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Wesen und Bedeutung der „Zweckursache”︁ bei Aristoteles

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Page 1: Wesen und Bedeutung der „Zweckursache”︁ bei Aristoteles

BerWissGesch 5,25-39 (1982)

Wolfgang Kulimann

Berichte zur WISSENSCHAFTS­GESCHICHTE © Akademische Verlagsgesellschaft 1 YK2

Wesen und Bedeutung der "Zweckursache" bei Aristoteles*

Summary: Nature and significance of the 'final cause' in Aristotle. - 1. In Aristotle's treatment of the tissues and the argans of animal body the search for their final cause is nothing but the search for their function. There are no speculations about the origin of the purposive organisation of biological species, because species are eternal for him. - 2. When Aristotle is describing the production and propagation of an animal as goal-direc­ted, he does not exclude a causal explanation. He gives causal explanations at great length in De generatione animalium: Against widespread views it is not the future goal that controls the development as a retroactive cause. In animal blood a sort of genetic code is included, which is represented by impulses (which you can imagine as undulatory mo­tions ). By these genetic impulses the form of the parent will be transported to the semen ( or the menstrual blood in the case of woman) and from the semen to the germ of the offspring. - 3. The biological use of the concept of purpose or goal is quite different from the use in physics and cosmology. In ignorance of the law of inertia Aristotle tries to explain the continuous movement in the world metaphysically, by assuming a ten­dency of the stars towards the imma terial god. Terminologically he strictly distinguishes this tendency from the 'final cause' in biology. - 4. In policy man aims at welfare and 'good life'. In history Aristotle denies a goal-directed progress.

Stichwörter: Genetischer Code, Kausalmechanische Erklärung, Techne-Modell, Teleolo­gie, Teleonomie, Vitalismus, Zweckursache; Aristoteles, Hans Driesch; Antike.

1.

Der aristotelische Begriff der Zweckursache oder des "Telos", also wörtlich des "Ziels", hat seit jeher das historische Interesse auf sich gezogen, was mit seiner Wirkungsgeschichte zusammenhängt. In keinem überblick über die Geschichte biologischer Fragestellungen fehlt eine Auseinandersetzung mit der Teleologie des Aristoteles. 1 Dabei ist zu beobach­ten, daß in starkem Maße moderne Debatten über biologische Grundfragen, so die Diskus­sion um den Vitalismus, das Urteil über Aristoteles beeinflussen. Es überwiegen kritische, negative Wertungen, indem man Aristoteles zum Urvater des Vitalismus stilisiert, einer

* Erweitere Fassung eines Vortrages, gehalten auf dem XIX. Symposium der Gesellschaft für Wissen­schaftsgeschichte ("Die Idee der Zweckmäßigkeit in der Geschichte der Wissenschaften"), 28.-30. Mai 1981 in Bamberg, sowie am 15.12.1981 am Seminar für Klassische Philologie in Zürich.

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Richtung, die man durch die moderne Biologie überwunden glaubt.2 Vielfach geht man so weit, Aristoteles die Meinung zuzuschreiben, er setze eine Finalerklärung anstelle einer Kausalerklärung und würde gegenwärtige Ereignisse und Zustände durch erst in der Zu­kunft liegende Faktoren begründen wollen. Man traut also Aristoteles die ziemlich ab­struse Auffassung zu, daß das in Zukunft liegende Telos etwas anderes in diese Zukunft "zieht". Oder man beschuldigt den Philosophen, er spreche der "Natur" bei ihrem Wirken in naiv anthropomorpher Vorstellung "Motive" zu. Es gebe für ihn im biologischen Ge­schehen also eine immaterielle planende Instanz. Generell ist die Rede davon, Aristoteles habe ein durchgehendes teleologisches Weltbild. Auch bei einer großen Zalll von moder­nen Philosophen finden sich älmliche Urteile. 3 Nur wenige Ausnahmen sind zu registrie­ren. So hat beispielsweise Wolfgang Wieland in der aristotelischen Zweckursache nur einen Reflexionsbegriff gesehen, der keine metaphysische Bedeutung besitze.4 Auch durch die philologische Detailforschung werden die genannten Ansichten nicht bestätigt, ohne daß man freilich die Konsequenzen fiir die Gesamtbeurteilung des Philosophen gezogen hätte. Es sollen deshalb nach einem kurzen Rückblick auf die Geschichte des Teleologieproblems vor Aristoteles im folgenden die verschiedenen Bereiche, in denen die sogenannte Zweckursache bei Aristoteles vorkommt, sowohl einzeln als auch in ihrem möglichen Zusammenhang behandelt werden. 5

2.

Natürlich hat man bei den Griechen seit jeher von den Zwecken und Zielen irgendwelcher menschlicher Handlungen gesprochen, und soweit ist dieser Begriff des Zwecks oder Ziels ganz unproblematisch. Komplizierter wird es, wenn diese Redeweise auf Naturprozesse übertragen wird und man auch in diesen zielgerichtete, zweckvolle Abläufe sieht. Auch dies geschieht schon vor Aristoteles. Dieser sagt selbst in Metaphysik A 7 ,988b6ff., daß schon die früheren Philosophen in gewisser Weise die Zweckursache berücksichtigt hätten, wenn auch nicht in der von ihm erreichten Form. So scheint, wie auch Aristoteles glaubt, etwas Zweckmäßiges gemeint zu sein, wenn der Philosoph Anaxagoras die Ordnung des Universums durch den "Nus", den göttlichen Geist, vorgenommen sein läßt. Andererseits klingt die Kritik des Aristoteles, daß Anaxagoras den "Nus" bei der Durchführung seines Ansatzes nur als Wirkursache einsetzte, ohne nach der Zielstrebigkeit der von diesem gestifteten Ordnung weiter zu fragen, berechtigt. Nicht berücksichtigt Aristoteles in sei­nem historischen Rückblick, daß auch bei Platon schon in starkem Maße teleologische Erklärungen, also Erklärungen, die den Zweck oder das Ziel angeben, begegnen. Dies hängt damit zusammen, daß er in der Metaphysik nur an die kosmischen Grundursachen (n\: rrpwrcx cxt'ncx) denkt und in den Ideen und den beiden Prinzipien der Ungeschrie­benen Lehre Platons, dem Einen und der Unbestimmten Zweiheit, keine kosmischen Zweckursachen im strikten Sinn entdecken kann.

Erstmals finden wir im Protagorasmythos bei Platon die Vorstellung, daß die Lebe­wesen bei ihrer Erschaffung durch die Götter von Prometheus und Epimetheus zur Selbst­und Arterhaltung mit natürlichen Waffen, Hilfsmitteln und Begabungen oder besonderer Fruchtbarkeit ausgestattet wurden, mit Ausnahme des Menschen, der erst durch den Diebstalll der Handwerkskunst des Hephaistos und der Athena durch Prometheus und schließlich durch die Verleihung von "Rücksichtnahme" und Recht ( cxto w<: und o iK 77) durch Zeus zur Arterhaltung befähigt wurde. Die Zweckmäßigkeit geht dort also auf die be­wußte Planung der Erschaffer der Menschen zurück. Ob und wieweit der Mythos bei Platon auf Protagaras selbst zurückgeht, bleibe hier dahingestellt. 6

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Von der zweckmäßigen Ausstattung des Menschen durch die Götter ist dann vor allem bei Xenophon, Memorabilien I 4 und IV 3, die Rede .. Dabei kommen seine sinnvollen Körpereigenschaften, die seinem Leben nützlichen Umweltphänomene und seine Seele zur Sprache, und es wird schließlich behauptet, daß auch die Tiere nur um der Menschen willen geschaffen seien. Ob diese Gedanken auf den Philosophen und Anaxagorasschüler Diogenes von Apollonia zurückgehen, ist strittig. Sicher stammen sie nicht von Xenophon selbst.7

Eine größere Zahl von teleologischen Erklärungen findet sich in Platons Timaios. Sie sind insofern schwer interpretierbar, als Platon der Meinung ist, daß es eine Naturwis­senschaft nicht geben könne, da man in dem immer in Veränderung befindlichen Be­reich der Genesis niemals etwas Deutliches nach der genauesten Wahrheit erfahren könne. So_ weiß man nicht, wie die teleologischen Aussagen, die Platon in seinem "Roman von der Natur", wie man den Timaios nennen könnte, gibt, zu werten sind. Platon läßt dort die irdischen Lebewesen durch die Untergötter erschaffen, die auf eine zweckmäßige Organisation ihrer Gewebe und Organe achten. Der ganze Körper des Menschen sei auf den Kopf ausgerichtet, sei dessen "Vehikel". Das Herz als Sitz des mittleren Seelenteils hat nach Platon die Funktion bekommen, zusammen mit dem Logos die Begierden nie­derzuhalten (70 A). Die Lunge wird von den Untergöttern dem Menschen eingepflanzt, damit sie als Hilfe für das Herz Kühlung bringt (70 C) usw. 8

Abgesehen von der Unsicherheit, wie die Metaphorik des Timaios zu interpretieren ist, sind alle diese Zusammenhänge, im Protagorasmythos, bei Xenophon und im Timaios, dadurch ausgezeichnet, daß hier in anthropomorpher Weise den Göttern Zwecksetzungen zugeschrieben werden, wie sie sonst nur dem Menschen möglich sind. Menschen und Tiere sind so zweckmäßig eingerichtet, weil dies bei ihrer Erschaffung von den Göttern so vorgesehen wurde.

