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Gesine Schwan ist Politikwissenschaftlerin. Von 1977 bis 1995 war sie Professorin für Politikwissenschaft an der FU Berlin. 1999 wurde sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Sie gründete gemeinsam mit anderen Wis- senschaftlern im März 2009 die HUMBOLDT-VIADRINA School of Governance und wurde im Juni 2010 zu deren Präsidentin gewählt. Gesine Schwan erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Weil Europa sich ändern muss: Im Gespräch mit Gesine Schwan TEIL 1 Unsere Vorstellung von Europa: Wie belastbar sind Solidarität und der soziale Zusammenhalt in Europa ? Frau Schwan, hätten Sie Verständnis dafür gehabt, wenn die Zyprer nach der Öffnung ihrer Banken ihr Geld vom Konto abgehoben hät- ten, um der ursprünglich angekündigten Beteiligung an den Staats- schulden zu entgehen ? Schwan: Individuell hätte ich natürlich dafür Verständnis. Es kann ja sein, dass ein einzelner Zyprer unter dem großen G. Schwan et al., Weil Europa sich ändern muss, DOI 10.1007/978-3-658-01392-9_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

Weil Europa sich ändern muss

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Weil Europa sich ändern muss, was kann Europa anders machen aus der Perspektive von G. Schwann

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Gesine Schwan ist Politikwissenschaftlerin. Von 1977 bis 1995

war sie Professorin für Politikwissenschaft an der FU Berlin.

1999 wurde sie Präsidentin der Europa-Universität Via drina in

Frankfurt (Oder). Sie gründete gemeinsam mit anderen Wis-

senschaftlern im März 2009 die HUMBOLDT-VIADRINA School

of Governance und wurde im Juni 2010 zu deren Präsidentin

gewählt. Gesine Schwan erhielt zahlreiche Auszeichnungen.

Weil Europa sich ändern muss: Im Gespräch mit Gesine Schwan

TEIL 1 Unsere Vorstellung von Europa: Wie belastbar sind Solidarität und der soziale Zusammenhalt in Europa ?

Frau Schwan, hätten Sie Verständnis dafür gehabt, wenn die Zyprer nach der Öffnung ihrer Banken ihr Geld vom Konto abgehoben hät-ten, um der ursprünglich angekündigten Beteiligung an den Staats-schulden zu entgehen ?

Schwan: Individuell hätte ich natürlich dafür Verständnis. Es kann ja sein, dass ein einzelner Zyprer unter dem großen

G. Schwan et al., Weil Europa sich ändern muss,DOI 10.1007/978-3-658-01392-9_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015

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Druck steht, seine Medizinkosten zu zahlen oder etwas ähn-liches, das ist ganz klar. Ich halte es für absolut notwendig, dass man sicherstellt, dass die Girokonten mit Einlagen un-ter 100 000 Euro, die ja nicht genutzt werden, um Kapital zu machen, nicht angegriffen werden. Das wäre sonst ein großer Einschnitt in das tägliche Leben. Das erste Hilfspaket, das ge-schnürt wurde und gegen welches die Zyprer im Grunde völ-lig zu Recht protestiert haben, war meiner Ansicht nach nicht durchdacht und schließlich kam dann auch die Reaktion auf den öffentlichen Protest, dass man das auch gar nicht so ge-meint hätte etc. Das ist nicht besonders überzeugend. Hier se-hen wir genau ein aktuelles Problem: Politik muss dafür sor-gen, dass keine kollektiven Paniken entstehen, auch wenn das im sensiblen Verhältnis von Wirtschaft, Finanzwelt und Politik nicht einfach ist. Aber wenn die Politik das nicht schafft, dann wird alles noch viel schlimmer.

Im Umkehrschluss heißt das, die Krise könnte ein erneuter Anlass für Politikerinnen und Politiker sein, sich darüber Ge-danken zu machen, wie wichtig Gemeinschaftlichkeit, Vertrau-en und Verlässlichkeit sind, bis ins Finanzielle, bis ins Handfes-te, Materielle hinein. Geld ist materialisiertes Vertrauen, nichts anderes. Und wenn man generell so agiert, dass man nur die individuellen Interessen bedient oder dass die Logik des eige-nen Handelns sich immer wieder nur auf die eige nen Vorteile rückbezieht, dann zerstört man systematisch dieses Vertrauen. Dieser Rückbezug ist in den letzten Jahren von den nationa-len Politikern, auch den deutschen, ganz stark geschehen. Man kann innerhalb eines Staates, innerhalb einer Kommune und über Grenzen hinweg sehr viel institutionell flexibler und lo-ckerer sein, wenn die Verantwortung und der Zusammenhalt in der politischen Kultur verankert sind. Wenn aber eine Kul-tur entstanden ist, in der die einzelnen Staaten sich immer nur auf ihre eigenen Interessen konzentrieren, dann wird Zusam-menhalt unterminiert. Das ist das Problem in meiner Sicht in der gegenwärtigen EU. Es hat sich in den letzten 20, 25, 30 Jah-

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ren verschärft, jedenfalls massiv seit dem Maastrichter Vertrag von 1992.

Ist es denn aus Ihrer Sicht unsolidarisch, wenn Bürger gegen die Hil-fen für ein anderes EU-Land protestieren, wenn sie nämlich zum Beispiel ein viel geringeres Lohnniveau haben als die Bürger in dem zu rettenden Land ? Wie würden Sie das als Politikerin den Men-schen erklären ?

Schwan: Das ist natürlich erklärungsbedürftig, aber zunächst müsste man die jeweilige Kaufkraft anschauen. Ein Zyprer be-kommt für 200 Euro vielleicht weniger als ein Grieche oder ein Slowake. Man kann es aber auch aus den verschiedenen histori-schen und kulturellen Kontexten heraus erklären, denn dahin-ter steht letztlich die Frage nach der Gerechtigkeit, und diese Frage muss beantwortet werden. Sie ist in den letzten Jahrzehn-ten leider auf die erste Frage, nämlich auf die Frage nach der Marktangemessenheit bzw. der Wettbewerbsfähigkeit, redu-ziert worden und damit ist die Gerechtig-keitsfrage völlig aus dem Blickfeld geraten. Was wir jetzt in der Krise, aber auch zuvor, immer wieder spüren ist das Gefühl der Ungerechtigkeit, des Zorns und der Wut, die Ressentiments fördern und eben Zusammenhalt zerstören. Um auf die Lohnunterschiede zurückzukommen: Wenn wir nur nach dem Durchschnitt zwischen ganz reich und ganz arm schauen, dann verstehen wir nicht die konkrete soziale und materielle Situation der Menschen. Sich ungerecht behandelt zu fühlen, Vertrauensverlust zu spüren, das ist mehr und viel-leicht wichtiger als die rein materielle Seite der Unterschiede. Man muss sich also als Politiker fragen: Wie verlässlich habe ich gehandelt ? Welche Informationen habe ich gegeben, wel-che nicht und warum nicht ? Von dieser Position aus betrachtet sind die konkreten Lohnunterschiede weniger entscheidend.

In der Krise spüren wir das Gefühl der Ungerechtigkeit, des Zorns und der Wut.

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Fehlt Ihnen in der Politik diese Art der Ehrlichkeit, dass die Risi-ken klar benannt und Perspektiven erläutert werden ? Und schließ-lich auch das Eingeständnis von etwaigen Fehlern ?

