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Drägerheft Technik für das Leben 2018 Drägerheft 403 1. Ausgabe 2018 Zukunft der Arbeit Wie die Digitalisierung unser Leben verändert Wie viel ist genug? Vernetzen Chancen und Risiken von Big Data S. 62 Bergen Brandschutz in der norwegischen Hansestadt S. 30 Aufklären Was werdende Mütter unter einer guten Geburt verstehen S. 16

Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

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Page 1: Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

Drägerheft Technik für das Leben 2018

D

rägerheft 403

1. Ausgabe 2018

Zukunft d

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Wie die Digitalisierung unser Leben verändert

Wie viel ist genug?

VernetzenChancen und Risiken

von Big Data S. 62

BergenBrandschutz in der

norwegischen Hansestadt S. 30

AufklärenWas werdende Mütter unter

einer guten Geburt verstehen S. 16

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2 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

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Inhalt 403

6 DIE NEUE ARBEIT

Die Digitalisierung treibt dievierte industrielle Revolution –

wir sind bereits mittendrin.Sie verändert auch unsere

Arbeit und den Begriff, denwir von ihr haben. Wielässt sich die Zukunft

aktiv gestalten?

16 GRENZERFAHRUNG

Jede werdende Mutter möchte sie: eine „gute Geburt“. Doch was ist das überhaupt? Vor allem eine kontinuierliche Betreuung sowie bessere Aufklärung über das Kommende. Was, wenn der Traum davon zerplatzt?

30 SCHUTZ DER ALTSTADT

Annähernd 1.000 Jahre alt ist die norwegische Hafenstadt Bergen. Da kommt einiges zusammen. Besonders in der dicht bebauten Altstadt, die dank ihrer klassisch-hanseatischen Baukunst seit 1979 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Menschen und Kulturgüter auf engstem Raum zu schützen, ist Aufgabe der hiesigen Feuerwehr.

Auf rund 700.000 Normen und

Standards weltweit hat man bei Dräger in Lübeck Zugriff –

mehr ab Seite 58.

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3DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Die Beiträge im Drägerheft infor-

mieren über Produkte und deren

Anwendungsmöglichkeiten im Allge-

meinen. Sie haben nicht die Bedeu-

tung, bestimmte Eigenschaften der

Produkte oder deren Eignung für

einen konkreten Einsatzzweck zuzu-

sichern. Alle Fachkräfte werden auf-

gefordert, ausschließlich ihre durch

Aus- und Fortbildung erworbenen

Kenntnisse und praktischen Erfah rungen an zuwenden. Die

Ansichten, Meinungen und Äußerungen der namentlich

genannten Personen sowie der Autoren, die in den Texten

zum Ausdruck kommen, entsprechen nicht notwendiger-

weise der Auffassung der Dräger werk AG & Co. KGaA. Es

handelt sich ausschließlich um die Meinung der jeweili-

gen Personen. Nicht alle Produkte, die in diesem Magazin

genannt wer den, sind weltweit erhältlich. Ausstattungs -

pakete können sich von Land zu Land unter schei den. Än-

derungen der Produkte bleiben vorbehalten. Die ak tuellen

Informatio nen erhalten Sie bei Ihrer zuständigen Dräger-

Vertretung. © Drägerwerk AG & Co. KGaA, 2018. Alle Rechte

vorbehalten. Diese Veröffent lichung darf weder ganz noch

teilweise ohne vorherige Zustimmung der Drägerwerk AG

& Co. KGaA wiedergegeben werden, in einem Datensystem

gespeichert, in irgendeiner Form oder auf irgendeine Wei-

se, weder elektronisch noch mechanisch, durch Fotokopie,

Aufnahme oder andere Art übertragen werden.

Die Dräger Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Hersteller

des X-pid (S. 26 f.), des CPS 7900 (S. 33), des PSS BG4 plus

(S. 33), des X-am 8000 (S. 40 f.) sowie des Polytron 8000

(S. 41). Die Drägerwerk AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Her-

steller des Perseus A500 (S. 36), des PulmoVista 500, der

Software SmartPilot View, SmartSonar Sepsis und Smart

Ventilation Control (alle S. 65) sowie des Oxylog VE300

(S. 68).

H E R A U S G E B E R : Drägerwerk AG & Co. KGaA,

Unternehmenskommunikation

A N S C H R I F T D E R R E D A K T I O N : Moislinger Allee 53–55, 23558 Lübeck

E-Mail: [email protected]

C H E F R E D A K T I O N : Björn Wölke,

Tel. +49 451 882 2009, Fax +49 451 882 2080

R E D A K T I O N E L L E B E R A T U N G : Nils Schiffhauer

A R T D I R E K T I O N , G E S T A L T U N G , B I L D R E D A K T I O N U N D K O O R D I N A T I O N :Redaktion 4 GmbH

S C H L U S S R E D A K T I O N : Lektornet GmbH

D R U C K : Lehmann Offsetdruck GmbH

I S S N : 1869-7275

S A C H N U M M E R : 90 70 441

www.draeger.com

IMPRESSUM4Menschen, die bewegenCaroline Berthet managt eine Klinik

in Südfrankreich, Weronica Tunes ist

Brandschützerin in Südnorwegen.

6Das verunsicherte IchWie werden wir morgen arbeiten?

Selten zuvor war die Antwort

so unklar wie heute.

16Was tun?Eine „gute Geburt“ erfordert

einiges Umdenken – werdende

Mütter erwarten eine Behandlung

auf Augenhöhe.

22RaffiniertRohöl ist mehr wert als Gold. Raffine-

rien veredeln es zu Kraftstoffen – und zu

einer breiten Palette anderer Produkte.

30Retten. Löschen. Bergen. Bergens Berufsfeuerwehr operiert

nicht nur mit moderner Ausstattung,

sondern auch mit kreativen Ideen.

36Anti-HackerIT-Schutz ist nicht isoliert, sondern

nur im System möglich. Einblicke in

Szenarien und Schutzkonzepte.

38StickoxideAls Teil von Autoabgasen beherrschen

sie die öffentliche Diskussion.

Der Arbeitsschutz nimmt ihre Gefahren

schon lange ernst.

42Die Fast-AlleskönnerStammzellen haben ein großes

Potenzial – zum tatsächlichen Stand der

Dinge in Forschung und Anwendung.

48Unruhe vor dem SturmWirbelstürme bringen Menschen

in Lebensgefahr und ziehen Milliarden-

schäden nach sich. In den USA beginnt

die Saison am 1. Juni wieder offiziell.

54Desinfizieren hilft!Schon einfache Maßnahmen

reduzieren die Gefahr für eine

Ansteckung mit Krankenhauskeimen.

58Ordnung der DingeSeit gut 100 Jahren gibt es Normen

in Deutschland. Sie stehen für Sicherheit,

Bedienbarkeit und sind so etwas

wie Schnittstellen des globalen Handels.

62Vernetzung tut notDaten sind nichts ohne eine sinnvolle

Vernetzung. Auch darin liegt die

Zukunft – nicht nur in der Medizin.

67Was wir beitragenProdukte von Dräger, die im Zusammen-

hang mit dieser Ausgabe stehen.

68Oxylog VE 300110 Jahre Erfahrung stecken in

diesem neuen Notfall- und Transport-

beatmungsgerät.

