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Dirigent Denis Rouger ist in der französischen und deutschen Chorszene zu Hause. Ein Gespräch über Chorpflicht für Schulen, Klangideale und Individualismus Interview: Verena Großkreutz «Brillanz und mehr Vibrato» Herr Rouger, seit 2011 sind Sie nun Professor für Chorleitung in Stuttgart. Was hat Sie damals dazu veranlasst, von der französischen in die schwäbi- sche Kulturmetropole zu wechseln? Stuttgart ist eine Chorstadt. Es ist beeindruckend, wie viele gute Chöre es hier gibt. Ein Paradies! Und ich möchte helfen, diese tolle Chorszene noch weiterzubringen. Wo bemerken Sie in Ihrer Arbeit Unterschiede zwischen den beiden Ländern? Was ich hier in Deutschland wirklich schätze, ist die Solidarität und der Respekt zwischen den Menschen. Das vereinfacht das Musizieren. H Titel 15 Chorzeit~ DEZ 2018

Weitere Repertoiretipps «Brillanz und mehr Vibrato» · Die Musik der viel zu früh verstorbenen Lili Bou-langer erfreut sich aktuell immer größerer Beliebt-heit – zu Recht

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der Renaissance zurück in das Bewusstsein der Zeit-genossInnen. Freilich sind diese Werke nur von aus-gewählten Ensembles aufführbar und markieren eine Sonderstellung in Debussys Schaffen, aber waren doch Auslöser für viele folgende Kompositionen dieses Gen-res, wie beispielsweise die «Sept Chansons» von Fran-cis Poulenc gut 30 Jahre später. Überhaupt lässt sich Poulenc zu den bedeutendsten Chormusikkomponis-ten des 20. Jahrhunderts zählen. Seine individuelle Stimmführung und Tonsprache machen seine Werke oft technisch anspruchsvoll, aber klanglich brillant. Der Zyklus «Un soir de neige» oder die Kantate «Fi-gure humaine» dokumentieren das eindrucksvoll. Sein geistliches Schaffen, das neben Werken für gemisch-ten Chor auch Männer- und Frauenchöre umfasst, eig-net sich für Kammerchöre aller Art.

Die Musik der viel zu früh verstorbenen Lili Bou-langer erfreut sich aktuell immer größerer Beliebt-heit – zu Recht. Ihre «Hymne au soleil» für gemisch-ten Chor, Altsolo und Klavier ist ein ausdrucksstarkes, mitreißendes Stück für ZuhörerInnen und SängerIn-nen (siehe S. 50). Jean Langlais und Jehan Alain gehö-ren zu den unbekannteren Vertretern dieser Zeit und doch haben sie ein beachtliches Werk hinterlassen. Langlais komponierte Messen und Motetten für den gottesdienstlichen Gebrauch, allesamt in moderatem Schwierigkeitsgrad und daher für viele Chöre gut auf-führbar. Aufhorchen lassen im Konzert wird sicher Jehan Alains «Chanson à bouche fermée», ein stim-mungsvolles Werk, das komplett mit geschlossenem Mund aufgeführt wird.

Französische ChorkomponistInnen waren also stets produktiv und sind es bis heute. Bei Zeitge-nossInnen wie Philippe Mazé, Yves Castagnet oder Jean-Christophe Rosaz spielt die Chormusik weiterhin eine zentrale Rolle – ganz in der Tradition der franzö-sischen Musikgeschichte.

Der Autor ist Dirigent mehrerer Chöre und Ensembles und ist zudem als Juror bei Chorwettbewerben und Dozent aktiv.