Schwan: Wie ich als Politiker mit der Bevölkerung umgehe, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Mich hat sehr gestört, gerade auch von öffentlichen Funktionsträgern in der Politik einschließ-lich der Kanzlerin, dass die Situation in Europa immer wie-der so dargestellt worden ist, als hätten die Deutschen keinen Verantwortungsanteil an dem, was schiefgelaufen ist. Gleich-zeitig hätten wir plötzlich aber ganz viele Haftungsverpflich-tungen. Diese Deutung ist irreführend. Auch die deutsche Po-litik hat ihren Verantwortungsanteil an dem, was geschehen ist. Gleichzeitig haben sich die deutschen Banken genauso ver-zockt wie andere Banken und deutsche Unternehmen haben sich für Griechenland Hermes-Bürgschaften für Aktivitäten im Waffenhandel geben lassen, die völlig unsinnig sind usw. Den Deutschen geht es heute vergleichsweise sehr gut. Mit ande-ren Worten: Diese Darstellung, als seien wir die Oberklasse und würden nun von den anderen ausgebeutet, ist absolut ver-antwortungslos. Auf dieser Grundlage kann gar kein Gerech-tigkeitsgefühl entstehen, weder in Deutschland noch bei den Nachbarn.

Retten die Deutschen mit den Hilfen für die kriselnden Länder letzt-lich doch nur ihre eigenen Banken ?

Schwan: Natürlich. Noch einen Schritt weiter: es gibt gute Gründe anzunehmen, dass zum Beispiel die irische Regie-rung ihre Banken ursprünglich gar nicht retten wollte, dass aber von der deutschen Regierung ein erheblicher Druck auf sie ausgeübt wurde, die Banken zu retten. An den irischen Ban-ken hatten deutsche Banken einen erheblichen Anteil und da-her waren sich die Kräfte in Deutschland alle einig, dass man die irischen Banken nicht bankrott gehen lassen durfte. Da-

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nach die irischen Staatsschulden zu beklagen und zu sagen, die Politik handele verantwortungslos, ist in meiner Sicht einfach schlitzohrig.

Angesichts der sozialen Unterschiede in Europa, die nicht zuletzt auch der Sozialbericht der EU Kommission deutlich gemacht hat, scheint die Frage nach dem Zusammenhalt berechtigt zu sein. Müs-sen wir uns um das Lebensmodell der Vielheit in Europa sorgen ?

Schwan: Einem Polen müssen Sie den Zusammenhalt in Euro-pa gar nicht so sehr kommunizieren, weil die Polen mehrheit-lich nach wie vor für Europa sind, weil sie registriert haben, was sie zunächst gar nicht so erwartet hatten, dass sie näm-lich davon profitieren. Zum Beispiel bei der Modernisierung der Landwirtschaft. Wichtig ist mir, dass die Politiker sich re-gelmäßig in die Rolle der verschiedenen Bürger versetzen und sich anschauen, wie ihre Entscheidungen aus der anderen Per-spektive wirken. Wie sieht es aus der Sicht eines Polen, aus der Sicht eines Franzosen, eines Italieners, eines Portugiesen aus, wenn zum Beispiel die Deutschen bei den Staatsanleihen auf gar keinen Fall irgendeine Bürgschaft beim Abbau der Schul-den übernehmen wollen, wenn sie gegenüber der eigenen Ge-sellschaft aber gleichzeitig so tun, als würden sie wahnsinnig solidarisch sein. Alle wissen, dass Deutschland de facto gegen-wärtig von der Krise profitiert. Es war für mich eine sehr interessante Erfahrung, als Herr Schäuble auf einer öffentlichen Veran-staltung vor ein paar Monaten gefragt wur-de, wie viel die Deutschen denn noch zahlen sollten. Er antwortete: Wir haben bisher nichts gezahlt, wir ha-ben nur verdient. Der Fragesteller war auf diese Antwort nicht gefasst und entsprechend perplex, denn bislang wurde immer suggeriert, wir würden schon zahlen, statt zu sagen, wir haften. Aber warum haften wir eigentlich ? Weil wir den Schlamassel, der entsteht, wenn die ganze Rettung schiefläuft, nicht riskie-

Alle wissen, dass Deutsch-land de facto von der Krise profitiert.

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ren wollen. Vor allem für unsere starke Wirtschaft wären die Auswirkungen ungewiss. Das eigene Interesse ist da sehr aus-geprägt und das sehen unsere Nachbarn natürlich auch. Wenn wir uns dann nach außen so darstellen, als würden wir uns ei-gentlich nur altruistisch verhalten, dann schafft das verständ-lichen Ärger.

Die Griechen haben genau ausgerechnet, wie groß unser Vorteil durch die niedrigen Anleihezinsen ist. Wir sollten daher vor allem fairer kommunizieren und transparenter darstellen und nicht immer nach den Wählern im eigenen Lande schielen, die uns vielleicht wiederwählen, weil sie sich geschmeichelt fühlen oder sich in ihren Vorurteilen bestätigt sehen. Übrigens glaube ich, dass die Bürgerinnen und Bürger viel mehr Auf-richtigkeit vertragen. Und ich freue mich ehrlich gesagt auch, dass es jetzt diese alternative Partei gibt, deren Programm mich zwar nicht überzeugt, die Personen auch nicht, aber die darauf besteht, dass es überhaupt eine Alternative zur aktuellen Politik der Bundesregierung gibt. Sie zwingen die etablierten Parteien dazu, ihre Entscheidungen genauer zu begründen. Es wird sich wahrscheinlich herausstellen, dass diese Alternative nicht at-traktiv ist, aber dann hat es immerhin eine Alternative gege-ben; das begrüße ich.

Die im Bundestag vertretenen Parteien haben hinsichtlich der Krise in Europa bereits sehr unterschiedliche Meinungen. Gerade was die langfristigen Erfolge des Sparkurses angeht. Welche Position fehlt Ihnen ?

Schwan: Es ist wichtig, dass mehr Begründungen im öffentli-chen Raum diskutiert werden. Ich finde, es gab ein Defizit an Begründungen wegen des Zeitdrucks, der pausenlos suggeriert wurde. Immer musste bis dann und dann entschieden wer-den und die Begründung lautete immer: Es geht jetzt nicht an-ders, die Zeit drängt. Was natürlich dazu geführt hat, dass sich Menschen auf längere Sicht fragen, wo die Gestaltungsfähig-

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keit der Politik bleibt, wenn sie doch nur Sachzwangentschei-dungen trifft.

Entscheidungen, die unter Zeitdruck gefällt werden müssen, wird es voraussichtlich weiterhin geben. Gleichzeitig bedarf demokrati-sche Legitimation durch die Parlamente ebenfalls Zeit. Brauchen wir mehr Institutionalisierung in Europa, damit Entscheidungen schnell bei gleichzeitig hoher demokratischer Legitimation getroffen werden können ? Wäre zum Beispiel ein dauerhafter, institutionalisierter Fi-nanzausgleich zwischen den Mitgliedstaaten ein geeignetes Instru-ment, um die Unterschiede auszugleichen ?