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ERFAHRUNGEN AUS ALLER WELT

4

Menschen,die

bewegen

Caroline Berthet, 44, stellvertretende Geschäfts-führerin einer Privatklinik in Aubagne/Frankreich

„Seit sechs Jahren manage ich diese Klinik. Natürlich ist die Arbeit nicht immer einfach; etwa, wenn junge Menschen schwer krank sind. Über Dankesbriefe von Patienten freue ich mich immer sehr, denn sie zeigen, welche Mühe sich unser Personal täglich gibt. La Casamance hat circa 400 Angestellte und 150 Ärzte. Jährlich betreuen wir rund 24.000 Patienten stationär, 16.000 weitere

in der Notaufnahme. 2017 haben wir einen Umsatz von 42 Millionen Euro gemacht. In der Schule wollte ich immer wissen, wie die Dinge zusammenhängen, und Menschen miteinander umgehen. Solche Fragen stelle ich mir auch im Management. Ein Krankenhaus ist ein spezielles Unternehmen. Man muss bei jeder Entscheidung die Auswirkung auf den Patienten im Blick haben, der sich immer mehr als Kunde sieht. Kommt jemand aufgrund einer Operation zu uns, stellt er auch Fragen zu seinem Zimmer und dem Essen. Gerade uns Franzosen ist die Qualität des Essens

ja besonders wichtig. Leider erleben wir auch aggressive Patienten. Man-che schreien unser Personal an, weil sie warten müssen. Ich glaube, das ist derzeit ein grundsätzliches Problem in unserer Gesellschaft. Ein wichtiges Thema ist bei uns die IT-Sicherheit. Wir tun alles, um die Systeme vor Cyber angriffen zu schützen (siehe auch Drägerheft 401, Seite 6 ff.). Für die Zukunft wünsche ich mir, dass Krankenhäuser mehr einem Hotel äh-neln, mit Bereichen, in denen man sich unterhalten oder entspannen kann, wenn man warten muss. Das würde viele Patienten etwas aufheitern.“

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5DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Weronica Tunes, 45, Brand-schützerin bei der Berufsfeuer-wehr in Bergen/Norwegen

„Zusammen mit einer Kollegin war ich vor 18 Jahren die erste Frau bei der Feuer-wehr in Bergen. Für mich war das eigent-lich nichts Außergewöhnliches. Ich bin gelernte Maschinenbaumechanikerin und habe anschließend fünf Jahre für das Mili-tär gearbeitet. Während dieser Zeit war ich auch in Bosnien, 1995 in Tuzla. Ich wollte nie einen Schreibtischjob, sondern immer etwas Praktisches machen und mit den Händen arbeiten. Ich liebe meinen jetzigen Beruf. Besonders gut gefällt mir der Team-geist. Zusammenhalt, gegenseitige Wert-schätzung, Toleranz und Respekt sind eini-ge unserer Erfolgskomponenten. Der Job ist sehr abwechslungsreich, herausfordernd und verantwortungsvoll. Am liebsten bin ich mit dem Skylift ganz oben. Mittlerweile lasse ich jungen Kollegen den Vortritt, die müssen ja auch mal ran. Es wäre gut, wenn noch mehr Frauen zur Feuerwehr kämen, aber es müssen auch die richtigen sein. Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn bei den Einsätzen weiß man meist nicht, was einen als nächstes erwartet. Es ist ein schöner Bonus, dass wir die Möglichkeit haben, und auch dazu verpflichtet sind, uns während der Arbeitszeit körperlich fit zu halten.“

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FOKUS ARBEITSWELT

Dasverunsicherte

Wie werden wir künftig arbeiten? Selten zuvor war die Antwort so unklar wie heute. Das Gute daran: Wir können sie selbst gestalten.

Text: Tobias Hürter Illustrationen: Kristian Hammerstad/ByHands.no

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FOKUS ARBEITSWELT

Rund die Hälfteunseres Wachlebensverbringen wir mit Arbeit – noch

Warum tun wir uns das an? Warum lassen wir uns jeden Mor-

gen vom Wecker aus dem Schlaf reißen, drängeln uns mit vie-

len anderen durch die Rushhour zur Arbeit, um dort bis abends

zu schuften, statt auszuschlafen und unsere Tage mit einem

genussvollen Abenteuer nach dem anderen zu füllen? Blöde Fra-

ge, könnte man meinen. Wir müssen schließlich von irgendetwas

leben. Aber wohl jeder ahnt, dass das nicht die ganze Antwort

sein kann. Ein Mensch, der in seiner Arbeit glücklich ist, arbei-

tet nicht nur fürs Geld. Er arbeitet auch, um etwas zu schaffen

und seine Fähigkeiten zu entfalten. Deshalb sind die Warum-

Fragen ebenso wichtig wie die dazugehörigen Antworten. Wer

ihnen nachgeht, stößt auf ein Paradox. Wenn Berufstätige in

Umfragen sagen sollen, was sie an ihrer Arbeit schätzen, ran-

giert nicht das Geld auf Platz eins. An erster Stelle steht meist

die Sicherheit, die man durch seine Arbeit hat, dann die Freu-

de. Erst darauf folgt der materielle Lohn. Das klingt zunächst

danach, dass die Arbeit die richtige Rolle im Leben vieler Men-

schen spielt. Allerdings hat die große Mehrheit von ihnen Jobs,

die man nicht anders als monoton oder seelentötend bezeich-

nen kann. Warum müssen wir manchmal sogar darum kämp-

fen, sie tun zu dürfen, und eben nicht durch Maschinen ersetzt

zu werden? In Callcentern, Fabriken und Verpackungsbetrieben

von heute arbeitet man ausschließlich für Geld. „Es gibt vermut-

lich keinen anderen irdischen Grund, dort zu arbeiten“, sagt der

amerikanische Sozialtheoretiker Barry Schwartz.

Verständlich also, wenn Menschen mitunter ein nicht gerade

inniges Verhältnis zu ihrer Tätigkeit haben. Das amerikanische

Meinungsforschungsinstitut Gallup beobachtet seit Jahrzehnten

die Zufriedenheit von Beschäftigten weltweit. Es befragt dafür

regelmäßig Hunderttausende Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte –

und stellt immer wieder fest, dass sich ein großer Teil von ihnen

nicht mit ihrer Arbeit identifiziert. Die erledigen sie als Pflicht-

übung oder hassen sie sogar. Laut einem Gallup-Bericht von

2013 stehen gerade mal 13 Prozent der Beschäftigten in guter

Beziehung („engaged“) zu ihrem Job. „Fast neunzig Prozent

aller Erwachsenen verbringen ihr halbes Wachleben mit Din-

gen, die sie lieber nicht täten – und an Orten, an denen sie lie-

W

ber nicht wären“, sagt Schwartz. Das klingt nun gar nicht mehr

danach, dass die Arbeit die richtige Rolle spielt. Wie aber kann

man ihr dazu verhelfen?

Beginnt nun das Ende der Arbeit?Ginge es nur ums Geld, sollte man kaum noch arbeiten müs-

sen. Schon 1930 prognostizierte der britische Ökonom John May-

nard Keynes in seinem Aufsatz „Economic Possibilities for our

Grandchildren“ (Wirtschaftliche Chancen für unsere Enkel),

dass Menschen 100 Jahre später, also im Jahre 2030, nur noch

15 Stunden pro Woche arbeiten müssten, um gut leben zu kön-

nen – weil die Produktivität so stark steigen würde. Dabei hat

Keynes den Produktivitätszuwachs noch unterschätzt. Tief grei-

fende Neuerungen wie die Digitalisierung konnte er nicht erah-

nen. Mitte der 1990er-Jahre prophezeite der amerikanische

Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin gar „das Ende der Arbeit“

und sah einen „dritten Sektor“ kommen, in dem sich die vom

Broterwerb befreiten Menschen ehrenamtlich engagieren – für

soziale Aufgaben und andere gute Dinge, finanziert von einer

höheren Mehrwertsteuer und einer Reduzierung der Militärbud-

gets. Inzwischen ist das Jahr 2030 schon ziemlich nah, und es

gibt kaum Anzeichen dafür, dass die Vorhersagen von Keynes und

Rifkin eintreffen. Zwar gibt es Querdenker wie den amerikani-

schen Unternehmer Timothy Ferriss, der sogar die Vier-Stunden-

Woche propagiert, aber sie sind Außenseiter. Die große Mehr-

heit der arbeitenden Bevölkerung verbringt noch immer rund

die Hälfte ihres Wachlebens mit Arbeit. Was also stimmt nicht?