Die Wiederentdeckung der Renaissance Anfang des 20. Jahrhunderts inspirierte unter anderem

Claude Debussy und Francis Poulenc

Dirigent Denis Rouger ist in der französischen und deutschen Chorszene zu Hause. Ein Gespräch über Chorpfl icht für Schulen,

Klangideale und Individualismus

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«Brillanz und mehr Vibrato»

Herr Rouger, seit 2011 sind Sie nun Professor für Chorleitung in Stuttgart. Was hat Sie damals dazu veranlasst, von der französischen in die schwäbi-sche Kulturmetropole zu wechseln?Stuttgart ist eine Chorstadt. Es ist beeindruckend, wie viele gute Chöre es hier gibt. Ein Paradies! Und ich möchte helfen, diese tolle Chorszene noch weiterzubringen.

Wo bemerken Sie in Ihrer Arbeit Unterschiede zwischen den beiden Ländern?Was ich hier in Deutschland wirklich schätze, ist die Solidarität und der Respekt zwischen den Menschen. Das vereinfacht das Musizieren.

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Weitere Repertoiretipps

• Guillaume Dufay (vor 1400 – 1474)

«Missa Ave Regina caelorum», «Vergine bella»

• Josquin Desprez (vor 1455 – 1521)

«Missa Ave maris stella», «Nymphes des bois»

• Stephan Mahu (vor 1490 – um 1541)

«Lamentationes Hieremiae»

• Claude Le Jeune (um 1530 – 1600)

«Quell’eau, quel air»

• Jean-Philippe Rameau (1683 – 1764)

«Laboravi», «Deus noster refugium»,

«Quam dilecta»

• Charles Gounod (1818 – 1893)

«Messe du Sacré-Cœur», «Sicut cervus»

• Darius Milhaud (1892 – 1974)

«Naissance de Vénus»

• Jean Langlais (1907 – 1991)

«Messe en style ancien», «Cinq motets»

• Olivier Messiaen (1908 – 1992)

«O sacrum convivium»

• Jean-Christophe Rosaz (*1961)

«Song of Cork», «O magnum mysterium»

• Yves Castagnet (*1964)

«Tantum ergo», «Messe Salve Regina»

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In den Proben ist man sehr gut vor-bereitet und motiviert. Das macht wirklich Spaß. Frankreich ist manch-mal ein Land von Individualisten. Man sagt ja, Frankreich bestehe aus 65 Millionen politischen Parteien. (lacht) Jeder macht sein eigenes Ding. Das ist toll, weil die Leute, wenn sie wollen, wirklich Gas geben können. Aber wenn ein Tenor Lust hat, an einer Stelle, wo ganz deutlich piano steht, ein dreifaches Forte zu singen, dann macht er das eventuell auch. Das ist in Deutschland ganz anders. Man ist hier viel disziplinierter.

Singen in Frankreich viele Men-schen in Laienchören?Es gibt bei uns nicht diese große Chortradition wie in Deutschland oder England. Aber klar, es gibt viele Laienchöre. Doch es ist eher ein Ni-schenhobby. Das hängt auch mit dem Gesetz der Trennung von Kirche und Staat zusammen, das in Frankreich 1905 in Kraft trat. In Frankreich gibt es deshalb an den Schulen das Verbot, geistliche Musik zu singen. Das wird streng eingehalten und geht so weit, dass bestimmte Weihnachtslieder nicht gesungen werden dürfen. Das hat der Chormusik nicht gut getan. Mindestens die Hälfte aller Chormu-sik ist ja kirchlichen Ursprungs.

Wie ist die Situation an den Schulen? Gibt es dort viele Chöre?Da gibt es gerade tatsächlich eine ex-treme Entwicklung. Der Staat hat vor kurzem beschlossen, dass bis Ende 2018 jede Schule einen Chor anbieten muss. Und plötzlich müssen tausen-de Leute Chöre dirigieren, die dafür überhaupt nicht ausgebildet sind. Of-fenbar hat man gemerkt, dass Kinder und Jugendliche, die im Chor singen, fi tter in der Schule sind, besser ler-nen. Da gibt es eine Menge Studien dazu, die das belegen. Die Früchte für das Chorleben wird man allerdings erst in 20 Jahren ernten können. Viel-leicht wird ja was draus. Das Singen in Chören ist für eine Gesellschaft

so wichtig: Dort lernt man, mit Men-schen respektvoll umzugehen, aufei-nander zu hören.