Schwan: Ob es attraktiv ist, von Transferzahlungen zu spre-chen, weiß ich nicht. Es ist jedenfalls nicht abstoßend, wenn man aus Gründen an Europa hängt, die diese eventuell nega-tiven Transferzahlungen kompensieren. Wenn es sich für die Länder aus rein ökonomischer Sicht lohnt und der Zusammen-halt funktioniert, dann wäre das eine Möglichkeit. Innerhalb Deutschlands hakt es beim Finanzausgleich auch an einigen Ecken, aber selbst Bayern oder Niedersachsen würden nicht auf die Idee kommen, eigene Währungen einzuführen und sich dadurch ökonomisch abkoppeln, d. h., dass ein einheit-licher, zwischen den Bundesländern entgrenzter Wirtschafts-raum von Vorteil ist. Und ich denke, das ist auch für die Euro-päische Union so. Man sollte sich aber nicht allzu stark auf die Transferzahlungen konzentrieren. Sie suggerieren nämlich eine allgemeine Spaltung, die nicht zutrifft. Es gibt nicht den einen Teil, der auf Transfers angewiesen ist, der nur Nutznießer von den anderen, den großzügigen Geldgebern ist. Das ist keine realistische Beschreibung der Situation. Vielmehr müsste man schauen, was welches europäische Land beitragen kann, wor-in es gut oder am besten ist, damit die Länder gemeinsam eine Perspektive haben. Das wird im Ansatz jetzt bei Zypern dis-kutiert. Was hilft es denn, wenn wir jetzt harte Maßnahmen durchsetzen, wenn es dann keine realistische Perspektive gibt,

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dass die Wirtschaft dort wieder auf die Beine kommt ? Dieses Vorgehen sehe ich bei der jetzigen Bundesregierung sehr kri-tisch und zwar deswegen, weil sie de facto einen Rieseneinfluss auf die Entwicklung in Europa hat. Aber sie nutzt dieses Gestal-tungsmoment nicht positiv für Europa, sondern sie betet fan-tasielos und gebetsmühlenartig nur ihre Sparposition herunter. Die Frage, ob wir denn wirklich einen Aufschwung hinkriegen, wenn alle Nachbarn immer mehr in die Rezession geraten, in diesem europäischen System von kommunizierenden Röhren, diese Frage wird nicht wirklich gestellt. Stattdessen wird ein Theorem aufgestellt: Haushaltskonsolidierungspolitik sei eo ipso Wachstumspolitik. Das ist aber nur in einem bestimmten Gedankengebäude so. Nach allem, was wir in der Wirklichkeit jetzt sehen, ist das aber gerade nicht so. Wenn man wirklich überzeugt davon wäre, dass nur die Austerity-Politik wieder zu Wachstum führt, dann könnte man das auch offen debattieren. Aber dass die öffentliche Debatte der Alternativen vermieden wird, ist für mich ein Indiz dafür, dass man die eigene Position einfach durchsetzen will.

Ich fände es gut, wenn deutsche Unternehmen in den kri-selnden Ländern wieder richtig investieren. Allerdings nicht mit Hermes-Bürgschaften in Kohlekraftwerke, sondern zum Beispiel in die Infrastruktur für erneuerbare Energien, also für Solar und Wind. Das wäre eine langfristige, wachstumsorien-tierte Investition, da die Länder in Südeuropa reich an Sonne und Wind sind. Unser Kapital sucht geradezu Anlagen, also sollten wir schauen, welche komparativen Vorteile in diesen Ländern bestehen. Man könnte dabei an solidarische Bürg-schaften oder europäische Investitionsfonds denken. Das wür-de dann keinen reinen Transfer von Geldströmen bedeuten, sondern es würde die Chance beinhalten, Industrie aufzubau-en, für die es beispielsweise in Spanien viele ausgebildete Men-schen gibt. Es ist wirklich tragisch, dass gerade die am besten ausgebildeten jungen Spanier wegen der Krise ihr Land verlas-sen. Die vorgeschlagene Art von Solidarität setzt aber voraus,

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dass ich mir überhaupt vorzustellen vermag, wie es gesamt-europäisch weitergehen kann und welche Win-Win-Situatio-nen sich vielleicht sogar herstellen lassen.

Das klingt sehr nach einer europäischen Arbeitsteilung: Jeder pro-duziert das, was er am besten kann bzw. wozu sein Land die besten Voraussetzungen hat. Das würde die Länder aber voneinander ab-hängiger machen. Wird Europa dadurch krisenfester oder tauschen wir nur Solidarität durch gegenseitige Abhängigkeit aus ?

Schwan: Europa würde dann auf jeden Fall mehr Spaß ma-chen. Und wir sind ja längst wirtschaftlich voneinander abhän-gig. In Deutschland beobachte ich eine zunehmende Morali-sierung der volkswirtschaftlichen Entscheidungen, die ich für völlig unangemessen halte. Die Prozesse können nicht einfach mit dem Modell der » schwäbischen Hausfrau « beurteilt wer-den. Ob das auch für die Niederländer und die Finnen zutrifft, die oft eine ähnliche Meinung haben, das kann ich nicht sagen. Die Sache ist halt komplexer und man muss diesen Perspek-tivwechsel einfach mal vornehmen und schauen, wo es Mög-lichkeiten einer Reindustrialisierung gibt, denn das ist doch eine unserer großen Herausforderungen, dass der so genann-te Dienstleistungssektor, sofern er reiner Bankensektor ist, zu groß geworden ist.

Vielfach erleben wir aber geradezu einen anderen Perspektivwech-sel, nämlich stärker auf das Eigene, Nationale. Rechtspopulistische Parteien finden in mehreren Ländern großen Zuspruch. Hier ent-lädt sich offenbar eine Menge Enttäuschung und Frustration über Europa. Wie schätzen Sie die Relevanz dieser politischen Strömun-gen vor allem angesichts der Krise ein ?

Schwan: Ich glaube nicht, dass man das empirisch quantita-tiv genau sagen kann, aber ich meine, dass solche Strömungen in dem Maße Zulauf bekommen, wie die materielle und die

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psychische Situation der Menschen zu Ressentiments einlädt. Entweder, weil man keine materielle Perspektive mehr sieht, oder  – was fast noch schlimmer ist – weil man in der eige-nen Lebensführung gedemütigt ist. Auch das ist übrigens ein Teil von Hartz IV gewesen, wenn Sie plötzlich Arbeiten ma-chen müssen, die fern von Ihrer Ausbildung liegen, und Sie sehr schnell sozial absteigen können. Damit eng verbunden sind Ohnmachtsgefühle. Ich gehe gerne analytisch gegen die rechtspopulistischen Bewegungen an, indem ich schaue, wel-ches die sozialpsychologischen Bedingungen sind, unter de-nen sie entstehen, um sie dann effektiv überwinden zu können. Dass sie mir nicht sympathisch sind, versteht sich von selbst. Wilhelm Heitmeyer in Bielefeld hat viele Studien dazu vorge-stellt, und man kann ziemlich genau die Korrelation sehen, dass Ohnmacht dazu verführt, sich seine eigene Macht durch Ge-walttätigkeit und Ressentiments gegenüber dem Schwächeren zu beweisen. Dieses Bedürfnis bricht aus, wenn man selbst kei-ne Macht hat, wenn sie einem zum Beispiel genommen wurde. Ich sehe ein großes Problem darin, wenn wir keinen Weg fin-den, den Enttäuschten in der Gesellschaft neue Perspektiven zu eröffnen. Wenn dies nicht gelingt, werden rechtsextreme Strö-mungen immer wieder neue Anhänger finden. Für Europa ist das ein großes Problem, denn Ressentiments zum Beispiel ge-genüber den Zyprern müssen schnell aufgeklärt und entkräftet werden, damit sie sich nicht verfestigen.

Müsste die EU, oder besser gesagt, müssten die Mitgliedstaaten noch deutlicher machen, dass Länder, die ihren Rechtsstaat zerle-gen, nicht erwünscht sind ? Sollte es vielleicht sogar die Möglichkeit in der EU geben, Länder auszuschließen, statt nur das Stimmrecht im Rat zu entziehen ?