Wer verstehen will, was Arbeit heute ist und morgen sein kann,

der muss zunächst verstehen, was sie einmal war. Arbeit ist einer

jener großen Begriffe, die es schon immer gab. Man erkennt

es an der Wortgeschichte. Das Wort Arbeit gehört zu den ältes-

ten Sprachschichten. Schon die Germanen sagten arbaithi für

Arbeit oder Mühsal. Arbeiten, um zu überleben. Doch aus Sicht

der antiken Hochkulturen war das Barbarei. Im klassischen Grie-

chenland machte Arbeit den Menschen unfähig zur Eudaimo-nia, zur Glückseligkeit. Arbeit war etwas für Sklaven, denen die

Muße fehlte: für die Politik, Kunst oder Philosophie. Das Chris-

tentum wiederum stellte diese Sicht auf den Kopf. Arbeit sei die

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DRÄGERHEFT 403 | 1 / 201810

ARBEIT NACH ZAHLENJeder Mensch hat ein ganz individuelles Verhältnis zu seiner Arbeit. Das schwankt

zwischen völliger Erfüllung und kompletter Entfremdung. Statistische Untersuchungen können nur global zeigen, was Arbeit bedeutet und was sie bewirkt – ein paar Stichproben.

Milliarden Menschen über 15 Jahre arbeiten weltweit. Das sind 58,5 % der Weltbevölkerung (über 15 Jahre). Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit

liegt zwischen 32 Stunden (Niederlande) und 53 Stunden (Vereinigte Arabische Emirate). In Industrieländern pendelt sie um 38 Wochenstunden.

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¼bis 1/3 der durchschnittlichen

Arbeitszeit benötigte man 2016 im Vergleich zu 1970 für den Kauf ausgewählter Lebensmittel wie etwa:

1 Liter Milch (1970: 9 Min. / 2016: 3 Min.) oder 1 Kilo Schweinekotelett (1970: 96 Min. / 2016: 21 Min.)

3,3

Die Erschöpfung durch Arbeit ist in Europa zwischen 2007 und 2016 stark gestiegen – gemes-sen daran, ob Erwerbstätige sich nach der Arbeit wenigstens an einigen Tagen im Monat nicht mehr

fit für Hausarbeit fühlen. In Deutschland von 39 % auf 48 %, in Frankreich von 47 % auf 64 %,

in Großbritannien von 52 % auf 66 %.

aller Krankenschwesternin den USA berichten über

akute oder chronische Auswirkungen von Stress

und Überarbeitung.

Landwirtschaft

Dienstleistung

Industrie der Beschäftigten in Deutschland arbeiteten im Jahre 2017 im Dienstleistungssektor. Das war nicht immer so. Die Entwicklung zwischen 1950 und 2017 zeigt:

Produktivitätsfortschritte in Industrie und Landwirtschaft haben diesen steilen Anstieg des Dienstleistungssektors erst möglich gemacht.

68,9 %der Menschen in Gesellschaften

mit niedrigem Einkommen arbeiten in der Landwirtschaft. In Gesellschaften

mit hohem Einkommen arbeiten 74,2 % im Bereich Dienstleistungen.

48 %75 %

+44

-10

-22

75 %

32 h

53 h

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ARBEITSWELT FOKUS

11DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Zeitfresser Dokumentation: Die eigentliche Arbeit kommt zu kurz

Folge des Sündenfalls, der Vertreibung aus dem Paradies. „Im

Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, heißt es

im Alten Testament. „Bete und arbeite“ füllte das Leben der

Benediktiner. Der Kapitalismus, der die Arbeitswelt in den letz-

ten 150 Jahren prägte, machte sich diesen Begriff als gottgege-

ben zunutze. Mit ihm entstand die bis heute dominierende Form

der Arbeit: die Lohnarbeit.

Doch der Kapitalismus steckt in der Krise. Der französische

Ökonom Thomas Piketty beschreibt in seinem Buch („Das Kapi-

tal im 21. Jahrhundert“) ein System, das strukturell zu Ungleich-

heit führt. Die Erträge aus Kapitalanlagen wachsen schneller als

die aus eigener Arbeit. Arbeit und Entlohnung entkoppeln sich.

Der Staat muss die Divergenz von Einkommen und Reichtum

ausgleichen, diagnostizierte Piketty. Aber dafür dürfte der Staat

auf Dauer nicht stark genug sein. Daher prophezeit Piketty eine

neue Ära niedrigen Wachstums und extremer Ungleichheit: eine

Welt, in der Reichtum vor allem durch Erben, von einer Genera-

tion zur nächsten, weitergegeben wird. Kurz gesagt: Wer dann

noch arbeitet, ist entweder verrückt oder ein armer Teufel – wie

in vorindustriellen Zeiten. Der britische Autor Paul Mason sieht

die Menschheit bereits in der Ära des Postkapitalismus angekom-

men. Ohne das Wachstum und Erschließen immer neuer Märk-

te funktioniere der Kapitalismus nicht mehr. Allerdings wird

es immer schwieriger, Wachstum zu erzeugen. Masons These:

Die Informationstechnologie ist die Totengräberin des Kapita-

lismus. Denn in den Blütezeiten des Kapitalismus drehte sich

noch alles um Besitz und Kontrolle der physischen Produktions-

mittel. Heute rücken diese in den Hintergrund. 3-D-Drucker zei-

gen, wie Algorithmen sogar beim Bau von Häusern klassische

Berufe ersetzen können.

Kaum eine Tätigkeit verbleibt im AnalogenDiese Umwälzung hat viele Branchen erfasst. In ihrer Studie

„The Future of Employment“ (2013) schätzen Wirtschaftswis-

senschaftler der Oxford University, dass von heute 702 Berufen

fast die Hälfte in den nächsten 20 Jahren durch die Digitali-

sierung verschwinden wird. Profi-Sportschiedsrichter, Taxi-

fahrer und Steuerberater seien besonders gefährdet. Berufe in

der Medizin hingegen schätzen die Oxford-Ökonomen noch als

relativ sicher ein. Dabei gehört die Digitalisierung zum über

150 Jahre alten Trend der Automatisierung. Die Einführung

der Dampfmaschine, der Elektrizität, des Verbrennungsmotors

und des Fließbands erschütterten einst die Arbeitswelt, weck-

ten Ängste und brachen Biografien. Und doch hat die Digita-

lisierung eine andere Qualität, denn sie dringt in fast jeden

Winkel. So gut wie keine Tätigkeit dürfte künftig gänzlich im

Analogen verbleiben. Das bedeutet nicht, dass das Analoge ver-

schwindet. Analoges und Digitales können sich in die Quere

kommen oder gegenseitig befeuern. In der Medizin zum Bei-

spiel können automatisierte Mammografie-Analysen, OP-Robo-

ter und digitale Patienten akten die Qualität und Effizienz der

Patienten versorgung verbessern.

Mitunter jedoch klagen Ärzte darüber, dass die Technik

ihnen dabei im Weg steht. Nach einer Erhebung, die der Münch-

ner Unfallchirurg und Digitalisierungsexperte Dr. med. Dominik

Pförringer vom Klinikum rechts der Isar mit Kollegen initiiert

hat, verbringen Ärzte heute beinahe die Hälfte ihrer Arbeitszeit

nur mit Dokumentation. Da Patienten oft von mehreren Medi-

zinern verschiedener Disziplinen behandelt werden, und die

Zusammenführung der Informationen kaum geregelt ist, bedeu-

tet dies häufig, dass Daten doppelt eingegeben werden – oder

auf unerklärliche Weise verschwinden. Um Zeit zu sparen, ist

mancher Mediziner schon dazu übergegangen, bei Patienten-

gesprächen direkt am Computer mitzuschreiben. „Die Technik

steht buchstäblich zwischen Arzt und Patient“, sagt Pförringer.

