4
S Kristallisationskontrolle beruht auf kinetischer Kontrolle; über Pa- rameter wie Temperatur, Viskosität oder Zusatzstoffe lässt sich die Kristallisation beeinflussen. Ein Blick in die Natur verrät, was mög- lich wäre: Biomineralien wie Kno- chen und Zähne oder Muschel- und Korallenschalen sind natürli- che Kompositmaterialien aus zu- meist kristallinen Mineralien und einem kleinerem organischen Be- standteil. Die organischen und an- organischen Komponenten dieser Hybride sind auf mehreren Hierar- chieebenen ausgeklügelt struktu- riert und bieten so hervorragende Materialeigenschaften. 2) Eines der bekanntesten Beispiele ist das Perl- mutt, die innere schillernde Schicht von Muschelschalen. Es besteht zu etwa 95 Prozent aus Cal- ciumcarbonat und ist 3000-mal bruchfester als sein rein minerali- sches geologisches Gegenstück (Abbildung 1). 3) Beton oder Ze- ment um einen derartigen Faktor zu verbessern, ist wohl der Traum eines jeden Materialwissenschaft- lers. Das Beispiel Perlmutt illustriert außerdem, wie ausgeprägt die Kon- trolle über die Calciumcarbonat- kristallisation in der Biomineralisa- tion ist. Perlmutt besteht aus der metastabilen Modifikation Arago- nit, wohingegen die äußere Schicht der Muschelschalen, die prismati- sche Schicht, aus thermodyna- misch stabilem Calcit aufgebaut ist. Außerdem sind die Aragonitplätt- chen im Perlmutt regelmäßig hexa- gonal geformt und jeweils mit einer bevorzugten kristallographischen Orientierung ausgerichtet. Die ge- nauen Mechanismen der biologi- schen Kristallisationskontrolle blei- ben ein Rätsel, obwohl sich viele Forschungsarbeiten mit Perlmutt beschäftigen. Von atomaren und molekularen Bestandteilen zum Kristall S Kontrollmechanismen für Kris- tallisationen zu entwickeln, ist nur möglich, wenn die dabei ablaufen- den molekularen Mechanismen verstanden sind. 4) Dies betrifft Fra- gen wie: Wann können Kristalle überhaupt entstehen und wie kann die Kristallisation beeinflusst oder gar verhindert werden? Erste grundlegende Überlegun- gen zur Nukleation (Keimbil- Denis Gebauer Die molekularen Mechanismen der Kristallentstehung sind weitgehend unklar. Einblicke in Vorläuferstufen und Übergangsformen von Biomineralien zeichnen jetzt ein neuartiges Bild davon, wie unterschiedliche Kristallmodifikationen entstehen. Wie bilden sich Kristalle? BNukleationV Perlmutt der chale Abalones Mineralbrücken Mesoschichten Chitin Fasernetzwerk Abb. 1. Hierarchische Struktur des Perlmutts aus der Abaloneschale mit Wachstums- schichten (Mesoschichten). Mineralbrücken verbinden die gestapelten Aragonitplättchen, die ferner eine raue Oberfläche besitzen. Das Fasernetzwerk aus Chitin bildet das Rück- grat der anorganischen Plättchen; Risse pflanzen sich nicht durch die Plättchen hindurch fort. 2) VV Der Schlüssel zur Kristallisationskontrolle liegt in der Keimbildung. Die klassische Nukleations- theorie bietet jedoch nur eine eingeschränkte Vorhersage- und Erklärungskraft. VV Experimentelle Beobachtungen der Kristallisa- tionsfrühstadien fordern klassische Sichtweisen heraus und bringen alternative Modelle hervor. VV Die wichtigsten Biomineralien bilden sich über stabile Pränukleationscluster und polyamorphe Zwischenformen (nichtklassische Nukleation), die offenbar der Entstehung unterschiedlicher kristalliner Polymorphe zugrunde liegen. S QUERGELESEN Nachrichten aus der Chemie| 61 | November 2013 | www.gdch.de/nachrichten 1097

Wie bilden sich Kristalle?

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Page 1: Wie bilden sich Kristalle?