Angeblich hat der Film «Les Choristes» («Die Kinder des Mon-sieur Mathieu») 2004 in Frankreich einen Chorboom ausgelöst. Stimmt das?Der Film war auf jeden Fall eine gute Werbung für das Chorsingen, das in Frankreich manchmal ein ziemlich altmodisches Image hat. Plötzlich erkannten die Menschen, dass etwas passiert zwischen den Singenden: zwischen ihren Herzen und Seelen, dass da ein Zusammengehörigkeits-gefühl entsteht, Solidarität. Eine Kol-legin, die in Paris als Musiklehrerin arbeitet, erzählte mir, dass plötzlich viel mehr Kinder in ihren Schulchor kamen. Aber sie wollten alle unbe-dingt «Vois sur ton chemin» singen, diesen Hit aus dem Film. (lacht) Es gibt aber exzellente Kinderchöre wie die Maîtrise de Radio-France, die Maîtrise de Paris oder den Kin-derchor der Oper Lyon.

Wie kamen Sie selbst denn zur Chormusik?Ich habe zunächst mehrere Instru-mente gelernt, vor allem Trompete, Horn und Klavier, und dann Musik-geschichte und Kompositionslehre am Pariser Konservatorium studiert. Parallel war ich immer im Kirchen-chor, habe dort schon bald dem Chor-leiter geholfen und die Stimmproben übernommen. Es wurde mir schnell klar, dass es genau das ist: die Musik von innen kennenzulernen und dies dann in der Chorarbeit zu vermit-teln. Dafür brenne ich bis heute! Das A-cappella-Singen gehört für mich zum Schönsten auf der Welt!

Wie verhält es sich in Frankreich mit der Chorleiterausbildung?Es war in Frankreich lange so, dass Chöre vor allem von Musikern ge-leitet wurden, die Chorleitung nicht professionell erlernt hatten, sondern erst später während der Arbeit. Heute

ist die Situation besser. Die zentrale Ausbildungsstätte für Chorleitung ist seit etwa 1980 das Conservatoire nationale in Lyon. Es ist quasi die ein-zige Möglichkeit in Frankreich, sich professionell ausbilden zu lassen. Na-türlich kann man auch an diversen Musikschulen Chorleitung lernen. Jede große Stadt hat eine Musikschu-le. Aber es ist eben nur eine Vorstufe zur wirklich professionellen Ausbil-dung. Da ist Deutschland, wo es an fünf oder sechs Musikhochschulen eine mit Lyon vergleichbare Ausbil-dung gibt, viel besser aufgestellt.

Wie sind Laienchöre in Frank-reich eigentlich organisiert?Wer nicht zu einer Institution ge-hört wie Schul- oder Kirchenchöre, ist wie in Deutschland in Vereinen organisiert. Es gibt auch Chorver-bände, etwa die Société française des chefs de chœurs, die etwa 600 Chöre vor allem aus der Region Paris vertritt. Oder das Institut Français d’Art Choral, das Chorleiter vernetzt, außerdem Jugendchorverbände wie À Cœur Joie oder die Pueri Cantores. Es gibt auch in mehreren Regionen die Mission voix. Sie bieten Weiterbil-dungen, Kurse und Treffen an.

Wie sieht es mit Profichören in Frankreich aus?Feste Profichöre gibt es in Frank-reich relativ wenige. Auf der einen Seite gibt es natürlich die Chöre der Opernhäuser, aber daneben nur ei-nen Rundfunkchor, den Chœur de Radio France, dem einzigen öffent-lich-rechtlichen Hörfunksender. Natürlich gibt es auch viele freie Ensembles wie den Kammerchor Jeunes Solistes, die Solistes de Lyon oder Arsys-Bourgogne. Wenn man Professionalität nachweisen kann, bekommt man auch irgendwann ein bisschen staatliche Unterstützung. Auch die frei arbeitenden Sänger werden vom Staat unterstützt. Er springt ein, wenn sie eine Einkom-menslücke haben. Aber insgesamt

braucht man einen starken Willen und Überzeugungskraft, um Neues, Professionelles auf die Beine zu stel-len. Man muss sehr kämpfen. Da ist persönliche Initiative gefragt.