3.

Aristoteles unterscheidet sich von den genannten Vorgänger dadurch, daß er die Frage des Zwecks in den natürlichen Prozessen von Grund auf neu bedenkt. Das Problem gewinnt bei ihm eine ganz andere Dimension. ~

Der Begriff der "Zweckursache", also des ov eveKcv. oder r€'Aoc;, gehört in eins der zentralen Lehrstücke der aristotelischen Philosophie hinein, in die sogenannte Vierur­sachenlehre. Aristoteles beschäftigt sich mit dieser vor allem im II. Buch seiner Physik, Kap. 3, das heißt in dem Werk, das die Aufgabe hat, in seine Naturwissenschaft einzu­führen, und in der Metaphysik Ll 2. Es werden jeweils die verschiedenen Bedeutungen des griechischen Wortes CV.LTicv. behandelt. Aristoteles sagt nicht ausdrücklich, wie er zu dieser Lehre von den vier sogenannten Ursachen kommt. Wenn man sich jedoch die Beispiele anschaut, die er gebraucht, so ist ziemlich deutlich, daß er von dem Sprachgebrauch ausgeht, der im Bereich des Handwerks, der techne, anzutreffen ist. Dort lassen sich vor allem vier konstitutive Faktoren bei der Herstellung eines Produkts oder der Erbringung einer Leistung unterscheiden: der Handwerker selber (die sogenannte causa efficiens), das Material, das er benutzt (die ÜA.77 ), der Plan, nach dem er arbeitet, beziehungsweise die Beschreibung oder die Definition der Form, die er dem Material geben soll (das ellioc:), und der Zweck oder das Ziel, das mit der Produktion erreicht werden soll (das o7J eveKcv.). So lassen sich etwa der Baumeister, die Ziegelsteine, Balken usw., der Plan des Hauses und das fertige, dem Schutz von Bewohnern und Mobiliar dienende Wohnhaus (vgl. Meta­physik 1043a 16) als die vier wesentlichsten Faktoren betrachten, die beim Bauen eine Rolle spielen. Sie wurden volkstümlich von den Griechen airiat genannt, was mit

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"Ursachen" sehr mißverständlich wiedergegeben ist. Es gibt leider im Deutschen kein ganz adäquates Wort dafür. Gemeint ist das, was alles "schuld" daran ist, daß ein bestimmtes Produkt zustandekommt Durch die lateinische Lehnübersetzung causae ist schon sehr früh der Eindruck entstanden, als wolle Aristoteles vier verschiedene Formen von Kausal­ursachen unterscheiden. Davon kann aber keine Rede sein.

Bleibt man beim Handwerk, so ist diese Analyse ohne Problematik. Es sind gewisser­maßen vier fundamentale nationalökonomische Falctoren, die bei der Handwerksproduk­tion eine Rolle spielen. Niemand würde, was die Zweckursache anbetrifft, auf den Gedan­ken kommen, Aristoteles wolle sagen, das noch nicht gebaute zukünftige Haus würde kausal den Bauvorgang verursachen. Wohl aber ist die "Funktion eines Bauwerks", die Frage: "wozu dient das Ganze", ein wichtiger Falctor, der berücksichtigt werden muß, wenn· gebaut werden soll. Nun ist es nicht Aristoteles' Anliegen, den handwerklichen Herstellungsprozeß phänomenologisch zu analysieren, sondern das Handwerk, die Techne, dient ihm nur als ein gedankliches Modell, andere Bereiche besser zu verstehen.9 Das wichtigste Anwendungsgebiet ist offensichtlich die Wissenschaft von der organischen Natur. Daneben ist die Wissenschaft von der anorganischen Natur und die Metaphysik, insbesondere der Bereich der Kinetik mit der Frage nach dem letzten Ursprung der Bewegung in der Welt zu nennen, wo gerade auch vom Telos die Rede ist. Schließlich spielt die "Zweckursache", auf die wir uns hier im wesentlichen beschränken und die ich traditionellerweise weiter so nenne, in der Staatslehre des Aristoteles eine Rolle.

Ich beginne mit dem Bereich der organischen Natur. Hier wird der Begriff der "Zweck­ursache" vor allem auf zwei unterschiedlichen Gebieten benutzt, einmal bei der Beschrei­bung der Funktionen der verschiedenen Gewebe und Organe des Körpers, zum anderen bei der Reproduktion der Arten. Da die erstgenannte Verwendungsweise die geringeren Schwierigkeiten des Verständnisses aufweist, beginne ich mit dieser. Sie findet sich vor allem in der Schrift De partibus animalium, "über die Teile der Tiere" (das heißt: über die Gewebe und Organe). 10

Aristoteles erklärt zum Beispiel, daß das Blut zur Ernährung des Körpers da sei oder daß die Knochen zur Stützung des Fleisches dienten. Die Adern seien des Blutes wegen, der Hals um der Speise- und Luftröhre willen, die Leber ist um der Verdauung der Nahrung willen (Aristoteles sagt wörtlich, der griechischen medizinischen Anschauung entsprechend, um der Kochung willen), die Füße seien um der Fortbewegungwillen da, die Nägel, Krallen, Hufe, Hörner, Stacheln bestimmter Tiere dienten als Waffe und zum Schutz usw. Dies sind wenige beliebig herausgegriffene Beispiele. Aristoteles hat in diesem Sinne alle Gewebe und Organe systematisch behandelt und begründet seine Aussagen im einzelnen natürlich mehr oder weniger ausführlich. Letztlich dienen nach seiner Auffas­sung die Gewebe und Organe bestimmten nicht weiter ableitbaren Lebensfunktionen, nämlich dem Denken (beim Menschen), der Wahrnehmung, der Bewegung und der Er­nährung beziehungsweise dem Wachstum. Darüber hinausgehende Fragen nach dem Zweck eines Lebewesens überhaupt, ob es etwa seinen Sinn in der Erhaltung eines ande­ren Lebewesens findet usw., werden in der genannten Schrift nicht gestellt. Es geht nur um die interne Finalität. Es handelt sich also im Prinzip um nichts anderes als um eine einfache Physiologie, als deren Begründer Aristoteles angesehen werden muß.

Freilich ergibt sich hier sofort ein Deutungsproblem. Welche Implilcationen sind mit dieser Erklärungsweise verbunden? Wie kommt nach Aristoteles diese Zweckmäßigkeit zustande? Muß nicht vor Entstehung der Gewebe und Organe wie bei der Entstehung eines Hauses ein Bewußtsein vorhanden sein, das diese Zwecke setzt? Davon hören wir in De partibus animalium nichts. Wenn aber ein solches nicht vorhanden ist, nimmt etwa Aristoteles an, daß der erst in der Zukunft im Laufe der Entwicklung erreichte Zweck kausal die Entwicklung steuert? Das widerspräche der Logik. Versucht er also eine trans-

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zendente Erklärung zu geben, oder unterläuft ihm ein logischer Fehler? Diese und ähn­liche Vorhaltungen sind dem Aristoteles vor allem von Philosophen und Biologen immer wieder gemacht worden, so von Nicolai Hartmann, Wolfgang Stegmüller und anderen. 11

Dagegen wäre zunächst auf die moderne Physiologie zu verweisen, die in ähnlicher Aus­drucksweise nach den Funktionen von Geweben und Organen fragt, ohne jedesmal die Frage nach der Ursache der Zweckmäßigkeit mit zu erörtern. Doch dies Argument ver­fängt nicht, weil gerade die moderne Wissenschaft immer wieder betont, daß es sich dabei um eine uneigentliche Ausdrucksweise handelt, daß keine bewußte Zwecksetzung vorliegt und daß die Resultate natürlicher Entwicklungsprozesse nach darwinistischer Lehre zu­fällig durch Selektion so entstanden sind.