S Kristallisationskontrolle beruht auf kinetischer Kontrolle; über Pa-rameter wie Temperatur, Viskosität oder Zusatzstoffe lässt sich die Kristallisation beeinflussen. Ein Blick in die Natur verrät, was mög-lich wäre: Biomineralien wie Kno-chen und Zähne oder Muschel- und Korallenschalen sind natürli-che Kompositmaterialien aus zu-meist kristallinen Mineralien und einem kleinerem organischen Be-standteil. Die organischen und an-organischen Komponenten dieser Hybride sind auf mehreren Hierar-chieebenen ausgeklügelt struktu-riert und bieten so hervorragende Materialeigenschaften.2) Eines der bekanntesten Beispiele ist das Perl-mutt, die innere schillernde Schicht von Muschelschalen. Es besteht zu etwa 95 Prozent aus Cal-ciumcarbonat und ist 3000-mal bruchfester als sein rein minerali-sches geologisches Gegenstück (Abbildung 1).3) Beton oder Ze-ment um einen derartigen Faktor zu verbessern, ist wohl der Traum eines jeden Materialwissenschaft-lers.

Das Beispiel Perlmutt illustriert außerdem, wie ausgeprägt die Kon-trolle über die Calciumcarbonat-kristallisation in der Biomineralisa-tion ist. Perlmutt besteht aus der metastabilen Modifikation Arago-nit, wohingegen die äußere Schicht der Muschelschalen, die prismati-sche Schicht, aus thermodyna-misch stabilem Calcit aufgebaut ist. Außerdem sind die Aragonitplätt-

chen im Perlmutt regelmäßig hexa-gonal geformt und jeweils mit einer bevorzugten kristallographischen Orientierung ausgerichtet. Die ge-nauen Mechanismen der biologi-schen Kristallisationskontrolle blei-ben ein Rätsel, obwohl sich viele Forschungsarbeiten mit Perlmutt beschäftigen.

Von atomaren und molekularen Bestandteilen zum Kristall

S Kontrollmechanismen für Kris-tallisationen zu entwickeln, ist nur möglich, wenn die dabei ablaufen-den molekularen Mechanismen verstanden sind.4) Dies betrifft Fra-gen wie: Wann können Kristalle überhaupt entstehen und wie kann

die Kristallisation beeinflusst oder gar verhindert werden?

Erste grundlegende Überlegun-gen zur Nukleation (Keimbil-

Denis Gebauer

Die molekularen Mechanismen der Kristallentstehung sind weitgehend unklar. Einblicke

in Vorläufer stufen und Übergangsformen von Biomineralien zeichnen jetzt ein neuartiges Bild

davon, wie unterschiedliche Kristallmodifikationen entstehen.

Wie bilden sich Kristalle?

BNukleationV

Perlmutt der chaleAbalones Mineralbrücken

Mesoschichten Chitin Fasernetzwerk

Abb. 1. Hierarchische Struktur des Perlmutts aus der Abaloneschale mit Wachstums -

schichten (Mesoschichten). Mineralbrücken verbinden die gestapelten Aragonitplättchen,

die ferner eine raue Oberfläche besitzen. Das Fasernetzwerk aus Chitin bildet das Rück-

grat der anorganischen Plättchen; Risse pflanzen sich nicht durch die Plättchen hindurch

fort.2)

VV Der Schlüssel zur Kristallisationskontrolle liegt in

der Keimbildung. Die klassische Nukleations-

theorie bietet jedoch nur eine eingeschränkte

Vorhersage- und Erklärungskraft.

VV Experimentelle Beobachtungen der Kristallisa -

tionsfrühstadien fordern klassische Sichtweisen

heraus und bringen alternative Modelle hervor.

VV Die wichtigsten Biomineralien bilden sich über

stabile Pränukleationscluster und polyamorphe

Zwischenformen (nichtklassische Nukleation),

die offenbar der Entstehung unterschiedlicher

kristalliner Polymorphe zugrunde liegen.

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Page 2: Wie bilden sich Kristalle?

dung), also dem Beginn der Pha-sentrennung in einem übersättig-ten System, stammen von einem der Väter der Thermodynamik: Jo-siah W. Gibbs.5) Mehrere Autoren griffen sie auf, und schließlich for-mulierten im Jahr 1935 Becker und Döring die klassischen Nukleati-onstheorie,6) die bis heute nur in Details weiterentwickelt wurde. Der Grundgedanke ist, dass die Vo-lumenenergie des sich bildenden Keims die Nukleation vorantreibt und die Oberflächenenergie der Keimbildung entgegenwirkt. Da die Oberflächenenergie mit dem Quadrat und die Volumenenergie mit der dritten Potenz des Keimra-dius skaliert, dominiert bei kleinen Radien die Oberflächenenergie und bei größeren Radien der Volumen-beitrag. Die Größe, bei der die Vo-lumenenergie beginnt, den un-günstigen Beitrag der Oberfläche zu kompensieren, heißt kritischer Keim (Abbildung 2 rechts). Dieser metastabile Übergangszustand be-stimmt – in Analogie zur Theorie des aktivierten Komplexes7) – die Höhe der kinetischen Barriere der Nukleation. Sie hängt im Wesentli-chen von der Übersättigung und der Temperatur des Systems ab. Keime, die kleiner und größer sind als die kritische Größe, sind instabil, wobei die kleineren sich auflösen und die größeren grenzenlos wachsen.

