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18 Exkurs: Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum Exkurs: Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum Geprägt wurde der Begriff Antisemitismus 1879 im Umkreis des Publi- zisten Wilhelm Marr vor dem Hintergrund der damals öffentlich disku- tierten »Judenfrage«. Sie war 1879/80 in Deutschland einerseits Gegenstand eines Gelehrtenstreites, den der Historiker Heinrich von Treitschke mit Überfremdungsängsten ausgelöst hatte, andererseits wurde sie durch den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker in dessen christlich-sozial argumentierender Kampagne gegen die Arbeiterbewe- gung instrumentalisiert. In Österreich vertrat der Wiener Bürgermeister Karl Lueger ähnliche Positionen. Die fanatischen Judenfeinde organisierten sich in Parteien und Ver- bänden. In Dresden existierte seit 1881 die Deutsche Reformpartei; in Kassel wurde 1886 die Deutsche Antisemitische Vereinigung ins Leben gerufen, deren Protagonist der Bibliothekar Otto Böckel war. Von 1887 bis 1903 saß er im Reichstag, er war Herausgeber völkischer Zeitschrif- ten und betätigte sich maßgeblich im Deutschen Volksbund, der ab 1900 versuchte, »national gesinnte Männer« gegen »die erdrückende Übermacht des Judentums« zusammenzuschließen. Auf dem Antisemi- tentag in Bochum einigten sich Anfang Juni 1889 die verschiedenen judenfeindlichen Strömungen (mit Ausnahme der christlich-sozialen Partei Adolf Stoeckers) auf gemeinsame Grundsätze und Forderungen. Aber schon über der Bezeichnung des Zusammenschlusses entzweiten sich die Antisemiten wieder. Es gab nun eine Deutschsoziale Antisemiti- sche Partei und eine Deutschsoziale Partei und ab Juli 1890 die von Böckel in Erfurt gegründete Antisemitische Volkspartei, die ab 1893 Deutsche Reformpartei hieß. Im Reichstag errangen Vertreter antisemi- tischer Gruppierungen 1890 fünf und 1893 sechzehn Mandate. Ernst Henrici war zusammen mit dem Reichstagsabgeordneten Wilhelm Pickenbach 1894 Gründer des Deutschen Antisemitenbunds. Politi- schen Einfluss erlangten die Antisemiten im Kaiserreich nicht. Aber ihre Propaganda zeitigte ihre Wirkung: Juden wurden mit allen nur denkba- Brought to you by | Brown University Rockefeller Lib Authenticated | 128.148.252.35 Download Date | 6/1/14 4:49 PM

"Wer Jude ist, bestimme ich" ("Ehrenarier" im Nationalsozialismus) || Exkurs: Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum

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18 Exkurs: Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum

Exkurs: Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum

Geprägt wurde der Begriff Antisemitismus 1879 im Umkreis des Publi-zisten Wilhelm Marr vor dem Hintergrund der damals öffentlich disku-tierten »Judenfrage«. Sie war 1879/80 in Deutschland einerseits Gegenstand eines Gelehrtenstreites, den der Historiker Heinrich von Treitschke mit Überfremdungsängsten ausgelöst hatte, andererseits wurde sie durch den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker in dessen christlich-sozial argumentierender Kampagne gegen die Arbeiterbewe-gung instrumentalisiert. In Österreich vertrat der Wiener Bürgermeister Karl Lueger ähnliche Positionen.

Die fanatischen Judenfeinde organisierten sich in Parteien und Ver-bänden. In Dresden existierte seit 1881 die Deutsche Reformpartei; in Kassel wurde 1886 die Deutsche Antisemitische Vereinigung ins Leben gerufen, deren Protagonist der Bibliothekar Otto Böckel war. Von 1887 bis 1903 saß er im Reichstag, er war Herausgeber völkischer Zeitschrif-ten und betätigte sich maßgeblich im Deutschen Volksbund, der ab 1900 versuchte, »national gesinnte Männer« gegen »die erdrückende Übermacht des Judentums« zusammenzuschließen. Auf dem Antisemi-tentag in Bochum einigten sich Anfang Juni 1889 die verschiedenen judenfeindlichen Strömungen (mit Ausnahme der christlich-sozialen Partei Adolf Stoeckers) auf gemeinsame Grundsätze und Forderungen. Aber schon über der Bezeichnung des Zusammenschlusses entzweiten sich die Antisemiten wieder. Es gab nun eine Deutschsoziale Antisemiti-sche Partei und eine Deutschsoziale Partei und ab Juli 1890 die von Böckel in Erfurt gegründete Antisemitische Volkspartei, die ab 1893 Deutsche Reformpartei hieß. Im Reichstag errangen Vertreter antisemi-tischer Gruppierungen 1890 fünf und 1893 sechzehn Mandate. Ernst Henrici war zusammen mit dem Reichstagsabgeordneten Wilhelm Pickenbach 1894 Gründer des Deutschen Antisemitenbunds. Politi-schen Einfluss erlangten die Antisemiten im Kaiserreich nicht. Aber ihre Propaganda zeitigte ihre Wirkung: Juden wurden mit allen nur denkba-

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ren schlechten Eigenschaften belegt, die, so erklärten die Antisemiten, in der »Rasse« begründet seien.