Der Standard „9 bis 17 Uhr“ löst sich aufTechnik aber hat das Potenzial, das Analoge und Digitale in eine

gute Richtung zu lenken. Es sind ja auch die analog-mensch-

lichen Seiten, die Patienten am Krankenhauspersonal schät-

zen und die mit zur Genesung beitragen: Verständnis, Vertrau-

en, Empathie. Sie machen medizinische Berufe im digitalen

Umbruch unersetzlich. Die Zukunft gehört somit einer Technik,

die diese Stärken unterstützt und mehr Raum für Menschlich-

keit schafft. Wenn etwa in dünn besiedelten Gegenden die medi-

zinische Versorgung so dürftig wird, dass man Ärzte mit einer

Umsatzgarantie locken muss, kann Telemedizin die Ärzte digital

zu den Patienten bringen. Wenn Disziplinen wie die Chirurgie

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DRÄGERHEFT 403 | 1 / 201812

FOKUS ARBEITSWELT

Arbeitszeiten werden flexibel – zumindest dort, wo es geht

Manche nennen sie Generation Y, andere Millennials. Mit diesen Schlagworten sind viele Klischees verbunden – und eine neue Generation junger Menschen, die nun die Arbeitswelt erreicht, mit ihren eigenen Wünschen, Werten, und Denkwei-sen. Das gilt auch in der Medizin. „Y?“ – „Why?“ – „Warum?“ ist die namensgeben-de Frage dieser Generation. Tatsächlich lässt sich bei jungen Medizinern beob- achten, dass sie die Dinge mehr infrage stellen als andere zuvor: „Warum muss ich 24 Stunden am Stück arbeiten?“ „Warum soll ich im Studium die Nebenwirkungen von Präparaten auswendig lernen, die später vielleicht gar nicht mehr auf dem Markt sind?“ „Warum soll ich die Medika-tion eines Patienten dokumen-tieren, obwohl es schon mehrere behandelnde Ärzte vor mir getan haben?“

Viele junge Ärzte wissen genau, was sie in ihrem Beruf erwartet. Oft liegt der in der Familie. Bei Dominik Pförringer, 38, Orthopäde und Unfallchirurg am Münchner Klinikum rechts der Isar, schon seit 1749. Pförringer ist Arzt in achter Generation. Er weiß, dass sein Beruf heute nicht mehr der

gleiche ist wie zu Zeiten seiner Vorfahren. „Ärzte sind heute Dienstleister“, sagt er. Der Service müsse stimmen, im Prinzip wie im Restaurant, nur dass es eben um Gesundheit gehe. Für ihn bedeutet das auch, dass er seine Arbeitszeiten nach den Bedürfnissen seiner Patienten richtet. „Wenn ich gerufen werde, bin ich fast immer zur Stelle – egal wann, egal wo ich gerade bin.“ Er wünscht sich, dass auch andere sich mehr am Wohl der Patienten orientieren. „Zudem eine gerechtere Verteilung der Mittel – weniger für Unternehmen, mehr für die Patienten.“ Ein Schritt in diese Richtung könnte die Einführung einer ergebnisorientierten Vergütung sein, deren Höhe sich nach der Patientenzufriedenheit richtet. Auch Veronika Goethe, 27, Urologin am Klinikum rechts der Isar, hat ihren Beruf „geerbt“. Ihre Mutter ist Ärztin. Hinzu kamen eine frühe Neigung zu den Lebenswissenschaf-ten und der Wunsch, anderen Menschen zu helfen – sowie das nötige Geschick und Quäntchen Glück, um einen Studienplatz zu ergattern. Veronika Goethe kann ihre Zeit zwischen Forschung und Behandlung

aufteilen. Die eine Hälfte arbeitet sie als Studienärztin für die PROBASE-Studie zum Prostatakrebs-Screening, die andere Hälfte behandelt sie Patienten auf der Urologischen Station. Entgegen Ihrer Vorstellung als Studentin schätzt sie inzwischen das breite Spektrum und die Entwicklungsmöglichkeiten, die sich ihr an einer großen Klinik bieten. Überhaupt ist der Drang früherer Generationen, möglichst rasch aus der Klinik in die Selbständigkeit zu finden, bei jüngeren Medizinern merklich geringer ausgeprägt. Der Stress und die Unsicherheit einer Selbstständigkeit schreckt viele ab. Sie ziehen ein festes Gehalt und geregelte Arbeitszeiten vor. Ein Problem, das junge Mediziner immer wie-der ansprechen, ist die mangelnde Kommunikation zwischen Ärzten verschie-dener Häuser oder Disziplinen. Sie wissen, dass gerade in dieser Zeit der Spezialisie-rung und Rationalisierung eine reibungslose Kommunikation der Schlüssel zu gutem Arbeiten ist. Und sie erleben, dass die heutigen Strukturen und technischen Mittel die Kommunikation nicht immer erleich-tern – obwohl sie das Potenzial dazu haben.

Die „Warum?“-Frager kommen

wegen der körperlichen Belastung unter Nachwuchssorgen lei-

den, können OP-Roboter sie auch für junge Mediziner attraktiver

machen. Neue Technologien können in einer ökonomisierten

Medizin Spielräume für die Dinge schaffen, die sich Patienten

von Ärzten wünschen und Ärzte einst dazu bewegt haben, ihren

Beruf zu ergreifen: Hilfe und Verständnis.

Eine weitere Entwicklung der Digitalisierung ist die Indivi-

dualisierung – auch die der Arbeit. Der Standard „9 bis 17 Uhr“

befindet sich in Auflösung. Es zeichnet sich ab, dass viele Arbeit-

nehmer ihre Arbeitszeiten lieber individuell vereinbaren wür-

den. Ein Schritt in diese Richtung ist der jüngste Tarifabschluss

in der deutschen Metallindustrie, der Mitarbeitern die Wahl zwi-

schen Geld und Freizeit lässt. Dabei hängt das beste Arbeitsmo-

dell natürlich nicht nur vom Lebensmodell eines Menschen und

vom Geschäftsmodell des jeweiligen Arbeitgebers ab, sondern

auch von der Branche. Im Bergbau sind Teilzeitjobs mit flexiblen

Arbeitszeiten kaum praktikabel, die Feuerwache einer Großstadt

lässt sich nur schwerlich mit ausschließlich freien Mitarbeitern

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DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018 13

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FOKUS ARBEITSWELT

14 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Das erschöpfteSelbst sollte keine Zukunft haben

Kristian HammerstadWomöglich hat er für sich bereits die Zukunft einer Arbeit „im Flow“ (Mihály Csíkszent-mihályi, 1975) verwirklicht – selbstbestimmt, kreativ und mit schöpferischer Leidenschaft: Kristian Hammerstad, geboren 1980 in Oslo, ist Illustrator mit Leib und Seele. Dazu erfasst er das Wesen seiner Gegenstände und

setzt ihren eigentlichen Gehalt in comicartige Illustrationen um – das eignet sich gerade für abstrakte Themen, wie auch die Zukunft der Arbeit eines ist. Damit begeistert der Künstler die Leser vom New Yorker über Le Monde bis zur New York Times. Unübersehbar sind formale Anleihen bei US- amerikanischen Comics der 1950er-Jahre, die wie direkte Echolotungen in die Gesellschaft anmuten.

betreiben, und ein Unfallchirurg wird auch künftig einen Fami-

lienabend für einen Notfall verlassen müssen.

