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Worauf warten die? Familienpolitik, auf die Plätze fertig und endlich los! WEISS Magazin der Freien Liste No. 02, März 2012 freieliste.li

Weiss 02 – März 2012

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Magazin der Freien Liste

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Worauf warten die? Familienpolitik, auf die Plätze fertig und endlich los!

WEISSMagazin der Freien Liste

No. 02, März 2012

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04 – Der Storch sollte Pause machen – Wer für einen Säugling einen KiTa-Platz sucht, hat gerade Pech gehabt. Massnahmen zur Ver-einbarkeit von Beruf und Familie lassen auf sich warten.

08 – «In Norwegen hat die Quote funktioniert» – Diskriminierung von Frauen im Beruf sind nach der Ansicht von Kersten Kellermann ein Tabu-Thema, das endlich er forscht werden muss.

11 – Papaurlaub und Mamaurlaub gleich Elternurlaub – Der unbezahlte Elternurlaub wird kaum genutzt – wenn von Frauen. Es braucht andere Lösungen.

14 – Im Jahr 4 nach Kieber – «Der Auszug der Gelder ist eingetreten, wir haben nichts zu befürchten. Machen wir in Freiheit weiter», fordert Stefan Sprenger.

17 – Mein liebster politischer Gegner – Christian Batliner ist sozial, ein analytischer Kopf und trotzdem emotional, findet Pepo Frick.

24 – Wirtschaftswachstum oder Glück? – Der Kapitalismus weckt Unbehagen, doch was sind die Alternativen?

Impressum Herausgeberin Freie Liste, LiechtensteinRedaktion WEISS, Landstrasse 140, FL-9494 Schaan Redaktionsleitung Barbara Jehle, [email protected] Gestaltung Mathias Marxer, Gregor Schneider, Triesen Titelseite Mathias Marxer Druck Gutenberg AG, Schaan Schrift Univers und New Baskerville Papier Bavaria, 90 g/m2, FSC Auflage 20’500 Ex.

Text [email protected]

Vielleicht wird ja alles gut: Vielleicht bekommt ein Elternpaar bald einen Kindertagesstätte-Platz in ihrer Wohngemeinde. Viel-leicht kommt auch bald Schwung in Sachen Gleichstellung der Geschlechter: Vielleicht wird die Stabsstelle für Chancengleichheit bald neu besetzt. Klarheit kommt erst, wenn die Regierung neue Lösungen aus dem Hut zaubert. Bis es soweit ist, heisst es warten.

In diesem Heft kommen Wartende zu Wort: Eine Mutter in Spe berichtet über das Warten und die Suche nach einem Kinder-betreuungsplatz für ihr Kind. Es geht auch um das Warten auf Väter, die zugunsten der Kinderbetreuung ihre Berufstätigkeit kurz unterbrechen oder reduzieren. Der vor acht Jahren einge-führte unbezahlte Elternurlaub hätte auch Männern ermöglichen sollen, Familie und Beruf besser zu vereinbaren, wird aber prak- tisch nicht genutzt: Es braucht wohl andere Anreize, um die Gleichstellung der Geschlechter auch in der Familienarbeit zu fördern. Wie solche Anreize aussehen können und die Frage, ob ein bezahlter Elternurlaub eine Lösung wäre, wird die Freie Liste in den nächsten Monaten beschäftigen.

«Weiss 02» dreht sich auch um einen, der nicht lange auf sei-ne Repliken warten lässt: Der Fürst und sein Selbstverständnis als Herrscher werden von Stefan Sprenger analysiert. Das Fürstenhaus habe die Grundannahme gefördert, dass Monarchie und Finanz-platz den Staat garantieren. Das hat sich laut Sprenger als falsch erwiesen. Das lang Befürchtete, der Auszug der Gelder, sei bereits geschehen: «Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Von hier und von jetzt aus kann man in Freiheit weitermachen.» Furchtlosigkeit tut auch der Politik gut, denn sie schärft die Wahrnehmung für das, was ist, anstatt für das, was passieren könnte.

Wolfgang Marxer

Vom Warten

EditorialInhalt

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Text Wolfgang Marxer, [email protected]

Es wird wenig überraschen, dass die Freie Liste die Verfassungsinitiative «Ja – Damit deine Stimme zählt» vorbehaltlos unter- stützt. Sie bezweckt den Ausbau der Volks-rechte in dem Sinne, dass das Sanktions-recht des Fürsten und damit seine politi-sche Kontrollfunktion nicht abgeschafft werden, aber letztlich das Volk direktde-mokratisch und abschliessend entscheiden kann. Das Selbstbestimmungsrecht des Vol- kes wird gestärkt. Nach dem Willen der Initianten soll künftig schlicht und einfach das Volk das letzte Wort haben.

Fairness und Gerechtigkeit: Ja zur Verfas-sungsinitiative «Ja – damit Deine Stimme zählt»Im Prinzip geht es um die Korrektur eines einzelnen Elementes der Verfassungsab-stimmung 2003. Gemäss unserer Verfas-sung gibt es zwei Souveräne: Der Fürst und das Volk. Und der Landtag ist die Volks-vertretung! Wenn also der eine Souverän eine Gesetzesvorlage nicht sanktioniert, kann der Landtag eine Abstimmung beim anderen Souverän – dem Volk, den er ge-mäss Verfassung vertritt – durchführen. In der Abschaffung des Veto-Rechts eine Schwächung der Stellung des Landtages zu sehen, wie es das FBP-Präsidium tut, zeugt von einem merkwürdigen Demokra-tieverständnis.

Fairness und Gerechtigkeit: bei der Sanierung des StaatshaushaltsDie Sanierung des Staatshaushaltes wird nicht ohne Massnahmen bei den sozia-len Leistungen möglich sein. Aber auch hier gilt für die Freie Liste: «Für Fairness und Gerechtigkeit». Denn: Im Zuge der Sanierung des Staatshaushalt wurden bis-her und werden laufend Massnahmen vorgeschlagen, welche in erster Linie und überproportional die mittleren und unte-ren Einkommen treffen. Dies öffnet die Schere zwischen Arm und Reich, führt

Fairness und Gerechtigkeit

Politischer Kommentar

Die Nachrichten werden dominiert von Wirtschafts- und Finanzkrise, Eurokrise, Wachstum, und, und, und … Es stimmt na-türlich: Ohne gesunde Wirtschaft ist alles nichts, aber: nur eine gesunde Wirtschaft ist auch nicht alles! Jedenfalls riskieren wir auch in Liechtenstein, dass die Diskussi-onen in den kommenden Monaten – no-tabene im Wahlkampf-Jahr 2012 – sich auf kurzfristige Erfolge und Versprechen konzentrieren. Langfristige, nachhalti-ge, zentrale Bereiche der Ökologie, wie die Festlegung verbindlicher Klimaziele und ein Umbau der Energieversorgung oder eine CO2- abhängige Motorfahrzeug-Steuer, werden wohl einmal mehr auf die lange Bank geschoben.

Fairness und Gerechtigkeit: mit der Freien ListeDie Vorboten des Wahlkampf-Jahres wer-den immer lauter, die Wahlen 2013 werden (leider) die Politik beeinflussen, die Ver-fassungsinitiative wird die politische Dis-kussion in den nächsten Monaten domi-nieren. Es wird im Wahlkampf und in der Verfassungsdiskussion Unschönes in der Diskussion dabei haben. Es wird am Land-tag liegen, seine Verantwortung wahrzu-nehmen und Beschlüsse sachlich und kon-struktiv zu einer Entscheidung zu bringen und die Parteipolemik auszuklammern.

Die Freie Liste wird sich unverändert aktiv und konstruktiv einbringen. Wie seit 25 Jahren ist sie auch weiterhin bestrebt, den beiden Grossparteien politische Alter-nativen gegenüberzustellen. Mit «für Fair-ness und Gerechtigkeit» nehmen wir die Zeichen der Zeit treffend auf.

zu Ungerechtigkeiten und zu einer kaum gewollten Veränderung innerhalb der ge-sellschaftlichen Struktur. Genau um solche Veränderungen und vor allem auch die Wirkung von getroffenen und geplanten Massnahmen sichtbar zu machen, reich-te die Freie Liste eine Interpellation zur Verteilungsgerechtigkeit ein. Die Beant-wortung – die für die Landtags-Sitzung von Ende März traktandiert werden soll – muss Fakten zur Einkommens- und Ver-mögensverteilung in Liechtenstein auf den Tisch legen. Eine solche Statistik ist vielleicht erstmalig in Liechtenstein, aber Standard in allen entwickelten Ländern. Wir haben hohe Erwartungen an diese In-terpellationsbeantwortung.

Die politische Agenda 2012 hat es in sich: Neben Staatshaushalt-Sanierung ste- hen zu zahlreichen weiteren Themen Ent-scheidungen an, welche ganz wesentlich Einfluss auf unsere Zukunft haben – so-wohl gesellschaftlich wie wirtschaftlich. Ein neues Religionsgesetz – als Basis einer Gleichbehandlung von religiösen Gemein-schaften – würde Ruhe in ein Anliegen bringen, welches weite Teile der Bevölke-rung beschäftigt. Die Harmonisierung der Amts- und Rechtshilfe in Steuersachen ist ein weiterer Schritt beim Umbau des Fi- nanzplatzes. Die emotionalisierte Spitalfra-ge muss Fortschritte erzielen, wobei der bis- herige Verlauf wenig optimistisch stimmt. Und auch bei der Fristenregelung wird der nächste Schritt im Prozess folgen.

Fairness und Gerechtigkeit: auch für Natur und UmweltEs ist noch kein Jahr her, seit die Umwelt- und Nuklear-Katastrophe Fukushima die Weltnachrichten dominierte und die Wahr-nehmung der schockierenden Risiken zu einem Stimmungsumschwung führten: ge- gen die Kernenergie und für eine nach-haltige, lebenswerte Umwelt. Was ist davon geblieben?

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Familien, die in den nächsten zwei Jahren ein Kind bekommen und es ausserhäus-lich betreuen lassen wollen, haben einen schlechten Zeitpunkt erwischt. Barbara Schädler ist eine von den Müttern in Spe, die gerade im neunten Monat schwanger ist und weiss, dass sie rasch nach der Ge-burt wieder arbeiten sollte: Die Architektin hat schon vor einigen Monaten versucht, einen KiTa (Kindertagesstätte)-Platz zu re-servieren, aber wie viele ist auch ihr Kind auf der Warteliste gelandet: Bis März 2012 wird für 101 Kinder bei den Liechtenstei-ner KiTas ein Betreuungsplatz benötigt, für 43 weitere Kinder gibt es eine Sommer-warteliste.

Säuglinge sind besonders schwer unter-zubringen, weil für diese eine intensivere Betreuung benötigt wird. Aus pädagogi-schen Gründen werden sie in Gruppen mit älteren Kindern untergebracht – es werden keine reinen Säuglingsgruppen gebildet. Pro KiTa gibt es daher nur zwei bis vier Säuglingsplätze. Das Kind von Bar-bara Schädler ist zwar relativ weit vorne auf den Listen von zwei Gemeinde-KiTas, von beiden ist aber der Bescheid gekommen, dass es für Säuglinge wohl kaum Platz ge-ben werde. Die Architektin, die nach dem Mutterschaftsurlaub mit einem 60-Prozent-

Reportage

ation abfedern könnte, wäre ein bezahlter Elternurlaub (siehe S. 11). So könnte ein Elternteil die Kinderbetreuung nach der Mutterschaft für einige Monate überneh-men und die Zeit überbrücken, in der es schwer ist, einen Betreuungsplatz für das Kind zu finden. Auch bessere Teilzeitar-beitsmöglichkeiten für Frauen und Män-ner würden die Situation entschärfen.

Daniela Meier, die Geschäftsführerin des KiTa-Vereins, versucht die Situation et-was zu relativieren: «Wir sind schon froh, dass wir nicht wie andere Sozialträger Kür-zungen hinnehmen mussten.» Sie betont, dass bis anhin fast alle Anträge auf neue Plätze bewilligt wurden und der Ausbau in den letzten Jahren zügig voran gegan-gen sei. Trotzdem räumt sie ein, dass die Situation schwierig sei: Sie muss viele El-tern vertrösten. Nicht zuletzt ist auch die Anstellungssituation bei den KiTas unbe-friedigend.