Im Ersten Weltkrieg wurden die antijüdischen Vorbehalte in Deutsch-land neu aufgeladen. Schnell kam das völlig unbegründete Gerücht von der »jüdischen Drückebergerei« in Umlauf, und als zweites antisemiti-sches Stereotyp war die Überzeugung landläufig, dass Juden sich als die »geborenen Wucherer und Spekulanten« als Kriegsgewinnler an der Not des Vaterlandes bereicherten. In zahlreichen Pu blikationen wurden diese Klischees verbreitet, so etwa in einem Flugblatt, das im Sommer 1918 kursierte, auf dem die jüdischen Soldaten lasen, wovon ihre nicht jüdischen Kameraden und Vorgesetzten trotz der vielen Tapferkeitsaus-zeichnungen (30 000) und Beförderungen (19 000) und ungeachtet der 12 000 jüdischen Kriegstoten bei insgesamt etwa 100 000 jüdischen Sol-daten überzeugt waren: »Überall grinst ihr Gesicht, nur im Schützengra-ben nicht.« Entgegen der Wahrheit hielt die Mehrheit der Deutschen an ihrem negativen Judenbild fest.

Im Programm der völkischen und nationalistischen Parteien der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem der NSDAP ab 1920 und in der Deutschnationalen Volkspartei bildete der Antisemitismus das ideologi-sche Bindemittel, mit dem Existenzängste und Erklärungsversuche für wirtschaftliche und soziale Probleme konkretisiert wurden, um repub-lik- und demokratiefeindliche Verzweifelte als Anhänger zu gewinnen.

Die pathologischen Vorstellungen im Weltbild Hitlers, die in Fanta-sien von der jüdischen Weltverschwörung gipfelten, trafen auf verbrei-tete Ängste in der Bevölkerung. Im Programm der NSDAP waren seit 1920 die Lehr- und Grundsätze des Antisemitismus fixiert, die in den Pamphleten und Traktaten des 19. Jahrhunderts publiziert worden waren: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksicht auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.«

Diesem abstrusen Denken hatte sich alles unterzuordnen, was Hitler in seinem Machwerk Mein Kampf zu begründen versuchte. Ihm zufolge war der Arier dem Juden überlegen. In Mein Kampf klingt allerdings eine gewisse, wenngleich widerwillige Bewunderung durch, wenn Hitler Juden einen »unendlich zähen Willen zum Leben, zur Erhaltung der Art« zubilligt.7 Bei kaum einem anderen Volk sei der Selbsterhaltungs-wille stärker ausgeprägt.

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Martin Bormann genoss als »Sekretär des Führers« die zweifelhafte Ehre, von Hitler zu »Tee-Gesprächen« einbestellt zu werden. Bei einem solchen »Führer-Gespräch« am 31. November 1944 ließ sich Hitler wie folgt über Christen- und Judentum aus:

Jesus war sicher kein Jude, denn einen der ihren hätten die Juden nicht den Römern und dem römischen Gericht ausgeliefert, sondern selbst verurteilt. Vermutlich wohnten in Galilea sehr viele Nachkommen römischer Legionä-re (Gallier), und zu ihnen gehörte Jesus. Möglich, dass seine Mutter Jüdin war.

Jesus kämpfte gegen den verderblichen Materialismus seiner Zeit und damit gegen die Juden. Paulus – zunächst einer der schärfsten Gegner der Christen – erkannte plötzlich, welche ungeheuren Möglichkeiten die rich-tige Verwendung einer faszinierenden Idee bot. Paulus erkannte, dass die richtige Verwendung einer tragenden Idee bei »Nichtjuden eine weit höhe-re Macht gab, als das Versprechen materieller Belohnung beim Juden. Und nun fälschte Saulus-Paulus in raffinierter Weise die christliche Idee um: Aus der Kampfansage gegen die Vergottung des Geldes, aus der Kampfansage gegen den jüdischen Eigennutz, den jüdischen Materialismus wurde die tra-gende Idee der Minderrassigen, der Sklaven, der Unterdrückten, der an Geld und Gut Armen gegen die herrschende Klasse, gegen die Oberrasse, ›gegen die Unterdrücker‹.«8

Hitlers und Bormanns gemeinsame »Erkenntnis« lautete:

Jede Ablehnung des Klassenkampfes ist deshalb antijüdisch, jede antikom-munistische Lehre ist antijüdisch, jede antichristliche Lehre ist antijüdisch und vice versa. 9

Absurde Gerüchte: Jüdisches Blut in Hitlers Adern

Im Hinblick auf Hitlers Judenhass ist auch ein Abstecher auf das Gebiet der Gerüchte und Spekulationen zwar nicht sachdienlich, jedoch inte-ressant. Denn immer wieder tauchte die Behauptung auf, in Hitlers Adern flösse jüdisches Blut, was seinen Hass nur gesteigert habe. Hier-für gibt es eine einzige Quelle: Hans Michael Frank. Er gehörte zu den