Schwan: Ich bin keine große Kennerin von Ungarn, aber bei Ungarn muss man sich sicherlich daran erinnern, dass das Land bis 1989 keine einzige zusammenhängende demokrati-

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sche Phase hatte. Nach dem Trianon-Vertrag ist Ungarn deut-lich nach rechts gerückt, und man muss auch sagen, dass der Trianon-Vertrag für Ungarn subjektiv gesehen einen erhebli-chen Einschnitt bedeutet hat, was Territorium und Bevölke-rungsanteil angeht. Ich habe das Gefühl, der ungarische Mi-nisterpräsident kann sich nur so nationalistisch verhalten, weil die Schicht derer, die sich politisch-kulturell wirklich mit einer gewaltenteiligen westlichen Demokratie identifizieren, noch sehr klein ist. Das heißt, der Resonanzboden für diese sehr na-tionalistischen, auch sehr antisemitischen Parolen ist groß. In Studien zur politischen Kultur kann man das auch sehen: Wir haben in den verschiedenen Ländern und Gesellschaften nicht eine einheitliche Meinung, wir haben unterschiedliche Grup-pen, aber auch die haben nicht immer kontinuierlich dieselbe Meinung. Bei jedem einzelnen Individuum können Sie beob-achten, dass es verschiedene Stimmungen, Meinungen, Posi-tionen beherbergt, und das kann sich, je nach Kontext, sehr schnell ändern. Und wenn der Kontext negativ wird, dann än-dert sich das nicht zum Guten, zur Solidarität hin, sondern dann geschieht es leicht, dass Sündenböcke gesucht und plaka-tive Lösungen propagiert werden.

Ich war vor Kurzem in Costa Rica, einem karibischen Land, dem es relativ gut geht. Mein Mann und ich waren aber ver-blüfft, wie alle Häuser in San José mit Stacheldraht geschützt werden, das ist gespenstisch. Die Bürger sitzen in ihrem Haus wie in einem Käfig, die Terrassen sind noch mal innerhalb des Zauns mit einem Käfig gesichert usw. Sicherheit ist offenbar ein riesiges Problem. Als Antwort darauf, wie diese Unsicherheit in den letzten 20 Jahren entstanden sei, sagte man uns, man müsse sich vor den Ausländern, vor allem den Nicaraguanern schützen. Das ist so eine klassische, weil einfache Formel: Da kommen die Fremden aus Nicaragua, um in Costa Rica über-all zu klauen. Das scheint mir eher die Projektion von eigenen Problemen auf andere zu sein. Man hat zwar selbst eigentlich nichts Genaues gesehen, vermutlich auch nur davon gehört,

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aber die Erklärung funktioniert, weil » die Anderen « schuld sind. Und dann kommen die Abschiebe-Forderungen usw. – alles hilflose Versuche.

Wenn einfache Erklärungen eine gewisse Plausibilität haben, dann bleiben sie leicht und über die Zeit tief in der Bevölkerung verhaf-tet. Das kann man immer wieder beobachten. Welche Ressentiments sind in Europa besonders ausgeprägt ?

Schwan: Sie können das beispielsweise am Rentensystem se-hen. Die Rentensysteme in den europäischen Ländern sind sehr verschieden voneinander, sie haben historische Wurzeln und man kann sie nicht einfach von heute auf morgen ändern. Das sehen sie in Deutschland sehr gut. Das Reizwort » Rente mit 67, 65, 61 « führt dazu, dass die Menschen anfangen zu ver-gleichen: Aha, in Griechenland gehen sie ganz früh in Rente und in Frankreich auch viel früher, und dann sollen wir das alles zahlen. Das hörte man auch bei einigen Anhängern der neuen Partei Die Alternative, und das hat zum Beispiel auch die Kanzlerin gesagt: sie könne einem deutschen Rentner nicht erklären, dass ein jüngerer Rentner in Griechenland am Strand in der Sonne liegt. Ich werde das nicht vergessen ! In Wirklich-keit war das Unsinn und sie hat auch entsprechend energische Dementis bekommen, weil die Griechen statistisch mit – wenn ich das richtig in Erinnerung habe – aktuell 64,3 und die Deut-schen mit 64,7 Jahren in Rente gehen, das ist gerade mal weni-ge Zehntel Jahre auseinander. Es geht hier um das tatsächliche Renteneintrittsalter, nicht um das gesetzlich vorgegebene. Zu-dem sind auch die Regelungen sehr komplex, zum Beispiel die Vorbedingungen für den Bezug der vollen Rente. Die kann man nicht in drei Sätzen im Radio ausdrücken. In Frankreich war das der Fall, dass sowohl bei den Rentenreformen des neuen Präsidenten als auch von Sarkozy Einzelheiten verändert wur-den, die man als Außenstehender nicht überblickt. Und wenn Menschen nicht involviert sind, dann haben sie auch nur wenig

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Verständnis dafür, wie kompliziert solche Materien woanders sind. Es ist dann die Aufgabe der politischen Eliten, der Amts-träger, eben nicht einseitige und abschätzige Interpretationen zu begünstigen, sondern darauf hinzuweisen, dass es sehr dif-ferenziert zugeht und in Wirklichkeit gar nicht so ungerecht ist, weil man dies und das berücksichtigt hat, was die Sache aber kompliziert gemacht hat etc.

Alle diese Regelungen und Reformen sind voneinander nicht total verschieden, sie sind halt anders gewachsen und man muss sie sich anschauen. Aber man kann sie verstehen. Sie können auch nicht alle vorhandenen materiellen Verhältnisse so abbilden, dass jeder sein Optimum an individueller Gerech-tigkeit erfährt, aber Sie können verhindern, dass Ungerechtig-keitsgefühle entstehen, nur weil man sich nicht genau anschaut, worum es eigentlich geht.

Der Bürger kann aber doch den Anspruch an die Politik haben, dass sie verständliche Gesetze formuliert und auch in der Lage ist, diese zu erklären. Fehlt hier die richtig politische Kommunikation ?

Schwan: Ja, und das Kommunikationsproblem in Europa hat auch eine Logik. Insbesondere seit dem Maastrichter Vertrag wurde der Begriff des Standortwettbewerbs in Europa massiv propagiert und zwar durch alle medialen Kanäle. Den Begriff gab es vorher schon, aber die Europäische Kommission hat mit ihrer – ich würde sa-gen – marktradikalen Politik den Standort-wettbewerb enorm forciert. Standortwett-bewerb heißt, dass die Staaten miteinander in Wettbewerb treten, nicht aber die Un-ternehmen. Wenn Staaten miteinander in Wettbewerb treten, versuchen sie, sich gegenseitig in Sachen Kapitalinvestition das durch Reduktion von Steuern und Sozialleistungen das Was-ser abzugraben. Das hat aber in Europa dazu geführt, dass über die bestehenden, tradierten Vorbehalte und Vorurteile hinaus

Wenn Staaten miteinander in Wettbewerb treten, ver-suchen sie, sich gegenseitig das Wasser abzugraben.

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die Gegnerschaft zwischen den Nationalstaaten verstärkt wur-de. Mit Entsenderichtlinien usw. hat das seine Fortsetzung ge-nommen.