Stagnation bei den Löhnen ...Aus einer Vorstudie der Regierung ist hervorgegangen, dass der Verein KiTa bei den Führungskräften und den ausgebilde-ten Betreuerinnen unterdurchschnittliche Löhne zahlt. Eine Lohnerhöhung ist aber ohne Erhöhung des Defizitbeitrags durch

Pensum wieder ihre Berufstätigkeit auf-nimmt, plant ihre Arbeitstage nun mit der Mutter und Schwiegermutter und versucht zusätzlich eine Tagesmutter zu finden. Dass die Betreuungssituation ihres Kindes kurz vor der Geburt noch immer nicht ge-regelt ist, belastet sie.

Blockade beim KiTa-Ausbau ...Einer der Gründe für den Betreuungsnot-stand ist ein von der Regierung beschlos-sener «Optimierungsprozess». Trotz langer Wartelisten sind nicht alle KiTas voll ausge-lastet – einige sind vom Wohnort her we-niger begehrt oder die Altersstruktur der Kinder, die einen Platz benötigen, passt nicht zur Wohnorts-KiTa. Die Regierung möchte in den nächsten zwei Jahren über die Bücher gehen. Da die KiTa-Plätze zu 60 Prozent staatlich subventioniert werden, bräuchte ein Ausbau das Okay der Regie-rung. Diese bewilligt bis auf eine genaue Analyse der KiTas, der Tagesstrukturen und deren Finanzlage bis Ende 2013 gar nichts: Für Betreuungsplätze oder Veränderun-gen an den Rahmenbedingungen herrscht Verhandlungspause. Für Eltern, deren Kin-der nicht untergebracht werden können, sind zwei Jahre eine lange Zeit: Die einzige politische Lösung, die die schwierige Situ-

Der Storch sollte Pause machen

Text Barbara Jehle, [email protected] Illustration Gregor Schneider

Den Ruch der Rabenmutter haben berufstätige Mütter endlich auch in Liechtenstein verloren. KiTas werden immer mehr geschätzt und unterstützt – sogar von der Industrie. Die momentane Blockade ist politisch verordnet.

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den Staat nicht möglich. Ähnliches berich-tet Gertrud Hardegger vom «Eltern Kind Forum». Viele Eltern, die keinen KiTa-Platz für ihre Säuglinge finden, versuchen sich eine Tagesmutter zu organisieren. Die Nachfrage übersteigt aber bald das Ange-bot. Hardegger vermittelt Tagesmütter, die für 6 Franken pro Stunde arbeiten: Das sei zu wenig und doch könne eine Stunden-lohnerhöhung nicht auf die Eltern, die die Betreuung in Anspruch nehmen, übertra-gen werden: «Nicht mal Mittelstandseltern können es sich leisten, noch mehr für Kinderbetreuung zu bezahlen». Die Ver-antwortlichen des «Eltern Kind Forum» wollten Ende des letzten Jahres mit der Regierung über Subventionen für Löhne verhandeln, wurden aber abgeblockt. Ger-trud Hardegger erklärt, dass die Nachfrage an Tagesmüttern laufend zunehme, dass es aber nicht zuletzt wegen der tiefen Löh-ne schwer sei, neue zu finden. Durch die Blockade laufen auch die Angebote des «Eltern Kind Forum» in einen Engpass: Wenn schon strukturell am Betreuungsan-gebot nichts verändert werden kann, hofft Gertrud Hardegger auf eine politische Lö-sung, die Eltern unterstützt.

Hoffen tut auch die Industrie: Dem «Verein KiTa» liegen mehrere Anfragen

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Liechtensteiner Studie empfiehlt KiTa-Ausbau

Laut Silvia Simon, die die Studie «Wandel der Familie und Ansätze der Familienpolitik» (herausgegeben vom Liechtenstein Institut, 2007) verfasst hat, ist der Ausbau von KiTa-Plätzen einer der Schlüssel zur Lösung verschiedener gesell-schaftlicher Probleme: Sie schreibt: «Massnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirken sich sowohl positiv auf das natürliche Bevölkerungswachstum, als auch auf die Frauenerwerbstätigkeit aus und tragen damit zur Zukunftsfähigkeit der liechtensteinischen Wirtschaft und Gesellschaft bei.» Die Studie empfiehlt, neben dem Ausbau von Kinderkrippen-Plätzen auch einen bezahlten Elternurlaub einzuführen.

Massnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern bzw. leisten:

und Frauen

unterschiedlicher Startchancen von Kindern aus benachteiligten sozialen Milieus

von Industriebetrieben vor, die gerne KiTa-Plätze kaufen bzw. eine KiTa bauen würden. Die Industriebetriebe wären be-reit, 100 Franken pro Tag und Kind zu übernehmen, der Staat müsste mit einem Sockelbeitrag von 15 Franken pro Tag Un-terstützung leisten. Mit dem Ausbaustopp erleidet nun voraussichtlich auch die Ini-tiative der Industrie einen Dämpfer.

... aber keine Blockade in den KöpfenDer Stopp kommt zu einem sehr ungünsti-gen Zeitpunkt, denn endlich ist der grosse Nutzen von Kinderkrippenplätzen für die Gesellschaft erkannt: Die Industrie for-dert und unterstützt KiTas immer stärker. UnternehmerInnen haben realisiert, dass sich der Fachkräftemangel mit KiTas etwas abfedern lässt und sie sich damit Standort-vorteile schaffen. Ebenso hat laut Daniela Meier puncto Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Müttern ein Wandel stattgefunden: «Ich beobachte gesellschaft-lich grosse Fortschritte, die Akzeptanz, Kinder in KiTas betreuen zu lassen, ist heute gross.» Die KiTa-Geschäftsführerin hat immer mehr Anfragen von Eltern auf dem Schreibtisch, die über hohe Einkom-men verfügen. Es gebe eine Verschiebung: Der Anteil der Kinder mit Migrationshin-tergrund, der bei der Gründung der KiTas vor 22 Jahren sehr hoch war, werde we-gen des wachsenden Anteils von Kindern mit Muttersprache Deutsch immer klei-ner. Das zeigt, dass auch Liechtensteiner Eltern zunehmend von der Qualität der ausserhäuslichen Kinderbetreuung über-zeugt sind. Es zeigt ebenso, dass berufstä-tige Mütter langsam als «Normalität» an-gesehen werden. Laut Meier werden diese kaum mehr mit Vorwürfen konfrontiert, es herrsche immer grössere Toleranz. Heute höre man höchstens: «KiTas sind eine gute Sache, aber für mich wäre das nichts.» Ver-nichtende Kommentare gebe es immer seltener.

Alle Rollenmodelle sollten lebbar seinNoch mehr Toleranz sollte auch die Poli-tik aufbringen: Gemäss einer Studie zum Wandel der Familienpolitik in Liechten-stein ist die gesellschaftliche Akzeptanz ausserhäuslicher Kinderbetreuung min-destens genauso wichtig, wie der Preis und die Qualität der Betreuung. Oder anders

formuliert: Auch die best ausgebildete Frau geht nicht arbeiten, wenn sie als Ra-benmutter verschrien wird. In der Studie wird empfohlen, dass die Politik auch hier Anstrengungen unternimmt: Gute Fami-lienpolitik lasse Wahlfreiheit. Damit die Lebensentwürfe junger Frauen und die Werte ihres Umfeldes nicht zu stark ausei-nander klaffen und zu Kinderlosigkeit füh-ren, müsse der Staat diesen Wertewandel aktiv begleiten und für Toleranz sorgen. Ein Staat sollte also keine Rollenbilder vor-schreiben. Vollzeit-Mamas und Hausfrau-en und voll berufstätige Mütter sollten glei-chermassen von Politik und Gesellschaft anerkannt sein.

Krippen-Zöglinge haben höheren AbschlussGute Erfahrungen mit Kinderkrippen und vor allem Aufklärung haben aber auch ganz allein für ein besseres Image des Be-treuungsmodell KiTa gesorgt: Langzeitstu-dien aus Norwegen haben mittlerweile ge-zeigt, dass Krippenzöglinge als Erwachsene im Schnitt einen höheren Bildungsgrad und somit ein höheres Einkommen errei-chen: Die Wahrscheinlichkeit eine Uni zu besuchen, steigt um 7 Prozent. Die Wahr-scheinlichkeit zu SchulabbrecherInnen zu werden, sinkt um 6 Prozent. Besonders stark ist dieser Effekt bei Unterschicht-Kin-dern. Daniela Meier überrascht dies nicht: «Kinder werden in KiTas nach einem päda-gogischen Konzept gefördert. Kinder aus fremdsprachigen Familien lernen die Lan-dessprachen und alle Kinder trainieren früh ihre Konfliktfähigkeit.» Die Schützlin-ge lernen von klein auf den Umgang mit anderen Altersstufen, Nationalitäten und Religionen. Ein gutes Rüstzeug für das Er-wachsenenleben. KiTas nehmen also die Frühförderung von Migrantenkindern «en passant» wahr und verbessern Bildungs-chancen für alle. Gerade in Liechtenstein ist diese Aufgabe sehr bedeutsam, da die Pisa-Studien immer wieder zeigen, dass es in Liechtenstein grosse Chancenungleich-heit in der Bildung gibt. Wie gut Kinder die Schule meistern, ist stark vom Bil-dungsgrad der Eltern abhängig.

In der Studie zum Wandel der Famili-enpolitik in Liechtenstein wird auch bestä-tigt, dass sich sehr viele gesellschaftliche Probleme lösen liessen, wenn sich ein Staat für Massnahmen zur Vereinbarkeit von Fa-

milie und Beruf einsetzt (siehe Box). Pro-fiteure sind nicht nur Mütter, Väter und Kinder, sondern die gesamte Gesellschaft: Studien des Sozialdepartements Zürich zeigen gar, dass jeder in die ausserhäusli-che Kinderbetreuung gesteckte Franken drei- bis vierfach an die Gesellschaft zu-rückgeht. Aus Sicht eines Staates muss es also nicht nur wegen der Chancengleich-heit, sondern auch aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus wünschenswert sein, wenn Kinder in KiTas betreut werden.

Für die Mutter in Spe Barbara Schäd-ler gibt nicht nur die Berufstätigkeit den Ausschlag für den Wunsch, ihr Kind in ei-ner KiTa betreuen zu lassen. Sie ist über-zeugt, dass ihr Sprössling profitiert, wenn er ein paar Tage pro Woche mit anderen Kindern in einem anregenden Umfeld be-treut wird.

Reportage

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Worte und Taten in der Familienpolitik

Text Claudia Heeb, [email protected]

Worte und Taten liegen in der Familienpo-litik weit auseinander. In der Fristenrege-lungsdebatte hiess es von allen Seiten, wie wichtig es sei, die Rahmenbedingungen für junge Familien zu verbessern. Auch wenn man das Familienleitbild liest, macht es den Anschein, als ob Familienförderung ganz oben auf der politischen Agenda stünde. Im Leitbild heisst es, «Familien mit Kindern sind unsere Zukunft». «Wir müssen die richtigen Antworten finden, damit junge Männer und Frauen sich für Familien entscheiden und damit Arbeit und Familie vereinbar sind». Soviel zu den Worten.

Die Taten und Pläne sprechen eine andere Sprache: Die Regierung hat an-gekündigt, die Mutterschaftszulage abzu-schaffen. Eine Massnahme, die die sozial Schwächsten treffen würde und nur ge-ringe Einsparungen brächte. Eine weitere Tat ist der personelle Abbau der Stabs- stelle für Chancengleichheit und deren geplante Herabstufung zu einer Fachstelle im Rahmen der Verwaltungsreform. Damit wird die staatliche Stelle, die sich konkret für familiengerechte Rahmenbedingun-gen einsetzt und für die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf engagiert, massiv geschwächt. Zusätzlich

Und es braucht faire Rahmenbedingun-gen in der Wirtschaft. Solange Frauen 20 Prozent weniger verdienen als Männer und schlechtere berufliche Aufstiegschan-cen haben, ist es schwierig, die finanzielle Verantwortung gleichmässig auf vier Schul-tern zu verteilen. Die ungleich langen Spiesse im Erwerbsleben sind ein gewich-tiger Grund dafür, dass Frauen trotz guter Ausbildung nach einer Familiengründung häufig aus dem Arbeitsprozess austreten. Dies rächt sich jedoch spätestens dann, wenn die Beziehung scheitert: Frauen, die längere Zeit nicht berufstätig waren, fin-den oft nur noch schlecht bezahlte Jobs und tappen in die Armutsfalle.