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frühesten Getreuen Hitlers, hatte sich schon 1919 der NSDAP-Vor-gängerpartei DAP angeschlossen und war Hitlers Rechtsanwalt. Nach 1933 organisierte er die Gleichschaltung der Justiz in Bayern und später in ganz Deutschland. Als Generalgouverneur des besetzten Polen wurde er als »Schlächter von Polen« oder »Judenschlächter von Krakau« berüchtigt. In seinem Buch Im Angesicht des Galgens behauptete Frank, der Vater Hitlers sei das uneheliche Kind einer in einem Grazer Haus-halt angestellten Köchin namens Schickelgruber aus Leonding bei Graz gewesen.10

Schon 1921 hatten NSDAP-Mitglieder Flugblätter verbreitet, auf denen eine jüdische Abstammung Hitlers angedeutet wurde. Darauf waren Texte zu lesen wie: »Hitler glaubt die Zeit gekommen, um im Auftrag seiner dunklen Hintermänner Uneinigkeit und Zersplitterung in unsere Reihen zu tragen und dadurch die Geschäfte des Judentums und seiner Helfer zu besorgen … und wie führt er diesen Kampf ? Echt jüdisch.«11

1930 schrieb Hitlers Neffe William Patrick seinem Onkel einen Brief, in dem er andeutete, dass er »Judenblut in seinen Adern und daher eine geringe Legitimation hätte, Antisemit zu sein«.12 Hitler beauftragte daraufhin den erwähnten Hans Michael Frank, der Sache »vertraulich« nachzugehen.13 Zwar behauptete Frank, »dass Adolf Hitler bestimmt kein Judenblut in seinen Adern hatte, scheint mir aus seiner ganzen Art dermaßen eklatant erwiesen, dass es keines weiteren Wortes bedarf«, formulierte aber kurz darauf das Gerücht: »Ich muss also sagen, dass es nicht vollkommen ausgeschlossen ist, dass Hitlers Vater demnach ein Halbjude war, aus der außerehelichen Beziehung der Schickelgruber zu dem Grazer Juden entsprungen. Demnach wäre Hit-ler selbst ein Vierteljude gewesen. Dann wäre sein Judenhass mitbedingt gewesen aus blutempörter Verwandtenhasspsychose.«14

Weitere Spekulationen über Hitlers angebliche jüdische Abstam-mung waren 1967 im Nachrichtenmagazin Der Spiegel zu lesen:

Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden in Deutschland insgeheim Photographien herumgereicht, die das Grab des 1892 verstorbenen Juden Adolf Hitler (jüdischer Name: Avrham Eylliyohn) auf dem Bukarester Friedhof, Grab 9, Reihe 7, Gruppe 18) zeigten. Die polnisch-jüdische Zei-tung »Haynt« veröffentlichte das Bild, und ein Warschauer Journalist

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schrieb, es handele sich um die letzte Ruhestätte von Adolf Hitlers Groß-vater.15

Zweifel an Hitlers arischer Herkunft – so ist dort weiter zu lesen – befie-len nun auch den Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, den obersten Aufnorder des »Dritten Reichs«. Am 4. August 1942 schickte er insge-heim Kundschafter aus, um die »Abstammung des Führers« zu ergrün-den. Und 1945, nachdem das »Dritte Reich« samt Hitler untergegan-gen war, sei dem Nachrichtenmagazin zufolge die Anthropologische Commission – ein internationaler Kreis renommierter Gelehrter – zu dem Schluss gelangt, Hitler sei ein »Bastard von einem nicht sehr ange-sehenen Juden« gewesen: »Schon im städtischen Kinderheim in Linz haben die Erzieherinnen (…) ihn einen ›Judenbengel‹ genannt.« 16 Der Hitler-Biograph und frühere Priester Franz Jetzinger erklärte die Tatsa-che, dass im österreichischen Waldviertel die Gemeinde Döllersheim, wo Hitlers Vater geboren und Hitlers Großmutter beerdigt wurde, in einen Truppenübungsplatz verwandelt wurde, so: »Es hat ganz den Anschein, dass die Vernichtung Döllersheims direkt über ›Auftrag des Führers‹ erfolgte – aus irrsinnigem Hass gegen seinen Vater, der viel-leicht einen Juden zum Vater hatte.«17 Am Vater Hitlers, Alois Hitler, wollte Jetzinger die These erhärten, der spätere Reichskanzler sei Vier-teljude gewesen.18 Jetzinger behauptet zwar nicht, ein solches jüdisches Erbteil definitiv nachgewiesen zu haben. Aber er hat sorgsam zusam-mengetragen, was seiner Ansicht nach die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Hitlers Großvater Jude gewesen sei. Den endgültigen Beweis wollte Jetzinger aber den österreichischen Heimatforschern überlassen. Fest steht, dass Adolf Hitler den Ariernachweis, den er den meisten Deut-schen abverlangte, für seine Person kaum hätte erbringen können. Sein Großvater väterlicherseits ist unbekannt.

Eine teilweise jüdische Abstammung Hitlers ist trotz aller Gerüchte keineswegs belegt und eher unwahrscheinlich. Ob sie sein Verhalten in der Verfolgung des Judentums beeinflussten, sei dahingestellt.

Die Unterstellung, jüdisches Blut in den Adern zu haben, war übri-gens ein probates Mittel, politischen Gegnern zu schaden. Als Beispiel kann hier der Fall des Obersten NSDAP-Parteirichters und Bormann-Schwiegervaters Walter Buch gelten. Er erhielt im April 1936 folgendes anonyme Schreiben:

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Sehr geehrter Herr Major Buch!

