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Wird die Eintracht am 14. Spieltag in München gewinnen, unentschieden spie- len oder verlieren? Eine Vorhersage ist schwer, auch wenn sich hinterher mancher Sportbericht in Suggestionen des Selbstverständlichen ergeht. Brisant wird die Frage der Faktoren einer richti- gen Einschätzung für das Glücksspiel- recht, das bestimmte Wettformen deut- lich strenger reguliert als andere. Zwei Bonner Nachwuchsforscher haben sich der Fußballwette angenommen, empiri- sche Studien angestellt und kommen in dem eben veröffentlichten Preprint zu überraschenden Ergebnissen (Andreas Glöckner, Emanuel Vahid Towfigh, „Ge- schicktes Glücksspiel. Die Sportwette als Grenzfall des Glücksspielrechts“, issue 2010/32, Bonn, Max Planck Institute for Research on Collective Goods, 2010; online unter: www.coll.mpg.de/pdf_dat/ 2010_32online.pdf). Ausgangspunkt ist die Unterscheidung von Glücks- und Geschicklichkeitsspie- len. Sie liegt dem Glücksspielrecht zu- grunde, welches Spieler und Allgemein- heit vor den Gefahren der Sucht, den öko- nomischen Folgen der Wettleidenschaft und spielbezogenen Begleit- und Folge- straftaten schützen will. Ähnlich wie beim Verbraucherschutzrecht wird dabei typisierend vorgegangen und dem Bürger ein letztlich paternalistischer Schutz vor sich selbst verordnet. Obwohl die Sportwetten nach herr- schender Auffassung als Glücks- und nicht als Geschicklichkeitsspiel einzuord- nen sind, ist die juristisch folgenreiche Einschätzung empirisch erstaunlich we- nig unterfüttert. Die derzeit kontrovers diskutierte Frage des Eintritts von priva- ten Anbietern in den Markt hängt gleich- falls nach der heutigen Dogmatik von die- ser Unterscheidung und der Zuordnung der Sportwette ab. Ein maßgeblicher Schutzimpuls geht dabei von der Beob- achtung aus, dass Wettteilnehmer den Wert ihrer Hoffnungen falsch bewerten und demzufolge irrationale Wetten ab- schließen. Trifft dies aber für die Fußballwetten zu? Die Forscher haben es ihre Versuchs- teilnehmer ausprobieren lassen. Sie mussten ausgewählte Spiele der Saison 2008/2009 und 2009/10 bewerten, wobei ebenso der Zeitpunkt der Einschätzung variierte (drei Tage bis drei Wochen vor dem Spiel) als auch der Fußballsachver- stand evaluiert wurde: Die Teilnehmer mussten ein Sportquiz absolvieren und eine Selbsteinschätzung ihrer Fähigkei- ten abgeben. Damit sollte der Einfluss der Geschicklichkeit auf den Ausgang der Sportwette als auch die – womöglich übersteigerte – Kontrollillusion der Spie- ler geprüft werden. Wenig überraschend ließ sich bei den Drei-Tages-Wetten ein kleiner, aber sta- tistisch signifikanter positiver Einfluss von Geschicklichkeit auf korrekte Vorher- sagen ausmachen. Der kurze Vorhersage- horizont ließ kompetente Wetter die Form von Spielern und Mannschaften einbeziehen, neben exaktem Tabellen- platz konnten Verletzungen und Belas- tungen berücksichtigt werden. Bei einem dreiwöchigen Vorhersagehorizont hinge- gen ließ sich kein Einfluss von Geschick- lichkeit auf den Wetterfolg mehr nach- weisen. Ist die (kurzfristige) Sportwette damit ein Unterfall der Geschicklichkeitswette und damit nicht mehr gefährlich? Kann man so nicht sagen, finden die Bonner Forscher. Denn ebenso klar zeigte sich, dass die Probanden mit höherem Ge- schick annehmen, dass der Ausgang der Wetten stärker von ihrem Geschick ab- hängt. Gerade bei Personen mit hoch ein- geschätzter Geschicklichkeit ließ sich eine Kontrollillusion und übersteigerte Selbstsicherheit nachweisen: Mit steigen- dem Geschick wächst die Selbstüber- schätzung überproportional. Bleibt man im System der bisherigen Bewertung von Glücksspielen, so müsste man die Sportwette als „gemischtes Spiel“ qualifizieren, da Geschicklichkeit nachweislich eine Rolle spielen kann. Allerdings verdeutlicht das Fußballbei- spiel auch, dass die beiden Genres Glücks- und Geschicklichkeitsspiel nicht so trennscharf zu unterscheiden sind, wie man es sich aus regulatorischen Moti- ven gerne wünschen würde. Zumal es ja keine Alternative zu einer ganzheitli- chen Betrachtung dieses Wettgenres gibt. Umgekehrt zeigt aber die Unter- suchung, dass die Sportwetten eine Kontrollillusion erzeugen, die ihre sucht- vermittelnden Faktoren hat. Nicht von ungefähr wird das Suchtpotential von Sportwetten zehn Mal so hoch wie das vom Lotto „6 aus 49“ eingeschätzt. Die beiden Bonner Juristen ziehen dement- sprechend kritische Schlüsse für das der- zeitige Glücksspielrecht: Die Unterschei- dung in Glücks- und Geschicklichkeits- spiele sei nicht geeignet, gefährliche von harmlosen Spielen zu unterscheiden. Ge- rade weil Geschick erforderlich ist, kön- nen die Spieler einer Kontrollillusion er- liegen. Umgekehrt glaubt ja gerade bei Zahlenlotto niemand, dass sein Erfolg von etwas anderem als purem Glück ab- hängt. Für Selbstüberschätzungen ist da kein Raum – vorausgesetzt man ist nicht abergläubisch und wähnt sich mit höhe- ren Kräften in Verbindung. Die tradierte Dogmatik des Glücks- spielrechts ist damit nicht in der Lage, den vom Gesetzgeber gewünschten Schutz zentraler Güter zu gewährleisten. Das Gefährdungspotential bestimmter Spiele wird mit den derzeit geltenden Pauschalierungen systematisch ver- kannt. Die bisherige, privilegierende Ka- tegorie des „Geschicklichkeitsspiels“ soll- te aufgegeben werden. Statt dessen müss- ten sich Gesetzgeber und Verwaltung stärker um die Empirie der jeweiligen Gefährdungspotentiale kümmern – viel- leicht indem sie einfach mal selbst mehre- re, gestaffelte Tipprunden im Ministeri- um organisieren. Die Saison hat ja erst angefangen. MILOŠ VEC Wetten, dass Schalke es diesmal schafft? Deutscher Meister wird nur der FCB: Selbstüberschätzung bei Sportwetten als Herausforderung des Glücksspielrechts