Doch mehr Flexibilität bei Unternehmen und Mitarbeitern

hat auch seine Schattenseiten, denn Freiheit kann anstrengend

sein. Nicht zufällig sprach der deutsch-amerikanische Philosoph

und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900-1980) von der „Furcht

vor der Freiheit“. Dahinter steckt der Gegensatz von Freiheit

und Sicherheit. Man kann nie beides ganz haben. Freiheit wird

zur Belastung, wenn sie als beliebig, willkürlich oder unbere-

chenbar erlebt wird. Dann kann sie ihre wichtigste Funktion

verlieren, nämlich Sicherheit zu geben. Dabei bedeutet Sicher-

heit viel mehr als nur finanzielle Absicherung. Arbeit veran-

kert Menschen in der Gesellschaft, sie verschafft ihnen Aner-

kennung und einen Platz im Sozialen – Grundbedürfnisse, die

in vielen Arbeitsverhältnissen von heute zu kurz kommen. Auch

diese Überlegungen gehören zu einer Arbeitswelt, die mehr sein

sollte als „Lohn gegen Leistung“. In einer schlechten Arbeits-

welt bleibt den Menschen nur die Wahl zwischen zwei Übeln:

dem Frust in der Arbeit oder dem Frust in der Arbeitslosigkeit.

Wenn Menschen in der Arbeit nicht mehr das finden, was sie

brauchen, beginnen sie zu leiden. Sie rennen der Anerkennung

hinterher. Das endet oft in Frustration, in der inneren Kündi-

gung, im Burnout oder im Karoshi, dem Tod durch Überarbei-

tung. „Das erschöpfte Selbst“, das der französische Soziologe

Alain Ehrenberg in seinem gleichnamigen Buch beschreibt, ist

ein gedemütigtes, frustriertes, verunsichertes Ich.

Arbeit: ein Begriff, der sich wandeltArbeit macht einen Menschen zu dem, der er ist. Sie ist ein

wesentlicher Teil der Antwort auf die Frage: Wer bist du? Sie

gibt einem Menschen einen Ort in der Gesellschaft. Doch Digi-

talisierung und Produktivitätsgewinne bedeuten auch, dass wir

da rüber nachdenken müssen, was wir in Zukunft überhaupt

unter dem Begriff Arbeit verstehen wollen. In der klassischen

Marienthal-Studie, in der Soziologen in den 1930er-Jahren die

Auswirkungen der Arbeitslosigkeit in der Textilindustrie unter-

suchten, zeigte sich: Das Problem von Menschen, die keine

Arbeit haben, ist nicht so sehr, dass sie kein Geld haben, son-

dern eher dass ihnen die Gründe fehlen, etwas zu tun. War-

um in den Park gehen, wenn man nichts hat, wovon man sich

erholen muss? Warum ausgiebig essen, wenn man nichts hat,

wofür man sich stärken muss? Einer Gesellschaft, der die Arbeit

fehlt, fehlt der Zusammenhalt. Das Soziale löst sich auf. Doch

zunehmend verstehen wir unter Arbeit eben nicht mehr die

reine Erwerbstätigkeit: Heute kann es einem Menschen Selbst-

wert und gesellschaftliche Anerkennung verschaffen, wenn er

seinen demenzkranken Angehörigen pflegt oder seine Erfah-

rungen als Trainer der Jugendmannschaft eines Sportvereins

weitergibt. Manche Menschen blühen in einer selbstständigen

Tätigkeit auf, andere wären als Ich-AG hoffnungslos überfor-

dert. Wie jemand seine Arbeit gestaltet, sollte eine Gesellschaft

– die Freiheit zu ihren Grundwerten zählt – ihm selbst überlas-

sen. Vielleicht durch die Einführung neuer Arbeitsmodelle, viel-

leicht durch die Förderung ehrenamtlicher Tätigkeiten, viel-

leicht sogar durch ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie

es inzwischen quer durch das politische Spektrum diskutiert

wird. Es würde die Arbeit nicht entwerten. Alle Beteiligten soll-

ten sich fragen: Welche Art von Arbeit und somit Zukunft wol-

len wir miterschaffen? Darin wird Arbeit nicht mehr so sehr wie

heute Mittel zum Zweck sein, sondern eher ein Zweck an sich.

Gute Arbeit gibt uns Gründe, etwas zu tun. Sie motiviert, hält

uns lebendig. Gute Arbeit erkennt man daran, dass sich die Fra-

ge, warum wir jeden Morgen aufstehen, gar nicht mehr stellt.

Page 15: Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

Drägerheft: Frau Dr. Ahlers, ist die Digitalisierung der Arbeitswelt ein neues Phänomen oder eher die Fortsetzung eines alten?Dr. Elke Ahlers: In Teilen ist sie eine ver-

stärkte Fortsetzung dessen, was es vor-

her auch schon gegeben hat – eine Fle-

xibilisierung der Arbeitswelt. Viele

Themen wurden schon vor zehn Jahren

diskutiert, als der Begriff der Digitalisie-

rung noch nicht im Vordergrund stand.

Damals wie heute ging es um den demo-

grafischen Wandel, um Rationalisierung

von Arbeitsplätzen, um schlanke Orga-

nisationen, verstärkte Kundenorien-

tierung oder die Auswirkungen auf die

Arbeitsbedingungen. Es ging auch um

Entgrenzung der Arbeitszeit, um eine

bessere Work-Life-Balance und ange-

passte Arbeitszeitmodelle.

Worin besteht dann die Veränderung?

In vielen Branchen wird heute grund-

legend anders gearbeitet. Gerade im

Dienstleistungssektor arbeitet man oft in

Projekten, selbst organisiert mit Zielver-

einbarungen und Deadlines – mobil oder

von zu Hause aus. Bereits vor der Ära der

Digitalisierung stand der Umgang mit

diesen Anforderungen auf der Agenda.

Das waren große Themen, die mit der

Digitalisierung nach hinten geschoben

wurden. Dann hieß es, wir könnten uns

nicht mit solch althergebrachten Din-

gen beschäftigen und müssten uns jetzt

mit der großen Welle der Digitalisierung

auseinandersetzen – auch um interna-

tional wettbewerbsfähig zu bleiben.

Aber das ist doch keine reine Erfin-dung. Vor zehn Jahren haben wir völlig anders gearbeitet als heute, und dieser Umbruch ist auch technisch getrieben.

„Das verstärkt die Entwicklungen“Die Sozialwissenschaftlerin Dr. Elke Ahlers leitet seit 2013 das Referat Qualität der Arbeit der Hans-Böckler-Stiftung. Dort hat sie auch die Auswirkungen der Digitalisierung untersucht.

Das stimmt. Es wird heute stark ver-

netzt und beschleunigt gearbeitet, vor

allem über das Internet. Die Digitalisie-

rung verstärkt die Entwicklungen von

damals noch. Wenn man immer und

überall arbeiten kann, dann ist das ein

Treiber für weitere Flexibilisierung und

Entgrenzung der Arbeit.

Sie haben 2.000 Betriebsräte in ganz Deutschland zur Digitalisierung befragt. Was kam dabei heraus?Die Reaktionen sind sehr gespalten.

Ein großer Teil der Betriebsräte, rund

40 Prozent, steht dem positiv gegenüber.

Ein kleinerer Teil sieht die Digitalisie-

rung kritisch. Und viele haben noch gar

keine Meinung dazu.

In welcher Branche sieht man die Digitalisierung besonders kritisch?Auffällig sind die Antworten der

Betriebsräte aus Banken und Versiche-

rungen. Dort hat die Digitalisierung,

unseren Daten zufolge, die meisten

negativen Auswirkungen.

Warum gerade dort?

Im Finanzwesen findet eine starke Algo-

rithmisierung von Arbeitsprozessen

statt – etwa von Versicherungsanträgen

oder Kreditbearbeitungen. Das überneh-

men oft Computer. Die Arbeitnehmer

sehen dann, dass ihre Arbeit überflüssig

wird. Es kommt zu Umstrukturierungen

und Entlassungen. Aber auch die Arbeits-

intensivierung der Beschäftigten ist ein

Thema, oder die technisch getriebene

Leistungskontrolle. In dieser Branche

waren die Arbeitsanforderungen schon

früher stark umsatzgetrieben. Die Digi-

talisierung erweist sich nun als Verstär-

ker dieses Trends.