Können Sie ein Beispiel nennen?Das städtische Orchestre de Paris hat früher mit einem reinen Laien-chor zusammengearbeitet, der im Niveau schwankte. 2011 kam dann

Lionel Sow als neuer Chorleiter und begann mithilfe von Sponsoren mit der Aufbauarbeit. Er engagiert sich sehr für den Nachwuchs, es gibt jetzt einen Kinder- und einen Jugendchor. So soll sich der ehemalige Laienchor Stück für Stück professionalisieren.

Welches Repertoire wird be-vorzugt in Laien- und Profichören gesungen?Das ist nicht anders als in Deutsch-land. Das ganze Oratorien-Pro-gramm, natürlich auch viel Franzö-sisches, aber auch das internationale Repertoire. Bei Laienchören ist das alles natürlich gemischter, da wer-den auch gerne Chansons und Musi-calhits, Pop und Jazz gesungen, aber auch Chöre aus Opern.

Gibt es in Frankreich eine ähn-lich vitale Festival- und Chorfest-szene wie in Deutschland?Nein, das ist absolut nicht vergleich-bar. Es gibt natürlich Festivals wie etwa La Folle Journée, das seit 1995 in Nantes stattfi ndet. Sie sind aber nicht chororientiert, sondern bieten gemischte Programme. Als reines Chorfestival fallen mir gerade nur die

Rencontres Musicales de Vézelay ein, und als einziger Wettbewerb Flori-lège Vocal de Tours.

Wenn Sie deutsche und französi-sche Chöre im Vergleich hören – gibt es da Unterschiede?Ja, aber natürlich. In Frankreich baut man den Klang gerne von oben auf, Tenöre und Soprane sind prägnanter als hier, das macht den Klang sehr brillant. Außerdem haben französi-sche Chöre meist ein ausgeprägteres Vibrato. In Deutschland geht man von unten aus, vom Alt und Bass. Das macht den Klang wärmer. Zudem ist die deutsche Aussprache viel deutli-cher, Konsonanten wie das «t» kom-men viel knackiger. Im Französischen werden die Konsonanten weicher gesungen und die Silben permanent verbunden. Überhaupt hängt vie-les von der Unterschiedlichkeit der Sprachen ab. Im Deutschen erscheint das Verb ja oft erst am Ende, die ei-gentliche Information wird also nach hinten geschoben. Im Französischen kommt das Subjekt und dann gleich das Prädikat und dann der Rest. Das Wichtige ist also schnell gesagt. Das hat natürlich Einfl uss auf die Musik. In der deutschen Chormusik zählt eher die großbögige Phrasierung, man muss einen Satz ja aufbauen bis zum Ende. In der französischen wird kleingliedriger phrasiert, ein bisschen so, wie ein Vogel fl iegt, mit vielen kleinen Kurven. Wenn man Brahms so singen würde, wäre das eine Hinrichtung. (lacht)

Das Gespräch führte Verena Großkreutz, freie Publizistin und Redakteurin in Stuttgart.

Denis Rouger (*1961) studierte am Pariser Konservatorium Musikgeschichte und Kompositionslehre, außerdem Chorleitung unter anderem bei Jacques Grimbert, Eric Ericson und Rachid Safir. Er war Chorleiter an den Pariser Kathedralen Notre-Dame und La Madeleine. Seit 2011 ist er Professor für Chorleitung an der Musikhochschule Stuttgart. Rouger grün-dete mehrere Chöre, darunter 2016 das Spitzenensemble figure humaine.

Es gibt in Frankreich viele Laienchöre,

aber es ist eher ein Nischenhobby

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