Sie sind der Oberste Richter der Partei, die jeden anständigen Juden bekämpft und infamiert, das sollten Sie als unser Verwandter nicht tun. Wissen Sie, dass Ihre Frau jüdisches Blut in den Adern hat? Wissen Sie, dass die Familie Ihrer Frau (Bilernesti, siehe Ahnentafel Ihrer Frau!) noch 1820 bis 1825 dem Ghetto in Frankfurt am Main angehört hat? Wissen Sie, dass Sie Kinder gezeugt haben, die unseres Blutes sind? Ihr Schwiegersohn, der wie Sie Reichs-leiter der Nationalsozialisten ist, weiß es, dass seine Frau und seine Schwieger-mutter nicht rein arischer Abstammung sind. Das Reichssippenamt weiß es auch! Nur Sie sollten es nicht wissen? Sie sind am meisten belastet, Sie haben Hunderte von Menschen verurteilt wegen des gleichen tragischen Schicksals, das ihre Frau betroffen hat. Welche Konsequenzen ziehen Sie, Sie weiser und gerechter Richter! Wir freuen uns, Sie zu den unseren zählen zu dürfen.

Einige Berliner Juden.19

Natürlich sorgte der Inhalt für Aufregung, und wären die Behauptungen korrekt gewesen, hätte dies ein Erdbeben an der NS-Spitze ausgelöst. Immerhin hatte Buch nicht nur eine bedeutende Parteifunktion, son-dern vorausgesetzt, die Gerüchte stimmten, wäre der Judenverfolger und »Sekretär des Führers« Martin Bormann durch seine Frau Gerda, die älteste Tochter Buchs, »jüdisch versippt« gewesen.

Tatsächlich aber hatte der Gauleiter der brandenburgischen Ost-mark, Wilhelm Kube, dieses Schreiben verfasst. Darüber wurden alle NS-Reichsleiter und Gauleiter von Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß mit Rundschreiben 88/36 Anfang August 1936 informiert.

Betrifft: Gauleiterwechsel im Gau Kurmark.

In Abschrift beiliegendes Schreiben erhielt Reichsleiter Buch anonym zuge-sandt. Im Verlauf der durch die Geheime Staatspolizei angestellten Nachfor-schungen ergab sich, dass der Verfasser des Schreibens der bisherige Gauleiter Kube ist. Auf Vorhalt durch den Stellvertreter des Führers musste Kube dies zugeben.

Die in dem Schreiben an Reichsleiter Buch aufgestellte Behauptung der nichtarischen Abstammung der Frau Buch wurde durch unabhängige Sip-

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penforschungsstellen, von denen das eine das Reichsamt für Sippenfor-schung ist, einwandfrei als unwahr festgestellt. Beide Gutachten decken sich darin, dass Frau Buch rein arischer Abstammung ist. Kube hat sich unabhän-gig davon, nach eigener Angabe, gleichfalls von der Unrichtigkeit seiner Behauptung überzeugt. Ein Gauleiter hat also unter dem Decknamen »eini-ge Berliner Juden« ein anonymes Schreiben verschickt, in dem zwei Reichs-leiter bezichtigt werden, unter Verheimlichung der Tatsache der jüdischen Abstammung ihrer Frau vor dem Führer ihre Ämter zu führen und in dem der eine Reichsleiter als zu den Berliner Juden gehörig bezeichnet wird. Darüber hinaus hat dieser Gauleiter über Dritte die gleichen unwahren Behauptungen verbreitet. Im Hinblick auf die Ungeheuerlichkeit dieser Vorgänge hat der Führer Kube veranlasst, seine Ämter niederzulegen.20

Propagandaminister Goebbels trug zu diesem Vorgang am 9. August 1936 in sein Tagebuch ein:

Zu Haus Arbeit. Kube abgesetzt. Er hat sich gemein benommen, anonyme Briefe an Buch etc., seine Frau unsacht behandelt. Ein böser Fall. Er hat ihn sich selbst zuzuschreiben. (… ) Göring schimpft mächtig auf Kube. Der hat es ja auch verdient. So ein Miststück. Aber wie immer. Ein wilder Bürger.21

Kube wurde zum SS-Rottenführer im Konzentrationslager Dachau degradiert, später rehabilitiert und als Generalkommissar für Weißruss-land nach Minsk geschickt.

Juden in Hitlers Umgebung

Überraschenderweise fanden sich in Hitlers Umgebung Menschen – Juden und solche mit Anteilen jüdischen Blutes –, über die er aus unter-schiedlichen Gründen seine schützende Hand hob, zumindest eine Zeit lang. Möglicherweise war bisweilen ein Anflug von Dankbarkeit im Spiel. Bei seinem ehemaligen Kompaniechef Ernst Heß könnte dies der Fall gewesen sein.