Wo steht man der Digitalisierung positiv gegenüber?Die wenigste Kritik kommt aus Unter-

nehmen der Informations- und Kommu-

nikationstechnologie. Die Betriebsräte

dort bewerten die Digitalisierung eher

positiv. In dieser Branche arbeiten die

Beschäftigten stärker im Homeoffice,

was im Idealfall die Vereinbarkeit von

Familie und Beruf erleichtert. Aber hier

haben diese Modelle bereits Tradition.

Ein Homeoffice kann die Grenzen zwischen Arbeit und Familie auch auf-lösen. Werden Betriebsräte da aktiv?Ja, wir beobachten, dass es über gute

Betriebsvereinbarungen gelingen kann,

die Probleme der ständigen Erreichbar-

keit in den Griff zu bekommen.

Wodurch entsteht der Druck zu ständiger Erreichbarkeit?Viele Mitarbeiter arbeiten sehr selbst

organisiert. Für den Druck, ständig

erreichbar sein zu müssen, ist nicht nur

der Arbeitgeber verantwortlich; er ergibt

sich oft aus der Arbeitsorganisation

und den Projektstrukturen.

Die neue Bundesregierung hat die Digitalisierung als eines ihrer wichtigs-ten Themen ausgegeben. Was würden Sie ihr als Aufgabe geben?Wenn Politiker über Digitalisierung

reden, dann geht es oft um den Ausbau

von Breitbandnetzen und die Anpassung

an eine internationale Wettbewerbs-

fähigkeit. Es sollte aber auch um gute

Arbeit in Zeiten des digitalen Wandels

gehen, um den Schutz der Beschäftig-

ten vor Selbstausbeutung und um mehr

Mitspracherechte bei der Organisation

der Arbeit.

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GESUNDHEIT FRÜHGEBORENENMEDIZIN

Grenz-erfahrung

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Frühgeborene möchten ihre Entwicklung im Schutz des Mutterleibs verbringen, nicht auf der Intensivstation. Das geht am besten mit individualisierter Hilfe

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Mütter, die ihr Kind weit vor dem errechneten Geburtstermin zur Welt bringen, sind nicht nur in Sorge um das Wohlergehen ihres Babys – sie müssen auch mit dem Schock über das ABRUPTE ENDE IHRER SCHWANGERSCHAFT zurechtkommen. Was, wenn der Traum von einer guten Geburt zerplatzt?

Text: Dr. Hildegard Kaulen

„Nein!“ Wie ein lautloser Schrei

dröhnte dieses Wort durch Paulas Kopf,

als sie spürte, wie Fruchtwasser an der

Innenseite ihrer Oberschenkel herunter-

lief. Paula M. war zu diesem Zeitpunkt

am Ende der 26. Schwangerschaftswoche

und hatte sich über die Entbindung noch

keinerlei Gedanken gemacht. „Nein, das

Kind muss bleiben, wo es ist! Ich schließe

jetzt die Augen, und dann wird der Spuk

vorüberziehen.“ Zog er aber nicht. Pau-

las vorzeitiger Blasensprung, eine einset-

zende Infektion und Unregelmäßigkeiten

bei den kindlichen Herztönen ließen ihr

keine andere Wahl. Ihr Sohn musste weit

vor dem errechneten Geburtstermin per

Kaiserschnitt entbunden werden. Leons

Geburtsgewicht lag bei 900 Gramm. Als

Paula ihn zum ersten Mal sah, war sie

erschüttert: Wie sollte sie diesem winzi-

gen, unreifen und schutzlosen Kind das

herausfordernde Leben zutrauen? Wür-

de er es je allein meistern?

Diese und andere Fragen beschäfti-

gen alle Mütter von Frühgeborenen. Je

unreifer das Kind, desto tiefer sitzt der

Schock. Das weiß auch Prof. Dr. Chris-

tian Poets, der den Lehrstuhl für Neo-

natologie an der Universität Tübingen

innehat. „Die Mütter können das abrup-

te Ende ihrer Schwangerschaft kaum

fassen“, sagt er. „Sie glauben, versagt

zu haben, weil sie das Kind nicht über

die ganzen 40 Wochen bei sich behalten

haben. Und dann erleben sie auch noch,

dass ihnen andere Menschen ihre urei-

gene Aufgabe, selbst für ihr neugebore-

nes Kind zu sorgen, aus der Hand neh-

men. Dieser Schock sitzt tief“, sagt Poets.

„Doch NIDCAP kann dabei helfen, dieses

Trauma zu verarbeiten.“ NIDCAP steht

für Newborn Individualized Developmen-tal Care and Assessment Program und ist

ein individualisiertes Betreuungskonzept

für Frühgeborene, das in den 1980er-Jah-

ren von der deutschstämmigen Psycho-

login Heidelise Als entwickelt wurde. Sie

arbeitet seit 40 Jahren als Professorin an

dem zur Harvard Medical School gehö-

renden Boston Children’s Hospital. Das

Programm war primär für Pflegekräfte

gedacht, bezieht heute jedoch auch die

Eltern mit ein. NIDCAP basiert auf einer

individuellen – Assessment genannten –

Page 18: Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

Die Pionierin des NIDCAP-Konzepts Professorin Heidelise Als im Gespräch mit Professor Christian Poets von der Universität Tübingen

GESUNDHEIT FRÜHGEBORENENMEDIZIN

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Bewertung: Jedes Frühchen soll genau

die Pflege und Unterstützung bekom-

men, die es benötigt. Dafür muss man

das Verhalten des Kindes verstehen – also

erkennen, was es durch seine Reaktio-

nen, Laute und Hautveränderungen zum

Ausdruck bringen will. Das Assessment

erfolgt durch systematische Verhaltensbe-

obachtungen, die in einem standardisier-

ten Untersuchungsprotokoll festgehalten

werden. Daraus wird dann eine individu-

elle Betreuung entwickelt.

Mehr als nur ein paar AnpassungenAuf welchen Annahmen basiert NIDCAP?

Kinder profitieren von Reizen, die zur

rechten Zeit kommen und die passende

Komplexität haben. Reifere Kinder ver-

tragen mehr Stimuli als unreifere. Das

Programm geht davon aus, dass auch

sehr unreife Kinder auf Reize reagieren ,

tern, Grimassieren, Erblassen, Überstre-

cken oder Schluckauf. Zeichen für Ent-

spannung sind zum Beispiel das Einrol-

len des Körpers, das Anziehen der Arme

und Beine, eine zufriedene Mimik oder

das Hand-zum-Mund-Führen. All das wird

bei NIDCAP sorgfältig registriert.