Wie steht es also mit dem Hintergrund der aristotelischen Erklärungsweise? Aristoteles unterscheidet sich dadurch grundlegend von seinen Vorgängern, von dem hinter Xeno­phon stehenden Philosophen ebenso wie von Platons Timaios, daß er davon ausgeht, daß die Lebewesen nicht von der Gottheit geschaffen sind, sondern ungeschaffen ewig so existieren, wie sie existieren. Er wandte sich gegen naive spekulative Entwicklungstheorien, wie sie gelegentlich von den Vorsokratikern vertreten wurden. Empedokles beispielsweise glaubte, daß sich in einer Frühzeit zunächst bestimmte isolierte lebendige Organe bilde­ten, die sich verbanden und, soweit sie im Verbunde lebensfähig waren, geschlechtlich fortpflanzten. 12 Aristoteles beobachtete dagegen nur, daß die Natur keine solchen Sprünge macht, sondern daß "ein Mensch einen Menschen zeugt". 13 Man muß diesen Sachverhalt als einen wissenschaftlichen Fortschritt gegenüber den noch wenig gezügelten Hypothesen des Empedokles und anderer ansehen. Dem steht auch nicht entgegen, daß Aristoteles gelegentlich formuliert, "die Natur" habe etwas so sinnvoll eingerichtet, oder daß er wörtlich sagt: "Die Natur macht nichts umsonst". Dies ist eine reine fas:on de parler, vielleicht in Anlehnung an die Vorstellung vom Demiurgen in Platons Timaios so formuliert, wie Theiler vermutete. 14 Der Gedanke einer Weltschöpfung ist Aristoteles ganz fremd. 15 Erst die christliche Schöpfungslehre hat der aristotelischen Metapher zu einer unbeabsichtigten Aktualität verholfen.

Wie wenig Aristoteles die Entstehung eines Lebewesens als die Verwirklichung eines Planes aus einem Guß betrachtet hat, geht daraus hervor, daß er damit rechnet, daß bestimmte Körpermerkmale nicht von vornherein auf einen Zweck hin angelegt sind, sondern sich als zwangsläufiger Begleitumstand bei anderen somatischen Prozessen erge­ben. Erst sekundär bekommen sie von der Natur dann unter Umständen wieder einen Sinn. So erklärt Aristoteles etwa das Nierenfett als einen Rückstand bei der Filtrierung des Harns, der dann sekundär der Wärmung der Nieren dient. Augenbrauen und Wimpern sind ftir ihn kein primäres Ziel der "Natur", sondern eine sich aus der Feuchtigkeit des Gehirns ergebende zwangsläufige Folge, die dann von der Natur erst sekundär dem Schutz der Augen dienstbar gemacht wird. Auch hierin zeigt sich, daß Aristoteles von dem Gedanken eines vollkommenen Schöpfungsplanes ganz entfernt ist. 16

4.

So kann also mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß eine transzendente, göttliche Instanz nach Aristoteles' Meinung die Zwecke setzt. Damit wird die Übertragung des Techne-Modells auf die Natur gerade im Hinblick auf die Zweckursache problematisch. Klar ist, daß der causa efficiens in der Techne, also dem Techniten, im Bereich der Lebewesen der Vater beziehungsweise Erzeuger entspricht. Ebenso deutlich ist, daß die Gewebe und Organe als Material des neuen Lebewesens figurieren und daß die Form in der Form des Vaters vorgegeben ist oder- anders ausgedrückt- das neue Lebewesen zur

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selben Spezies wie der Vater gehört. Zweifellos entspricht auch dem Produkt als dem Ziel des handwerklichen Prozesses das heranwachsende Lebewesen mit seinen verschiedenen Lebensfunktionen. Aber während im Handwerk das Ziel, der Zweck der Produktion in der Seele des Techniten präexistent ist, ist in der Natur eine vergleichbare Präexistenz des Ziels nicht ohne weiteres erkennbar, wenn Gott und Natur als Instanzen ausfallen. In diesem Punkte scheint also die Analogie zur Teclme, dem Handwerk, nicht ganz vollstän­dig zu sein. Es fehlt in der Natur das Moment der bewußten Zwecksetzung.

Das ist Aristoteles auch bewußt. Er führt in Physik II 8 zur Analogie von Techne und Phy­sis, von Handwerk und Natur, grundsätzlich aus, daß die Techne das vollende, was die Natur nicht imstande sei fertigzustellen, oder daß sie die Natur nachahme. Die Rechtfertigung für das methodische Vorgehen, von der Techne auf die Physis zu schließen, ergibt sich aus der Tatsache, daß die Techne immer schon eine Nachahmung der Natur ist. Ein besonders schlagendes Beispiel für die Vergleichbarkeit sieht Aristoteles darin, daß auch die Tiere ohne Techne und ohne Suchen und Überlegen tedmische Leistungen vollbringen, und er denkt dabei an Spinnweben, Ameisenhaufen und die Nester der Schwalben. Schließlich erklärt er es für deplaziert, deshalb in der Natur eine Zielgerichtetheit zu verneinen, weil man dort nicht sieht, wie die Bewegungsursache überlegungen anstellt. Auch die Hand­werkskunst überlege nicht. 17Aristoteles meint damit, daß handwerkliche Tätigkeit dann am effektivsten ist, wenn sie auf Routine beruht. Die überlegung ist dann ausgeschaltet, und gerade dann entstehen gute Produkte.

Aristoteles ist also nicht nur weit davon entfernt, in der Natur irgendeine geistige überlegungen anstellende Instanz zu vermuten, die die Reproduktion der Arten steuert, sondern er verneint eine Rolle der überlegung sogar in der voll ausgebildeten Techne. Wir könnten heute ein noch besseres Beispiel nennen, etwa eine computergesteuerte Produk­tion, bei der ganz sichtbar jede überlegung fehlt. Im Computer ist allerdings das Ziel in einer anderen Weise präexistent, nämlich in Form eines Programms, das ihm eingegeben ist. Wir müssen uns fragen, ob Ähnliches auch für Aristoteles gilt. Man hat das immer bestritten. Aber darauf deutet doch schon hin, daß der Handwerker ja gerade deshalb ohne überlegung produziert, weil er über die Techne verfügt, sei es in Form eines Plans, sei es in der mündlich überlieferten und eingeübten und in der Seele fest verwurzelten Handwerkskunst.

Aristoteles sagt auch in der Physik, in welcher Form das Herstellungsprogramm in der Natur vorgegeben ist: in der Gestalt des jeweiligen Vaters. Freilich hat diese Auskunft viele moderne Interpreten nicht befriedigt, weil sie Detailangaben über die Weitergabe der Form nicht fanden, und so verfielen sie auf den schon erwälmten Gedanken, Aristoteles habe einem in der Zukunft liegenden Faktor eine kausale Wirksamkeit zuschreiben wol­len. Davon kann jedoch keine Rede sein. Aristoteles hat sich mit der Vorprogrammierung der künftigen Menschen und Tiere ausführlich in seiner Schrift De generatione animalium ("über die Zeugung der Lebewesen") beschäftigt. Leider ist diese Schrift von den Kriti­kern des Aristoteles wenig gelesen worden. In dieser Schrift ist wenig von dem Telos und der Zweckursache die Rede. Vielmehr geht es im wesentlichen um die Entstehungsur­sache. Es soll ja die Entstehung der Lebewesen behandelt werden.

Der Samen des männlichen Lebewesens entsteht nach diesem Werk aus dem Blut und hat dieselben Eigenschaften wie dieses (I 18.19). 18 Nach Aristoteles' Meinung ist das Blut nicht nur Transportmittel für die Nährstoffe, sondern die letzte Form der Nahrung selbst (De part. an. 651 a 14 f., Degen. an. 726b 1 ). Es hat somit die Fähigkeit, alle Körperteile aufzubauen, und teilt diese auch dem Samen mit. Aristoteles ist ferner der irrigen Mei­nung, daß das Menstruationsblut dem männlichen Samen analog sei (Degen. an. I 19, 727a2) und sich nur dadurch von ihm unterscheide, daß es nicht so stark verarbeitet ist wie dieser. Um nun die Reproduktion der Species im Detail zu erklären, greift Aristoteles wieder auf das Techne-Modell zurück. Er sagt in Degen. an. I 22, 730b 11 ff.:

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Ebenso geht auch vom Zimmermann nichts auf das Material der Hölzer über, und es befindet sich auch kein Teil der Zimmermannskunst in dem werdenden Produkt, sondern die Gestalt und die Form dringt von jenem (Zimmermann) her vermittels der Bewegung in das Material ein, und seine Seele, in der die Form vorhanden ist, und seine Kunst bewegen die Hände oder irgend einen anderen Körperteil in einer in bestimmter Weise qualifizierte:1 Bewegung (und zwar jeweils in einer anderen für ein anderes Produkt und in derselben für dasselbe Produkt), und zwar bewegen die Hände das Werkzeug und das Werkzeug das Material. In gleicher Weise benutzt auch die Natur bei den Samen ausscheidenden Lebewesen im Männchen den Samen als ein Werkzeug und als etwas, was aktuell (tatsächlich) Bewe­gung besitzt, so wie bei den technischen Produkten die Werkzeuge sich bewegen. Denn in ihnen ist irgendwie die Bewegung der Kunst enthalten.