Wenn wir nicht wollen, dass Familie zum risikoreichen Abenteuer wird, vor dem junge Leute zurückschrecken, dann müssen Politik und Wirtschaft Hand bie-ten zu bezahltem Elternurlaub und einem Ausbau der Krippenplätze. Ein Blick in un-sere Nachbarländer zeigt, dass solche Mass-nahmen nicht nur demografisch, sondern

werden die Kinderbetreuungsplätze trotz Nachfrage nicht weiter ausgebaut, die Ver-handlungen mit dem Verein für Kinderta-gesstätten wurden vorläufig auf Eis gelegt. Die genannten Taten sind sicherlich nicht die «richtigen Antworten» in der Familien-politik!

Familie soll kein existenzielles Risiko seinWas braucht es im 21. Jahrhundert, damit sich junge Frauen und Männer dafür ent-scheiden, eine Familie zu gründen? Für eine Antwort gilt es zunächst einen Blick auf den gesellschaftlichen Wandel zu wer-fen: Heute investieren Frauen wie Männer viel in ihre Ausbildung. Sichere Arbeits-plätze oder gar «Lebensstellen» gehören je länger je mehr der Vergangenheit an. Arbeitslosigkeit kann alle treffen, ob quali-fiziert oder nicht, ob Frau oder Mann. Die Scheidungsrate in Liechtenstein ist hoch. Umso mehr macht es Sinn, dass junge Frauen und Männer beruflich und finan-ziell auf eigenen Beinen stehen und in der Familie die finanzielle Verantwortung auf vier Schultern verteilen.

Zentrale Voraussetzungen dafür sind zum einen ein bezahlter Elternurlaub und zum anderen genügend Krippenplätze. Nur so sind Beruf und Kinder vereinbar.

Kommentar

Alle wollten in der Fristenregelungsdebatte mit geschickter Familienpolitik Leben retten. Die Bilanz nach einem halbem Jahr: Die Ankündigung der Kürzung der Mutterschaftszulage und ein Abbau der Stabsstelle für Chancengleichheit.

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Frauen erreichen prozentual einen höheren Bildungsgrad als Männer: In Führungspositionen sind sie aber untervertreten. Nach sorgfältiger Untersuchung, ob Frauen im Job diskriminiert werden, soll eine Einführung einer Frauenquote diskutiert werden, findet die Ökonomin Kersten Kellermann.

Interview Barbara Jehle, [email protected] Illustration Jürgen Schremser

WEISS Frau Kellermann, muss man, bevor man von Frauenquoten spricht, dafür sorgen, dass es genügend ausserhäusliche Kinderbetreuungsplätze gibt? Kersten Kellermann Die Gleichstel-lungsproblematik hat viele Facetten. Die Quote berührt nur einen Teilaspekt. Es geht um die Aufstiegschancen von Frau-en im Beruf oder in der Politik. Natür-lich besteht ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gleichstellungsfragen. Die Harvard-Ökonomin Claudia Goldin spricht von einer Quasi-Revolution, wenn sie den Eintritt der Frauen auf den ame-rikanischen Arbeitsmarkt in den 1970er Jahren beschreibt. Die Situation hat sich noch einmal verändert seit die Frauen zu-nehmend gut ausgebildet sind. In den In-dustrieländern verfügen heute 33 Prozent der jungen Frauen über einen Hochschul-abschluss. Bei den Männern sind es nur 28 Prozent. Gleichzeitig wird immer deut-licher, dass Bildung allein nicht ausreicht, um Frauen und Männer im Beruf gleich-zustellen. Auch das Umfeld muss stimmen. Hierzu zählt die ausserhäusliche Kinderbe-treuung.

Woran scheitern Frauenkarrieren? Die alte Frage ist: Verzichten Frauen auf eine Karri-ere oder sind sie wegen Diskriminierungen weniger in der Lage, eine Karriere zu ma-chen?

Zu beobachten ist, dass Frauen viel sel-tener Führungspositionen erreichen als Männer. Ist das ein Problem? Denkbar wäre doch immerhin, dass sich dieser Überhang durch das Leistungsprinzip legitimiert. In

«In Norwegen hat die Quote funktioniert»

Interview

Oft haben Frauen am Karrierebeginn noch Mut, werden aber durch den Berufsalltag ent-mutigt.

Ja, dass scheint mir auch so. Junge Studienabgängerinnen wirken auf mich meist karrieremotiviert und optimistisch. Sie sind bereit, das Privatleben und die Fa-milie hintanzustellen und legen den Kin-derwunsch auf Eis. Trotzdem ist das Risiko gross, dass sie auf ihrem Weg straucheln. Das ist sehr schade. Die Statistik spricht aber eine klare Sprache. Das Deutsche Ins-titut für Wirtschaftsforschung hat unlängst 200 Unternehmen untersucht und dabei festgestellt, dass kaum 3 Prozent der obe-ren Führungsposten mit Frauen besetzt wa-ren. Das gilt auch für die Finanzdienstleis-ter, obwohl die Belegschaft dort zur Hälfte weiblich ist. Spielt hier das Leistungsprin-zip? Ein kleiner Lichtblick ist, dass die UBS mit Beatrice Weder di Mauro und Isabelle Romy jetzt zwei hochqualifizierte Frauen in ihren Verwaltungsrat aufnimmt.

Wären Frauenquoten ein sinnvolles Instru-ment, um an dieser Situation etwas zu verbes-sern?

Wenn nicht allein die Eignung, son-dern auch das Geschlecht die Erfolgsaus-sichten bestimmen, ist das ein Missstand. Die Gesellschaft kann darauf mit einer Frauenquote reagieren. In Liechtenstein werden Quotenregelungen, wie in der Sitzverteilung des Landtags mit einer Quo-te für Oberländer und Unterländer Abge-ordnete ja bereits umgesetzt. Dabei ist zu prüfen, wie die Quoten standortspezifisch auszugestalten sind. In welchen Bereichen

diesem Fall wären Frauen einfach nicht hinreichend qualifiziert, um Führung zu übernehmen oder strebten Führungspo-sitionen gar nicht erst an. Manchmal liest man auch, die Frauen seien zu bescheiden und trauten sich zu wenig zu. Es liegt in dieser Argumentation also immer an den Frauen. Diskriminierung spielt keine gros-se Rolle. Damit wird es schwer, eine Frau-enquote zu rechtfertigen. Sie legitimiert sich nur, wenn Frauen trotz Eignung und Engagement nicht befördert werden. In dem Fall kann es dann sein, dass sie gera-de aufgrund der Diskriminierung auf eine Karriere verzichten.

Man hört oft, dass es in Unternehmen eine männliche Seilschaft gibt, durch die sich Männer gegenseitig nach oben hieven. Frauen haben so schlechte Karten.

Die Forschung nennt verschiedene Fak- toren, die erklären, wie es zur Diskriminie-rung kommt. Das ist ein weites Feld. Zum Teil sind es Netzwerkeffekte, zum Teil ein-fach die Präferenzen der Männer, die ja entscheiden, wer aufsteigt. Wippermann hat im Auftrag der deutschen Familien-ministerin einen umfangreichen Bericht zusammengestellt.

Sehen Männer überhaupt, dass es Diskrimi-nierungen gibt?

Männer konkurrieren beim Aufstieg primär gegen Männer, was ihnen oft nicht bewusst ist. Eine Quote macht es für kar-rierebewusste Männer also schwerer. In diesem Sinne haben wir es nicht mit einer Win-win-Situation zu tun.

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Interview

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Zur Person

Kersten Kellermann ist promovierte Ökonomin und Forscherin an der Konjunkturforschungsstelle Liech-tenstein (KOFL). Chancengerechtig-keitsfragen gehören zu ihrem Interessensgebiet.

Literaturempfehlungen

Goldin, C. (2006), The Quiet Revo-lution That Transformed Women’s Employment, Education and Family, American Economic Review, Papers and Proceedings Vol. 96/No. 2, 1-21.Holst, E. und A. Wiemer (2010), Zur Unterrepräsentanz von Frauen in Spitzengremien der Wirtschaft – Ursachen und Handlungsansätze, DIW – Deutsches Institut für Wirt-schaftsforschung, Discussion Paper, Berlin. Wippermann, C. (2010), Frauen in Führungspositionen.

Interview

sollen sie gelten? Wie hoch sollen sie sein? Gibt es Alternativen? Da wir es mit einem regulatorischen Eingriff zu tun haben, muss geprüft werden, ob das Instrument hinreichend effektiv ist. In Norwegen hat die Quote in den Aufsichtsräten funktio-niert. Bleibt also die Frage der Effizienz. Eine Nutzen-Kosten-Analyse kann jedoch in Bezug auf verschiedene Volkswirtschaf-ten zu spezifischen Ergebnissen kommen.

Warum beklagen sich Frauen nicht mehr über Missstände?

Wahrscheinlich müsste man hierzu eine Kulturwissenschaftlerin befragen. Als Ökonomin kann ich Ihnen kaum eine befriedigende Antwort geben. Ganz per-sönlich beschleicht mich manchmal der Eindruck, dass uns Frauen immer noch die Hexenverbrennung in den Knochen steckt (lacht). Es gibt ein Tabu. Im öffentli-chen Raum melden sich Frauen jedenfalls nicht gerne zu Wort. Dass muss nicht heis-sen, dass sie die ungleiche Verteilung von Aufstiegschancen nicht durchaus sehen und einen kritischen Standpunkt dazu ein-nehmen.

Wird die Diskriminierung der Frauen im Beruf auch medial zu wenig thematisiert?

… erfreulich ist, dass sich das «Weiss» der Problematik annimmt. Vielleicht wird dadurch auch eine breitere Diskussion un-ter den Frauen angeregt.

PolitikerInnen in Liechtenstein schmücken sich eigentlich gar nicht damit, Frauenpolitik zu betreiben ...

... das liegt auch ein bisschen an den Wählerinnen. Frauen sind immer auch Wählerinnen. Sie sind ausserdem auch Konsumentinnen. Das eröffnet Einfluss-möglichkeiten. Diese sollten wir nicht ver-gessen.

Gehen wir mal weg von den Frauen hin zu den Unternehmen: Verstehen Sie deren Angst vor einer Frauenquote, die von der EU empfohlen wird?

Es ist wichtig, die Frauenquote auch aus Sicht der Unternehmen und aus ma-kroökonomischer Sicht zu bewerten. Auf diesem Gebiet wird endlich auch mehr geforscht. Die Resultate sprechen für die Quote. Liechtenstein ist jedoch eine sehr

kleine Volkswirtschaft mit einem begrenz-ten Arbeitsmarkt. Das hat verschiedene Auswirkungen. Einerseits könnte die Quote den Unternehmen standortspezi-fische Kosten auferlegen, andererseits be-steht auch die Chance, dass das knappe Arbeitsangebot der Diskriminierung von Frauen entgegenwirkt. Beides könnte für manche Branchen gegen die Einführung einer Quote sprechen. Man bräuchte dann alternative und flexiblere Instrumente. In Deutschland hat man sich beispielsweise für eine freiwillige Selbstregulierung von Unternehmen entschieden. Womöglich wäre es hilfreich, zunächst mehr Transpa-renz zu schaffen. Die Kleinheit des Landes rechtfertigt ungleiche Aufstiegschancen von Frauen und Männern jedenfalls nicht.

Herzlichen Dank für dieses interessante Gespräch Frau Kellermann.

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Leitartikel

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Papaurlaub und Mamaurlaub gleich Elternurlaub

Der unbezahlte Elternurlaub wird in Liechtenstein schlecht genutzt und wenn, dann von Frauen. Eine echte Wahlmöglichkeit könnte ein bezahlter Elternurlaub bieten, wenn auch die Männer als temporäre Vollzeitväter gesellschaftlich akzeptiert werden.