Wetten, dass Schalke es diesmal schafft? · 9/1/2010  · dass die Probanden mit höherem Ge-schick annehmen, dass der Ausgang der Wetten stärker von ihrem Geschick ab-hängt.Geradebei

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Page 1: Wetten, dass Schalke es diesmal schafft? · 9/1/2010  · dass die Probanden mit höherem Ge-schick annehmen, dass der Ausgang der Wetten stärker von ihrem Geschick ab-hängt.Geradebei

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG MIT T WOC H, 1. SEPTEMBER 2010 · NR. 202 · SEITE N 3Geisteswissenschaften

Die Forschergruppe „Poetik und Herme-neutik“ hat von 1963 an eine ganze Reihevon Kolloquien zu Fragen der Ästhetik,der Geschichtsphilosophie und zu geistes-wissenschaftlichen Grundbegriffen über-haupt veranstaltet. Wer sich orientierenwill, wie zwanzig Jahre lang in Deutsch-land über Epochenunterscheidungen, Ro-mantheorie, das Unschöne in den Küns-ten, Säkularisierung oder Mythos disku-tiert wurde, kann zu einem ihrer Tagungs-bände greifen. Aus dem Diskussionszu-sammenhang der Gruppe ist die Rezepti-onsästhetik als Lehre vom im Text selbstschon mitgedachten Leser hervorgegan-gen. Der Philosoph Hans Blumenberg leg-te die Grundelemente seiner Deutung dermodernen Welt auf jenen Kolloquien vor.Eine ganze Reihe der Aufsätze, mit denenReinhart Koselleck berühmt wurde, wa-ren Beiträge zu ihnen. Der Kunsthistori-ker Max Imdahl stellte dort seine „Ikonik“als kunstwissenschaftliche Methode jen-seits der Ikonographie vor. Und nicht zu-letzt wurden die wirksamen Thesen OdoMarquards gegen das geschichtsphiloso-phische Denken dort entwickelt.