Die von Anfang an klar benannte Krux der klassischen Nukleations-theorie ist die Kapillaritätsannah-me: Oberflächen- und Volumen-energie eines nanoskopischen Kei-mes werden über makroskopische Größen, nämlich über Grenzflä-chenspannung bzw. thermodyna-mische Stabilität der sich jeweils bildenden Modifikation quantifi-

ziert. Dass makroskopische Grö-ßen für einen aus nur wenigen Mo-lekülen, Atomen oder Ionen beste-henden Keim realistisch sind, ist zweifelhaft. Außerdem ist die Idee einer definierten Grenzfläche und eines von der Umgebung strikt ge-trennten Keimvolumens im unte-ren Nanometerbereich wohl nicht haltbar. Experimentelle Ergebnisse

Abb. 2. Links: Nukleation entsprechend der klassischen Theorie (oben) und alternativer Mechanismus über Pränukleationscluster (unten).17)

Rechts: Grundgedanke der klassischen Nukleationstheorie. Die Summe (blau) aus Oberflächen- (rot) und Volumenenergie (grün) nanoskopischer Keime als

Funktion des Radius zeigt, dass ab einer kritischen Größe die Volumenenergie zu unbegrenztem Wachstum führt —kleinere Keime lösen sich wegen des

dominierenden Beitrages der ungünstigen Oberflächenenergie wieder auf.

S Nutzen der Kristallisation

Kristallisation spielt in der Chemie

eine zentrale Rolle – sei es bei Um-

kristallisationen in der organi-

schen Synthese, um synthetisierte

Verbindungen zu reinigen, sei es

bei der Strukturaufklärung durch

Röntgendiffraktometrie. Beispiels-

weise bei Proteinen ist die Kristal-

lisation oft schwer — manchmal

sogar überhaupt nicht — zu errei-

chen. Das Interesse an der Struk-

turbestimmung von Proteinen ist

jedoch groß, unter anderem des-

halb, weil das Wissen über Struk-

tur-Funktionsbeziehungen phar-

mazeutische Wirkstoffe wie Anti-

biotika1) zugänglich macht.

Kristallisationen sind für die Phar-

mazie aus einem weiteren Grund

wichtig: Die Polymorphie, also die

unterschiedlichen kristallinen

Strukturen eines Feststoffs, beein-

flusst wesentlich seine physikali-

schen Eigenschaften wie Schmelz-

punkt, Härte oder Löslichkeit und

damit auch die biologische Ver-

fügbarkeit. Häufig wirkt eine Arz-

nei nur dann, wenn der Stoff in ei-

ner bestimmten Modifikation vor-

liegt.

Oft ist es auch von Vorteil, die Kris-

tallisation zu vermeiden und

amorphe Feststoffe zu erhalten,

weil diese im Vergleich besser lös-

lich sind. Mitunter sind Strategien

nötig, welche die Kristall- oder Par-

tikelbildung unterbinden – etwa

bei pathologischen Phänomenen

wie Nierensteinen oder uner-

wünschten Kalkablagerungen.

Letztere sind ein Problem, das

auch in Waschmaschinen oder in-

dustriellen Heiz- und Kühlkreisläu-

fen auftritt.

klassische Theorie

alternativer Mechanismus

Wachstum

postkritischer Keim

Nukleation

Aggregation

Nukleation derkristallinen Phase

Bildung stabilerpräkritischer Cluster

reversible Anbindung vonIonen an

präkritischen Cluster

postkritischer Keim

Wachstum

übersättigte Lösung finaler Kristall

1098 BMagazinV Nukleation

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Page 3: Wie bilden sich Kristalle?

weichen somit um bis zu zehn Grö-ßenordnungen von quantitativen Vorhersagen der klassischen Nu-kleationstheorie ab.8)

Alternative Konzepte

S Die klassische Theorie be-schreibt Nukleationsvorgänge qua-litativ sehr gut, ihre Vorhersage-kraft ist aber eingeschränkt. Dies betrifft nicht nur die theoretisch vorhersagbaren Nukleationsraten, sondern auch grundlegende Fragen zur Struktur und Dynamik des kri-tischen Keims und der daraus ent-stehenden Kristalle.