Text Barbara Jehle, [email protected]

In Liechtenstein gibt es seit dem Jahr 2004 für Mütter und Väter die Möglichkeit, ei-nen unbezahlten Elternurlaub zu nehmen. Dieser soll nun in Liechtenstein von drei auf vier Monate ausgeweitet werden. Dies entspricht dem EU-Mindeststandard. Der Elternurlaub kann Vollzeit, in Teilzeit oder auch stundenweise bezogen werden. Ar-beitgeberInnen sind verpflichtet, den Ur-laub zu bewilligen, können aber aus «be-rechtigten betrieblichen Gründen» eine Verschiebung verlangen. Was als Massnah-me gedacht war, damit gerade auch Män-ner Beruf und Familie besser unter einen Hut kriegen und Verantwortung für die Familienarbeit übernehmen, wird kaum genutzt. Wenn, dann von Frauen. Brigitte Haas von der Liechtensteinischen Indust-rie und Handelskammer (LIHK) erklärt, dass die Unternehmen keine Statistik da-rüber führen, wie viele MitarbeiterInnen es genau sind, die den Elternurlaub in Anspruch nehmen. Da viele Industriebe-triebe mehrheitlich Männer beschäftigen, sei unbezahlter Elternurlaub selten ein Thema: «Personalverantwortliche berich-ten, dass es generell wenig Anfragen für El-ternurlaub gibt, geschieht dies mal, dann meist von Frauen.» Der Elternurlaub wer-de aber auch in Betrieben, die mehrheit-lich Frauen beschäftigen, selten genutzt. Sigi Langenbahn vom Liechtensteinischen ArbeitnehmerInnenverband (LANV) er-klärt das geringe Interesse damit, dass es sich junge Eltern in Liechtenstein schlicht nicht leisten können, unbezahlten Urlaub zu nehmen: «Meiner Ansicht nach braucht es zuerst Zahlen, bevor diese Massnahme ausgeweitet wird. Wir müssen Bescheid wis-

mühen. Das Rollenmodell, «Vater-betreut-seine-Kinder-Vollzeit» müsste «normal» wer- den. Für die Politik steht aber vorerst eine andere Frage im Zentrum.

Wer bezahlt so was?Im Landtag wurde schon im letzten Jahr über einen bezahlten Elternurlaub debat-tiert, für den sich Pepo Frick, Landtagsab-geordneter der Freien Liste, stark gemacht hatte; im Brennpunkt stand vor allem die Frage, wer den Urlaub bezahlt und wie teuer er den LiechtensteinerInnen zu ste-hen kommen würde. Vergleichbare Zahlen und Studien aus der Schweiz können nun aufzeigen, mit wie viel Lohnabzug auch in Liechtenstein gerechnet werden müss-te. Über dem Rhein wird die Einführung

sen, aus welchen Lohnklassen Arbeitneh-merInnen einen unbezahlten Elternurlaub beziehen.» Für Langenbahn ist aber klar, dass ein bezahlter Elternurlaub eine viel bessere Variante wäre: «Von einem Eltern-urlaub müssen alle Branchen und Schich-ten profitieren können.»

Interessant wäre auch eine Umfrage, weshalb Männer in Liechtenstein auf Elter-nurlaub verzichten: Gibt es noch zu wenig gesellschaftliche Akzeptanz für Männer in einer Familienauszeit oder fürchten Män-ner mehr als Frauen einen Karriereknick nach einer Pause? Falls sich diese Vermu-tungen erhärten, reicht eine gesetzliche Einführung eines bezahlten Elternurlaubs allein nicht aus. Die Politik müsste sich auch um einen Wandeln in den Köpfen be-

Für Elternurlaub zwei-mal pro Monat auf einen Milchkaffee verzichten.

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Durch kurze Pausen von Papa und Mama entsteht kein Babykarriereknick.

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eines bezahlten Elternurlaubs mit 24-wö-chiger Auszeit bei 80-Prozent des Lohns gerade heftig diskutiert. Die Eidgenössi-sche Koordinationsstelle für Familienfra-gen (EKFF) hat ausgerechnet, dass eine Finanzierung via Erwerbsordnung für Ar-beitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen je 0.2 Prozentpunkte mehr Abzüge ergä-ben. Bei einem Lohn von 5000 Franken wären das je zehn Franken. «Dafür müsste durchschnittlich jede Person zweimal im Monat auf einen Milchkaffee verzichten», rechnet der EKFF-Präsident Jürg Krumme-nacher. Er ist überzeugt, dass das Geld gut investiert ist: Neben der Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördere diese Massnah-me auch die Wirtschaft. Eine Studie habe jüngst gezeigt, dass bei den deutschen

Arbeitskräften in der Schweiz genau eine Gruppe untervertreten sei, erklärt Krum-menacher: «Hochqualifizierte in ihren 30ern mit zehn Jahren Berufserfahrung.» Also eine, auch auf dem Liechtensteiner Arbeitsmarkt, begehrte Zielgruppe.

Kein Karriereknick durch Einsatz der VäterIn Deutschland haben beide Elternteile Anrecht auf eine bezahlte Elternzeit; sie erhalten bis zu 67 Prozent ihres Nettoein-kommens – und dies steuerfrei. Teilen sich Mann und Frau den Urlaub, gibt es zwei Monate mehr. Das ist ein Standortvorteil im Kampf um Talente, bei dem Liechten-stein nicht mithalten kann. Österreich kennt ebenfalls flexible Modelle, in denen Eltern Erziehungsgeld erhalten und bis zu

zwei Jahren Karenzzeit nehmen können.Ein bezahlter Elternurlaub wäre auch in Liechtenstein ein wichtiger Schritt für eine weitere Gleichstellung der Geschlechter; vorausgesetzt es würde gelingen, dass Väter tatsächlich Urlaub beziehen. Beide Eltern-teile könnten die bereichernde Erfahrung einer intensiven Betreuungszeit machen. Ebenso würde sich bei einer Aufteilung die Zeit, in der normalerweise Mütter aus-serhalb des Berufsprozesses stehen, verkür-zen. So würden beide Geschlechter nicht in Gefahr laufen, den gefürchteten Baby-karriereknick zu erleiden. Ein bezahlter Elternurlaub könnte ausserdem dazu bei-tragen, die momentan schwierige Situation in der ausserhäuslichen Kinderbetreuung zu überbrücken. (Siehe S. 4)

Leitartikel

unbezahlter Urlaub in Wochenbezahlter Urlaub in Wochen

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Vaterschaftsurlaub im Vergleich: Liechtenstein und die Schweiz gleich 0.

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Heinrich Kieber und mein Bruder be-suchten die gleiche Primarschulklasse in Schaan; so war Heinrich gelegentlich bei uns im Malarsch zu Gast. Ich glaube mich an einen Hauch Melancholie um ihn zu erinnern, auch an den Eindruck von all-gemeiner Nachsicht ihm gegenüber, unge-wöhnlich in der sonst eher ungeduldigen Kinderwelt; Heinrich war än Arma, weil er im Kinderheim oben am Dorfrand wohnte; das war Schicksal, dafür konnte er nichts, deshalb die Nachsicht.

Später liefen wir uns gelegentlich über den Weg; dann war jeweils Welt um ihn; dass er viel Zeit im auch weit entfernten Ausland verbrachte, entsprach der Unru-he, die an ihm wahrzunehmen war. Er er-innerte mich damals an einen bestimmten Typ junger Männer: nach dem Verlassen des Herkunftsortes mit sprunghaften Such-bewegungen in der weiten Welt unterwegs, ein wenig eigen oder eigensinnig, sympa-thisch in der Offenheit für Chancen und Zufälle, auch mit einem Leuchten, wie es ein Leben im Unterwegs schenken kann.Dann, nach der Jahrtausendwende, ein zu-fälliges Treffen auf dem Gersterparkplatz in Vaduz; er sprach von Entführung und Geiselhaft in Südamerika, zeigte Narben am Handgelenk; stossweises, am Zuhörer gänzlich uninteressiertes Erzählen; der Schock im System liess ihn dunkel und dichter wirken; mir leuchtete ein, dass man das am besten in der Heimat auskurierte, auch der ausgewurzelte Heinrich. Er such-te damals Arbeit.

2008 dann der Knall, Heinrich fast überall, nicht in persona, sondern auf Fo-

Kolumne

und Finanzplatz garantieren den Staat Liech-tenstein.

Aus diesem Dogma lassen sich die Glau-benssätze ableiten, die unsere kollektiven Entscheidungen lange beeinflusst haben, etwa das aus der Verzweiflung der Verfas-sungsdiskussion geborene «Ohne Fürst sind wir nichts» oder der fiskalisch moti-vierte Satz, dass sich die Industrie hier nur mit dem Standortvorteil Finanzplatz halten könne.

Das Dogma als stumme Übereinkunft ist präzise, allerdings nicht in der Beschrei-bung der realen Verhältnisse, sondern in der Abbildung der empfundenen Abhän-gigkeiten. Dass die eine souveräne Hälfte – das Volk – und ganze volkswirtschaftliche Bereiche wie Industrie und Gewerbe in dieser Grundannahme ausgeblendet oder nur in Ableitung gesehen werden, zeigt wie verzerrt diese Wahrnehmung ist.

Was nun die Monarchie angeht, so stammt eine der bemerkenswertesten Ein-sichten von einem australischen Anthropo-logen, der während der Verfassungsdiskus-sion meinte, das Volk äussere und verhalte sich so, als wäre es zu Gast im Staat der Familie Liechtenstein. Auch der Umkehr-schluss scheint zu stimmen: Fürst und Stell-vertreter äussern und verhalten sich so, als seien sie die Hausherrn. Interessant daran ist zweierlei: Was zum einen Dienstalter, Ortskompetenz und Bodenbesitz betrifft, müsste obige Rollenverteilung umgekehrt sein – die Familie Liechtenstein ist hier zu Gast, nicht das Volk. Zum anderen lohnt sich der Blick auf den Status des Gastes: Man hat als Gast zwar wenig Rechte, aber

tos, hässlichen Fotos, die zu beweisen hat-ten, was man kaum glauben konnte: Hein-rich als ganz böser Bube, der Kieber als Verbrecher. Er hatte Arbeit gefunden.

Manchmal denke ich an ihn, frage mich, wie es ihm wohl gerade geht, er, der jetzt wie der von Robert de Niro gespiel-te Gangster Mc Cauley in Michael Manns Film «Heat» nach der Devise zu leben hat: «Don’t get attached to anything you can’t walk out on in 30 seconds flat» – Binde dich an nichts, was du nicht innerhalb von 30 Sekunden hinter dir zurücklassen kannst. Dann frage ich mich, wie er sich wohl sieht, er, der wie keiner meiner Generation die-ses Land verändert hat, auch er, dem Sebas-tian und Sigvard in Film und Buch all die Masken abgenommen haben, er, der die Deutungshochheit über sich und sein Le-ben verloren hat.

Das Nachdenken über Heinrich ist un-gezielt, ich fahre die obigen Stationen der Erinnerung ab, komme weder zu Einsich-ten noch zu Schlussfolgerung; was bleibt ist das Gefühl, dass er dazugehört, auch wenn ihn das Kollektiv verstossen hat, er sich um den Planeten zappt; Heinrich gehört dazu, wie sie alle dazugehören, die Verlorenen, die Verräter, die Verbrecher.

Seine Tat hinterlässt Spuren: Neben dem volkswirtschaftlichen Flurschaden ist auch ein lange gültiges fürstlich-liechten-steinisches Glaubenssystem implodiert, durch schlichten Gegenbeweis der Wirk-lichkeit.

Dieses Glaubenssystem beruhte auf einer diffusen Grundannahme, die man vielleicht so formulieren könnte: Monarchie

Im Jahr 4 nach KieberText Stefan Sprenger, [email protected]

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WEISS – Magazin der Freien Liste – 02/12 – 15

auch kaum (Staats-)Pflichten. Es war in den Jahrzehnten des Wachstums wohl eine grosse Verlockung, den Staat in die Hän-de des Fürsten zu delegieren, um sich mit Hingabe der eigenen Wohlstandsmehrung widmen zu können – besonders dann, wenn der Monarch die Rolle des Haus-herrn für sich auch in Anspruch nimmt.