Man könnte so weitererzählen und Die-ter Henrichs Kontroverse mit Blumenbergüber den Roman erwähnen oder die Ein-würfe gegen Blumenberg, Koselleck undMarquard, die Jacob Taubes aus religions-philosophischer Perspektive vorbrachte,ein Philosoph, der außerhalb jener Ta-gungsbände damals so gut wie nichts pu-blizierte. Hunderte von Anregungen, eineimmense Stofffülle, die anlässlich der Kol-loquien gemeinsam durchgepflügt wurde,und alles in allem der Versuch, Geisteswis-senschaft als Kombination aus Philoso-phie und Forschung zu behaupten.

Man könnte so weitererzählen undmuss es wohl auch. Denn jetzt haben sichFachgeschichtler aufgemacht, um anhandvon Nachlässen der Mitglieder jener Grup-pe ein, wie sie sagen, distanziertes Bildvon ihr zu zeichnen. In Konstanz fand vorzwei Jahren eine Tagung statt, deren Erträ-ge jetzt vorliegen (in: Internationales Ar-chiv für Sozialgeschichte der deutschen Li-teratur, Band 35, Heft 1, 2010).

Was dabei herauskommt, ist freilich ent-täuschend. Das gilt nicht für die Archivstu-dien, die Julia Wagner betrieben hat, umdie Gründungsumstände der Forscher-gruppe zu erhellen. Dass Hans Blumen-berg 1974 ihre gesamte Kommunikationgerne auf die Briefform umgestellt hätte,wie der Sputnik-Schock in Deutschland In-terdisziplinarität selbst dort voranbrachte,wo sie die Deutung der Gnosis oder der äs-thetischen Nachahmungs-Theorie betraf,sind echte Fundstücke. Wenn Protagonis-ten notieren, dass man in den vierzigerund fünfziger Jahren an deutschen Univer-sitäten weder von Psychoanalyse nochvon Strukturalismus oder von Wittgen-stein etwas gehört habe, zeigt das, an wel-chem Durchbruch gegen die Restaurationdie Gruppe beteiligt war. Und es zeigt,zieht man ihre Texte hinzu, was Fort-schritt in der Geisteswissenschaft seinkann: Fortschritt in Begriffen, Negatio-nen, Horizontöffnungen.

Freilich muss man, um wissenschaftli-che Leistungen einschätzen zu können,schon lesen, was dasteht. In des Einlei-tung zum Themenschwerpunkt versuchenChristopher Möllmann und AlexanderSchmitz es anders. Sie finden, „Poetik undHermeneutik“ werde verklärt. Die Einla-dungspraxis sei „exklusiv und rigide“ ge-wesen. Na, vielleicht lag es ja daran, dassetwas daraus wurde. Auch habe es die Be-teiligten große Mühe gekostet, den Sam-melbänden „rote Blutkörperchen“ zuzu-führen (Bei Wagner steht im Originaltondie Bemerkung Blumenbergs, man sei da-bei, „dem Ganzen“, das von ungleichmäßi-ger Qualität sei, „noch einige rote Blutkör-perchen zuzuführen“.) Oder: SiegfriedKracauer habe die Diskussionsatmosphä-re als „klaustrophobisch“ bezeichnet. (BeiWagner liest man, dass Kracauer meinte,die unsoziologische Diskussion habe beiihm klaustrophobische Gefühle erzeugt.)

In diesem Stil der Aufdeckung, so doll,wie behauptet – aber wo nur? – sei es garnicht gewesen, geht es weiter. Von alldem, wofür „Poetik und Hermeneutik“ be-kannt ist: Studien, Begriffe, Kontroversen,Forschungsentwürfe, von denen vieleauch ausgeführt wurden, von all dem keinWort. Wissenschaftsgeschichte als Nach-weis, dass Riesen auch nur Menschensind. Wissenssoziologisch liegt es nahe,diese These solchen Zwergen zuzuordnen,die sich nicht auf die Schultern der Riesenstellen mögen.