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Ernst Heß – Hitlers Kompaniechef

Ein bemerkenswerter Fall, in dem ein Jude nahe an Hitler herangekom-men war, ist der des 1880 in Gelsenkirchen geborenen, zum Katholizis-mus konvertierten Amtsrichters Ernst Heß. Er hatte vier »volljüdische« Großeltern und war daher nach den nationalsozialistischen Rassekrite-rien »Volljude«. Die Historikerin Susanne Mauss entdeckte bei Recher-chen zu einer Ausstellung im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen einen Brief, dem zufolge der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler, im August 1940 die Anweisung erteilt hatte, den Juden Ernst Heß »in jeder Hin-sicht unbehelligt« zu lassen:

Der Obengenannte hat aufgrund der deutsch-italienischen Vereinbarungen von 1939 das italienische Staatsgebiet verlassen und wieder Aufenthalt im Reich nehmen müssen. H. ist Jude mit 4 volljüdischen Großeltern. Er war während des Krieges 1914/18 in derselben Kompanie wie der Führer und vorübergehend auch Kompanieführer des Führers. Gelegentlich eines Gesuchs des H. um Erteilung einer Ausnahmegenehmigung hat der Führer unter Ablehnung dieses Gesuchs zum Ausdruck gebracht, dass H. in anderer Weise Entgegenkommen gezeigt werden solle.

Diesem Wunsch des Führers wurde zunächst insofern Rechnung getra-gen, als H. die Transferierung seiner Versorgungsbezüge nach Italien geneh-migt erhielt. Ferner wurden keine Bedenken dagegen erhoben, dass bei behördlichen Zuschriften an H. von der Angabe der Vornamen überhaupt und damit auch des Zusatznamens Israel abgesehen wird. Nachdem H. nun-mehr aufgrund der zwischenstaatlichen Vereinbarungen in das Reich zurückgekehrt ist, muss dafür Sorge getragen werden, dass H. – dem Wun-sche des Führers entsprechend – entgegengekommen wird. Ich bitte Sie daher, im Einvernehmen mit allen in Frage kommenden Dienststellen sicherzustellen, dass H. in jeder Hinsicht unbehelligt gelassen wird. 22

Zur Vorgeschichte ist Folgendes zu bemerken: Heß hatte im Bayeri-schen 16. Reserve-Infanterieregiment List gedient und war im Juni 1916 als Chef der 3. Kompanie Hitlers Vorgesetzter. Als Frontoffizier erhielt Heß eine Reihe von Auszeichnungen, neben dem Bayerischen Militärverdienstorden auch das Eiserne Kreuz (EK) Erster und Zweiter Klasse. Dann wurde er Amtsrichter in Düsseldorf und blieb dank der

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Sonderregelungen für hochdekorierte Frontsoldaten des Ersten Welt-kriegs nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst weit-gehend unbehelligt. Der »Arisierung« infolge der Nürnberger Rassen-gesetze fiel jedoch auch Heß zum Opfer und wurde seines Richteramtes enthoben. Wie die Historikerin Susanne Mauss herausfand, zog er dar-aufhin mit seiner Familie nach Bozen in Südtirol. Heß suchte Kontakt zu Hitler, den ein gemeinsamer Kriegskamerad vermitteln sollte, näm-lich Hauptmann a.D. Fritz Wiedemann, von 1934 bis 1939 Adjutant Hitlers. In einem Brief bat er Heß darum, dass er nach den Nürnberger Rassengesetzen als »Halbjude« gelten möge und demzufolge nicht »als Jude«. Auch der Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, und der damalige deutsche Generalkonsul in Italien, Otto Bene, setzten sich für Heß ein. Nach dem Hitler-Mussolini-Pakt über die »Italianisie-rung« Südtirols musste die Familie Heß 1939 nach Deutschland zurückkehren und ließ sich im oberbayerischen Dorf Unterwössen nieder. Dort erhielt Heß 1941 überraschend die Nachricht, dass er nicht mehr unter Hitlers Schutz stehe.23 Wiedemann war inzwischen bei Hitler in Ungnade gefallen und als Generalkonsul nach San Francisco versetzt worden, er konnte Heß nicht mehr helfen. Heß wurde in das Konzentrationslager Milbertshofen bei München gebracht. Die »Mischehe« mit seiner nicht jüdischen Frau Margarethe rettete ihn jedoch vor der Deportation. Tochter Ursula wurde als Zwangsarbeiterin in einer Elektrofirma eingesetzt. Doch Heß’ Mutter Elisabeth und die Schwester Berta wurden auf Anweisung von Adolf Eichmann depor-tiert. Berta Heß wurde in Auschwitz ermordet, der Mutter gelang in den letzten Kriegswochen die Flucht aus Theresienstadt in die Schweiz.

Ein Nachtrag zu Fritz Wiedemann, der jahrelang Hitlers Vertrauen genoss: 1939 war er auf Geheiß von Hitler nach San Francisco gezogen, doch seine Ehefrau kehrte im September 1941 nach Deutschland zurück, wo sie auf Schritt und Tritt von der Gestapo überwacht wurde.24 Ihr Mann war zwischenzeitlich nach Tientsin in China versetzt worden, wohin auch Anna Luise Wiedemann zusammen mit ihrer Gesellschafte-rin Haffner reisen wollte. Detailliert beschrieb der Chef der Sicherheits-polizei und des SD gegenüber Himmler, wie viele Lebensmittelmarken Anna Luise Wiedemann erhalten hatte, und übermittelte ihm Abschrif-ten von Briefen, die die Gestapo abgefangen und geöffnet hatte.