Eine ebenso spezielle Verhaltenswirk-lichkeit lässt sich in unserem Umgang mit dem Finanzplatz, besonders dem lange dominierenden Treuhandgeschäft feststel-len. Man benahm sich zum einen so, als geschähe das Ganze in einer fernen Kolo-nie, um die man sich kaum zu kümmern habe, und deshalb an allen in jener Ferne begangenen – nennen wir es einmal – Re- gelverstössen unschuldig sei. Zum ande-ren aber hatte man mit dem Beschweigen der Finanzgeschäfte als Bürgerpflicht eine Komplizenschaft an dieser Form der wun-dersamen Geldvermehrung akzeptiert. Man fand sich hier in der Rolle des bezahl-ten Ignoraten, der die indirekten Vorteile dieses Geschäfts nutzen und geniessen kann, ohne dafür Verantwortung zu über-nehmen - die bleibt beim Treuhänder, der stellvertretend in den ausländischen Medi-en gescholten oder gar gerichtlich belangt wird.

Die Rolle des Monarchie-Gasts und die des bezahlten Treuhand-Ignoranten ver-stärkten sich gegenseitig, sowohl in der Verweigerung der Verantwortung als auch in der Zunahme der Erpressbarkeit. Der Rückfall in die tiefe Monarchie und der Zu-sammenbruch des Treuhandgeschäfts wa- ren weder historische Notwendigkeiten noch Akte Einzelner, sondern Folgen der eigenen, bequemen Rollenbilder im Staat, Folgen des Dogmas, dass Monarchie und Finanzplatz den Staat garantierten.

Ich bin erleichtert, dass diese stumme und manchmal sehr erpresserische Form des liechtensteinischen Staatsglaubens an der Realität zerbrochen ist.

Die Familie Liechtenstein hat die haus-gemachte Affäre Kieber nicht nur nicht ver-hindert, sondern hat auch ihre Ausweitung zum Flächenbrand bewirkt. Das fürstliche Eigenlob der jahrhundertealte Erfahrung entpuppt sich als eigennütziges Herr-schaftswissen, das vor allem der politischen und ökonomischen Rangsicherung des Hauses dient; staatlicher Kollateralscha-

Man hat zu schliessen, dass der Finanzplatz nicht den Staat, sondern seine eigene ver-kommene Form garantieren wollte.

Es ist nun, am Ende angekommen, die Gelegenheit, die vielen, durch das massive und rapide Geld bewirkten Veränderun-gen zu begreifen. Die Bilanz nach einem halben Jahrhundert Finanzsause wird ge-mischt ausfallen, immerhin gemischt; man reibe sich die Augen und suche sich im Spiegel zu erkennen, nicht alles ist schön, nicht alles ist hässlich. So also ist man nun im Jahr 4 nach Kieber angekommen.

Das lang Befürchtete, der Auszug der Gelder, ist bereits geschehen. Das immer Geglaubte, die Errettung durch das Fürs-tenhaus, ist nicht eingetreten. Nichts und niemand hat uns vor uns selbst geschützt. Im Hintergrund rumoren noch die steine-ren Gäste, die Unzeitigen, Schlafbefange-nen. Sie werden leiser werden, dann ver-stummen.

Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten. Von hier und von jetzt aus kann man in Freiheit weitermachen.

Und vielleicht wird auch Heinrich ir-gendwo auf dieser Welt den Frieden mit sich und seiner Herkunft finden.

den wird als «peanuts» abgetan. Glänzend auch Max v.L., der sich im SZ-Interview vom 21.2.12 mit der Bemerkung entschul-det, man habe das Risiko unterschätzt, dass Leute das Liechtensteiner Bankgeheimnis ausnutzten, um Steuern zu hinterziehen. Da lachen ja die Goldkehlchen.

Man hat zu schliessen, dass die Monar-chie nicht den Staat, sondern die Macht des Hauses Liechtenstein garantiert. Will man die Monarchie, so schütze man sie vor dem Fürsten. Das aber tue man als Mitei-gentümer des staatlichen Hauses.

Ach ja, und wenn Sie jetzt fürchten, dass der Blitz Sie treffe, weil Sie Obiges gelesen haben, dann hat der Gast in Ihnen noch das Sagen.

Ähnlich desillusioniert – oder vielleicht besser: entschlackt – steht man jetzt auf dem Finanzplatz und schaut sich die Trüm-mer an. Das, was uns alle das Fürchten lehren wollte und wohl auch gelehrt hat, ist geschehen: Die Gelder sind weg. Und im Coop gibt’s trotzdem noch Wasabinüss-chen und im Malbun Schnee. Auch der Staat existiert noch. Natürlich drängen sich Veränderungen auf, wenn man die Milliön-chen nicht einfach mehr abbrennen kann, sondern sich darüber zu verständigen hat, wie und wo sie mit Sinn verwendet werden. Es ist das bezahlte Ignorantentum, das den Staat nachhaltig und längerfristig schädigt, nicht die exakte Budgetdiskussion. Bürge-rinnen dürfen und sollen an ihrem Staat mitdenken und mitsprechen, anstatt seine Geheimnisse zu wahren; nur so ist nach einer Politik der nationalen Bereicherung auch eine Politik der Werte glaubhaft und machbar.

Kolumne

Will man die Monarchie, so schütze man sie vor dem Fürsten.

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16 – WEISS – Magazin der Freien Liste – 02/12

Kommentar

Damit unser Wort etwas wert ist

Text Helen Konzett Bargetze, [email protected]

Revolutionäre Forderungen? Ist gar die Monarchie in Gefahr? Kürzlich wurde die Volksinitiative «Ja – damit deine Stimme zählt» zur Vorprüfung bei der Regierung eingereicht und die öffentliche Diskussi-on eröffnet. Im Herbst werden wir darü-ber abstimmen können. Ein Blick auf den Vorschlag zeigt seinen gut durchdachten, einfach verständlichen Inhalt. Keine Spur von Revoluzzertum. Die Initiative begegnet massvoll und klug einer demokratischen Schwachstelle unserer 2003 eingeführten Verfassung und behebt sie: das Vetorecht des Fürsten gegen jedes neue Gesetz, sogar gegen eines, das im hypothetischen Fall von gut 19‘000 Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern unseres Landes gutgeheis-sen wird.

Inhaltlich geht es um folgenden Än-derungsvorschlag: Wird ein Gesetz durch eine Volksabstimmung legitimiert, weil die Mehrheit ihm zustimmt, soll künftig auch das Fürstenhaus diesen Entscheid respek-tieren müssen. Bei dieser Initiative geht es um eine kleine, aber wichtige Stärkung unserer Volksrechte und der direkten De-mokratie, die wir immer so hochhalten. Gestärkt soll auch unser vielbeschworenes Selbstbestimmungsrecht werden.

Mit diesen beiden fundamentalen Werten unserer Verfassung hat das Fürs-tenhaus im letzten Jahr gezünselt, dass die Funken nur so stoben. Uns, dem Stimm-volk wurde vier Wochen vor der Abstim-mung «Hilfe statt Strafe» eingetrichtert,

dass unser Stimmrecht nicht das Papier wert war, das für den Druck der Abstim-mungsunterlagen versandt wurde. Ohne die fürstlichen Drohungen hätte Liechten-stein heute wohl eine Fristenregelung. Die Betroffenen würden ernst genommen und ihr Entscheid respektiert.

Mit der Initiative nicht angetastet wird die Veto-Möglichkeit des Fürsten bei Ge-setzen, die vom Landtag beschlossen wer-den. Im Fall eines fürstlichen Vetos soll der Landtag künftig eine Volksabstimmung an-beraumen, so dass das Volk abschliessend entscheiden kann, ob das Gesetz in Kraft tritt oder nicht.

Sachlich gibt es keine Argumente ge-gen die Verfassungsinitiative. Das letzte Wort soll das Volk haben. Deshalb verdient die Verfassungsinitiative unsere Unterstüt-zung. Oder um es mit den Worten von Carl Friedrich von Weizsäcker (geboren 1912) zu sagen: Demokratie heisst Entscheidung durch die Betroffenen. Im Jahr 2012 ei-gentlich eine Selbstverständlichkeit, oder nicht?

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WEISS – Magazin der Freien Liste – 02/12 – 17

Mein liebster politischerGegner: Christian Batliner

Text Pepo Frick, Landtagsabgeordneter der Freien Liste, [email protected]

Christian Batliner ist einer meiner liebsten politischen Gegner. Er ist ein Klardenker, der sich zuerst mal die Strukturen anschaut, bevor er sich äussert. Das hat wahrschein-lich mit seinem Beruf als Jurist zu tun: Christian ist sachlich. Er ist grad und sicher nie anbiedernd. Andererseits kann er auch sehr gut Emotionen zeigen. In einer GPK (Geschäftsprüfungskommmission)-Ange-legenheit im Landtag hat es ihm einmal richtig die Stimme verschlagen. Das passt scheinbar nicht zu seiner analytischen Art und Sachlichkeit. Als Politiker zeichnet ihn diese Emotionalität aber aus.

Er ist innerlich beteiligt. Wenn ich sei-ner Ansicht nach völlig daneben gestimmt habe, kann er auf mich zukommen und nach meinen Gründen fragen. Umgekehrt mache ich das auch bei ihm. Das kann

Christian weiss es. Mit seiner klaren Art zu analysieren ist er auch ein Vordenker. Ich denke etwas mehr quer, er schaut sich zu-erst den Ist-Zustand genau an.

Ist Christian ein Parteipolitiker? Ich würde ihn sofort für die Freie Liste rek-rutieren, würde ihn aber noch im Thema Umweltschutz trimmen. In sozialen The-men ist er ohnehin sehr oft der gleichen Ansicht wie ich: Er hat flammend gegen die massive Kürzung der Gelder für die «Inter-nationale Entwicklungs-Zusammenarbeit» argumentiert. Er spürt, dass es in dieser Welt sehr ungerecht zu und her geht. Ich gehe davon aus, dass er auch in Fragen der Verteilungsgerechtigkeit in Liechtenstein auf Seite der Benachteiligten steht. Wie er seine Haltung und Werte im Programm seiner Partei unterbringt, weiss ich nicht. Vermutlich tut er sich wie viele Parlamen-tarierInnen nicht immer leicht im Span-nungsfeld zwischen eigener Meinung und Parteiloyalität.

dann etwa so tönen: «Also so kannst du das nicht bringen.» Ich kann seinen Stand-punkt nicht immer verstehen, aber ich ak-zeptiere ihn letztlich doch.

Christian hat die Fähigkeit, auf Leute zuzugehen und ihnen zuzuhören. Das ver-bindet mich als Arzt mit ihm, dem Juristen. Auch nimmt er das Politik-Business sehr ernst, er kommt praktisch nie unvorberei-tet. Wenn doch, glaube ich das sofort an der Art zu merken, wie er in seinen Papie-ren wühlt. Er lässt sich voll ein, das verbin-det uns. Ich wünsche ihm, dass er gesund bleibt. Die guten Leute verbrauchen sich schneller, die wenig engagierten seltener.

Als Chef der Geschäftsprüfungskom-mission ist es ihm wichtig, dass sich Regie-rung und Landtag in einem Machtgleich-gewicht befinden. Gerade als Jurist ist er sich bewusst, wie Exekutive und Legislative zusammenspielen müssten. Er realisiert schmerzlich, dass sich die Regierung im Gegensatz zum Landtag immer mehr or-ganisiert und professionalisiert. Die Regie-rung sieht den Landtag öfters nicht mehr als gleichwertigen Partner an. Christian setzt sich für gleiche Augenhöhe mit der Regierung ein. Er sehnt sich nach einer echten Reform der Landtags-Geschäfts-ordnung, nach einem professionellen Un- terbau und einer starken Führung der In-stitution Landtag. In der Auseinanderset-zung Exekutive gegen Legislative weiss ich als Mediziner oft gar nicht, wo ich ansetzen muss, um der Regierung Paroli zu bieten.

Meinung

Liebster Gegner

Die Serie «mein liebster politischer Gegner» soll zeigen, welche Gemein-samkeiten und welcher gegenseitige Respekt trotz oft weltanschaulicher Differenzen zwischen Schwarz, Rot und Weiss da sind.