Der Germanist Carlo Spoerhase hinge-gen greift schärfer an. Er hat herausgefun-den, „dass wenigstens für einen größerenTeil der ,Poetik und Hermeneutik‘-Bändeein Bezug zu aktuellen Problemlagennicht mehr ohne weiteres hergestellt wer-den kann“. Das ist eine sehr wolkige For-mulierung. Wer kann nicht? Und mit wei-terem? Und für den kleineren Teil der Bän-de? Spoerhase aber legt nach: Das Echoauf die Sammelbände in wissenschaftli-chen Rezensionen sei eher schwach gewe-sen. Dagegen werde „Poetik und Herme-neutik“ in Feuilletons viel gelobt. Also seider Ruhm ein Medienereignis. Das Feuille-ton pflege damit seine Nostalgie gegen-über einem gegenwärtigen Tagungs- undForschungsbetrieb, den es nicht möge. Ei-nes eigenen Urteils, wie es denn um die-sen Betrieb und seine Leistungen bestelltist, enthält sich Spoerhase. Eines Urteilsüber die Texte jener Sammelbände auch.Die Frage, ob für die Forschungsgruppenicht spricht, dass Werke wie „Arbeit amMythos“, „Vergangene Zukunft“ und „Lite-raturgeschichte als Provokation“ aus ihrhervorgegangen sind, behandelt er erstgar nicht. Das ist Wissenschaftsgeschichteohne Wissenschaft und, ganz wörtlichsine ira et studio, ganz ohne rote Blutkör-perchen. JÜRGEN KAUBE

Wird die Eintracht am 14. Spieltag inMünchen gewinnen, unentschieden spie-len oder verlieren? Eine Vorhersage istschwer, auch wenn sich hinterhermancher Sportbericht in Suggestionendes Selbstverständlichen ergeht. Brisantwird die Frage der Faktoren einer richti-gen Einschätzung für das Glücksspiel-recht, das bestimmte Wettformen deut-lich strenger reguliert als andere. ZweiBonner Nachwuchsforscher haben sichder Fußballwette angenommen, empiri-sche Studien angestellt und kommen indem eben veröffentlichten Preprint zuüberraschenden Ergebnissen (AndreasGlöckner, Emanuel Vahid Towfigh, „Ge-schicktes Glücksspiel. Die Sportwette alsGrenzfall des Glücksspielrechts“, issue2010/32, Bonn, Max Planck Institute forResearch on Collective Goods, 2010;online unter: www.coll.mpg.de/pdf_dat/2010_32online.pdf).

Ausgangspunkt ist die Unterscheidungvon Glücks- und Geschicklichkeitsspie-len. Sie liegt dem Glücksspielrecht zu-grunde, welches Spieler und Allgemein-heit vor den Gefahren der Sucht, den öko-nomischen Folgen der Wettleidenschaftund spielbezogenen Begleit- und Folge-

straftaten schützen will. Ähnlich wiebeim Verbraucherschutzrecht wird dabeitypisierend vorgegangen und dem Bürgerein letztlich paternalistischer Schutz vorsich selbst verordnet.

Obwohl die Sportwetten nach herr-schender Auffassung als Glücks- undnicht als Geschicklichkeitsspiel einzuord-nen sind, ist die juristisch folgenreicheEinschätzung empirisch erstaunlich we-nig unterfüttert. Die derzeit kontroversdiskutierte Frage des Eintritts von priva-ten Anbietern in den Markt hängt gleich-falls nach der heutigen Dogmatik von die-ser Unterscheidung und der Zuordnungder Sportwette ab. Ein maßgeblicherSchutzimpuls geht dabei von der Beob-achtung aus, dass Wettteilnehmer denWert ihrer Hoffnungen falsch bewertenund demzufolge irrationale Wetten ab-schließen.

Trifft dies aber für die Fußballwettenzu? Die Forscher haben es ihre Versuchs-teilnehmer ausprobieren lassen. Siemussten ausgewählte Spiele der Saison2008/2009 und 2009/10 bewerten, wobeiebenso der Zeitpunkt der Einschätzungvariierte (drei Tage bis drei Wochen vordem Spiel) als auch der Fußballsachver-

stand evaluiert wurde: Die Teilnehmermussten ein Sportquiz absolvieren undeine Selbsteinschätzung ihrer Fähigkei-ten abgeben. Damit sollte der Einflussder Geschicklichkeit auf den Ausgangder Sportwette als auch die – womöglichübersteigerte – Kontrollillusion der Spie-ler geprüft werden.

Wenig überraschend ließ sich bei denDrei-Tages-Wetten ein kleiner, aber sta-tistisch signifikanter positiver Einflussvon Geschicklichkeit auf korrekte Vorher-sagen ausmachen. Der kurze Vorhersage-horizont ließ kompetente Wetter dieForm von Spielern und Mannschafteneinbeziehen, neben exaktem Tabellen-platz konnten Verletzungen und Belas-tungen berücksichtigt werden. Bei einemdreiwöchigen Vorhersagehorizont hinge-gen ließ sich kein Einfluss von Geschick-lichkeit auf den Wetterfolg mehr nach-weisen.