Wie Davey et al.4) hervorheben, sind Messungen von Nukleations-raten nicht in jedem Fall hilfreich, um molekulare Einblicke zu ge-winnen. Stattdessen sind neue Ex-perimente nötig, um kleinste Kris-tallvorläuferstufen, Cluster, bei ge-ringsten Konzentrationen in Lö-sung zu detektieren und zu analy-sieren. In den letzten Jahren haben genau solche Studien die Konzepte der klassischen Nukleationstheorie in Frage gestellt und alternative Sichtweisen hervorgebracht. Insbe-sondere für die Proteinkristallisati-on ist hier die Theorie der Nuklea-tion in zwei Schritten (two step nu-cleation) zu nennen.8)

Ein weiteres Konzept wurde für die Nukleation von Biomineralien vorgeschlagen.9) Demnach bilden sich vor der Nukleation – unab-hängig von der Übersättigung – kleinste stabile Assoziate. Diese Prä nukleationscluster bestehen wohl aus Dutzenden einzelner Io-nen und bilden bei der Phasen-trennung über Aggregationsvor-gänge zunächst amorphe Nano -partikel, die sich schließlich in Kristalle umwandeln (Abbildung 2 links). Für Calciumphosphat, den Hauptbestandteil von Kno-chen und Zähnen, wird ein auf Clustern beruhender Nukleati-onsprozess schon seit langem pos-tuliert.10) Relativ neu ist diese Sichtweise dagegen für Calcium-carbonat, das am weitesten ver-breitete Biomineral und Hauptbe-standteil von Muschel- und Koral-

lenschalen sowie von Krebspan-zern und Schneckenhäusern.11)

Der wesentliche Unterschied zwi-schen klassischen Keimen und Prä-nukleationsclustern besteht darin, dass letztere als thermodynamisch stabil gelten. Weil darüber hinaus die Phasentrennung über Cluster -aggregation (Abbildung 3, S.1100) und nicht die Anlagerung einzelner Ionen an Keime vonstatten geht, ist der Weg über Pränukleationscluster als nichtklassische Nukleation be-zeichnet worden.9) Neuere Arbeiten versuchen jedoch, Pränukleations -cluster im Rahmen klassischer Ter-me zu berücksichtigen.12)

Eine zentrale Frage ist, wie Prä-nukleationscluster thermodyna-misch überhaupt stabil sein kön-nen und warum sie dann nicht ungehindert zu makroskopischen Spezies heranwachsen. Eine Ant-wort darauf liefern Molekulardyna-miksimulationen, die darauf hin-deuten, dass die Cluster tatsächlich hochdynamische Ketten aus alter-nierenden Anionen und Kationen sind.13) Diese strukturelle Form kann enthalpisch betrachtet mit Io-nenpaaren konkurrieren, da die Cluster eine relativ ausgeprägte Hydratation bewahren. Dabei neh-men sie ein großes Volumen im Konfigurationsraum ein. Somit ist die Entropie ein Schlüssel zur ther-modynamischen Stabilität.

Pränukleationscluster sind dem-nach als Polymere aus Ionenpaaren zu begreifen, die im Sinn von Paul J. Flory eine bestimmte dynami-sche Größenverteilung ausbilden14) und eben nicht zu makroskopi-schen Gebilden heranwachsen. Zu-dem ist für diese Spezies die Kapil-laritätsannahme der klassischen Theorie unzutreffend: Die Cluster weisen wegen ihres hochdynami-schen Charakters weder eine Grenzfläche (Phasengrenze) auf, noch entspricht ihre stark hydrati-sierte Struktur der einer makrosko-pischen Phase. Wie genau die Ag-gregation der Cluster ausgelöst wird und was die atomaren Grund-lagen der Phasenseparation über Pränukleationscluster sind, bleibt jedoch weitgehend unklar.

1099Nukleation BMagazinV

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Page 4: Wie bilden sich Kristalle?