Christian Batliner – innerlich beteiligt, analytisch und schwarz.

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18 – WEISS – Magazin der Freien Liste – 02/12

Text Barbara Jehle, [email protected] Illustration Jürgen Schremser

Eine Durchschnittsperson in Liechten-stein verbraucht ungefähr 7500 Watt pro Jahr. Das entspricht dem Verbrauch von 75 Glühbirnen à 100 Watt, die konstant bren-nen. Liechtenstein ist also 5500 Watt vom Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft entfernt. Die Emission von Treibhausgasen liegt bei über 7 Tonnen. Ziel der 2000-Watt-Gesell-schaft ist es auch, die Klimagase zu redu-zieren – auf eine Tonne pro Kopf und Jahr. Einige Energiestädte, darunter auch Plan-ken, wollen diese Ziele in den nächsten 40 Jahren erreichen. Das klingt ambitiös, ist aber nach Studien von ForscherInnen der Eidgenössischen Hochschule Zürich (ETH) ein erreichbares Ziel.

In Liechtenstein gibt es bisher sieben Energiestädte, die sich verpflichtet haben, nachhaltige Energie zu fördern und Ener-gie einzusparen und so auf dem 2000-Watt-Pfad zu gehen. In der Schweiz und Liech-tenstein sparen bereits 200 Energiestädte gemeinsam mit 4 Millionen EinwohnerIn-nen 80 Millionen Kilowattstunden Strom pro Jahr. Das entspricht dem Bedarf einer mittelgrossen Stadt. Mit der Installation von Photovoltaikanlagen und der Sanie-rung von kommunalen Gebäuden ist es aber noch nicht getan.

Alle müssen auf den Weg«Der Weg in die 2000-Watt-Gesellschaft kann auch in Liechtenstein nur mit kleinen Schritten aller und mit Umdenken statt-finden», ist Andrea Matt von der «Liech-tensteinischen Gesellschaft für Umwelt-schutz» (LGU) überzeugt. «Wir müssen uns auf den Weg machen und auch Stol-persteine überwinden. Es lohnt sich. Was für die Umwelt gut ist, tut auch uns gut und spart Geld.»

Andrea Matt empfiehlt, nicht von heu-te auf morgen gleich alles umzustellen, sondern einen kleinen Schritt nach dem

Schritte und Stolpersteine auf dem 2000-Watt-Pfad

Energie

pen. «Wenn jemand viel mehr einkauft, als er verbraucht – weil’s ja Bio ist, verbessert die Bilanz auch nicht.» Es ist schade, dass heute etwa ein Drittel der Lebensmittel unausgepackt im Müll landen.

Es ist mittlerweile Allgemeinwissen, dass eine Flugreise etwa doppelt so viel Energie braucht wie eine Autofahrt. Wer bewusst darauf verzichtet, mit dem Flug-zeug nach Sardinien in die Ferien zu flie-gen, der sollte aufpassen, dass er/sie nicht der laut Matt «allzumenschlichen» Idee verfällt, sich dafür anderswo mal richtig zu belohnen (Licencing-Effekt). Und anstelle des kurzen Fluges mit dem Auto eine viel längere Rundreise durch Europa macht, nach dem Motto: Ich habe für heute meine gute Tat gemacht, dafür darf ich mir einen anderen Wunsch erfüllen. Energiebewusst leben heisst, sich selbst genau beobachten, die Gesamtbilanz im Auge haben und ehr-lich sein.

anderen zu gehen und den Lebensstil ständig zu verbessern. Dabei sei es wichtig, den persönlichen Konsum zu überdenken, ohne sich selbst etwas vorzumachen.

Ein Beispiel: Alle wissen mittlerweile, dass Elektrogeräte Stromfresser sind. Des-halb entscheiden sich immer mehr Men-schen für «Triple A» Kühlschränke, kaufen dann aber einen richtig grossen Kühl-schrank, so dass das neue, grössere Gerät etwa gleich viel Energie verbraucht wie das alte, kleinere. «Man hat dann zwar das Gefühl, etwas fürs Klima getan zu haben, aber der Effekt ist verpufft», sagt Matt. Man nennt dies «Rebound-Effekt». Rebound be-deutet Englisch Abprall: Das Einsparpoten-tial prallt ab, weil die Gesamtenergiebilanz beim Konsumentscheid nicht kalkuliert wird. Beim Wohnen und bei Haushaltge-räten werden momentan durchschnittlich 1800 Watt pro Jahr und Kopf verbraucht, das Ziel sollte 500 Watt sein. Das lässt sich nur durch sparsame Geräte und durch gute Dämmung von Häusern und Neubau-ten mit Minergie-P Standard erreichen. Aber auch beim Bauen gilt «Angemessen-heit»: Wer sich ein Minergie-P Haus baut, das aber riesig, spart nichts ein. Einberech-net werden muss nicht nur der Energie-verbrauch des Hauses, sondern auch die Graue Energie, die im Haus steckt.

Der Einspar-dann-Klotzen-Effekt30 Prozent der Umweltschäden entstehen durch die Ernährung: Biologische Pro-dukte schädigen die Umwelt weniger als nicht biologisch hergestellte Lebensmittel. Die landwirtschaftliche Produktion bean-sprucht viel Energie, Nährstoffe und Was-ser. Fleisch ist besonders energieintensiv: ein Kilo Fleisch benötigt in der Produk-tion zehnmal mehr Energie als ein Kilo Nudeln. Aber auch wer Bio und regional kauft, kann in die Wahrnehmungsfalle tap-

Energiesparen belohnen

Wer Energie spart, soll unterstützt werden; wer viel Energie braucht und Schadstoffe ausstösst, soll mehr zahlen. So kann aus Sicht der Freien Liste Liechtensteins 2000-Watt-Pfad politisch unterstützt werden. Sie forderte daher erfolgreich eine Ver-knüpfung von Wohnbauförderung mit strengen Öko-Standards. Im Verkehr wird sie sich in diesem Jahr für eine ökologische Motorfahrzeugsteuer einsetzen: Autos mit hohem Benzin-verbrauch, die mehr Schadstoffe aus-stossen, sollten stärker besteuert werden als sparsame Autos.

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Energie

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Eins schon vorweg – die Arbeit im Schel-lenberger Gemeinderat macht Spass! Die Stimmung im Gemeinderat ist gut und die Arbeit wird meist nicht parteipolitisch an-gegangen.

Ein Grossteil der Sitzungen besteht in der Vergabe von Aufträgen sowie Genehmi-gungen von Rechnungen für vergebene Ar-beiten. Mit dem Vergabegesetz als Basis für diesen Vorgang gibt es dabei keine grossen Diskussionen. Werden die Kosten einer ge-planten Arbeit höher als 100‘000 Franken geschätzt, muss sie öffentlich ausgeschrie-ben werden. Den Zuschlag erhält die Of-ferte, welche am wirtschaftlichsten ist – also am günstigsten.

Spannende GrossprojekteSpannend wird es, wenn es um Grund-

satzentscheide geht, auch wenn sie manch-mal nicht einfach sind. Viele Entscheide ziehen sich über die Mandatsdauer eines Gemeinderates hinweg. Grossprojekte, wie die Sport- und Freizeitzone, oder das Ziel, Energiestadt zu werden, sind noch vom Alt-Gemeinderat beschlossen worden.

Als einer von neun Gemeinderäten kann man als Einzelner nicht viel bewegen. Dennoch ist es möglich, Einfluss auf Dinge zu nehmen, wie Stellung gegen die Strei-chung der Mutterschaftszulage zu bezie-hen, oder das Frauennetz bei der Schaffung einer Ombudsstelle für Chancengleichheit und Menschenrechte zu unterstützen. Et-was beitragen zu können, tut gut.

Gemeinde

Trennung von Kirche und Staat – und die Ge-meinde?Letztes Jahr hat die Regierung endlich ei-nen Vorschlag zur Entflechtung von Staat und Kirche in die Vernehmlassung ge-schickt. Leider hat sie bei der Gesetzesvor-lage bewusst die Entflechtung der Kirche von den Gemeinden ausser Acht gelassen und die Gemeinden so allein gelassen. Ich hätte dem Vorschlag der Trennung von Kirche und Staat gerne zugestimmt, muss-te aber bei der Behandlung des Themas im Gemeinderat gegen die Vorlage stimmen. Beim Amtsantritt leistete ich einen Eid, immer für das Wohl der Gemeinde zu ent-scheiden.

Windkraft im RietIn der heutigen Zeit, in welcher die fossilen Energieträger zur Neige gehen, muss sich auch eine Gemeinde mit der Frage der Energieversorgung beschäftigen. Die Fra-ge, ob sich die Gemeinde Schellenberg zu einem Drittel an den Kosten einer Wind-messung im Riet beteiligt, hat zu einer län-geren Diskussion im Gemeinderat geführt. Der Rat hat sich dafür entschieden, in der ersten Phase einen Kostenanteil von knapp 14‘000 Franken zu übernehmen. Es soll ab-geklärt werden, ob es genug Wind für ein hundert Meter hohes Windrad gibt, mit dem alle Schellenberger Haushalte mit ge-nügend Energie versorgt werden könnten. Moderne Windkraftanlagen werden oft durch das überholte Vorurteil verhindert,

Ein Jahr Gemeinderat in Schellenberg – ein Rückblick

Text Patrick Risch, [email protected]

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WEISS – Magazin der Freien Liste – 02/12 – 21

dass sie laut sind. Mittlerweile ist ein Wind-rad in 300 Metern Entfernung nicht lauter als das Brummen eines Kühlschrankes. Er-freulich ist, dass das Jahr 2011 schon fast als Boomjahr in Sachen Photovoltaik be-zeichnet werden kann: Die in Schellenberg installierten Photovoltaik-Anlagen sind in der Lage, bis zu 340’000 Kilowatt Peak an elektrischer Energie zu produzieren. Diese installierte Leistung deckt den Stromver-brauch von ungefähr 70 sparsamen Haus-halten.

4+3 oder 3+2+2 = Schule?Die Schülerzahlen sind rückläufig. Die Vorgabe der Regierung war klar: Schellen-berg müsse ein Schulmodell präsentieren, um Klassen mit weniger als 12 Kindern zu vermeiden. Der Schulrat hat verschiedene pädagogische Modelle geprüft und dem Gemeinderat Anfang Jahr die zwei favori-sierten präsentiert: Das von der Schullei-tung favorisierte Modell 4+3 und das von der Elternvereinigung bevorzugte Modell 3+2+2. Bei beiden geht es um altersdurch-mischtes Lernen (AdL). Mit dem 4+3-Mo-dell werden die ersten vier Jahrgänge, also der Kindergarten sowie die erste und zwei-te Klasse zusammengelegt. Die Mittelstufe umfasst dann die dritte bis fünfte Klasse. Im Modell 3+2+2 wird der Kindergarten mit der ersten Klasse zusammengelegt und danach jeweils zwei Jahrgänge.

Das Thema hat die involvierten Stellen, also die Schulleitung, den Gemeindeschul-

rat, die Elternvereinigung, das Schulamt und am Rande den Gemeinderat mehr als ein Jahr beschäftigt. Auch bei den Eltern hat die geplante Umstrukturierung zum Teil für heftige Diskussionen gesorgt. Die Entscheidung war schwierig: Im Dezember wurde aber der Gemeinderat darüber in-formiert, dass das Modell 4+3 das Rennen macht. Schlussendlich wird dann die Regie-rung entscheiden, welches Schulmodell in Schellenberg zum Zug kommen soll.

«Ich leistete einen Eid, immer für das Wohl der Gemeinde zu entscheiden.»

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22 – WEISS – Magazin der Freien Liste – 02/12

Wirtschaftswachstum oder Glück?

Das grösste Bruttonationalprodukt bedeutet nicht das grösste Glück für alle. Neben dem Wohlstand ist die Politik auch dem Wohlbefinden und der Chancengleichheit verpflichtet. Könnte das Bruttoinlands-glück auch für Liechtenstein eine zukünftige Messgrösse werden?