Ist die (kurzfristige) Sportwette damitein Unterfall der Geschicklichkeitswetteund damit nicht mehr gefährlich? Kannman so nicht sagen, finden die BonnerForscher. Denn ebenso klar zeigte sich,dass die Probanden mit höherem Ge-schick annehmen, dass der Ausgang der

Wetten stärker von ihrem Geschick ab-hängt. Gerade bei Personen mit hoch ein-geschätzter Geschicklichkeit ließ sicheine Kontrollillusion und übersteigerteSelbstsicherheit nachweisen: Mit steigen-dem Geschick wächst die Selbstüber-schätzung überproportional.

Bleibt man im System der bisherigenBewertung von Glücksspielen, so müssteman die Sportwette als „gemischtesSpiel“ qualifizieren, da Geschicklichkeitnachweislich eine Rolle spielen kann.Allerdings verdeutlicht das Fußballbei-spiel auch, dass die beiden GenresGlücks- und Geschicklichkeitsspiel nichtso trennscharf zu unterscheiden sind,wie man es sich aus regulatorischen Moti-ven gerne wünschen würde. Zumal es jakeine Alternative zu einer ganzheitli-chen Betrachtung dieses Wettgenres gibt.

Umgekehrt zeigt aber die Unter-suchung, dass die Sportwetten eineKontrollillusion erzeugen, die ihre sucht-vermittelnden Faktoren hat. Nicht vonungefähr wird das Suchtpotential vonSportwetten zehn Mal so hoch wie dasvom Lotto „6 aus 49“ eingeschätzt. Diebeiden Bonner Juristen ziehen dement-sprechend kritische Schlüsse für das der-

zeitige Glücksspielrecht: Die Unterschei-dung in Glücks- und Geschicklichkeits-spiele sei nicht geeignet, gefährliche vonharmlosen Spielen zu unterscheiden. Ge-rade weil Geschick erforderlich ist, kön-nen die Spieler einer Kontrollillusion er-liegen. Umgekehrt glaubt ja gerade beiZahlenlotto niemand, dass sein Erfolgvon etwas anderem als purem Glück ab-hängt. Für Selbstüberschätzungen ist dakein Raum – vorausgesetzt man ist nichtabergläubisch und wähnt sich mit höhe-ren Kräften in Verbindung.

Die tradierte Dogmatik des Glücks-spielrechts ist damit nicht in der Lage,den vom Gesetzgeber gewünschtenSchutz zentraler Güter zu gewährleisten.Das Gefährdungspotential bestimmterSpiele wird mit den derzeit geltendenPauschalierungen systematisch ver-kannt. Die bisherige, privilegierende Ka-tegorie des „Geschicklichkeitsspiels“ soll-te aufgegeben werden. Statt dessen müss-ten sich Gesetzgeber und Verwaltungstärker um die Empirie der jeweiligenGefährdungspotentiale kümmern – viel-leicht indem sie einfach mal selbst mehre-re, gestaffelte Tipprunden im Ministeri-um organisieren. Die Saison hat ja erstangefangen. MILO! VEC

I m Jahre 1931, ein Jahr vor Erschei-nen des berühmten Buches von Hen-ri Bergson „Die zwei Quellen der Mo-

ral und der Religion“, in dem der Autorden Beginn der offenen Gesellschaft ver-kündete, stellte Paul Valéry in dem Auf-satzband „Blicke auf die gegenwärtigeWelt“ lakonisch fest: „Die Zeit der endli-chen Welt beginnt.“ Aber die endlicheWelt Valérys und die offene GesellschaftBergsons sind keineswegs so verschiedenvoneinander, wie es die Formulierungenvermuten lassen. Denn die offene Gesell-schaft Bergsons kannte nur ein Innenund kein Außen. Das schien für ihre End-losigkeit zu sprechen, war aber doch einZeichen ihrer Endlichkeit. Denn Bergsonglaubte, ein geistiges Prinzip siegen zu se-hen, das ein Gehäuse schuf, aus dem eskeinen Ausweg gab. Eine reine Innen-welt zeichnete sich ab. Und so etwas sahauch Paul Valéry voraus, wenn er vondem Beginn einer endlichen Welt sprach.Die Namen täuschten, beide Autorenmeinten dieselbe Welt allseitiger geisti-ger Durchdringung, die unter einemAspekt eine offene, unter einem andereneine geschlossene Welt war.