Ein anderer Punkt, der zu einer Renationalisierung geführt hat, ist die Interessensvertretung im Europäischen Rat. Die Staats- und Regierungschefs im Rat handeln nur mit Rekurs auf ihre nationale Wählerschaft. Wenige Ausnahmen sind Mo-mente wie der Ausbruch der Finanzkrise, bei der sie gemein-sam den Untergang fürchteten. Aber nationale Abstriche neh-men sie möglichst unter der Decke vor, kommen statt dessen immer mit Erklärungen aus Brüssel in ihre Hauptstädte zurück, die das Gemeinsame zurückstellen, und betonen, sie hätten als Deutsche, als Ire, als Grieche das Bestmögliche für das eigene Land herausgeschlagen. Auch dieses Auftreten fördert die Ge-gensätze in Europa, statt der Gemeinsamkeiten.

TEIL 2 Bedrohungen und Herausforderungen für Politik, Wirtschaft und das soziale Miteinander: Wie tief sitzt der Stachel der Krise in der Gesellschaft ?

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat in seinem Buch » Der europäische Landbote « unter anderem die Rolle des Rates kri-tisiert. Gleichzeitig betont er aber auch den Wert Europas als supra-nationales Projekt zur Überwindung des Nationalstaats. Sehen Sie eine Chance für diese Überwindung des Nationalstaats ?

Schwan: Der Europäische Rat ist in seiner Konstruktion schon ein Problem. Zum einen ist er nicht rein gouvernemental, weil die Regierungen keine souveränen politischen Akteure mehr sind. Sie hängen voneinander ab. Zum anderen stehen sie in-nenpolitisch unter dem Druck wichtiger gesellschaftlicher Gruppierungen. Dieser Druck gilt auch für Europa. Wenn Sie sich zum Beispiel die europäische Technologie- und For-

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schungspolitik anschauen, dann fällt schnell auf, dass diese Forschungspolitik zu großen Teilen durch in Brüssel ansässi-ge Lobbygruppen beeinflusst wird. Das sind oft keine nationa-len Wirtschaftslobbys, sondern sektoral organisierte, die dar-auf einwirken, welche Forschungsprogramme mit wie viel Geld gefördert werden. Vor Kurzem habe ich gelesen, dass ein Drit-tel von diesen Geldern wieder in die Industrieforschung geht; das sind Billionen in fünf Jahren. Heraus kommen also keine unabhängigen wissenschaftlichen Forschungen, sondern durch preassure groups entstandene Programme, die dann zugunsten der eigenen Unternehmen verwendet werden. Und das ist nicht mehr gouvernemental, sondern transgouvernemental, denn es ist grenzübergreifend. Aber es wird gleichzeitig in den nationa-len Bereichen vorbereitet. Bei solchen Entscheidungen machen manche Regierungen oft gemeinsame Sache. Die Bundesregie-rung hat im Forschungsministerium zum Beispiel einen Rat eingeführt, der weitgehend auch die Forschungs- und Techno-logieprogramme vorbereitet, und darin sind nur Vertreter aus der Wirtschaft und der Regierung, aber kein Vertreter einer NGO. Wenn ich das richtig sehe, sind auch keine Parlamen-tarier der Opposition berücksichtigt. Das kann leider einfach so geschehen, und dort wird dann über hohe Summen, über zukünftige Lebensstile, über unendlich viele Fragen entschie-den, weit über eine Legislaturperiode hinaus. Von der Analy-se her würde ich sagen, dass dies Ausdruck einer bürokratisch-technokratischen Herrschaft ist, die dort grenzüberschreitend entsteht, wo demokratischer öffentlicher Diskurs und Transpa-renz kaum noch eine Rolle spielen.

Dann haben wir also nicht nur ein Kommunikationsproblem in Euro pa, sondern auch ein Defizit an inhaltlicher Auseinanderset-zung in politischen Fragen ?

Schwan: So ist es. Kommunikation wird nämlich nie erfolgreich sein ohne die entsprechend intensive Auseinandersetzung. Wie

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bei der Kommunikation gilt: Inhaltsschwache Formulierungen wie » aus der Sachlogik heraus ergibt sich dies und das «, das reicht nicht. Es wird mit ein paar Obersätzen so getan, als wä-ren die Entscheidungen zwangsläufig und ohnehin schon ge-

fallen. Ein häufig verwendeter Obersatz zum Beispiel ist: » Die Wettbewerbsfä-higkeit muss gestärkt werden «. Unter diesen Begriff können Sie alles stecken, gänzlich gleich, ob sie eher links, rechts oder noch woanders stehen. Aber ob wir

in 20 Jahren wirklich so leben wollen, wie die Interpretation dieses Obersatzes lautet, das ist eine ganz andere, nämlich die entscheidende Frage. Leider werden viele langfristig wirken-de und teilweise sehr teure Entscheidungen ohne parlamen-tarische Debatten gefällt. Allein im Forschungsbereich gibt es einen enormen Finanzzuwachs im BMBF.

Bevor wir uns mit konkreten Lösungswegen für Europa beschäftigen, was für eine Art Krise ist das eigentlich ? Sie sprechen oft von einer kulturellen Krise, weil ihre Ursachen in der Gesellschaft breit ver-teilt sind. Was kennzeichnet diese politisch-kulturelle Krise im Kern ?

Schwan: Wenn man Krisen erklärt, kann man entweder vom subjektiven Verhalten der Menschen ausgehen oder von sys-temischen Voraussetzungen. Dazu zähle ich auch die kulturel-len Voraussetzungen. Am besten ist es, man sieht beides zu-

sammen, weil ich nicht glaube, dass das eine vom anderen getrennt werden kann. Wenn ich aber nur die kulturelle Seite be-trachte, dann hat man zum Beispiel bei der Banken- und Immobilienkrise gese-hen, dass eine gehäufte Verantwortungs-

losigkeit auftrat, weil die Akteure sich nicht veranlasst sahen, die Geschäfte, die sie machten, selbst überhaupt zu verstehen oder auch daraufhin zu überprüfen, was sie für Folgen ha-

Leider werden viele langfristig wirkende Entscheidungen ohne parlamentarische De-batten gefällt.

Ich halte daher eine flächen-deckende Verantwortungs-losigkeit für den Kern dieser Krise.

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ben können. Ich halte daher eine flächendeckende Verantwor-tungslosigkeit für den Kern dieser Krise und weil sie so grassie-rende Auswüchse genommen hat, spreche ich von einer Kultur der Verantwortungslosigkeit, die sich breit gemacht hat. Ich spreche nicht von Gier, weil Gier etwas ist, was Sie als anthro-pologische Konstante bei jedem Menschen sehen können, zu-mindest als Potenzial.

Gier kann man zudem auch positiv interpretieren, sie steckt zum Beispiel in der Neugier.

Schwan: Ja, Neugier ist nicht unbedingt negativ, es sei denn, man meint, vom Baum der Erkenntnis gegessen zu haben, ist schlecht. Aber ich würde es selbst als Katholikin nicht so in-terpretieren. Verantwortungslosigkeit aber ist absolut negativ, denn Verantwortung übernimmt man freiwillig. Welche sys-temischen Voraussetzungen begünstigen also die Übernahme von Verantwortung und welche nicht ? Das ist natürlich ein un-endliches Thema, aber die Suche nach einer ersten Spur wür-de wohl in der Familie ansetzen. Ich glaube, dass in dem Maße, wie Menschen in sozialen Kontexten – vor allem in der Fami-lie – in dem Gefühl aufwachsen, dass es notwendig ist, solida-risch zu sein und dies gleichzeitig als etwas Positives erleben, in dem Maße werden Verantwortung und Solidarität steigen. Anders ist es, wenn man in dem Gefühl aufwächst, dass man vor allen Dingen darauf achten muss, dass man selbst gewinnt, und die anderen dadurch verlieren. Das heißt, wenn der Wett-bewerb in einer Gesellschaft der Hauptmotor für Leistung ist, dann stellen Sie sich immer gegen andere und gucken immer nur, wie Sie Ihr Terrain verteidigen und neues hinzugewinnen, ohne die Folgekosten insgesamt für alle zu berücksichtigen. Wenn wir langfristig überleben wollen, dann brauchen wir ge-rade solidarisch-systemische Verhaltensweisen und nicht das individuelle Nach-vorne-Kommen ohne Blick nach rechts und links. Die Verantwortungslosigkeit entspricht dieser völlig ma-