Text Barbara Jehle, [email protected]

Das Unbehagen an der Marktwirtschaft wächst, das gilt weltweit genauso wie für Liechtenstein. Aber «was der Wirtschaft schadet», wird in Liechtenstein besonders schnell zum Tabu. Denn «der Wirtschaft schaden» weckt Bilder von einem Liech-tenstein, das bis zum Zweiten Weltkrieg einmal ein mausarmer Agrarstaat war, das Armenhaus Europas. Wer will schon in die-sen trostlosen Zustand zurückfallen? Nie-mand. Aber darüber, was gut oder schlecht für die Wirtschaft ist, kann man auch ge-teilter Meinung sein. Die Wirtschaftskam-mer behauptet, ein bezahlter Elternur-laub wäre der Untergang der Kleinen und Mittleren Unternehmen in Liechtenstein. «Männer» können unmöglich vier Monate ihre Berufstätigkeit unterbrechen. Teure Maschinen können unmöglich vier Mona-te parkiert und nicht genutzt werden. Wie steht es aber mit gut ausgebildeten Frau-en, nehmen wir das Beispiel einer jungen ETH-Bauingenieurin, für deren Studium der Staat eine Million Franken investiert hat? Wenn diese Frau bei einer Mutter-schaft für zwei Jahre zuhause «parkiert» wird, weil in Liechtenstein die Vereinbar-keit von Beruf und Familie schlecht sind, ist das für einen Staat und die Wirtschaft auch ein enormer Verlust an Humankapi-tal. Dazu kommt: Ein Elternurlaub erhöht die Chancengleichheit von Mann und Frau: Auch das ist ein Wert.

Ist «schlecht für die Wirtschaft» auch schlecht für den Staat? Ist es «schlecht für alle»? Oder ist es einfach isoliert betrachtet unbequem für Einzelne? Es stellt sich auch die Frage: Muss die Politik dem Diktat der Wirtschaft folgen? Sind PolitikerInnen in

Kapitalismus Teil 1

Ecke, womit diese oft abgetan wird. Die ersten Ökonomen hielten «das höchste Glück der grössten Zahl» als wirtschaftli-ches Ziel hoch. Doch weil die Ökonomen das Erlebnis nicht messen konnten, hör-ten sie selber auf vom Glück zu reden und erklärten das Geld zum Mass aller Dinge: Mehr Einkommen ist seither besser als we-niger. Ein hohes Bruttonationalprodukt und wirtschaftliches Wachstum zeigt die Zufriedenheit der Menschen in einem Staat. Diese Annahmen seien falsch, em-pören sich neuerdings viele Ökonomen, Psychologen und Gehirnforscher. Sollte Ökonomie tatsächlich die Kunst sein, das

erster Linie verpflichtet, alles zu tun, damit das Bruttonationalprodukt Liechtensteins wächst, oder muss die Chancengleichheit, die Entfaltungsmöglichkeit und die Vertei-lung des Wohlstands für möglichst alle im Zentrum stehen?

Die Glücksintuition ist schwachDie Suche nach einem System, das die Zu-friedenheit einer möglichst grossen Zahl der Menschen in einem Staat garantiert, kommt nicht etwa aus einer radikal linken

Beste aus dem Leben zu machen, dann sind die Menschen nämlich erstaunlich schlecht darin. Menschen zielen mit ihren Entscheidungen oft an der eigenen Zufrie-denheit vorbei. Sie überschätzen beispiels- weise das Glück eines Lottogewinns hoff-nungslos, während sie das Glück durch so- ziale Erlebnisse unterschätzen. Das stellen Nobelpreis-geehrte Forscher wie der Vor-arlberger Verhaltensökonom Ernst Fehr fest. Menschen wählen oft intuitiv das Falsche, genauso wie Politiker intuitiv oft

falsche Entscheidungen treffen. Erforscht wird dies, indem Menschen Minicomputer an die Hand gegeben werden, die mehr-mals täglich piepsen und eine doppelte Eintragung verlangen: ob man sich gera-de glücklich oder unglücklich fühlt und was man eben gemacht hat. Glück wird so wie Geld zu einem messbaren Gut. Diese Glücksökonomie wird langsam auch von PolitikerInnen wahrgenommen.

Das BruttoinlandsglückJigme Singye Wangchuk war der vierte König der Dynastie in Bhutan. Er wurde 1986 in einem Interview gefragt, wie hoch

Muss die Politik dem Diktat der Wirtschaft folgen?

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Kapitalismus Teil 1

das Bruttoinlandsprodukt Bhutans sei. 50 US-Dollar pro Kopf, der König kannte die Zahl, es war die niedrigste weltweit. Er ant-wortete: «Das Bruttoinlandsprodukt inte-ressiert mich nicht. Mich interessiert das Bruttoinlandsglück.» Was nach einer ein-fachen Ausrede klang, steht heute in Arti-kel 9, Absatz 2 der nationalen Verfassung: «Der Staat bemüht sich, jene Bedingungen zu fördern, die das Streben nach Bruttoin-landsglück ermöglichen.» Glück als obers-tes Staatsziel? Die Welt hat das jahrelang belächelt. Dann begann die Finanzkrise, und auf einmal ist der Kapitalismus in Ver-ruf geraten.

Wann geht es einem Land wirklich gut? Wenn die Menschen viel lachen? Wenn sie viel Freizeit haben? Oder doch, wenn ihr Einkommen steigt? Bhutan stellt sich diese Fragen schon lange; andere Länder entdecken sie allmählich. Die westliche Welt sucht nach Alternativen. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy beauftragte den Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stig-litz, eine neue Messmethode für wirtschaft-liches Wachstum zu entwickeln, Grossbri-tanniens Premierminister David Cameron lässt nach einem Glücksindex suchen, und der Deutsche Bundestag hat Anfang dieses Jahres eine Kommission mit dem Namen «Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität» eingesetzt. Ihre Mitglieder sollen heraus-finden, wie man das Bruttoinlandsprodukt künftig um einen Zufriedenheitsfaktor erweitern kann. In Liechtenstein legt die Regierung mit der Agenda 2020 dar, dass sie so handeln möchte, «dass Liechten-stein auch in Zukunft ein Land mit hohem Wohlstand, hoher Lebensqualität und ho-

her sozialer Sicherheit bleibt.» Hohe Le-bensqualität: Wie wird sie in Liechtenstein erforscht?

Das Sozialkapital – ein GlückskapitalDie Regierung hat vor einigen Jahren das Sozialkapital Liechtensteins untersuchen lassen. Die Beziehungen, die auf unter-schiedlichen Ebenen gepflegt werden, sind als Kapital erkannt worden: Denn in Ländern, in denen das Beziehungsgefü-ge auseinander fällt, sei eine Demokratie weniger stabil und die Gewalt steige, er-klärte die Leiterin der Studie, Angelika Hagen, im Jahr 2008. Anders formuliert sind Menschen in nahen Beziehungen einfach glücklicher als andere. Die Sozial-kapitalstudie hat ergeben, dass 59 Prozent der StudienteilnehmerInnen mit ihren persönlichen Nahbeziehungen zufrieden sind, dass aber dennoch eine gewisse Sehn-sucht nach mehr Gemeinschaft spürbar ist. Das Gemeinschaftsleben finde zu we-nig in der Öffentlichkeit statt, daher sollte Kunst und Kultur gefördert werden. Die Bevölkerung wurde auch befragt, in wel-chen Bereichen Liechtenstein besser oder schlechter als die Nachbarländer sei: In

den Bereichen Lebensfreude, Zusammen-halt in der Familie und im allgemeinen Gesellschaftsleben wird die Situation der Österreicher als besser empfunden. Ist es für PolitikerInnen ein Grund, sich Gedan-ken zu machen, wenn LiechtensteinerIn-nen nach eigener Einschätzung weniger lachen als ÖsterreicherInnen (siehe Box)? «Weiss» hat Menschen – die meisten von ihnen haben in irgendeiner Form am Ma-gazin mitgearbeitet – befragt, welche Alter-nativen zum Kapitalismus sie sehen und wo sich die Marktwirtschaft irrt.

«Wachstum oder Glück?» ist der erste Teil der Serie «Was sind die Alternativen zum Kapitalismus». Der nächste Text beschäftigt sich mit «Kapitalismus versus der Wert der Natur». Ideen und kleine Beiträge sind willkommen. Bitte senden an: [email protected]

Wann geht es einem Land wirklich gut?

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Es bräuchte dann weniger soziale Unter-stützung vom Staat. Sozialkapitalistische Ideen fassen langsam auch in Liechten-stein Fuss: Es gibt schon Zeittauschkreise oder die Idee einer Hausgemeinschaft, in der sich Menschen mit ihren besonde-ren Fähigkeiten unterstützen.

Alternative zum Kapitalismus: Das WiederkäuenText Stefan Sprenger, Autor

Hätten wir statt eines einhöhligen Ma-gens einen Wiederkäuermagen mit Pan-sensack, Schleudermagen und Blindsack, könnten wir Gras essen.

Könnten wir Gras essen, wären wir pro Tag mehrere Stunden mit Weiden und Wiederkäuen beschäftigt und zwei-fellos an unbelasteten Böden, sauberem Wasser und genügend Freiflächen inter-essierter als heute. Weil Wiederkäuer we-niger Kriege führen, an Raumfahrt gänz-lich uninteressiert bleiben – jedenfalls solange auf dem Mond kein Gras wächst – und kein Rasenmäherlärm sie plagte, wären wir nicht nur gesünder, sondern zahlten als Wiederkäuerbürger auch weniger Steuern im Wiederkäuerstaat, der mit der fairen Verteilung von Wei-derechten, Import und Export von Heu und Wettervorhersage beschäftigt wäre. Unsere Methanausstösse betrieben viele Mikrobiogasanlagen, mit denen sich wie-der Blockheizkraftwerke zur Strom- und Wärmeerzeugung befeuern liessen. Ganz wichtig aber: Die Geldwirtschaft würde im gemütlichen Rumpeln unserer viel-kammerigen Mägen zu der Kommodität

Ein Staat sollte nutzen, was in den Menschen brenntText Dunja Hoch, Erwachsenenbildnerin

Jeder und jede hat etwas, das er/sie be-sonders gut kann, unabhängig von der Bildung. Dieses Sozialkapital sollte aus-gebaut und besser genutzt werden. Eine Gesellschaft sollte sich zunutze machen, was in den Menschen brennt. Dieses So-zialkapital könnte durch Leistungen ge-tauscht werden: Eine Stunde Computer-Installieren könnte gegen eine Stunde Bügeln vergütet werden. In einem nor-malen kapitalistischen System werden solche Arbeiten nicht gleichwertig ent-löhnt, was eigentlich unfair ist. Durch den Sozialkapitalismus würden sich die Menschen mit ihren Leistungen besser anerkannt fühlen und wären so motiviert und bereit, viel zu leisten. Ausserdem würde somit auch die Gleichstellung ge-fördert.

Schade ist, dass es in unserer Gesell-schaft noch zu wenig Bewusstsein für die sogenannten Soft-Skills, für soziale Fä-higkeiten, gibt. In einer Bewerbung soll-ten diese auch mehr ausgewiesen und berücksichtigt werden. Sie sind genauso wie die Hard-Skills ein wichtiges Kapi-tal. Der Sozialkapitalismus bedingt, dass Menschen ein gutes Gespür haben müs-sen, was sie besonders gut können: Das sollte schon in der Schule mehr entwi-ckelt werden. Im heutigen Schulsystem kriegen die SchülerInnen vor allem mit, was sie nicht können, wo sie noch Schwä-chen haben. Das ist schade. Ich glaube, wenn sich Menschen ihrer Fähigkeiten bewusst sind und diese anerkannt wür-den, würden sie sich auch mehr gegen-seitig unterstützen und sich engagieren.

schrumpfen, die sie einmal war, näm-lich den Tauschhandel zu vereinfachen. Nachteil der menschlichen Wiederkäu-erexistenz: Die Rindvieher würden’s nicht so mögen, wenn sie uns am frühen Morgen schon an ihren angestammten Plätzen am Grasen fänden.

Fazit: Anreize für die Gastro-Pro-thetik-Forschung schaffen, so dass man in ein paar Jahren einen einbaubaren Pansen zur Verfügung hat, tägliches Aufwürgtraining und Studien zur tiefen-psychologischen Wirkung der einzelnen Kleesorten – gerettet wäre das Abend-land.