So wie der Zimmermann bestimmte Impulse auf sein Werkzeug und dieses diese Im­pulse auf das Material überträgt, so werden auch vom Samen Impulse (Ktv'l]aw;) auf das Menstruationsblut übertragen, wodurch sich die Leibesfrucht entwickelt. Der Same lei­stet also keinen materiellen Beitrag zur Leibesfrucht (I 22). Ein Unterschied besteht darin, daß die übertragenen Impulse beim Lebewesen erst sukzessiv in Form einer Ketten­reaktion zur Wirkung kommen, während beim Handwerk der Impuls des Handwerkers unmittelbar auf das Material einwirkt und ihm Gestalt gibt. Um auch dies zu erklären, greift Aristoteles zusätzlich auf das Modell der "wunderbaren automatischen Mario­netten" zuriick, bei denen ein einmaliger Bewegungsanstoß bestimmte Walzen sukzessiv in Bewegung versetzt und schließlich alle Puppen zum Tanzen bringt. Man vergleiche Degen. an. n 1,734b9ff., wo es heißt:

Es ist aber möglich, daß A zunächst B bewegt und B dann C, ebenso wie bei den wunderbaren automatischen Marionetten. Die ruhenden Teile von diesen sind nämlich irgendwie im Besitz einer Fähigkeit (einer Potenz) zu einer bestimmten Bewegung, und wenn etwas von außen den ersten Teil von ihnen in Bewegung setzt, so bewegt sich alsbald der anschließende Teil tatsächlich. So wie nun bei den automatischen Marionetten jene äußere Kraft die Teile bewegt, nicht dadurch, daß sie jetzt irgendeinen Teil berührt, wohl aber dadurch, daß sie früher einen berührt hat, so wirkt in gleicher Weise auch das, von dem der Same kommt oder was den Samen gebildet hat, auf den Embryo, so daß es zwar einen Teil von ihm berührt hat, jetzt aber keinen mehr berührt. In gewisser Weise aber tut die in ihm enthaltene Bewegung dies, so wie das Hausbauen das Haus baut. -(Das heißt: wenn der Architekt nach Hause gegangen ist, geht es von allein weiter -wenigstens war das in der Antike so.) Man sieht hier, wie sich Aristoteles den Vorgang rein mechanisch ablaufend denkt.- Entgegen weitverbreiteter Vorstellung stellt er sich übrigens den Zeugungsvorgang, was den Anteil der Geschlechter anbetrifft, zwar asym­metrisch vor, aber nicht quantitativ ungleich. Zwar geht er von dem "Normalfall" aus, daß der Mann die Form beisteuert, die Frau das Material. Dies bedeutet jedoch nur, daß das aktive Moment bei der Zeugung zunächst beim männlichen Samen liegt. Wenn die männlichen Impulse sich nicht durchsetzen, kommen die weiblichen zum Zuge, schließ­lich die Erbimpulse, die von den männlichen oder weiblichen Vorfahren latent im Samen oder Menstruationsblut vorhanden sind. Ganz offensichtlich ist der Normalfall für Aristo­teles nicht häufiger als die Abweichung, da ja offensichtlich das vom Manne stammende männliche Geschlecht nicht häufiger als das weibliche ist. 19 Die genetische Impulstheorie ist im einzelnen sehr gut durchdacht. Es gibt solche Impulse für alle Erbfaktoren, und zwar für den Gattungstypus, den Arttypus, den Individualtypus, das Geschlecht und für die Formen der einzelnen Körperteile. Alle diese Impulse sind auch im Blut vorhanden und bauen, indem sie unterschiedlich aktualisiert werden, die einzelnen Körperteile auf. Man sieht hier, daß Aristoteles bis ins einzelne eine mechanische Modellvorstellung hat und daß eine Einwirkung eines künftigen Telos auf die Gegenwart völlig außerhalb seiner Vorstellungswelt liegt. Zwar werden die Impulse der vegetativen Seelenkraft ( ffp~.;nn.t<.Tz ov­V(XJJ.u:;) zugeordnet, die im Herzen angesiedelt ist. Sie sind jedoch keineswegs selbst see­lischer Art, sondern haben einen physikalischen Träger, die Wärme.

Aristoteles ist also weit davon entfernt, der Vitalist zu sein, zu dem ihn am Ende des 19. Jahrhunderts Hans Driesch, der Begründer des modernen Vitalismus, machen wollte.20

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Driesch meinte ja, die embryonale Entwicklung werde durch eine psychoide Entelechie gesteuert, die nach seiner Meinung eine intensive, unräumliche Mannigfaltigkeit in eine extensive Mannigfaltigkeit umsetze. Driesch entwickelte die Theorie, als die moderne Genetik noch in den Anfängen steckte und in gewisser Weise in ihren Grundanschauungen hinter der aristoteliJchen Genetik noch zurückstand. Man kann noch erkennen, wie die sich entwickelnde Chromosomenforschung ihm zunehmend Schwierigkeiten bereitete, die Umsetzung einer zunächst nur intensiven, immateriellen Mannigfaltigkeit in eine extensive Mannigfaltigkeit plausibel zu machen. Man vergleiche in der 1. Auflage seiner Philosophie des Organischen von 1909 den Abschnitt "Variation und Mutation" 2 1, der in der 2. Auf­lage von 1921 fehlt, mit den dortigen neuen Abschnitten "Mendelforschung und Zytolo­gie" und "Letztes Wort über die "materielle Basis" der Vererbung".22 Die Mannigfaltig­keit der Erbanlagen ist ftir Aristoteles beim Zeugungsvorgang in jedem Zeitpunkt extensiv, das heißt materiell, vorhanden.

Wenn man Aristoteles' Genetik und Embryologie gerrauer charakterisieren will, kann man sie eigentlich nur mit den modernsten theoretischen Begriffen kennzeichnen, denen der Molekularbiologie. Man muß sagen, daß die verschiedenen Impulse einen genetischen Code darstellen, der sukzessiv die epigenetische Entwicklung des Embryo steuert.Z3 Die Impulse entsprechen in ihrer Funktion sozusagen der DNS und der RNS, die den gene­tischen Code darstellen und weitergeben und die genetische Invarianz verbürgen. Das, was in der Physik und in der Metaphysik nur sehr allgemein mit der Formel ausgedrückt wurde "Ein Mensch zeugt einen Menschen", wird also in De generatione animalium mit aller wünschenswerten Deutlichkeit kausalmechanisch erklärt. Modernes Denken mag sich nun bei solchen Grundanschauungen nicht beruhigen und fragen, wie Aristoteles sich das Zustandekommen einer derartigen Reproduktionsweise erklärt. Aristoteles faßt sie aber als gegeben auf und leitet sie nicht weiter ab. Er verfugt weder über die darwinistische Evolutionstheorie noch über eine metaphysische Erklärung des Zustandekommens der Arten. Die Arten reproduzieren sich immer in derselben Weise. Dies ist vermutlich ftir ihn kein absolutes Dogma. Dagegen spricht, daß er gelegentlich als Gedankenexperiment über das Entstehen der Arten spekuliert.24 Aber er hatte keine empirischen Beweise ftir eine Entwicklung oder Entstehung der Arten, und seine Ansicht, daß Sprünge der Natur von einer Art zur anderen ausgeschlossen werden können, muß als ein bedeutender wissen­schaftlicher Fortschritt gegenüber Empedokles und auch Platons Timaios angesehen wer­den.

Wenn also Aristoteles formuliert, das Telos, das fertige Lebewesen, mache bestimmte Prozesse notwendig, so ist nicht gemeint, daß etwas Zukünftiges kausal wirksam ist, da das Telos als Code in den vom Samen oder vom weiblichen Blut kommenden Impulsen vorgegeben ist. Nur wenn man wie die Moderne um jeden Preis auf die Entstehung der Arten fixiert ist und sich eine Theorie, die davon absieht, nicht vorstellen kann, kann man auf den Gedanken kommen, Aristoteles müsse entweder einen logischen Fehler gemacht haben oder ein metaphysischer Phantast sein.