Im Vorwort zu seiner Aufsatzsamm-lung beschwor Valéry eine viele Jahre zu-rückliegende Erinnerung an zwei Ereig-nisse, die 1895 und 1898 in sein Befindentief eingegriffen hätten: an den Krieg Ja-pans gegen China und den Krieg der Ver-einigten Staaten gegen Spanien. Das eineEreignis war in Valérys Augen das erstemachtmäßige Vorgehen einer moderni-sierten asiatischen Nation, die europä-isch gerüstet war, gegen eine andere asia-tische Nation, das zweite Ereignis dage-gen der Krieg einer von Europa abstam-menden und von ihm entwickeltenMacht gegen eine Nation des alten Euro-pa. Aus beiden Vorgängen glaubte PaulValéry eine dramatische Veränderungder Weltstellung Europas herauslesen zukönnen.

Europa als Moment in der virtuellen„westlichen Welt“

Die Ereignisse in weiter Ferne schienenbeunruhigender und alarmierender zusein als Ereignisse in unmittelbarerNähe. Es war nicht selbstverständlich,dass die Bewohner der Welt, der mansich aufs engste verbunden fühlte, so fei-ne Distanzsinne hatten, dass sie durchdie fernen Ereignisse in ebenso unerwar-tete wie unmittelbare Erregung versetztwurden. Ja, man wusste nicht einmal,dass Europa auch dort in der Ferne lagund angegriffen werden konnte von Sei-ten, von denen bisher noch keine Gefah-ren ausgegangen waren. Die Angreifbar-keit der Ränder wiederum machte auf je-nes Europa aufmerksam, mit dem mansich verwachsen fühlte, von dessen rea-ler Existenz und Gefährdung man sich of-fenbar noch keinen Begriff gemacht hat-te. Im selben Augenblick, in dem Paul Va-léry sich der Gefährdung dieses Europasvon seinen Rändern her bewusst wurde,entdeckte er die massive Präsenz jenesGebildes, das den Namen Europa trugund ihm bisher nur als eine geographi-sche Bezeichnung erschienen war.

Paul Valéry hat über diese Erfahrungzum ersten Mal dreißig Jahre nach denfernen Kriegen, die ihn plötzlich auf dieGefährdung aufmerksam gemacht hat-ten, berichtet. Wie hatte er diese Kriegedamals überhaupt bemerkt? Er wusste esnicht mehr genau. Er konnte sich nichteinmal, wie er 1931 ohne weiteres ein-räumte, daran erinnern, was es gewesenwar, das damals sein Interesse an diesenbeiden Konflikten von nicht mehr als mit-telmäßiger Bedeutung geweckt hatte. Al-les, womit er sich damals beschäftigte,war so fern gewesen von diesen politi-schen Vorgängen, dass er nun im Rück-blick keinen Grund sehen konnte, wa-rum sie seine Aufmerksamkeit über-haupt gefesselt hatten. Dabei hatte er dieAntwort selbst gegeben. Es war jeweilsdie Erstmaligkeit einer Mächtekonstella-tion, die ihn an die Zukunftsbedeutungglauben ließ. Und so war er davon über-zeugt, dass ein eher abstraktes, theoreti-

sches Interesse seine Gedanken in so wei-te Ferne gelenkt hatte: „Ich empfand je-denfalls diese verschiedenen Ereignissenicht als Unfälle oder begrenzte Phäno-mene, sondern als Symptome oder Prä-missen, als bedeutsame Tatsachen, derenBedeutung über ihre immanente Bedeu-tung und anscheinende Tragweite weithinausging.“ Die abstrakte Bedeutungder Ereignisse überragte ihren tatsächli-chen Rang.

Seitdem haben sich unübersehbar vie-le kriegerische Auseinandersetzungenzwischen europäischen und mehr oderweniger europäisierten oder von Europaabstammenden Nationen ereignet. Undauch Angriffe außereuropäischer Mächteauf Machtzentren der westlichen Weltmit den Mitteln fortgeschrittener westli-cher Technik sind seit Pearl Harbor keinNovum mehr. Die Weltstellung Europashat sich dadurch dramatisch verändert,und es ist mehr und mehr zu jener virtuel-len Größe geworden, von der Paul Valéry1931 sprach. Europa hat sich an seinenstetigen Machtverlust gewöhnt, aber

gleichwohl etwas von seiner vergange-nen Weltstellung bewahrt, indem es sicheiner nicht weniger virtuellen Größe, der„westlichen Welt“, eingliedert.