Mehr Reglementie-rung, bessere Infra-struktur für FamilienText Nancy Barouk-Hasler, Pädagogin

Naja, Bhutan ist eines der ärmsten Länder der Welt ... da ist es leicht ein Glückssozial-produkt einzuführen. Ich bin keine Exper-tin – ich habe zwar mal «Das Kapital» lesen müssen; ganz Unrecht hatte der alte Marx wohl nicht. Welche nicht-kapitalistischen Ideen wären in Liechtenstein tatsächlich umsetzbar? Ein Bedingungsloses Grund-einkommen wäre in Liechtenstein als Ex- periment wohl umsetzbar, aber wegen dem Neidfaktor nicht durchsetzbar. Was der Staat in Liechtenstein aber Antikapi-talistisches umsetzen könnte: Besteuerung von Mieteinkünften, starke Reglementie-rung der Banken (haha), Herkunftsnach-weis über Produktionsstätten bei Textilien, wie dies in der EU geplant ist. Eine Frauen-quote verpflichtend einführen, ebenso ein Recht auf Teilzeitarbeit (wie in Deutsch-

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land). Eine Offenlegung von Parteienfi-nanzierung (wie in Deutschland).

Ich wünsche mir eine familienfreund-liche Politik. Das heisst für mich, dass es möglich ist, Familienleben und Beruf gut unter einen Hut zu bringen. Eine entspre-chende Infrastruktur soll vorhanden sein: ausreichend qualitativ gute Kinderbetreu-ungsangebote, überbrückende finanzielle Unterstützung bei einer «Babypause» und ausreichend Teilzeitarbeitsmöglichkeiten für Männer und Frauen.

Gerechtigkeit zum zentralsten Anliegen machenText René Hasler, Gruppenleiter in einer beschützenden Werkstatt

Eine Alternative zum Kapitalismus? Haben wir die, als Kleinstaat eingebettet in andere kapitalistische Staaten? Was wir aber tun könnten, da wir uns ja zu einer Solidarge-meinschaft bekennen (was ich mal anneh-me): Gerechtigkeit zu unserem zentralsten Anliegen machen. Eine 100-prozentige Gerechtigkeit wird es nicht geben, es wird immer Privilegierte und weniger Privile-gierte geben. Der Staat könnte mit dem Kapital, das er durch Steuern einnimmt, für Umverteilung sorgen. Besitzende und Gutverdienende höher besteuern und mit diesem Geld die individuelle Freiheit der schlechter Verdienenden fördern.

In Liechtenstein können sich sehr wahrscheinlich immer weniger Familien ein sorgenfreies Leben leisten. Das ist ein grosses Problem. Die individuelle Freiheit, sich gesund zu ernähren, sein Potential zu entfalten, seine eigenen Lebenspläne zu verwirklichen, sich neue Fähigkeiten anzu-

eignen, am gesellschaftlichen, sportlichen und kulturellen Leben teilzunehmen usw. wird dadurch massiv eingeschränkt. Leider hetzt unser Staat vor allem dem Geld nach, das hat sich ja bei der Casinofrage gezeigt. Es stellt sich für mich die Frage, ob man tatsächlich das Wachstum forcieren muss, oder ob man einfach die Arbeitsplatzzahl erhalten kann. Die Frage, ob unser Staat dem Kapital dient oder umgekehrt, kann man sicher stellen. Aber auch die Frage, wer soziale Gerechtigkeit bezahlt, ist be-rechtigt. Ich weiss, Steuererhöhungen sind nicht gerade ein tolles Thema. Aber ich bin überzeugt, dass wir das Kapital und höhere Erträge höher besteuern müssen, damit der Staat Steuerungsmöglichkeiten erhält und für einen gerechten Ausgleich der finanziellen Mittel und Leistungen sorgen kann.

Der Kapitalismus muss zivilisiert werdenText Jürgen Schremser, Historiker und Illustrator

Ich bin skeptisch, ob es Sinn macht, nach einer Alternative zu «dem» Kapitalismus zu suchen. Das Zusammenwirken von in-dustrieller Produktion, internationalem Handel und Massenkonsum scheint mir notwendig an ein entwickeltes System der Kapitalversorgung und –anhäufung gebunden. Ich bin aber überzeugt, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als nach Alternativen innerhalb des prakti-zierten Kapitalismus zu suchen. Es gibt eben nicht nur den einen Kapitalismus. Gerade erleidet die Kapitalismus-Variante einer hemmungslosen Deregulierung spe-kulierender Finanzmärkte katastrophalen

Schiffbruch, indem sie Währungen de-stabilisiert, Staaten in den Abgrund reisst und eine der wichtigsten Errungenschaf-ten nach dem Zweiten Weltkrieg gefähr-det: sozialer Friede durch sozialstaatliche und steuerliche Ordnung der freien Wirt-schaftstätigkeit. Der freie, kapitalgesteu-erte Markt ist ein effizientes Mittel, um Waren herzustellen und in Umlauf zu brin-gen. Aber er ist gleichgültig gegenüber den Inhalten eines zivilisierten Zusam-menlebens. Diese Gleichgültigkeit macht einerseits die Stärke des Kapitalismus aus, der buchstäblich alles in handelbare Wa-ren verwandeln kann, ob Schuhe, Waffen oder Menschen. Eben darum sind wir als GesellschaftsteilnehmerInnen aufgefor-dert, diesem Wirtschaftssystem Regeln vor-zugeben. Regeln, die sicher stellen, dass der Wert eines Menschen nicht allein von seiner Arbeitskraft und von Angebot und Nachfrage bestimmt wird, und die Gewähr geben, dass auch die Randzonen einer Gesellschaft – ob diese nun geographisch oder sozial verstanden werden – mit Zivi-lisationsgütern versorgt werden, etwa mit Bildung, Wohnung und Gesundheit.

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Neue Banker braucht das Land – und die Oberschule

Text Hans-Egon Grindle, [email protected]

gehören könnten. Das ist ja irgendwie auch unfair, oder nicht? Ebenso unfair wie der spätere Selektionszeitpunkt. Unsere Kinder haben das Recht, möglichst früh zu erfahren, ob sie den gesellschaftlichen An-forderungen künftig genügen oder nicht. Wer nicht gut in Mathe und Deutsch ist, der kann unser Land einfach nicht in dem Masse vorwärtsbringen, wie wir das brau-chen. Liechtenstein soll schliesslich wieder das werden, was es dereinst war: das Land, wo Milch und Honig fliesst. Auch daran hätte man übrigens nie rütteln dürfen. Es hat doch vorher alles bestens geklappt. Jedenfalls brauchen wir wieder Banker, Ökonominnen und Juristen mit fundier-tem Wissen und Weitblick, da muss Fleisch am Knochen und graue Masse im Hirni sein. Und diese Gaben sind halt nicht al-len in die Wiege gelegt, deshalb ist eine Erhöhung der Maturandenanzahl einfach illusorisch. Dazu noch dezentralisiert. Das fehlte grad noch, dass die Unterländer auch ein Gymnasium bekommen. Alles hat seine Zeit und alles hat seinen Platz. Also: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Apropos Schuster: Das Handwerk braucht ja auch Leute, wer sonst würde die in der Zukunft so dringend gebrauchten Büro- und Bankgebäude mauern und pinseln, wer den Vorplatz zum Casino pflastern und den Erweiterungsbau des aus allen Nähten platzenden Gymnasiums realisie-ren? Dass es auch in diesen Berufszwei-gen für die OberschülerInnen eng werden

könnte, mag ja sein, aber auch die Ferti-gungsindustrie ist dringend angewiesen auf Hilfskräfte, für die es zu einer Lehre nicht gereicht hat. Sonst ist bald Schluss mit Besseressen. Es sei denn, wir bezie-hen Convenience-Food und Zahnersatz künftig aus dem Ausland. Als ob der Fach-kräfteimport nicht schon reichen würde. Die waren wahrscheinlich einfach besser in Mathe und Deutsch, die Fachkräfte, ob-wohl man sich erzählt, dass firmenintern nur Englisch gesprochen wird. Das wider-spricht eigentlich dem Integrationsleitbild der Regierung, aber in dieser Sache muss man ein Auge zudrücken, denn meist sind das ja nicht wirkliche AusländerInnen, weil erstens gutverdienend und zweitens dürfen die meisten eh nicht im Land woh-nen. Aber das ist ein anderes Thema.

Allmorgendlich, wenn sich Liechtenstein und das halbe angrenzende Ausland auf den Weg zur Arbeit machen, beschleichen sie mich wieder, diese diffusen Gefühle. Dafür gibt es viele Gründe, doch seit ich das Interview mit dem abtretenden Schul-amtsleiter Guido Wolfinger gelesen habe, kriege ich Gedanken zu einem Thema nicht mehr aus dem Kopf, von dem ich gehofft hatte, es sei endgültig abgehakt. SPES I. Wurde das nicht zum Unwort 2009 gekürt? Noch heute frage ich mich, wel-chen Teufel Hugo Quaderer und Konsor-tium damals geritten hat. Schulreform! Immer an allem rütteln, was sich bewährt hat. Und was das wieder gekostet hat. Gut, dass bei uns die Demokratie noch funktio-niert und das Volk, also die Liechtensteine-rInnen, zumindest die, die im Land leben, der «Hirngespinstewerkstatt SPES I» einen Riegel geschoben haben. Im Notfall hät-te halt der Fürst ein Machtwort sprechen müssen.

Es ist doch gut so, wie es ist. Jedes Kind findet im bestehenden System seinen ver-dienten Platz. Der eine kann’s halt etwas besser, der andere weniger gut. Und wer’s gar nicht kann, also Deutsch und Mathe nicht kann, der hat es doch auch gut in der Oberschule. Vermehrte Durchlässigkeit und Vielfalt kann nur von denen gefordert werden, für deren Kinder es halt nicht für’s Gymnasium gereicht hat. Mit SPES I woll-te man denen doch nur vorgaukeln, dass auch sie dereinst zur Elite Liechtensteins

Denken mit Grindle

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Spendenaufruf Freie Liste, Landstrasse 140, FL-9494 SchaanPostkonto 92-392622-5, IBAN: CH64 0900 0000 9239 2622 5

zuletzt

«Helft Somalia» im TAK

Im Jahr 2009 wurde in Liechtenstein ein massiver Anstieg von Asylgesuchen von Personen aus Somalia verzeichnet. Ihre Verfahren sind nun fast vollständig abge-schlossen. Einige Asylsuchende erhielten Asyl, andere wurden vorläufig aufgenom-men. Die politische und wirtschaftliche Lage in Somalia ist weiterhin unzumut- bar, deshalb werden diese Menschen wohl dauerhaft in Liechtenstein bleiben. Ihr Schicksal bewegt zum Handeln. Am Freitag, 23. März 2012, wird um 19.00 Uhr im TAK-Foyer ein Vortrag des Vereins«Helft Somalia» veranstaltet. Mit Bild- und Filmmaterial wird gezeigt, wie die Lage in Somalia derzeit ist, welche Dinge am dringendsten benötigt werden und wie wir in Liechtenstein gezielt helfen können, damit nicht mehr Menschen die anstrengende und gefährliche Flucht antreten müssen, um ihr Leben zu retten. Der Verein «Helft Somalia» unterstützt auch Angehörige von «Liechtenstein-Somaliern» mit Medizin, Kleidern und dem Nötigsten.

Vortrag zu «Migration und Ethik» im Haus Gutenberg

Der Philosophie-Professor Francis Che- neval gibt in einem Vortrag Einblick in sein laufendes Forschungsprojekt zu Migration und Ethik. Sein Hauptanliegen dabei ist die Formulierung von normati-ven ethischen Richtlinien für die europä- ischen Staaten im Umgang mit den ge- genwärtigen Migrationsströmen. In seiner Forschung hat sich Francis Cheneval bis- her mit Fragen der Demokratie und der politischen Gerechtigkeit in der wachsen-den EU, mit den Grundlagen für eine europäische Verfassung und mit den Herausforderungen, die sich der Demo- kratie im 21. Jahrhundert stellen, aus-einandergesetzt. Die Liechtensteinische Philosophische Gesellschaft (LPG) lädt am Donnerstag, 29. März 2012, um 19.30 Uhr im Haus Gutenberg in Balzers ein.