Wenn wir nun das Fazit ziehen, so zeigt sich, daß die bisherige communis opinio, Aristoteles sei in der Biologie der Begründer des teleologischen Denkens im Sinne des Vitalismus, falsch ist, wenn man darunter einen Gegensatz zur kausalmechanischen Be­handlungsweise vermutet. In der modernen Biologie ist 1958 eine interessante Entwick­lung eingetreten. Der amerikanische Biologe C. S. Pittendrigh prägte den Begriff der "Teleonomie" als Alternativbegriff zum Begriff der Teleologie, um die Zweckmäßigkeit organischer Strukturen zu bezeichnen, ohne der Möglichlceit einer kausalmechanischen Erldärung abschwören zu müssen.25 Der Freiburger Biologe Bernhard Hassenstein defi­niert den neuen Begriff folgendermaßen 26

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Mit dem neuen Ausdruck können die Biologen seither einen biologischen Tatbestand rein deskriptiv als zweckdienlich oder zielgerichtet keinnzeichnen, ohne damit zugleich eine Hypothese über die Her­kunft der Zweckdienlichkeit auszusprechen. Sie geraten nicht, wie leider mit dem Ausdruck teleolo­gisch, in den Verdacht, eine transzendente Erldärung in einen naturwissenschaftlichen Zusammenhang hineintragen zu wollen.

Dies trifft genau auf Aristoteles' Gebrauch der Zweckursache in der Biologie zu. Er vermeidet eine Hypothese über die Herkunft der Zweckmäßigkeit, konstatiert aber die der Selbst- und Arterhaltung dienlichen Eigenschaften der Lebewesen. Erst als man in der Geschichte des Aristotelismus die aristotelischen Aussagen auf dem Hintergrund heid­nischer oder christlicher Schöpfungslehren sah, beziehungsweise sie mit irgendwelchen metaphysischen Hypothesen über die Entstehung und Entwicklung der Arten verband, entstanden die Deutungsprobleme in bezug auf die Zweckmäßigkeit, die in der Biologie­geschichte oft fälschlich mit dem Namen des Aristoteles direkt in Verbindung gebracht wurden. Für Aristoteles selbst gilt im Unterschied dazu, was Bernhard Hassenstein in seinem Aufsatz "Biologische Teleonomie" feststellte: Wenn man seine Ansicht exakt im Sinne der modernen Biologie beschreiben wolle, müsse man ihn nicht Vater der Teleo­logie, sondern Vater der Teleonomie nennen. 27

5.

Im Bereich der anorganischen Natur, also der anorganischen chemischen Verbindungen und der Elemente, möchte Aristoteles ebenfalls nicht von vornherein auf den Begriff der Finalursache verzichten. Aber er ist sich klar darüber, daß dort sehr viel größere Unsicher­heit besteht. So sagt er etwa in bezugauf das Feuer (Meteorologie IV 12, 390a3 f.):

Das Worumwillen ist dort am wenigsten deutlich, wo am meisten Materie vorhanden ist.

Aristoteles meint also, daß ein größeres Ausmaß von Ordnung der Materie eine deut­lichere Erkennung der Finalursache ermöglicht, ja daß mehr Ordnung wohl auch tatsäch­lich eine ausgeprägtere Zielgerichtetheit mit sich bringt. Grundsätzlich sagt er (Meteoro­logie IV 12, 390a 10 f.): "Alles ist bestimmt durch seine Funktion (i:ip-yov)". Beim Feuer denkt er wohl an seine Einheit und Ganzheit stiftende Funktion in chemischen Verbin­dungen. Allgemein bei den Elementen mag er auch an den inhärenten Trieb zu dem jeweiligen spezifischen Ort denken. Bis zu Newton hin wußte man nichts von der Gravita­tion, und Aristoteles postulierte einen Drang, eine OPJJ.il, der Elemente zu ihrem spezi­fischen Ort: Unterstes Stratum ist das der Erde, darüber sind dann Wasser, Luft und Feuer angesiedelt. Daß er diese natürliche Bewegung der Elemente als zielgerichtet empfand, zeigt beispielsweise eine Stelle wie De caelo IV 3, 310a33 ff.:

Das Sich-an-den-eigentümlichen-Ort-bewegen ist gleich dem Sich-in-das-eigene-Eidos-hinein-begeben.

In diesem physikalischen Bereich macht sich natürlich deutlicher als in der Biologie der Abstand zur heutigen Wissenschaft bemerkbar. Allerdings muß festgestellt werden, daß Aristoteles sich hier selbst sehr unsicher ist.

6.

Eine ganz andere Art von Finalität setzt Aristoteles im kosmischen Bereich an. Von ihr spricht er an einer berühmten Stelle der Metaphysik?8 Um Aristoteles' Verhältnis zur Teleologie richtig einschätzen zu können, kommt es entscheidend auf das richtige Ver­ständnis des Unterschieds an, der zwischen der Zweckursache in der Biologie und der Zweckursache im kosmischen Bereich besteht?9

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Aristoteles' Lehre ist nicht zu verstehen ohne Kenntnis seiner physikalischen Grundan­schauungen. Er kannte nicht das Trägheitsprinzip und nahm an, daß die Bewegung in der Welt durch eine stetig wirkende Kraft in Gang gehalten werden muß. Dabei extrapoliert er nun und setzt einen Unbewegten Beweger (die Gottheit) an, der durch seine Gegenwart eine solche Anziehungskraft ausübt, daß die Fixsternsphäre sich in ständiger Kreisbe­wegung ihm zu nähern sucht. Alle irdische Bewegung hängt dann indirekt durch Ver­mittlung der Fixsternsphäre vom Ersten Beweger ab. Die vom Unbewegten Beweger aus­gelöste Bewegung des Fixsternhimmels interpretiert Aristoteles als zielgerichtet. Die Gott­heit ist das "Wommwillen" der Fixsternsphäre, wie es wörtlich heißt, das oÜ EVEKO!. Aristoteles vergleicht die Wirkungsweise dieses ersten, selbst unbewegten Bewegers mit der Wirkung, die ein Geliebtes auf den Liebenden ausübt. Was das finale Moment in dieser Wirkungsweise anbetrifft, so scheint es mir von der Finalität, die in unserer Vorstellung von der Gravitation steckt, gar nicht so verschieden. Zwar strebt der Fixsternhimmel zum Unbewegten Beweger hin, aber dieser löst die Bewegung aus. Aristoteles setzt dann inA 8 ähnliche göttliche Bewegungsantriebe auch für die Bewegungen der Planeten oder viel­mehr ihrer Sphären an und spricht in diesem Zusammenhang von 55 Unbewegten Be­wegern, die sekundär mit dem einen der Fixsternsphäre identifiziert werden. Auch deren Bewegungen sind also zielgerichtet. Darüber hinaus sieht er in De generatione et corrup­tione II 10 auch im ewigen Zyldus der biologischen Reproduktion der Arten ein der Zielgerichtetheit der Gestirnsbahnen vergleichbares Streben nach der Gottheit. Die An­ziehungskraft der Gottheit richtet sich gemäßDe caelo II 12, wenn auch in abnehmendem Grade, vom Fixsternhimmel bis hinunter zu den Lebewesen, denen es zwar nicht vergönnt sei, individuell an der Ewigkeit teilzuhaben, wohl aber der Art nach.

Wie verhält sich nun diese Zielgerichtetheit auf die Gottheit als Zweckursache zur Zielgerichtetheit in der Biologie, also im Zeugungsvorgang und im Bereich der Körper­gewebe und -organe? Gerade in der Anwendung der Kategorie der Zweckursache in den verschiedenen Bereichen hat man ja ein Indiz für das durchgehende teleologische Weltbild des Aristoteles sehen wollen. Tatsächlich besteht aber zwischen den verschiedenen Weisen der Anwendung dieses Begriffs kein Zusammenhang. Aristoteles hat selbst (an flinf Stellen seines Werkes) darauf aufmerksam gemacht, daß es zwei ganz unterschiedliche Arten von Zweckmäßigkeit gibt und daß in der Metaphysik nur die eine Art vorliegt (Met. A 7). Er unterschei,Qet zwischen einem "Ziel von etwas" (oÜ EVEK&. nvoc;) und einem "Ziel für etwas" ( ov EVEK&. nvL) oder anders ausgedrückt: zwischen einem von anderem erstrebten Ziel (genetivus subjectivus) und einem Ziel, in dessen Interesse andere Dinge liegen ( dati­vus commodi). Die Gottheit wird vom Fixsternhimmel erstrebt, ohne daß die Gottheit daran interessiert ist, weil sie autark ist. Insofern ist die Gottheit "Ziel von etwas", nämlich Ziel des Fixsternhimmels. Umgekehrt gibt es den Fall, daß etwa der Mensch ein Ziel ist, insofern etwas in seinem Interesse liegt (oÜ EVEK&. nvL), ohne daß er erstrebt wird. So ist er im Hinblick auf die Materialien, die er bei seiner handwerklichen Tätigkeit benutzt, oder im Hinblick auf die Tiere, die er zur Nahrung und Bekleidung verwertet, in gewisser Weise ein Ziel, ohne daß diese Stoffe oder Tiere von ihrer Natur her darauf eingerichtet sind, dem Menschen zu dienen. Man kann Zielgerichtetheit, wo sie vorliegt, danach unterscheiden, ob der Nutzen der Zielgerichtetheit sozusagen dem Ziel oder den zielgerichteten Dingen zukommt. Für die Tiere ist es nicht nützlich, dem Menschen zur Nahrung zu dienen, und es ist umgekehrt für die Gottheit nicht nützlich, daß sie von der Welt erstrebt wird. Sie ist, wie Aristoteles sagt, keiner Sache bedürftig.