Paul Valérys Schilderung des Schocks,den er am Ende des neunzehnten Jahr-hunderts erfuhr, hat auffallende Ähnlich-keiten mit unserer jüngsten Erfahrung,die man sogar mit seinen Worten wieder-geben kann: „Ein Stoß, der uns in einerunvorhergesehenen Richtung trifft, gibtuns auf abrupte Weise eine neue Empfin-dung der Existenz unseres Körpers wie ei-nes unbekannten; wir kannten nicht al-les, was wir waren, und es kommt vor,dass diese brutale Empfindung unsselbst, durch eine sekundäre Wirkung,

für eine unerwartete Größe und Gestaltunseres Lebensgebietes empfänglichmacht.“

Selbst ferne Beobachter der Angriffeauf das World Trade Center haben vonähnlichen Körpererfahrungen, die durchdie direkte Anschauung des Geschehensausgelöst wurden, berichtet.

Sie können auch den daran anschlie-ßenden allgemeinen Erwägungen Valérysmühelos folgen: „Dieser indirekte Schlagim Fernen Osten und dieser direkte aufden Antillen ließen mich also verworrendie Existenz von etwas wahrnehmen, dasdurch solche Ereignisse getroffen undbeunruhigt werden konnte. Ich fand michsensibilisiert für Konstellationen, die eineArt virtueller Idee von Europa zum Vor-schein brachten, von der ich bis dahinnicht gewusst hatte, dass ich sie in mirtrug.“ Es war eine Idee von Europa, fürdie Paul Valéry damals sensibilisiert wur-de, als sie durch jene fernen Erschütterun-gen überraschend Gestalt annahm.

Bestimmte Ereignisse, meint Valéry,rührten an die beständigen Bedingungen

des Daseins. Erst durch eine Art Schockwürden wir auf sie aufmerksam. Es wer-de dann deutlich, wie grob unsere Ansich-ten von der Geschichte sind und wie eitelund naiv manchmal die Politik ist in ih-ren Berechnungen. Dass erst ein Schockdazu verhelfen müsse, erklärte Valéry da-mit, dass die Handelnden so sehr in Kon-ventionen verstrickt seien, dass ihnen dierealistische Sicht auf die Bedingungen ih-rer Existenz verstellt werde. Erst durchdie Erschütterung dieser Konventionentauche eine virtuelle Idee des Eigenenauf.

Auch nach dem 11. September zeigtensich jene plötzliche Veränderung des Kör-pergefühls und jene virtuelle Idee der ei-

genen Identität. Doch während Paul Valé-ry gegen Ende des neunzehnten Jahrhun-derts vielleicht der einzige oder einervon ganz wenigen Zeugen war, die aufdie fernen Ereignisse mit der nötigen Sen-sibilität reagierten, waren es nach dem11. September unübersehbar viele Men-schen, die sowohl jene außergewöhnli-che körperliche Empfindung oder ihnenbis dahin nicht bewusst gewordene Wahr-nehmungen jener virtuellen Identität be-obachteten, die freilich die verschiedens-ten Formen annehmen konnte.

Wenn sich die beständigen Bedingun-gen des Daseins plötzlich ändern, meinteValéry, würden wir erst auf sie aufmerk-sam. Auf diese Vernachlässigung der ele-mentarsten Gegebenheiten des Lebenssei, wie Paul Valéry erklärte, zurückzu-führen, dass unser Geschichtsbild sogrob sei. Die Menschen blieben an Kon-ventionen gefesselt, die ihnen eine realis-tische Sicht auf die unumstößlichsten Be-dingungen ihrer Existenz verstellten:„Verzweifelnd an der Geschichte, begin-ne ich an die befremdlichen Umstände

zu denken, in denen wir uns alle befin-den, einfache Privatleute guten Glau-bens und guten Willens, die wir uns vonGeburt an in ein unentwirrbares poli-tisch-historisches Drama verstrickt se-hen.“

Auch hier kann man Valéry auch heu-te noch Wort für Wort folgen. Die Not-wendigkeiten der politischen Welt, de-nen die einfachen Menschen ausgeliefertsind, seien aufgrund der Erfahrungen,die wir in unserem unmittelbaren Lebens-raum machten, nicht nachzuvollziehen,und er fügte hinzu: „Indem die am bestenUnterrichteten, am besten Plazierten dasbeschwören, was sie wissen, und es mitdem vergleichen, was sie sehen, könnensie sogar sagen, dass dieses Wissen dasunmittelbare politische Problem verdun-kelt, das nach alldem darin besteht, dieBeziehungen eines Menschen zur Masseder Menschen, die er nicht kennt, zu be-stimmen.“