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nischen Wettbewerbsorientierung, die ich leider in vielen Poli-tikbereichen sehe, u. a. auch in der Bildungspolitik. Das ist heu-te ein Lebensgefühl geworden: wenn ich nicht schon mit drei Jahren vier Sprachen kann, dann gehe ich im globalen Wett-bewerb unter und bin verloren usw. Ich persönlich bin nicht in diesem Lebensgefühl aufgewachsen, aber wenn Sie in dieses Lebensgefühl kommen, was ja oft gar nicht verbalisiert wird, da es von den Eltern einfach weitergegeben wird, dann entsteht eine Fokussierung, ein Tunnelblick auf das Eigene – und das ist ein Einfallstor für Verantwortungslosigkeit. Dieses Eigene ist ziemlich genau das, was Erich Fromm das Haben nennt, im Gegensatz zum Sein.

Wie könnte man diese Deformation des Systems beheben ? Müsste man in die Studiengänge hineinschauen und vielleicht im BWL-Stu-dium mehr Ethik und Geschichte des Wirtschaftens lehren ? Wäre das ausreichend, um eine Verantwortungselite auszubilden ?

Schwan: Die so genannten Randfächer Geschichte oder Sozio-logie der Wirtschaft sind sicher wichtig. Aber zunächst möch-te ich klarstellen, dass ich den Begriff Elite vermeide, auch als

Verantwortungselite, Leistungselite etc., weil ich die Idee einer Elite für irreführend und sogar schädlich halte. Schädlich, weil ich es noch nie erlebt habe, dass eine Elite, also eine Gruppe, die sich gegenüber dem Rest hervor-

hebt, sich vor Verantwortung nicht lassen kann und sich um die anderen kümmert, statt im Club Méditerranée baden zu ge-hen. Diese Annahme hielte ich für naiv. Der Begriff ist zweitens irreführend, weil er eine Sicht auf die Qualitäten, Fähigkeiten und Leistungen des Einzelnen in der Gesellschaft nahelegt, die hierarchisiert und geordnet werden könnten: Die einen sind dann oben und die anderen unten. Das ist aber Unsinn. Wenn Sie zum Beispiel eine große Erfindung machen wollen, dann kann es gut sein, dass das, was in einem Schulsystem hierar-

Ich halte die Idee einer Elite für irreführend und sogar schädlich.

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chisch ganz oben steht, völlig dysfunktional ist, weil Sie alles immer geordnet und abgelegt haben. Zielführender wäre es stattdessen, wenn Sie einfach bestimmten Überlegungen hart-näckig folgen würden und plötzlich sehen Sie da etwas, was vor Ihnen noch keiner gesehen hat.

Es ist auch höchst fraglich, wer überhaupt die Leistungsträ-ger in einer Gesellschaft sind. Sind das die Steuerberater, die die Steuern ihrer Klienten reduzieren, oder ist das die Kran-kenschwester, die auf der Intensivstation weiß, wann sie ein-greifen muss, um Leben zu retten ? Unsere Talente sind nun mal verschieden und es ist nicht gerechtfertigt, diese hierar-chisch zu ordnen. Wie kann man aber eine Veränderung des Systems erreichen ? Man muss den gesamten Blick auf Bildung, Erziehung und Wissenschaft ändern, von der individualisier-ten Wettbewerbssituation, in der in der häufig zitierten » Wis-sensvermittlung « bestimmte vorgegebene Stoffmengen verar-beitet werden, hin zu einem Blick der Potenzialentfaltung von Individuen, welche (sozial verträglichen) Potenziale das auch immer sind. Ob Sie tänzerische Fähigkeiten haben oder musi-sche oder malerische oder handwerkliche oder eine Mischung von emotionaler und analytischer Intelligenz, sie sind alle für eine funktionierende Gesellschaft enorm wichtig. Und diese zu entfalten, darauf kommt es an. Ich bin da aber zunehmend optimistisch, weil diese Erkenntnis in der Wirtschaft langsam ankommt. Aber auch in vielen Familien, die unter dem jetzi-gen Bildungssystem leiden, weil die Kinder krank werden, da sie sich mit Anforderungen und Druck quälen, die nicht ihren Fähigkeiten entsprechen. Unter Umständen können sie dann sogar depressiv werden und dann werfen die Väter den Müt-tern vor, dass sie nicht genug mit dem Kind geübt hätten und all diese ganzen Malheur-Erfahrungen in Familien. Ich glau-be, dass da eine Veränderung im Gange ist, weil das Bedürfnis gewachsen ist, von der individuellen Wettbewerbslernsituation hin zu einer teambildenden, kooperativen Potenzialentfaltung zu kommen, wo man sich gegenseitig ergänzt. Dadurch stei-

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gen auch die Freude und das Wohlbefinden der einzelnen, da sie sich sinnvoll in die Gesellschaft einbringen, das gibt viel zu-rück. Das ist zwar sehr idealtypisch formuliert, aber das ist hilf-reich, um die Gegensätze zu verdeutlichen.

Wie zeigt sich der Wandel konkret in der Wirtschaft ?

Schwan: Unternehmen haben lange gedacht, dass sie mit den 1,0-Absolventen aus den BWL-Studiengängen, die sie schon nach fünf Semestern für sich heranziehen, gut fahren. Die-se Sicht setzt voraus, dass bestimmte Entwicklungsbahnen im Unternehmen vorhersehbar sind. Das sind sie heute aber nicht mehr. Die Vorhersehbarkeit hat sich grundlegend geändert und wenn Dinge nicht mehr vorhersehbar sind, dann müs-sen Sie ein ganz anderes Reaktionsvermögen haben. Und dann brauchen Sie andere Potenziale als fünf Semester standardi-siertes BWL-Studium.

TEIL 3 Finalité Européenne: Wie gestalten wir die Zukunft Europas ?

Die Wahrnehmung von Verantwortung in der Gesellschaft ist in der Finanzkrise groß thematisiert worden. Was kann die EU auf syste-mischer Ebene dazu beitragen, dass die Konsequenzen von Entschei-dungen stärker berücksichtigt werden ? Welche Reformen wären da-für nötig ?