Die Professorin Heidelise Als hat die

entwicklungsbiologischen Konzepte hin-

ter NIDCAP vielfach beschrieben. Dem-

nach erwartet das Frühgeborene, dass

es die kritischste Phase seiner Gehirn-

entwicklung im Schutz des Mutterleibs

erlebt, sich an den Grenzen der Frucht-

blase orientieren kann und seinen Tag

durch den Schlaf-Wach-Rhythmus der

Mutter strukturiert. Stattdessen wird es

mit den Bedingungen einer Intensivsta-

tion und oft auch fassungslosen Eltern

konfrontiert. Somit braucht es individu-

elle Hilfe, um seine Gehirnentwicklung

unter diesen völlig anderen Umständen

zu meistern. Psychologin Als begründet

viele Empfehlungen auch mit dem Hin-

weis auf die noch unreifen Systeme des

Frühgeborenen. Sie spricht von verschie-

denen: dem autonomen System für alle

Vitalfunktionen wie Atmung, Herzschlag

und Verdauung, dem Bewegungssystem

für alle motorischen Aktivitäten, dem Sys-

tem für Wachheit und Schläfrigkeit, für

Aufmerksamkeit und soziale Interaktion

sowie dem System zur Integration dieser

Funktionen. Sehr unreife Frühchen tun

sich schwer, beim Füttern auf soziale Rei-

ze zu reagieren. Sie können nicht gleich-

zeitig saugen, schlucken, atmen und dabei

auf die Ansprache der Eltern oder die der

Pflegekraft eingehen. Das überfordert

die Inte grationskraft ihrer noch unreifen

Systeme. Deshalb raten NIDCAP-Experten

dabei ihre individuellen Stärken nutzen

und ihren eigenen Willen zum Ausdruck

bringen. Diese Reaktionen müssen rich-

tig verstanden und mit einer individuellen

Betreuung beantwortet werden. „ NIDCAP

ist allerdings mehr als gedämpftes Licht,

ein niedriger Geräuschpegel und Körper-

kontakt“, sagt Professor Poets. „Es ist eine

Wahrnehmungsschule, die uns lehrt, auf

das zu hören und zu schauen, was das

Frühchen kann, will und braucht. Das

Kind gibt den Rhythmus vor – es bestimmt,

was zu tun und wann der richtige Zeit-

punkt dafür gekommen ist. Sei es beim

Füttern, bei der Pflege, bei medizinischen

Interventionen oder beim Kuscheln.“ Mit

NIDCAP nehmen auch die Eltern Wahr-

nehmungsunterricht und verbessern

damit ihre Handlungskompetenz und

Selbstbefähigung. Es gibt klare Stress-

indikatoren, die Eltern und Pflegekräften

zeigen, wie sich das Kind fühlt: etwa Zit-

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Körperkontakt stärkt die Bindung

zwischen Mutter und Kind – und gewährt

Schutz und SicherheitEine Wahrnehmungs schule, die dabei hilft, Frühchen besser zu verstehen

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Jedes Kind hat individuelle Stärken – und einen ganz eigenen Willen

Ausgestreckte Arme und eine angespannte Körperhaltung deuten auf Stress hin

Gebeugte Arme und zusammengeführte Hände sind Zeichen der Entspannung

Auch der Gesichtsausdruck und die Atmung zeigen, wie gut es dem Frühchen geht

GESUNDHEIT FRÜHGEBORENENMEDIZIN

20 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

den Eltern und Pflegekräften auch, das

Kind ruhig und ohne Ansprache zu

füttern.

Einziges deutsches Ausbildungszentrum Professor Poets kam erstmals 1994 mit

NIDCAP in Berührung. Eingeführt hat

er das Programm allerdings erst 14 Jah-

re später. Bleibeverhandlungen nach

einer Berufung auf einen Lehrstuhl an

der Berliner Charité verschafften ihm

dafür in Tübingen den finanziellen Spiel-

raum. Weitere finanzielle Hilfe erhielt er

durch Elternvereine, die das Programm

ebenfalls unterstützten. Heute arbei-

ten sechs NIDCAP-Experten in seinem

Team, zusammen mit zwei Ausbilderin-

nen. Die Tübinger Neonatologie ist auch

das einzige NIDCAP-Ausbildungszentrum

im deutschsprachigen Raum. Bei des-

sen Errichtung unterstützte Professorin

Heide lise Als ihren Kollegen Poets sogar

persönlich. Heute ist NIDCAP in vielen

Ländern fest verankert. Allerdings tun

sich die Neonatologiezentren in Deutsch-

land noch schwer. Die Etablierung kos-

tet Zeit und Geld, zudem verlangt sie

ein Umdenken. In einem NIDCAP-Team

hat derjenige das Sagen, der die Inte-

ressen des Frühgeborenen am besten

erkennt und vertritt – und nicht derjeni-

ge, der in der Hierarchie ganz oben steht.

Wie schwierig war die Umsetzung? „Es

braucht ein Umdenken, aber mit der Zeit

entwickelt man eine größere Sensibilität

für das, was die Frühgeborenen ausdrü-

cken wollen“, sagt Professor Poets, der

NIDCAP allerdings nur für sehr unreife

Frühgeborene anbietet. Geholfen habe

ihm auch eine Vorgabe des Gemeinsa-

men Bundesausschusses, nach der inzwi-

schen mindestens eine Gesundheits- oder

Kinderkrankenpflegekraft pro intensiv-

therapiepflichtigem Frühchen anwesend

sein muss. Diese Vorgabe habe zu einer

Anhebung des Betreuungsschlüssels auf

den Intensivstationen geführt. „Dadurch

haben wir mehr Zeit für die aufwendigen

Beobachtungen“, ergänzt der Klinikchef.

Eltern zu Experten machenWie sollte NIDCAP weiterentwickelt wer-

den? Poets zögert nicht mit der Antwort.

„In Richtung einer noch stärkeren Befä-

higung der Eltern“, sagt er. „Auch wenn

sie heute schon sehr stark eingebunden

werden, ist NIDCAP immer noch ein

expertenbasiertes Programm. Die Spe-

zialisten geben den Ton an. Ich wür-

de die Eltern gern dabei unterstützen,

selbst die Experten für ihr Kind zu sein.“

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21DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

Die Dissertation von Dr. Cecilia Colloseus ist im Campus-Verlag erschienen:„Gebären – Erzählen. Die Geburt als leibkörperliche Grenzerfahrung“

Ein Kind zur Welt zu bringen, ist das ureigene Privileg einer Frau. Gleichzeitig ist es eine Grenzerfahrung, auf die sich Schwangere nur bedingt vorbereiten können und über die auch öffentlich kaum gesprochen wird. In Internetforen lassen sich allerdings immer mehr Gebärerzählungen finden. Darin zeigt sich auch, dass viele Mütter die Geburt ihres Kindes in wenig guter Erinnerung haben. Die Zahl derjenigen, die von einem traumatischen Erlebnis sprechen, steigt – auch wenn das Kind gesund und reif zur Welt gekommen ist. Die Kulturanthropologin Dr. Cecilia Colloseus von der Universität Tübingen hat im Rahmen ihrer Dissertation 44 Gebärerzählungen ausgewertet und damit erstmals der Perspektive der Gebärenden auf die Geburt einen eigenen Platz in der wissenschaftlichen Forschung gegeben. Dabei zeigte sich, dass die Medizin das Thema Geburt als Grenzerfahrung offensichtlich nicht genügend würdigt. Die Frauen werden zu selten gefragt, was ihnen wichtig ist und was sie für eine gute Geburt brauchen. Viele erleben die Ankunft ihres Kindes offenbar nicht als aktives Gebären, sondern als passives Entbundenwerden. Diese Passivität widerspricht der zunehmend eingeforderten partizipativen Entscheidungsfindung (siehe auch Drägerheft 401, Seite 22 ff.). Man versteht darunter das gemeinsame Entscheiden über medizinische Eingriffe auf Augenhöhe.

Was ist werdenden Müttern wichtig? „Die Frauen wünschen sich eine bessere und kontinuierliche Betreuung sowie eine bessere Aufklärung“, sagt Dr. Colloseus und ver-weist auf Ergebnisse der Hebammenwissenschaft. „Viele Frauen, vor allem Erstgebären-de, können diesen Wunsch allerdings erst nach der Entbindung formulieren, weil sie von anderen Voraussetzungen ausgegangen sind.“ Sie rechnen damit, dass zu jeder Zeit eine Hebamme anwesend sein wird. Das ist aber aufgrund personeller Engpässe in den meisten Entbindungskliniken nicht der Fall. Die Frauen werden oft über Stunden allein gelassen. Das macht vielen Angst. Wenn die Geburt dann unmittelbar bevorsteht, kommt es häufig zu Maßnahmen, denen sie nicht explizit zugestimmt haben. „Viele erleben dann einen Kontrollverlust. Sie nehmen die nicht angekündigten oder rabiat ausgeführten geburtsmedizinischen Interventionen als übergriffig oder gar gewaltsam wahr“, sagt Colloseus. „Für viele wird die Geburt dadurch zum Trauma.“ Dabei ist die Kulturanthropologin fest davon überzeugt, dass es sich in jeder Hinsicht lohnen würde, das physische und psychische Erleben der Gebärenden mehr in den Fokus zu rücken. Investitionen in eine bessere personelle Ausstattung der Kreißsäle würden nicht nur die Hebammen und Ärzte entlasten, sondern den Gebärenden auch belastende Erfahrun-gen ersparen. Das Geld, das dafür ausgegeben werden müsste, könnte an anderer Stelle gespart werden, etwa wenn die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörun-gen infolge der Geburt oder vermeidbarer Geburtsverletzungen wegfallen.