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Anlass für die strikte Überwachung war möglicherweise die Denun-ziation einer Bekannten namens Heilemann gewesen, die gegenüber SS-Obergruppenführer Wolff zu Protokoll gegeben hatte: Es wäre an der Zeit, »eine Reinigung der nächsten Umgebung des Führers vorzuneh-men. Als Erstes müsste der Kasinoverwalter der Reichskanzlei Kannen-berg und als Zweiter Reichsführer-SS Himmler erschossen werden«. Frau Heilemann, die eine Bekannte der Helene Bechstein war (einer Gönnerin und Verehrerin Hitlers und Ehefrau des Klavierfabrikanten Edwin Bechstein), sei der »richtigen Meinung«, dass »eine Frau mit solcher Gesinnung nie ins Ausland dürfte«.

Eduard Bloch – der Edeljude

Den Juden Eduard Bloch, den Arzt seiner Eltern, schützte Hitler vor den Folgen der von ihm verantworteten Nürnberger Rassengesetze. Bloch, 1872 in Frauenberg geboren, hatte Medizin studiert und nach seiner Militärzeit in Linz eine Praxis eröffnet. Zu seinen Patientinnen zählte Hitlers Mutter Klara, die an einem Tumor in der Brust litt und am 21. Dezember 1907 trotz aller ärztlichen Bemühungen verstarb. Bloch, der dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde Linz angehörte, nahm nur einen Teil des ihm zustehenden Honorars in Anspruch, und 1908 schrieb ihm Hitler eine Karte, mit der er sich nochmals für seinen Einsatz bedankte. Als Hitler 1938 anlässlich der »Wiedereingliede-rung« Österreichs ins Deutsche Reich im Triumphzug in Linz einzog, erkundigte er sich bei Hofrat Adolf Eigl nach Bloch und nannte ihn einen »Edeljuden«.25 »Ja, wenn alle Juden so wären wie er, dann gäbe es keinen Antisemitismus«, soll Hitler gesagt haben.

Bloch erfuhr eine Vorzugsbehandlung, denn trotz der Nürnberger Rassengesetze durfte er weiter praktizieren, behielt seine Wohnung und blieb auch von Repressalien, wie dem des »J-Stempels« im Pass und dem Führen des zusätzlichen Vornamens »Israel« verschont. Brigitte Hamann zitiert hierzu Bloch:

Vorerst wurden allen Juden die Pässe abgenommen, um eine Flucht derselben zu verhindern; vor der Passabgabe blieb einzig ich verschont. Wohnungen und besonders die Geschäfte der Juden wurden durch gelbe Zettel, auf deren Grunde in schwarzen Lettern das Wort »Jude« stand, gekennzeichnet. (…)

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Nach einigen Tagen kamen »Gestapoleute« und teilten mir mit, ich könnte über »Auftrag von Berlin« die Judenzettel entfernen; ich lehnte dies ab, da man mir vorwerfen könnte, ich hätte eigenmächtig eine Maßnahme der »Gestapo« »missachtet«, worauf sie die Entfernung selbst vornahmen.26

In seinen Vernehmungen durch den US-Geheimdienst Office of Strate-gic Services (OSS) erklärte Bloch am 5. März 1943 zur Situation in Linz u. a., dass Hitler sich im Vorfeld des »Anschlusses« während einer Kon-ferenz in Berchtesgaden nach Neuigkeiten aus Linz erkundigt hatte, darunter auch nach Blochs Befinden.

»›Lebt er noch, praktiziert er noch?‹ Dann machte er eine Bemer-kung, die die örtlichen Nazis irritierte: ›Dr. Bloch‹, sagte Hitler, ›ist ein Edeljude, ein Nobeljude.«27

Und zur Rückkehr Hitlers nach Linz im Zusammenhang mit der Annexion Österreichs gab Bloch zu Protokoll:

Jahrelang hatte sich Hitler geweigert, sein Heimatland zu besuchen. Nun gehörte ihm das Land. Die Hochstimmung, die ihn erfasst hatte, war ihm abzulesen. Er lächelte, winkte und grüßte die Menschen, die die Straßen füllten, mit dem Nazi-Gruß. Für einen Augenblick sah er zu meinem Fenster hoch. Ich bezweifele, dass er mich gesehen hat, aber er muss einen Moment der Reflexion gehabt haben: Hier war die Wohnung des Edeljuden, der bei seiner Mutter den verhängnisvollen Krebs diagnostiziert hatte; hier war das Sprechzimmer des Mannes, der seine Schwestern behandelt hatte; hier war der Ort, wohin er als Junge gegangen war, um seine kleineren Krankheiten behandeln zu lassen.

Am folgenden Tag traf Hitler laut Bloch einige ältere Vertraute, darun-ter Oberhummer, einen lokalen Funktionär, den Musiker Kubitschek, den Uhrmacher Liedel und Dr. Hümer, seinen früheren Geschichtsleh-rer. Es sei verständlich gewesen, dass Hitler ihn, einen Juden, nicht zu einem solchen Treffen eingeladen habe.

Das Angebot »Ehrenarier« zu werden, lehnte Bloch ab und ent-schloss sich 1940 stattdessen zur Emigration in die USA.

