern auch schon mit dem Blick auf potenzielleAnschlüsse im Kasten. Und ein solches Exzerpt wurde ja nicht als Notizzettel in denKasten eingestellt, vielmehr wird ausgehend von einem Exzerpt eine Verzettelungin Gang gebracht, die den Prozess der Exzerpierung in gewisser Weise vergisst, dafür Luhmann jetzt die Anschlussfähigkeit im Zettelkasten im Vordergrund steht.Und wird dieser Zettel irgendwann (viel) später im Kontext einer ganz anderenForschungsfrage zu Rate gezogen, so kommen wieder andere Relationierungen insSpiel: kein Wunder, dass von dem Text, der am Anfang des ganzen Vorgangesstand, nicht mehr viel übriggeblieben sein kann!

Abgesehen davon ist der Kasten natürlich auch ein Zeitzeuge jeweils geradegegenwärtiger gesellschaftlicher Debatten und Fragen. Wohlgemerkt greift er nichtin aktuelle Debatten ein oder kommentiert sie direkt, vielmehr legt Luhmann seineNotate immer aus einer theoretischen Perspektive an. Interessant – und erwartbarkonsequent – fand ich zum Beispiel die Beobachtung, die ich gerade beimKorrekturlesen der transkribierten letzten Zettel des ersten Auszugs anstellenkonnte, dass nämlich die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beiLuhmann genau hier stattfindet, das heißt auf einer theoretischen Ebene, woGemeinschaftskonzepte und die Frage reflektiert werden, inwieweit solcheVorstellungen wissenschaftlicher Analyse und Begründung zugänglich seien. Undim Abschnitt zur Weltgesellschaft findet man Zettel, die ganz offensichtlich von derErfahrung der Ölkrise und der Club of Rome-Studie Anfang der 1970er-Jahrebeeinflusst sind. „Die Planierung des Planeten steht bevor“, notiert er einmal imzweiten Kasten. Dort tauchen auch bissige Bemerkungen zu den Studentenunruhender 1968er auf. Insofern harrt vieles noch der Entdeckung. Allerdings bin ich

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ziemlich skeptisch angesichts der Vermutung, man könne den Kasten alsZeitzeugen einer Epoche ausrufen. Ich sehe nicht, welche das sein sollte.

Wie alles begann: Lieferschein für den Zettelkastenblock (Foto: Uni Bielefeld)

Klammern wir für einen Moment alle philologischen und historisierendenFragen ein! Inwiefern hat sich durch Ihre Arbeit am Nachlass Luhmannsder Blick auf das publizierte Werk des Autors verändert? Und was könntenvor diesem Hintergrund Ihrer Vermutung nach oder auch Ihrer Hoffnungzufolge Impulse für die zeitgenössische Soziologie sein, die eineBeschäftigung mit Luhmanns wissenschaftlichem Nachlass freisetzt?

Für mich selbst hat sich ein neuer Blick auf die Wurzeln des ganzenTheorieprojekts eingestellt. Zumal die besondere Bedeutung Husserls ist miraufgegangen, die im ‚offiziellen‘ Werk natürlich nicht verborgen oder versteckt ist,aber doch, um es zurückhaltend zu formulieren, auch nicht übermäßig betont wird.Klar wird einem, wie Luhmann Husserls erkenntnistheoretische Problemstellungensoziologisiert, ohne dass diese Soziologisierung das Geringste mit dem zu tun hätte,

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was uns als soziologische Phänomenologie geläufig ist. Die Arbeit mit dem erstenZettelkasten bestätigt letztlich eine Erfahrung, die ich bei der Edition der 1975er-Fassung von Luhmanns Gesellschaftstheorie gemacht habe. Das von uns unter demTitel „Systemtheorie der Gesellschaft“ edierte Manuskript hat bei mir den Eindruckhinterlassen, dass die theoretische Brillanz und Finesse, trotz der Tatsache, dass indem Text vieles noch nicht zu Ende gedacht ist, während dieser Jahre unverstelltzum Ausdruck kommt. Luhmanns Kreativität wird noch nicht durch die starkenBegriffsinteressen überdeckt und reglementiert, wie sie für seine Theoriebildungseit den 1980er-Jahren maßgeblich waren. Aber das ist zweifelsohne eine subjektiveInterpretation, die vermutlich auch dadurch mitbegründet ist, dass ich wie viele„Luhmannianer“ meiner Generation den typischen Rezeptionsweg vom Spät- zumFrühwerk durchlaufen habe.

Was die Frage nach der Anschlussfähigkeit für die aktuelle soziologische Forschungangeht, so würde ich auf keinen Fall erwarten, dass sich in dem Kasten direkteAntworten auf aktuelle Fragen ausfindig machen lassen. Darin kann man sogareinen – allerdings etwas merkwürdigen – Einwand sehen, folgt man dem Urteileines Gutachters, der angesichts des ersten Forschungsförderungsantrages, denwir bei der DFG eingereicht hatten, die Sinnhaftigkeit des gesamtenEditionsunternehmens in Zweifel zog. In Wahrheit stecken aber derart vieleKonzepte und derart überraschende empirische Beobachtungen, die Luhmann niezu eigenen Veröffentlichungen weiterverarbeitet hätte, in dem Kasten, dass manihn selbst als eine Art von Publikation verstehen kann – die Luhmann seinerseitsnatürlich auch nie geplant oder in Erwägung gezogen hat.

Aber vielleicht darf man mit Blick auf die Rezeption der Luhmannschen Theoriezwei Forschungsinteressen herausheben, die mit der Edition des Nachlassesvitalisiert werden. Das ist zum einen selbstverständlich die theoriehistorischeForschung. Sie geht der Ideengeschichte der Theorie selbst nach, die ein heutewohl nicht mehr mögliches intellektuelles Wagnis war, und wird mit Sicherheitnoch so manchen aufschlussreichen Fund zutage fördern. Weil man einenunverstellten Blick auf die Hinterbühne der Theorieproduktion werfen, Luhmanngewissermaßen bei der Theoriearbeit über die Schulter schauen kann, werdensolche Entdeckungen im Zweifelsfall sogar den Selbstbeschreibungen derTheoriegeschichte widersprechen. Zum anderen bietet der Kasten aber auchAnregungen dafür, wie systemtheoretische (Sekundär-)Forschung funktioniert. Manlernt dort, wie sich die Entwicklung von Konzepten und empirischenBeobachtungen miteinander verschränken lassen. Man lernt ganz generell, was esheißt, systemtheoretisch zu arbeiten und funktionalistisch zu denken. Man lernt,um es knapp und nochmals mit anderen Worten zu sagen, ausgetretene Pfade zuverlassen und vermeintlich Bekanntes anders zu sehen. Gerade der Vergleich mitden späten Veröffentlichungen Luhmanns offenbart, dass der Kasten viel mehrFlexibilität und die Bereitschaft ausstrahlt, sich durch das eigene Denkenüberraschen zu lassen.