Pränukleationscluster kodieren polymorphe Strukturen

S Bei Calciumcarbonat hängt die Stabilität der Pränukleations -cluster vom pH-Wert der Lösung ab und korreliert wiederum mit der Stabilität (Löslichkeit) der zu-erst gebildeten amorphen Nano -partikel.11) Stabilere Cluster bil-den amorphes Calciumcarbonat, dessen Nahordnung – also die Anordnung innerhalb der ersten Koordinationssphären der Ionen – der Struktur von Calcit ver-wandt ist.15) Die weniger stabilen Cluster hingegen bilden lösliche-res amorphes Calciumcarbonat, das in der Nahordnung Vaterit äh-nelt, einem instabilen Calcium-carbonatpolymorph. Diese Vor-strukturierung amorpher Vorläu-ferspezies ist aus der Biominerali-sation bekannt, wo sie offensicht-lich die Grundlage der Polymor-phiekontrolle darstellt.15,16) Sie lässt sich im Rahmen des physika-lischen Konzepts der amorphen Polymorphie (Polyamorphie) be-trachten,15) und die Korrelation

zwischen der Stabilität der Cluster und der amorphen Phasen weist tatsächlich darauf hin, dass unter-schiedliche Strukturen bereits vor der Nukleation in Lösung kodiert sind.

Ähnliche Phänomene sind von Kristallen organischer Moleküle bekannt, bei denen die Struktur von Assoziaten in Lösung mit strukturellen Mustern des jeweils gebildeten kristallinen Polymorphs zusammenhängen.4) In jedem Fall zeigen sich hier neue Einblicke in die molekularen Mechanismen, wie polymorphe Kristallformen überhaupt aus Vorläufer- und Über-gangsformen entstehen. Diese ver-sprechen letztlich auch, die Grund-sätze der Kristallisationskontrolle jenseits der Konzepte der klassi-schen Nukleationstheorie besser zu verstehen.

Wo steht die nichtklassische Nukleation?

S Die Theorie zur nichtklassi-schen Nukleation über Pränuklea-tionscluster ist in den letzten Jah-ren weit vorangekommen – aber sie steckt trotzdem noch in den Anfängen. Ihre Erklärungskraft ist attraktiv, gerade bei experimentel-len Beobachtungen wie der Ent-stehung mineralischer Polyamor-phie. Darüber hinaus hat sie im Fall des Calciumcarbonats bereits eine gewisse Vorhersagekraft bei der Frage, unter welchen Bedin-gungen welche polyamorphe Form entsteht. Allerdings ist es ei-ne Herausforderung, Pränukleati-onscluster und Poly amorphie in eine verbesserte quantitative Theorie zur Phasenseparation zu integrieren. Eine zentrale Frage ist, ob die Beobachtungen und Konzepte über die hier diskutier-ten Fallbeispiele hinaus eine allge-meine Bedeutung haben. Darauf weisen neuere Studien an organi-schen Verbindungen, etwa Amino-säuren, und weiteren anorgani-schen Salzen hin. Die Erwartung bleibt, dass eine zielgerichtete Kristallisationskontrolle möglich wird.

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N. A. J. M. Sommerdijk, Nat. Mater. 2010,

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Denis Gebauer, Jahrgang

1978, ist seit Anfang 2011

Habilitand in der Gruppe

von Helmut Cölfen an der

Universität Konstanz und

dort seit 2013 Mitglied im

Zukunftskolleg. Er studier-

te Biochemie an der Universität Hannover

und promovierte im Jahr 2008 in physikali-

scher Chemie am Max-Planck-Institut für

Kolloid und Grenzflächenforschung (Pots-

dam-Golm) und der Universität Potsdam.

Nach einem zweijährigem Postdoktorat an

der Universität Stockholm wechselte er nach

Konstanz. Er interessiert sich für Nukleations -

mechanismen und Übergangsformen von

(Bio-)Mineralien sowie biologisch inspirierte

Komposit materialien.

[email protected]

i ii

iii iv

Abb. 3. Nukleation über Aggregation von Calciumphosphat-

Pränukleationsclustern. Die dreidimensionalen Darstellungen

sind computergenerierte Tomogramme aus kryogener

Transmissions elektronenmikroskopie (die Cluster in (i) haben

einen Durchmesser von etwa 1 nm). Frei in Lösung bei einer

gegebenen Zusammensetzung bilden die Cluster lose Aggregate,

die sich erst in Gegenwart einer Grenzfläche verdichten (ii, iii) und

schließlich amorphe Nanopartikel bilden (iv), die letztendlich

kristallisieren (nicht gezeigt).18)

1100 BMagazinV Nukleation

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