Theodor Mommsen am Ende seinesGlaubens an den Fortschritt

Schocks der geschilderten Art verwan-deln die Geschichte in einen Scherben-haufen. Aber jetzt werde es möglich, zuden tragenden Bedingungen des Lebensvorzudringen. Paul Valéry glaubte durchdiesen Schock empfänglich geworden zusein für die Idee von Europa, auch wennes bloß eine virtuelle Idee war, von derer nicht gewusst hatte, dass sie in ihmsteckte. Eine ähnliche Bewandtnismochte es mit der Idee des europäischen„Kulturweltbürgers“ gehabt haben, dienach der Schilderung Sigmund Freudsam Beginn des Ersten Weltkriegs ins Be-wusstsein getreten war, um wenig späterauf den Schlachtfeldern aufgerieben zuwerden.

Der Spanisch-amerikanische Kriegvon 1898 hat auch in Deutschland einnachdenkliches Echo gefunden. Im sel-ben Jahr schrieb Theodor Mommsen ineinem Brief: „In meinen jungen Jahrenwar der Glaube ziemlich allgemein ver-breitet, dass die Weltordnung stetig zumBesseren fortschreite und dass dieserFortschritt durch die mehr und mehr all-gemeine Einführung der Republik zumAusdruck kommen werde. Dieser Jugend-eselei hat man sich allmählich entwöhnt,nachdem man Gelegenheit gehabt hatte,dergleichen Umgestaltungen tatsächlichmitzuerleben. Aber auf die arge Enttäu-schung, die dieser Krieg den Republik-freunden bereitet, war man doch nicht ge-fasst. Die heuchlerische Humanität, dieVergewaltigung der Schwächeren, dieKriegführung zum Zweck der Spekulati-on und der gehofften Agiotagen drückendiesem amerikanischen Unternehmenein Gepräge auf, welches noch nichtswür-diger ist als das der schlimmsten soge-nannten Kabinettskriege und sind wohlgeeignet, den letzten Republikaner vonseinen Träumen zu befreie.“

Es ist nicht zu verkennen, dass der His-toriker Theodor Mommsen auf den spa-nisch-amerikanischen Krieg vergleichs-weise viel politischer reagierte als derfranzösische Dichter. Keine Idee von Eu-ropa meldete sich bei ihm. Vielmehr wares die Idee des politischen Fortschritts zueiner demokratischen Weltordnung, diefür Mommsen durch den Krieg in den An-tillen entzaubert wurde. Er sprach vonder Enttäuschung, die die Freunde derRepublik durch den Kriegsverlauf erleb-ten. Sie hatten sich aufgrund der Fort-schritte der Demokratie eine andere Ord-nung der Dinge erhofft, und nun führteeine demokratische Macht, die Vereinig-ten Staaten, einen Krieg, der an die altenStaatenkriege erinnerte.

Das war für Mommsen die eigentlicheEnttäuschung, die jener Krieg in der Fer-ne bereithielt. Mommsens Brief wurdeam Beginn des Weltkriegs von einer Ta-geszeitung gedruckt – als das Manifest ei-nes aufrechten Demokraten. Und als einsolches Manifest, allerdings gerichtet ge-gen die Demokratie des Westens, hatThomas Mann den Brief in seinen „Be-trachtungen eines Unpolitischen“ abge-druckt.

Poetik und Hermeneutik

Blutprobe

Wetten, dass Schalke es diesmal schafft?Deutscher Meister wird nur der FCB: Selbstüberschätzung bei Sportwetten als Herausforderung des Glücksspielrechts

In den fernen Kriegen erkennen wir uns selbst

An die Kriege um 1900 erinnerte sich der Dichter erst nach dreißig Jahren: Paul Valéry in seiner Wohnung, Oktober 1935 Foto Laif

Paul Valérys „Blickeauf die gegenwärtigeWelt“ erzählten 1931die Geschichte derEntdeckung Europasim Moment seinerhöchsten Gefährdungvon außen.Von Henning Ritter

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F.A.Z. v. 1.9.2010 (Nr. 202), Geisteswissenschaften, S. N3
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