Schwan: Man fordert vielfach, dass die Währungsunion eine Art Fundamentierung braucht und zwar in einer politischen Union, weil man nicht eine gemeinsame Währung haben kann, wenn die Wirtschafts- und Finanzpolitik unterschiedlich sind. Es ist zwar vorstellbar, dass eine gemeinsame Währung auch mit erheblichen Unterschieden der Art der Produktion oder der Produktivität zurechtkommt, aber es hat bereits immer

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wieder Versuche der Angleichung gegeben, besonders nach Maastricht 1992, das hat aber nicht geklappt. Zum Beispiel wur-de die drei Prozent Schuldenbremse von gleich mehreren Mit-gliedsstaaten gerissen, darunter auch Deutschland. Wenn man jetzt also eine weiter gehende politische Union fordert, dann sollte man dies nicht innerhalb des dichotomen Denkmusters tun, das auf der einen Seite den Nationalstaat und auf der an-deren Seite die supranationale EU sieht. Man darf auch nicht den Begriff der Subsidiarität so schwammig belassen wie bisher geschehen, wo keiner wirklich weiß, was genau supranational, was national und was regional angegangen und entschieden werden muss. In diesem Denkmuster kann man nur entweder eine Stärkung des nationalen Souveränität fordern oder man sagt, mehr Kompetenzen müssen nach Brüssel und man muss die nationalen Befindlichkeiten herabstufen. Ersteres führt zur Auflösung der Europäischen Union oder – de facto – zur Stär-kung einer exekutiv-technokratischen Union, in der die Insti-tutionen in Brüssel nur pro forma gestärkt werden, die Ent-scheidungen aber von den Regierungen in den Ländern und den Ministerialbürokratien getroffen werden. Was der Minis-ter nachher sagt, das ist alles vorher ausgearbeitet worden. Fa-tal daran ist, dass das Europaparlament weiterhin wenig Wir-kung entfalten kann.

Das Europaparlament aber halte ich für den zentralen Ak-teur. Ich glaube, dass die Abgeordneten, zum Beispiel ein italie-nischer, durchaus gute Argumente dafür hat, was für Sizilien gut ist und an der Ausarbeitung einer Wirtschaftsstrategie für Italien partizipieren und gleichzeitig europäisch und international denken kann. Wir sollten die parlamentarische Ebene daher so stärken, dass es mehr strategische Verschränkung von natio-nalen und europäischen Parlamentariern gibt, und nicht eine zweite Kammer der nationalen Parlamente ein-führen, nicht eine Konkurrenz zwischen Europaparlament und nationalen Parlamenten schaffen. Für die Haushaltsaufstellung,

Das Europaparlament halte ich für den zen-tralen Akteur.

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die man in der EU seit 2011 das Europäische Semester nennt, wäre meine Idee eine modifizierte Variante des geltenden Pro-zesses, in dem die Europäische Kommission ihren Haushalts-entwurf sowohl dem Europäischen Rat als auch dem Europäi-schen Parlament vorlegt. Dann könnte das Europaparlament nach dieser Vorstellung mit nationalen Vertretern, zum Bei-spiel aus jedem Land drei, diesen Plan zusammen begutachten und mit einer Stellungnahme versehen, und das muss dann an den Europäischen Rat. Bisher geht der Entwurf an das EU-Par-lament, das aber nichts weiter unternimmt, und die nationalen Parlamente kommen praktisch gar nicht vor. Das Ergebnis die-ser » verschränkten « Stellungnahme sollte in der europäischen und in den nationalen Öffentlichkeiten diskutiert werden. Das hat den Vorteil, dass die nationalen Parlamentarier ihre Kennt-nisse in den Prozess einbringen und es besteht die Chance, dass das auch Debatten-Gegenstand der nationalen Öffentlich-keiten wird. Die Dinge, die nur im Europäischen Parlament de-battiert werden, haben in der Regel kaum Chancen, in die na-tionalen Medien zu kommen und dadurch werden dann auch kaum Alternativen debattiert. Durch die Schleife der nationa-len Parlamente schaffen wir eine inhaltliche Verschränkung und wir haben die Chance zur öffentlichen Debatte und dann stehen Alternativen zur Diskussion und wir können uns dar-über auseinandersetzen, das ist mein Punkt.

Das heißt, Vertreter aus allen nationalen Parlamenten kommen – nacheinander – ins Europaparlament und beraten dort die natio-nale Stellungnahme ?

Schwan: Die Vertreter werden zusammen eingeladen, das ist nach den jetzigen Verträge auch schon möglich. Ich würde daraus aber eine profilierte Strategie machen, denn gerade die Haushaltsaufstellung ist ja Kerngeschäft der Parlamente. Mein Vorschlag der verschränkten Souveränität ermöglicht, dass das, was von der Kommission kommt, auf der europäischen und auf

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den nationalen parlamentarischen Ebenen debattiert wird. Der Mehrjahresplan 2014 – 2020 zum Beispiel wurde von der Kom-mission ins EU-Parlament gegeben und das hat den Plan ab-gelehnt, aber es konnte keine Alternative vorschlagen. In den nationalen Medien kam nur die Ablehnung vor, und das ist frustrierend. Ich glaube, dass Teilhabe und konstruktive Alter-nativen zwei völlig unverzichtbare Elemente sind, um Demo-kratie allgemein und vor allem in Europa zu verankern. Die Menschen müssen an den bevorstehenden Entscheidungen teilhaben können, sie müssen diskutieren können bis in ihre Kommunen hinein, und sie müssen den Sinn auf konstruktive Alternativen gerichtet haben. In Anbetracht der bestehenden unterschiedlichen Interessen ist das schwierig genug.

Wenn man eine intensivere Auseinandersetzung mit politischen Fra-gen erreicht, stärkt man dadurch auch die Akzeptanz für die euro-päischen Institutionen ?

Schwan: Für mich ist ganz zentral: Legitimation ist keine theo-retisch-abstrakte Sache, sie ist die Basis von Vertrauen, von Handeln können usw. Und in einer modernen Welt kann die-se Basis nur tragen, wenn die Menschen sich ihr eigenes Ur-teil bilden können, wenn sie also teilhaben können. Sie werden nie alle zufrieden sein, aber das heißt nicht, dass es über ihre Köpfe hinweg entschieden werden darf. Und selbst wenn eine Lösung » von oben « optimal wäre, sie wäre dann nicht legiti-miert, dazu nämlich gehört die entsprechende Teilhabe. Des-wegen schlage ich diese europäisch/nationale Verschränkung vor, die als Bild nicht so ohne Weiteres verständlich ist, weil es dafür keine Vorbilder gibt. Ich möchte sie gleichsam fast » pre-digen «, weil ich glaube, dass die Verzahnung von nationalen und damit auch von regionalen Interessen mit europäischen das europäische Projekt am ehesten voranbringen kann, da die Probleme der Menschen an der Basis angegangen werden.

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Wenn man der Kommission einräumen würde, ihren Haushalt durch die Erhebung von Steuern aufzustellen, könnte man dadurch nicht einen ähnlichen Effekt erzielen, da die Bürger dann unmittel-bar an einer europäisch-politischen Entscheidung teilhaben ? Die euro päische Steuer könnte von den Politikern auch in Wahlkämpfen thematisiert werden, was die Auseinandersetzung fördern würde.

Schwan: Das ist dann die nächste Frage. Bis jetzt sind ja in die-sem europäischen Budget, wenn ich mich richtig erinnere, nur ein Prozent europäischer Haushalt, den Rest machen die natio-nalen Haushalte aus. Der Einfluss auf diese nationalen Haus-halte durch die Kommission ist aber durchaus stark, weil die Kommission für die Länder bestimmte Wirtschaftspolitiken durchsetzen will und dadurch hat sie machtpolitisch einen Zu-griff. Es könnte sich aber positiv auswirken, wenn die Kommis-sion eigene Steuern erheben würde, wenn es nämlich zu einer besseren Balance zwischen nationalen und europäischen In-teressen führen würde, statt dass die Kommission auf die Mit-gliedstaaten Druck ausübt, um ihr Budget zu bestimmen. Das kann man aber nicht von heute auf morgen in großen Schrit-ten umsetzen. Vermutlich würde es schon schwierig, den An-teil europäischer Steuern auch nur auf zehn Prozent zu bringen. Wichtig wäre aber auch hier, dass das Europaparlament ent-sprechend beteiligt würde, damit eine echte Auseinanderset-zung über das Budget erfolgt. Für eine breite Verzahnung der Politiken halte ich die Verschränkung der parlamentarischen Vertretungen aber für wichtiger, da reicht eine einheit liche euro päische Steuer nicht aus. Das Ziel muss sein, über natio-nale Grenzen hinweg, politische Alternativen zu präsentieren.