Eingeflochten sei hier eine weitere Absurdität aus der Zeit nach dem »Anschluss« Österreichs. Himmler hatte Reichsmarschall Göring am 3. März 1938 darüber informiert. Demnach hatte ein gewisser Oberst-

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Juden in Hitlers Umgebung 29

leutnant Berthold über mehrere Jahre ein Verhältnis mit der Volljüdin Elsa Lange und war vom Kriegsgericht der 28. Division freigesprochen worden. Entschuldigt wurde das Verhalten Bertholds u. a. damit: »Es wird gesagt, dem Beschuldigten sei nicht zu widerlegen, dass er die Jüdin Lange für einen südamerikanischen Mischling mit Negerblut gehalten habe. Der Zeuge Dr. Lange habe sie ebenfalls für einen negroiden Mischling gehalten und auch die Schwester Linde versichere, nur einen negroiden Einschlag bei der Lange gesehen zu haben, die Sanitätsschüler und andere Kranke des Lazaretts hätten sie ›Blume von Hawaii‹ genannt.« Der Verkehr eines Offiziers der Wehrmacht mit einer Jüdin wurde also im Jahr 1937, im »Dritten Reich«, damit entschuldigt, dass das Kriegsgericht feststellte, der »Offizier habe das Mädchen nicht für eine Jüdin, sondern für einen negroiden Mischling gehalten«.

Sven Hedin – Hitlers glühender Anhänger

Der schwedische Asienforscher Sven Hedin genoss die größte Sympa-thie Himmlers und Hitlers. Dabei spielte es keine Rolle, dass Hedin Nachkomme der nach Schweden ausgewanderten jüdischen Familie Abraham Brody alias Berliner war und somit die Nationalsozialisten jeden Umgang mit ihm hätten meiden müssen. Tatsächlich aber durfte der Sympathisant und Verehrer Hitlers in Deutschland publizieren und wurde in ungewöhnlichem Maße hofiert. Ein Forschungsinstitut der verbrecherischen SS-Organisation »Ahnenerbe« im österreichischen Mittersill wurde feierlich »Reichsinstitut Sven Hedin für Innerasienfor-schung« benannt . Nach dem deutschen Einmarsch 1938 hatte die SS das Schloss beschlagnahmt. Dort waren in einem Außenkommando des Konzentrationslagers Mauthausen ab dem 24. März 1944 auch weibli-che Zwangsarbeiterinnen untergebracht. Es handelte sich um sechs Zeu-ginnen Jehovas, die ursprünglich im KZ Ravensbrück inhaftiert waren.

Sven Hedin war bei den Nationalsozialisten wohlgelitten. 1936 hatte er anlässlich eines Deutschlandbesuchs 96 Vorträge halten dürfen, nicht zuletzt auch im Olympiastadion in Berlin. Der Nationalsozialismus habe Deutschland aus einem Zustand politischer und moralischer Auf-lösung gerettet, ist in seinem Buch Deutschland und der Weltfrieden zu lesen, was aber einige deutsche Städte – selbst Berlin – nicht daran hin-dert, auch heute noch nach ihm Straßen und Plätze zu benennen.

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30 Exkurs: Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum

»Gnadengesuche ausnahmslos ablehnen!«

Wenn es möglicherweise Sentimentalität war, die Hitlers Handeln gegenüber den genannten Personen bestimmte, brachten seine »Gna-denakte« für die Beamten und übrigen Schergen des NS-Regimes einige Unsicherheiten mit sich. Denn Hitler allein oblag es, einen »Ehren-arier« zu ernennen oder dies zu verweigern. Nachdem – aus Sicht Hitlers – die Zahl der Gesuche um Ausnahmeregelungen überhandgenommen hatte, wollte Hitler entsprechenden Anträgen einen Riegel vorschieben und ließ durch den Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, dem zuständigen Reichsinnenminister Wilhelm Frick am 4. November 1938 vom Obersalzberg aus folgende Anweisung zukommen:

In den letzten Wochen sind eine Reihe von Gesuchen an den Führer einge-gangen, in denen eine Befreiung von den für Juden geltenden besonderen Vorschriften, in erster Linie den Bestimmungen über Vornamen, über Kenn-kartenzwang und über Reisepässe erbeten wird. Ich habe die Gesuche zum Anlass genommen, die Frage einer etwaigen ausnahmsweisen Freistellung bestimmter Personen von diesen Vorschriften bei dem Führer grundsätzlich zur Sprache zu bringen. Der Führer ist der Ansicht, dass gnadenweise Befrei-ungen von den für Juden geltenden besonderen Bestimmungen ausnahmslos abgelehnt werden müssen. Der Führer beabsichtigt, auch selbst solche Gna-denerweise nicht mehr zu bewilligen.28

Mit solchen Ausnahmen hatte Hitler oft das Unverständnis von staatli-chen oder Parteidienststellen hervorgerufen. Hier einige Beispiele:

Reichsleiter Walter Buch, Schwiegervater von Martin Bormann und oberster NSDAP-Parteirichter, hatte am 5. Mai 1934 Otto Freiherr von Dungen wegen seiner nicht arischen Ehe den freiwilligen Parteiaustritt nahegelegt.29 Hitler aber hatte anders entschieden und die Parteimit-gliedschaft für von Dungen und dessen Söhne gebilligt. Buch konnte dagegen nichts unternehmen und teilte das Ergebnis am 15. Mai 1934 Lammers mit.