Wie steht es damit im biologischen Bereich? Hier allein haben wir eine doppelte Zweckmäßigkeit, wie aus De anima 415b 16ff. hervorgeht. Hier sind die Dinge, die auf das Ziel gerichtet sind, etwa die Organe, die die Körperfunktionen ermöglichen, die unerläß­liche Voraussetzung für die Existenz des Ziels und liegen in seinem Interesse. Das Ziel,

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etwa der Organismus eines Lebewesens, kann ohne diese Voraussetzungen nicht exis­tieren. Und zugleich sind diese Voraussetzungen durch das Ziel bedingt; die "Organe", also Werkzeuge, sind von vornherein auf dieses Ziel hin konzipiert; nur durch die Rolle im Gesamtorganismus sind die Organe sinnvoll, ganz im Unterschied zu den Steinen oder den Tieren, die der Mensch sekundär in seinen Dienst nimmt und deren Telos er erst nachträg­lich wird. Beide Aspekte der Finalität kommen im biologischen Bereich zusammen.

Somit ist klar, daß es sich in Biologie, Metaphysik und Techne jeweils um eine ganz unterschiedliche Finalität handelt. Die Zielgerichtetheit im kosmischen Bereich (wie in anderer Weise in der Techne) ist sozusagen defektiv und unausgewogen. Die Gottheit wird dadurch, daß sie erstrebt wird, nicht tangiert. Es handelt sich um eine metaphysische Erldärung des Ursprungs und der Kontinuität der Bewegung in der Welt. Auch wir können wohl heute zumindest den Ursprung der Bewegung nur metaphysisch erklären, wenn wir ihn überhaupt erklären wollen. Im Unterschied zum Telos bei der Zeugung liegt das Ziel des Strebens der Gestirne auch nicht in der Zukunft, sondern ist immer vorhanden. Es wird aber niemals, weder zeitlich noch örtlich, erreicht. Der Fixsternhimmel bewegt sich alle Ewigkeit im Kreis. Dieses ewige Streben nach dem Unbewegten Beweger, der Gott­heit, steht mit der Zweckmäßigkeit der Organisation eines Lebewesens in keinem systema­tischen philosophischen Zusammenhang. 30

überhaupt ist der Gedanke an ein durchgängiges teleologisches Weltbild des Aristoteles ganz abwegig. Auch im kosmischen Bereich gibt es keine Hierarchie der Zwecke oder Ziele. Fixsternsphäre, Planetensphären und die ewigen Kreisläufe im meteorologischen Bereich sowie die ewige Reproduktion der Arten durch die Kette der Geburten der Lebewesen streben unabhängig voneinander nach dem Unbewegten Beweger (vgl. De caelo II 12 und De generatione et corruptione II 10). Der Sinn dieser Aussagen ist es, die Kontinuität und Ewigkeit der jeweiligen Bewegungsabläufe zu erklären. Dies ist erforder­lich, weil nach Aristoteles' physikalischer Grundüberzeugung alle auf normale Weise, etwa durch Anstoß oder Wurf31 in Gang gesetzten Bewegungen irgendwann von allein aus­laufen und zur Ruhe kommen. Das Beispiel, das Seneca in seinen Quaestiones naturales für diese Auffassung gibt (I 2.2), kann auch Aristoteles' Auffassung charakterisieren: Die Kreise, die ein ins Wasser geworfener Stein verursacht, verlieren sich irgendwann in der Glätte des übrigen Wassers, womit die Bewegung zur Ruhe kommt(" ... donec evanescat impetus et in planitiem immotarum aquarum solvatur"). 32 Wo Bewegung niemals aufhört, ist es unausweichlich, den kontinuierlichen Einfluß eines unbewegten Bewegers anzu­setzen. In der Biologie geht es nicht um kinetische Probleme, sondern es handelt sich um etwas ganz anderes, nämlich um das Zustandekommen sinnvoller Einzelstrukturen, das heißt einzelner Lebewesen oder Pflanzen und ihrer Teile, die im Erzeuger programmatisch antizipiert sind und die die Selbst- und Arterhaltung ermöglichen.

Man hätte schwerlich in der Forschung einen Zusammenhang zwischen beiden Erschei­nungen angenommen, wenn nicht Aristoteles, seiner Gewohnheit entsprechend, in beiden Fällen den Ausdruck "Worum-willen" aus der Alltagssprache entlehnt hätte. Daß er nichtsdestoweniger terminologisch genau differenziert, ist dabei meist übersehen worden.

7.

Wieder anders zu beurteilen ist die Verwendung des Begriffs der Zweckursache in der Politik des Alistoteles. Nach I 2 ist der Staat, die Polis, die vollkommenste menschliche Gemeinschaft (TEAEWC: Kotvwvicx). In seiner Strukturanalyse legt Aristoteles dar, daß zunächst die Grundverhältnisse Mann- Frau, Herr- Knecht, Vater- Kinder die Familie konstituieren (den Oilms ), die insofern die Keimzelle des Staates ist. Die Gemeinschaft

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verschiedener Familien ist das Dorf, die Gemeinschaft aus mehreren Dörfern der Staat, der im Unterschied zu den anderen Gemeinschaften autark ist. Er ist das Ziel, das o7J iivEK.rx, auf welches der Zusammenschluß der Menschen hinausläuft. Die Tatsache, daß nur die Polisgemeinschaft die volle Autarkie garantiert, macht ftir Aristoteles deutlich, daß der Mensch von Natur aus ein politisches Lebewesen ist.

Diese Feststellungen sind gelegentlich so interpretiert worden, daß Aristoteles die Polis als ein substantielles Gebilde ansieht oder daß nach ihm die Polis für den Menschen eine metaphysische Realität besitzt. Doch können seine Formulierungen insoweit nur meta­phorisch gemeint sein. Die Polis ist keine Substanz, ovaicx., sondern nur TL rrA.Y({}oc; ixv{}pWr!wv, eine bestimmte Menge von Menschen (z. B. VII 4, 1325b40; VII 8, 1328b 16). Wenn man fragt, inwiefern die Polis als Telos und als "Zweck" der einfacheren mensch­lichen Gemeinschaften genannt werden kann, geht man am besten von III 6 aus. Danach besitzen die Menschen einen unmittelbaren natürlichen Trieb zum Zusammenleben.33

Auch wenn sie keiner Hilfe von einander bedürften, würden sie nichtsdestoweniger nach dem Zusammenleben streben. Zusätzlich kommt der bewußt erstrebte Nutzen als Motiv ftir die staatliche Gemeinschaft hinzu. Aristoteles lehnt also den Gedanken an einen ursprünglichen cantrat social ab 34 und erklärt das Bestehen des Staates aus dem Zusammen­wirken zweier Faktoren, einem angeborenen Trieb, wie er in weniger entwickelter Form auch bestimmten Tieren eigen ist (Ameisen, Bienen usw.), und dem rationalen,spezifisch menschlichen Streben nach Wohlfahrt, nach Glück. Logische Probleme wirft diese Ver­wendung des Begriffs des Zwecks nicht auf.