Ob eine einzige europäische Steuer aber die Politisierung und das Aufzeigen von Alternativen fördern kann, da bin ich skeptisch. Die jetzigen Fraktionen im Europaparlament haben eher die Absicht, den kommenden Europäischen Wahlkampf stärker zu personalisieren. Zum Beispiel ist für die Nachfolge des Kommissionspräsidenten ein Bündnis von Sozialdemokra-

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ten, Grünen und vielleicht Teilen der Liberalen denkbar, um den jetzigen Parlamentspräsidenten Martin Schulz als Kan-didaten für die Kommissionspräsidentschaft zu nominieren. Wie  die Konservativen das sehen, kann ich nicht beurteilen. Wie wichtig aber die parlamentarische Auseinandersetzung ist, zeigt, wie einseitig die Kommission die Freiheiten in Europa interpretiert. Sie sieht ganz vorrangig die Freiheit des Marktes. Die Ausgewogenheit zu sozialen Rechten, also zu Mitbestim-mung etc., ist nicht gegeben und genau das liegt ja jetzt auch beim Europäischen Gerichtshof.

Wie kann man Ihr Modell der verschränkten Souveränität umset-zen ? Hat die EU dafür die richtigen Führungspersonen, die nach vorne schauen und die nötigen Schritte einleiten ?

Schwan: Dringend bräuchte man eine stärkere Führung, aber man kann sie sich nicht backen. Ich glaube, dass Martin Schulz schon sehr engagiert und auch recht visionär handelt. Früher waren es eher konservative Europapolitiker, bzw. Gruppierungen, die die großen Schritte eingeleitet haben. In den letzten Jahren hat die überparteiliche Spinelli-Group viel per-spektivische Denkarbeit geleistet. Wichtig ist es, dass die Ideen auch aus der Gesellschaft heraus kommen. Wenn Vorschläge und Initiativen aus der Gesellschaft heraus gemacht werden, dann stehen diese auch nicht von vornher-ein unter dem Verdacht, dass sie nur darauf zielen, den Macht-erwerb der Exekutiven zu befördern. Aber natürlich ist gutes politisches Personal auch dann wichtig, wenn diese Initiati-ven tief in den politischen Prozess hineingebracht und dort durchgekämpft werden müssen. Es gibt bestimmte, wiederum systemische Gründe, warum nicht alle, die wir uns im politi-schen Leben wünschen, sich dem auch widmen. Der politische Wettbewerb zum Beispiel, der zwar unverzichtbar ist, der hat auch harte Folgen. Nicht zuletzt setzen sich Politiker jahrelang

Wichtig ist es, dass die Ideen auch aus der Gesell-schaft heraus kommen.

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einem enorm belastenden Medientest aus. Das verlangt ein hartes Nervenkostüm und kaum einer weiß im Voraus, was das eigentlich heißt. Einerseits will man etwas Authentisches sagen, auch mit Wagnis, andererseits will man vermeiden, dass das, was man sagt, sofort skandalisiert wird. Das ist ganz schwer zu balancieren.

Kann die EU die von Ihnen geforderten Governance-Reformen mit Großbritannien gemeinsam erreichen ?

Schwan: Dazu wäre eine gemeinsam geteilte Vision der Euro-päischen Union wichtig, die in Ruhe erarbeitet werden müss-te. Man müsste überlegen, was soll alles durch die Verträge eingeschlossen werden und was nicht und wie man das zusam-men erreichen kann. Reformvorschläge zur Governance müs-sen zwangsläufig auch dazu zählen. Großbritannien ist aktuell in einer eigenen riesigen Wirtschaftskrise und es sieht im Mo-ment nicht so aus, als würde das Land da schnell wieder her-auskommen. Das politische » Geschäftsmodell «, sich nur auf die Banken zu konzentrieren, scheint auch nicht optimal zu sein. Ich glaube, es ist immer leichter, divergierende Partner für eine gemeinsame Politik zu gewinnen, wenn sie alle kon-struktive Wege für sich in der gemeinsamen Sache sehen. Für Großbritannien würde das heißen, einen konstruktiven Weg für eine Wirtschaftspolitik zu finden, die nicht nur die City of London im Blick hat. Das ist gegenwärtig aber das Haupt-augenmerk der beiden großen Parteien im Unterhaus. Aber der Umbau wird schwierig werden. Vielleicht muss man seitens der EU auch mal das eine oder andere Faktum setzen, zum Beispiel bei der Finanzmarktkontrolle.

Wäre Ihnen die Türkei, die den Willen hat, den europäischen Ac-quis umzusetzen, und die ein beeindruckendes Wirtschaftswachs-tum zeigt, lieber in der EU ?

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Schwan: Ich pflege keine nationalen Präferenzen, was die Emo-tion angeht. Großbritannien und die Türkei sind aus meiner Sicht beide sehr wichtig für die Europäische Union und beide haben ganz unterschiedliche Eigenschaften, Geschichten und kulturelle Kontexte, die es jeweils nicht immer ganz leicht ma-chen, im Rahmen Europas zu agieren. Es wäre gut, wenn es gelänge, das zusammenzubringen. Nehmen wir mal Großbritannien, dort existieren der-art lange demokratische Traditionen, auch die Zeit der Splendid Isolation und natürlich die Nähe zu den USA, das alles ist sehr wich-tig für Europa. Die Türkei kann eine gute Brücke zur islami-schen Welt sein, das ist ebenfalls wichtig. Gute Beziehungen Europas zu anderen Ländern sind heute wichtiger denn je.

Angesichts des steigenden Durchschnittsalters in Europa und des sin-kenden Anteils am Welthandel kommt der Erweiterungsfrage eine besondere Bedeutung zu, schließlich haben wir ein Gesellschaftsmo-dell, vor allem ein hart erkämpftes Sozialmodell, zu verlieren. Wie kann Europa mit diesen Herausforderungen umgehen ?

Schwan: Die Gefahr, dass wir unsere sozialen Errungenschaf-ten einbüßen, besteht natürlich schon. Für mich stellt sich aber die Frage, wie weit das europäische Modell das soziale Modell ist und ob es nicht auch in der pluralistischen europäischen Kultur, in den Überzeugungen der Menschen und nicht zuletzt in ihren Lebensgewohnheiten verankert ist. Man kann gegen-wärtig beobachten, dass die Sorge vor dem Verlust der sozialen Sicherheit extrem gewachsen ist und dass das die Sympathie für die Europäische Union durchaus beeinträchtigt. Letztlich geht das auch auf Kosten der Vielfalt, denn Vielfalt genießt man mehr, wenn man sich sozial sicher fühlt und es de facto auch ist. Ansonsten kann Vielfalt schnell beunruhigen. In der Offen-heit gegenüber der Vielfalt liegt aber ein wichtiger Schlüssel für die Zukunft unseres Gesellschaftsmodells – Isolation führt in

Die Türkei kann eine gute Brücke zur islamischen Welt sein.

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die Enge. Sicherheit im Umgang mit Vielfalt gelingt ganz prak-tisch darüber, dass man sich verständigen kann, dass man also möglichst andere Sprachen sprechen kann. Nur dann kann man sich auch über die Gemeinsamkeiten austauschen und an der Vielfalt freuen.