Curt Conrad hatte eine jüdische Mutter, von der er angeblich bisher nichts gewusst hatte. Er gehörte der Partei seit dem 1. November 1930 an und wurde 1931 von Reichsbannerangehörigen schwer verletzt. Im

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»Gnadengesuche ausnahmslos ablehnen!« 31

Hinblick auf diesen Einsatz für die »Bewegung« gab Hitler seinem Gnadengesuch statt.

Winifred Wagner setzte sich für Melanie Chrambach ein, die mit einem Juden verheiratet war. Deren Tochter Esther bekam daraufhin Hitlers Bescheid vom 18. Oktober 1935, dass sie weiterhin in der Partei bleiben könne.

Willy Bukow war mit einer Frau verheiratet, deren Großmutter Jüdin war. Er war alter Parteigenosse, hatte schon dem Bund »Oberland« angehört und als Mitwisser des Rathenau-Attentats in U-Haft gesessen. Hitler schickte ihm am 16. Juli 1936 folgendes Schreiben: »Nach Vor-trag des Chefs der Kanzlei des Führers der NSDAP habe ich auf dem Gnadenwege entschieden, dass Sie trotz nicht rein arischer Abstam-mung Ihrer Ehefrau weiterhin der NSDAP als Mitglied angehören kön-nen.«

Oberregierungsrat Hans von Dohnanyi war Persönlicher Referent von Reichsjustizminister Franz Gürtner. Er war »Mischling 2. Grades«, und Hitler hatte nach einer entsprechenden Bitte von Gürtner mit Bescheid vom 14. Oktober 1936 zugesagt, dass »Dohnanyi wegen sei-ner Abstammung keinerlei Nachteile erleiden« solle. Allerdings galt, wie Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß brieflich mitteilte, die Befreiung von den Nürnberger Gesetzen nicht für die Mitgliedschaft in der NSDAP.30 In einem vertraulichen Papier formulierte er seine Kritik an der Rassenpolitik der Partei. Martin Bormann veranlasste daraufhin Dohnanyis Ausscheiden aus dem Reichsministerium und seine Verset-zung als Reichsgerichtsrat nach Leipzig.

Durch einen Zufall soll herausgekommen sein, dass die Diätköchin Hitlers, Helena Maria von Exner, eine jüdische Großmutter hatte. Hit-ler rührte angeblich von da Exners Gerichte nicht mehr an und täuschte Magenbeschwerden vor.31 Exner wurde erst in Urlaub geschickt und dann im Mai 1944 entlassen. Allerdings veranlasste Hitler die Arisie-rung Exners und ihrer Familie durch seinen »Sekretär« Martin Bor-mann.

Der Historiker Adam Wandruszka von Wanstetten aus Lemburg trat im April 1938 als SA-Obertruppführer im Namen der nationalsozialis-tischen Hörerschaft mit einer Dankadresse aus Anlass des »Anschlus-ses« Österreichs hervor. Er beantragte gemeinsam mit seinem Bruder Mario Wandruszka (Sprachwissenschaftler) am 28. Mai 1938 die Auf-

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32 Exkurs: Judenfeindlichkeit im deutschsprachigen Raum

nahme in die NSDAP. Der Gauleiter von Wien befürwortete schließ-lich das Gesuch mit der Begründung, die Brüder stünden »seit März 1933 in der Bewegung«, und man sehe ihnen das Achtel jüdischen Blu-tes, das in ihren Adern fließe, nicht an. Der Appell an die »Gnade des Führers« hatte Erfolg, die Brüder wurden am 1. Mai 1941 rückwirkend zum 1. Mai 1938 in die Partei aufgenommen.

Die genannten Beispiele sind durchaus symptomatisch für Hitlers Ver-halten. Unbestritten ist sein Judenhass. Was ihn im Einzelfall – auch gegen den Willen seiner Ratgeber – veranlasste, »Gnadenakte« auszu-sprechen, lässt sich häufig nur erahnen. Pragmatismus war es wohl kaum. Es war ein irrationales Verhalten, das sich u.a. daran zeigte, dass die Wehrmacht auch die letzten »Mischlinge« und »jüdisch Versippten« entlassen musste, als sie diese angesichts der bevorstehenden militäri-schen Gesamtniederlage am ehesten gebraucht hätte.

Hitler war sich im Übrigen sicher, jüdische Physiognomie sofort erkennen zu können. Aus diesem Grunde spielten bei der Änderung von Abstammungsnachweisen Lichtbilder für ihn eine wichtige Rolle. Wie wenig verlässlich sein Urteil war, beschrieb Ernst Hanfstaengl am Fall des internationalen Opernstars Bertha Morena. Hitler verehrte die Künstlerin, doch stellte ihn Hanfstaengl bloß, als er sich den Begeiste-rungsstürmen Hitlers anschloss, dann aber hinzufügte:

Zweifellos eine Vollblutkünstlerin, allerdings darf man dabei eins nie verges-sen: Bertha Morena ist von Haus aus ein Fräulein Meyer und in Mannheims traditionsreicher Judengasse groß geworden. Mit einem Wort also: Die Morena ist Volljüdin! Oder wussten Sie das nicht, Herr Hitler? Ich sehe noch sein verdutztes Gesicht vor mir und höre sein verärgertes »Ausge-schlossen. Niemals«.32

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