Diese aristotelische Frage nach dem Staatsziel beziehungsweise seine Bestimmung als Gemeinwohl ist im übrigen heute wieder aktuell. Der Politologe Wilhelm Hennis beispiels­weise hat diesen Gedanken unter Berufung auf Aristoteles erneut in die Staatslehre einge­führt und auf seine Bedeutung für die Fundierung des Staates in der Ethik hingewiesen. 35

Abschließend soll noch ein Wort zu der Frage gesagt werden, wie Aristoteles die Ge­schichte gedeutet hat, da man auch hier teleologisches Denken vermutet hat. Hier ist jedoch offenkundig, daß er anders als vor ihm Platon und nach ihm Polybias jeden teleologischen Bezug davon fernhält. Dies wird sofort verständlich, wenn man sich klar macht, daß für ihn künftige Ereignisse undeterminiert sind. In De interpretatione 9 führt er aus, daß ein Satz wie "Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden" weder walu noch falsch genannt werden kann, weil noch nicht feststeht, ob die Seeschlacht stattfinden wird. 36 Auf bestimmten Gebieten rechnet Aristoteles durchaus mit Höherentwicklungen und mit Fortschritt. Das gilt etwa ftir die kulturelle Entwicklung und die sukzessive Entdeckung der verschiedenen Handwerkskünste.37 Es trifft auch auf die schrittweise Erkenntnis der Prinzipien des Seins in der Philosophie zu. 38 Auch in der politischen Entwicklung sieht er im homerischen Königtum zwar eine ideale, aber durch die zuneh­mende Gleichheit der Menschen nicht mehr wirklichkeitsnahe Verfassung (vgl. Politik V 10, 1313a3ff.).

Dennoch wäre es ganz falsch, Aristoteles zu einem Verkünder eines zielgerichteten Fortschritts machen zu wollen. Es gibt seiner geschichtlichen Kenntnis nach Brüche, Katastrophen, die die kulturelle Entwicklung der Menschheit wieder zurückwerfen (vgl. Politik II 8, 1269a4ff.; VII 10, 1329b25ff.; Metaphysik A8, 1074b 10ff.). Er steht inso­weit in der Nachfolge Platons und anderer. Was ihn grundsätzlich von diesen Vorgängern in Bezug auf die Katastrophentheorie unterscheidet, ist, daß er nur mit unregelmäßigen Katastrophen rechnet und daß jede Andeutung einer Kreislauftheorie in bezug auf die Kulturentwicklung fehlt. 39 Auch was die Verfassungen anbetrifft, so liegt ilun jeder Ge­danke an einen Kreislauf oder eine Zwangsläufigkeit der Abwärtsentwicklung wie in Platons Staat ganz fern, wie seine Platonkritik am Ende von Politik V deutlich macht. Offenbar ist für ihn die Geschichte ein Wogenmeer von Zufälligkeiten, das zumindest im Ganzen betrachtet eine zielgerichtete Entwicklung nicht erkennen läßt.40

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8.

Ich fasse zusammen: Wir finden bei Aristoteles den Gedanken der Zweckmäßigkeit haupt­sächlich in folgenden Ausprägungen. 1) Aristoteles untersucht die Funktionen von Körpergeweben und -organen, er betreibt Physiologie. Hier ist die Suche nach der Zweckursache nichts anderes als die Frage nach der Funktion. Spekulationen über die Entstehung dieser Zweckmäßigkeit fehlen. Da die Arten ewig sind, entfällt die Frage, auf welche Weise es zu ihrer zweckmäßigen Organisa­tion gekommen ist. 2) Aristoteles konstatiert die Zielgerichtetheit der Zeugung und Fortpflanzung eines Le­bewesens im Ganzen. Dies schließt nicht eine kausalmechanische Erklärung der Zeugung aus, die Aristoteles in De generatione animalium ausführlich gibt. Entgegen weitverbreiteten Auffassungen steuert nicht das Telos als solches die Entwicklung, sondern eine Art gene­tischer Code ist in Form von Impulsen, die man sich als Wellenbewegungen vorstellen mag, im Blut enthalten und wird von ihm in Form von Wärme auf den Samen und von diesem auf die Leibesfrucht übertragen beziehungsweise bei der Frau vom weiblichen Blut beigesteuert und gibt die Form des Lebewesens weiter, deren Reproduktion zugleich das Telos des Entwicklungsorgans darstellt. Aristoteles vergleicht den Vorgang mit der Wir­kungsweise von mechanischen Automaten, die für ihn sozusagen ein kybernetisches Mo­dell darstellen. Die Erklärung ist also insoweit streng kausalmechanisch. 3) Ganz zu trennen von der biologischen Verwendung des Begriffs der Zweckursache ist sein Gebrauch im physikalisch-kosmischen Bereich. Aristoteles versucht- in Unkenntnis des Trägheitsprinzips- das Vorhandensein von kontinuierlicher, ewiger Bewegung in der Weit metaphysisch aus dem Streben nach der immateriellen Gottheit zu erklären, die auf den Fixsternhimmel, die Planeten und die irdischen Lebensvorgänge eine Anziehungskraft ausübt. Er unterscheidet diese Zielgerichtetheit terminologisch ausdrücklich von der Ziel­gerichtetheit im organischen Bereich und im Bereich der Zeugung. 4) Im Bereich der Politik sieht Aristoteles ein Ausgerichtetsein der Menschen auf den Staat hin, das sowohl durch seine genetische politische Veranlagung bedingt ist als auch durch sein bewußtes Streben nach Wohlstand und Glück. 5) In der Geschichte nimmt Aristoteles im Ganzen gesehen keine zielgerichtete Entwick­lung an. Nur ganz partiell arbeitet er mit organologischen Metaphern.

Zur Bewertung aus moderner Sicht ergibt sich, daß Aristoteles' Anwendung des Be­griffs der Zweckursache in der Biologie durch die moderne Entwicklung dieses Faches in den letzten Jahren voll rehabilitiert ist nach einer jahrhundertelangen Anfeindung. Die aristotelischen Gedanken im Bereich der Biologie werden nur dann problematisch, wenn man sie mit einer Hypothese über die Entstehung der Zweckmäßigkeit koppelt, insbeson­dere mit irgendeiner Schöpfungstheorie, etwa der christlichen. Doch dies gehört in die Geschichte des Aristotelismus hinein und hat mit Aristoteles selbst nichts zu tun.41

Nicht aktuell ist seine Erklärung des Ursprungs der Bewegung in der Welt, zum Teil zumindest deshalb, weil dieses Problem auch aus der modernen Physik ausgeklammert ist. - Sehr anregend kann seine Benutzung des Zweckbegriffs in der Staatslehre sein, um die anthropologische Einseitigkeit der modernen Staatslehre zu überwinden.

1 Vgl. z. B. L. von Bertalanffi: Theoretische Biologie. Berlin 1932, Bd. I, S. 36 ff.; E. Ungerer: Die Erkenntnisgrundlagen der Biologie. Ihre Geschichte und ihr gegenwärtiger Stand, in: Handbuch der Biologie, Bd. I, 1, Konstanz 1965, S. 14 ff.; Max Hartmann: Einftihrung in die allgemeine Biolo­gie und ihre philosophischen Grund- und Grenzfragen. Berlin 1965, S. 110; siehe auch J. Monod: Zufall und Notwendigkeit. München 1971, S. 30 f. (ursprünglich: Le hasard et Ia necessarite. Paris 1970, s. 32 f.).

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2 Diese Tendenz ist vor allem durch H. Driesch begünstigt worden, der seinen Vitalismus an Aristo­teles anzuknüpfen versuchte. Vgl. H. Driesch: Philosophie des Organischen. Leipzig 1921, S.l39 f., 357 f.; denselben: Geschichte des Vitalismus. Leipzig 1922, S. 8 ff.

3 Vgl. unter anderem Nicolai Hartmann: Teleologisches Denken. Berlin 1951, S. 66 und passim; E. Topitsch: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Wien 1958, S. 146 ff.; W. Stegmüller: Pro­bleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Bd. 1, Berlin 1969, S. 556 ff.; denselben: Einige Beiträge zum Problem der Teleologie und der Analyse von Systemen mit zielgerichteter Organisation, in: Aufsätze zur Wissenschaftstheorie [erstmals 1961]. Darmstadt 1970, S. 50.

4 W. Wielancl: Die aristotelische Physik. Göttingen 1962, S. 254 ff. Vgl. auch E. Knobloch: Das Naturverständnis der Antike, in: F. Rapp (Hrsg.): Naturverständnis und Naturbeherrschung. Mün­chen 1981, S. 31 ff.; Stephen Toulmin: Teleology in contemporary science ancl philosophy. Neue Hefte für Phi/asopie 20 (1981), 140 ff.

5 Für Detailfragen sei auf W. Kullmann: Die Teleologie in der aristotelischen Biologie. Aristoteles als Zoologe, Embyrologe und Genetiker (Sitzungsberichte der Heiclelberger Akademie der Wissenschai._ ten, phil.-hist. Klasse 1979, 2. Abh.), hingewiesen.

6 Vgl. C. W. Müller: Protagaras über die Götter. Hermes 95 (1969), 140 f.; U. Dierauer: Tier und Mensch im Denken der Antike. Studien zur Tierpsychologie, Anthropologie und Ethik. (Studien zur antiken Philosophie, hrsg. von H. Flashar, I-I. Görgemanns, W. Kullmann, Bel. 6) Amsterclam 1977, S. 37 f., 48 f.

7 Vgl. W. Theiler: Zur Geschichte der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles. Berlin (' 1925) 2 1965, S. 14 ff.; U. Dierauer (wie Anm. 6), S. 49 ff.

8 Vgl. W. Kullmann: Der platonische Timaios und die Methode der aristotelischen Biologie, in: Stuclia Platonica. Festschrift für H. Gunclert. Amsterclam 1974, S. 139 ff.

9 Vgl. K. Bartels: Das Techne-Moclell in der Biologie des Aristoteles. Diss. Tübingen [ 1963] 1966, und die Arbeit meines Schülers W. Fiedler: Analogiemodelle bei Aristoteles. Untersuchungen zu den Vergleichen zwischen den einzelnen Wissenschaften und Künsten. (Studien zur antiken Philoso­phie, hrsg. von H. Flashar, H. Görgernanus und W. Kullmann, Bel. 9) Amsterclam 1978, S. 260 ff.

10 Vgl. dazu W. Kullmann: Wissenschaft und Methode. Interpretationen zur aristotelischen Theorie der Naturwissenschaften. Berlin/New Y ork 1974, S. 308 ff. und passim.

11 Vgl. oben Anm. 1. 12 Vgl. Empeclokles fr. 31 B 61; A 72 Diels-Kranz. 13 Vgl. dazu auch K. Oehler: Das aristotelische Argument: Ein Mensch zeugt einen Menschen, in:

Einsichten. Festschrift ftir Gerharcl Krüger. Frankfurt/Main 1962, S. 260 ff. 14 W. Theiler (wie Anm. 7), S. 85; vgl. W. Wieland (wie Anm. 4), S. 274, Anm. 20: W. Kulimann (wie

Anm. 5 ), S. 24 f. 15 Platon hatte etwas dergleichen in seinem Timaios geschildert, aber selbst dort ist wahrscheinlich der

Gedanke einer Schöpfung und Entwicklung nur aus didaktischen Grünelen eingeftihrt, um die Struktur des Kosmos besser verständlich zu machen. Dies war schon die Auffassung des Platon­schülers Xenokrates fr. 54 Heinze. Zur methodischen Einstellung Platons im Timaios vgl. auch W. Kulimann (wie Anm. 8), S. 145.

16 W. Kullmann: Die wissenschaftliche Bedeutung der aristotelischen Biologie, in: A. D. Skiaclas (Hrsg.): Gedenkschrift ftir Anastasios Giannanis (1920-1977). Athen 1981, S. 58 f. Siehe auch denselben (wie Anm. 10), S. 332 ff. und (wie Anm. 5), S. 22 f.

17 Aristoteles: Physik II 8, 199b26ff. 18 Vgl. dazu auch Erna Lesky: Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken.

(Abh. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur [ Mainz] 1950, Nr. 19) Wiesbaden 1950, S. 1349 ff.; W. Kulimann (wie Anm. 5), S. 52 f.

19 Vgl. W. Kulimann (wie Anm. 5), S. 51 f. 20 Vgl. H. Driesch (wie Anm. 2). 21 Vgl. H. Driesch: Philosophie des Organischen. 1. Auflage (1909), Bel. 1, S. 241 ff. 22 H. Driesch (wie Anm. 21, 2. Auflage, 1921 ), S. 229 ff. bzw. 231 ff. 23 Vgl. W. Kulimann (wie Anm. 5), S. 57 ff. 24 Vgl. z. B. De gen. anim. III 11, 762b28ff. und dazu W. Kullmann: Der Mensch als politisches

Lebewesen bei Aristoteles. Hermes 108 (1980), 443, Anm. 67 (mit weiterer Literatur). 25 C. S. Pittenclrigh: Adaptation, natural selection ancl behavior, in: A. Roe/G. G. Simpson (Ecls.):

Behavior ancl Evolution. New Haven 1958, S. 394; J. Monocl (wie Anm. 1), S. 17; Ernst Mayr: Evolution und die Vielfalt des Lebens. Berlin/Heidelberg/New York 1979, S. 207 ff. (Den Hinweis verdanke ich meinem Kollegen, dem Biologen Rainer Hertel.)

26 B. Hassenstein: Biologische Teleonomie. Neue Hefte für Philosophie 20 (1981), 60.- InderTer­minologie des Freiburger Biologen H. Mohr ausgedrückt, finden sich bei Aristoteles sowohl die

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funktionale als auch die teleologische Erklärung im Sinne einer internen Teleologie verwendet (Der Begriff der Erklärung in Physik und Biologie. Die Naturwissenschaften 65 (1978), 4 f.).

27 B. Hassenstein (wie Anm. 26), S. 70. 28 Aristoteles: MetaphysikA 7, 1072b1 ff. 29 Vgl. zum folgenden W. Kulimann (wie Anm. 5), S. 31 ff. 30 Vgl. W. Kulimann (wie Anm. 5), S. 35 ff. 31 Vgl. G. A. Seeck: Die Theorie des Wurfs, Gleichzeitigkeit und· kontinuierliche Bewegung, in:

derselbe (Hrsg.): Die Naturphilosophie des Aristoteles. (Wege der Forschung, Bd. 225) Darmstadt 1975, s. 384 ff.

32 Vgl. D. M. Bahne: Greek Science and Mechanism, II. The Atomists. Classical Quarterly 35 (1941), 24.

33 Vgl. dazu W. Kullmann (wie Anm. 24), S. 426 ff. 34 Vgl. W. Kullmann: Aristoteles' Bedeutung ftir die Einzelwissenschaften. Freiburger Universitäts­

blätter Heft 73 (1981), 29 ff. 35 W. Hennis: Politik und praktische Philosophie.(' 1963) 2 StuttgaTt 1977, Kap. I. 36 Vgl. dazu W. Wieland: Aristoteles und die Seeschlacht. Zur Struktur prognostischer Aussagen.

Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 2 (1979), 25 ff. 37 Aristoteles: MetaphysikA 1, 981 bl3ff. 38 Aristoteles: MetaphysikA 2 - A 9. 39 Vgl. R. Zoepffel: Historia und Geschichte bei Aristoteles. (Abhandlungen der Heidelberger Akade­

mie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse 1975, Abh. 2) Heidelberg 1975, S. 44 ff., 51 ff.; W. Kuli­mann (wie Anm. 24), S. 443 mit Anm. 67.

40 In dem Buch von J. Day/M. Chambers: Aristotle's History of Athenian Democracy (Amsterdam 1967), wird der interessante Versuch gemacht, Aristoteles' Darstellung der athenischen Verfas­sungsgeschichte in der Athenaiön politeia und seine Einteilung der Demokratie in vier Arten in Politik IV teleologisch zu deuten. Diese These ist jedoch von E. Schütrumpf: Die Analyse der Polis durch Aristotelcs. (Studien zur antiken Philosophie, hrsg. von H. Flashar, H. Görgemauns und W. Kullmann, Bd. 10) Amsterdam 1980, S. 327 ff., ausfUhrlieh und überzeugend zurückgewiesen worden.

41 Vgl. dazu auch F. Krafft: Das Verdrängen teleologischer Denkweisen in den exakten Naturwissen­schaften, in: H. Poser (Hrsg. ): Formen teleologischen Denkens. Berlin 1981, S. 31-59 [revidierte Fassung unter dem Titel "Zielgerichtetheit und Zielsetzung in Wissenschaft und Natur" unten abgedruckt: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 5 (1982), 53-74], und Chr. Hünemörder: Teleo­logie in der Biologie, historisch betrachtet. Ebendort, S. 79-97 [Korrekturzusatz: Zu dem nach Abschluß des Manuslcriptes erschienenen klugen Buch von Eve-Marie Engels: Die Teleologie des Lebendigen. Eine historisch-systematische Untersuchung. (Erfahrung und Denken. Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften, Bel. 63) Berlin 1982, das wiederum ein temperamentvolles Plädoyer für die nacharistotelische und christlich bestimmte Teleologievorstellung der Tradition und gegen den modernen biologischen Teleonomiegedanken enthält, soll bei anderer Gelegenheit Stellung genommen werden. Vgl. auch dieselbe: Teleologie ohne Telos? Überlegungen zum XIX. Symposium der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte e. V. vom 28.-30. Mai 1981 in Bamberg über "Die Idee der Zweckmäßigkeit in der Geschichte der Wissenschaften". Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 13/1 (19 82 ), 122-16 5 .]

Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. Wolfgang Kulimann Bayernstraf~e 6 D-- 7800 Freiburg i. Br.