Der Neonatologe hat diese Weiterent-

wicklung in Kanada bereits kennenge-

lernt und ist begeistert. „Ich möchte die

Eltern von Anfang an in alle Handgriffe

und Entscheidungen einbinden. Sie sol-

len zu Dolmetschern ihres Frühgebore-

nen werden. Außerdem sollen sie befähigt

werden, bereits in der Klinik die Versor-

gung ihres Kindes weitgehend (mit) zu

übernehmen.“ Derzeit seien die Eltern

oft noch sehr unsicher. Das merke man

besonders, wenn die Entlassung anstehe.

Dann stellen sie sich Fragen wie: Werden

wir allein mit unserem Kind zurechtkom-

men? Können wir sicher genug erkennen,

was es will und braucht? Kommen wir

mit der Verantwortung zurecht? Wären

die Eltern von Anfang an Experten für

ihr Kind, müssten sie sich diese Fragen

nicht mehr stellen – genau dazu möchte

er sie befähigen. Wie wichtig aber ist eine

„gute Geburt“? Der Professor zögert auch

bei dieser Frage nicht mit der Antwort.

„Sie stärkt die Bindung zwischen Mutter

und Kind – und fördert die Selbstkompe-

tenz und Selbstwirksamkeit der Mütter.“

Poets glaubt deshalb auch, dass jede wei-

tere Befähigung den Frühchen-Müttern

helfen wird, besser mit dem Trauma der

Geburt zurechtzukommen.

Leon ist heute sechs Jahre alt. Trotz-

dem steckt Paula M. der Schrecken der

Frühgeburt noch immer in den Knochen.

Sie hat sich bislang nicht zu einer zwei-

ten Schwangerschaft entschließen kön-

nen. Sie weiß, dass sie daran arbeiten

muss, wenn sie noch einmal schwanger

werden und in ihrem Sohn nicht immer

nur das Frühchen sehen möchte. Egal wie

alt er ist und wie selbstbewusst er neben

ihr steht.

Was ist eine gute Geburt? Dr. Cecilia Colloseus von der Universität Tübingen hat sich in ihrer Dissertation mit Gebärerzählungen beschäftigt.

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22 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

WIRTSCHAFT PETROCHEMISCHE INDUSTRIE

Treibstofffür die Zukunft

Raffinerien veredeln Erdöl nicht nur zu Benzin und Diesel, sondern auch zu einer breiten Palette anderer Produkte. Schon deshalb wird ihre Kompetenz in einer künftigen Epoche der ELEKTROMOBILITÄT benötigt. Das gilt auch für die größte Erdölraffinerie Deutschlands.

Text: Peter Thomas

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23DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

DDer riesige Organismus verändert sich

kontinuierlich. Die Rheinland Raffinerie,

zwischen Köln und Bonn gelegen, ist wie

ein Lebewesen aus Stahl und Backstein,

aus Beton und Dampf. Ein Netz aus

6.500 Kilometer Rohrleitungen bildet die

Adern, gewaltige Cracker und Destilla-

tionskolonnen die Organe. Straßen, Schie-

nen, Häfen und Verwaltungseinrichtungen

entsprechen den Nerven. Der Organismus

baut Tag für Tag an sich, denn an irgend-

einer Stelle wird immer geschweißt oder

gereinigt, finden Modernisierungs- und

Wartungsarbeiten statt, wird der Trans-

port von Rohstoffen optimiert.

1937 als Hydrierwerk zur Herstellung

synthetischer Kraftstoffe aus Braunkohle

errichtet, ist die Rheinland Raffinerie

heute die größte Ölverarbeitungsanlage

des Landes. Das 4,4 Quadratkilometer

große Gelände teilt sich in zwei Werks-

teile auf: Wesseling im Süden (mit einer

Kapazität von 7,3 Millionen Tonnen Roh-

öl im Jahr) und Köln-Godorf im Norden

(9,3 Millionen Tonnen) – 16,6 Millio-

nen Tonnen Rohöl, das entspricht knapp

einem Sechstel der gesamten Raffinerie-

kapazität in Deutschland. Diese ist seit

den 1950er-Jahren steil angestiegen, auf

knapp 180 Millionen Tonnen bis Ende der

1970er-Jahre. Darauf allerdings folgten

ein deutlicher Rückgang sowie eine Kon-

solidierung auf gut 100 Millionen Ton-

nen, die seit 2010 stabil geblieben ist.

Insgesamt sind nach Angaben des Mine-

ralölwirtschaftsverbands derzeit 15 Werke

in Deutschland an zwölf Raffineriestand-

orten aktiv, deren Produktionsanlagen zu

90 Prozent ausgelastet sind.

Das Werk Nord der Rheinland Raffinerie

wurde 1960 in Köln-Godorf eröffnet. Derzeit werden

hier 9,3 Millionen TonnenErdöl verarbeitet

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24 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Jede neunte Tankfüllung kommt von hier

Ist das Mineralölgeschäft nicht eher ein

Auslaufmodell, angesichts von Energie-

wende und aufkommender Elektromo-

bilität? Was genau die Raffinerie in zwei

bis drei Jahrzehnten in welchen Men-

gen herstellen wird, lässt sich tatsächlich

nicht sagen. Aber dass die Kompetenzen

auch zukünftig gebraucht werden, da ist

sich Standortsprecher Jan Zeese sicher.

Einerseits werde es trotz unterschiedli-

cher Energieträger nach wie vor Bedarf

an Kraftstoffen und Heizöl geben. Ande-

rerseits können Raffinerien auch neue

Treibstoffe liefern. Hier denkt die Bran-

che insbesondere an Brennstoffzellen-

fahrzeuge. Diese emissionsfrei fahrenden

begann schließlich vier Jahre später. Shell

übernahm Wesseling im Jahre 2002 von

der Deutschen Erdöl AG (DEA). Das Werk

im wenige Kilometer entfernten Godorf

begründete Shell bereits 1960.

26.000 Schulungsstunden in zwölf MonatenRaffinerien sind wichtige Knoten in

jenem energiegeladenen Netzwerk, das

ein Land am Arbeiten und schlussend-

lich am Leben hält. Deshalb gelten sie –

ebenso wie Tanklager, Tankstellennetze

und Pipelines – als „kritische Infrastruk-

tur zur Versorgung der Bevölkerung“. Dies

entspricht der 2016 erlassenen „Verord-

nung zur Bestimmung Kritischer Infra-

strukturen nach dem BSI-Gesetz (BSI-Kri-

tisV)“. Wie stark unser Alltag von diesen

Anlagen abhängt, wird am größten Werk

Dialog für mehr Sicherheit: Matthias Stuckstedte (Zweiter

von links) ist als Projekt-koordinator von Dräger für

die Rheinland Raffinerie regelmäßig im Gespräch mit

dem Kunden – und mit seinem Team

WIRTSCHAFT PETROCHEMISCHE INDUSTRIE

Pkw, Nutzfahrzeuge und Züge beziehen

ihre Energie aus Wasserstoff. Den gewin-

nen Raffinerien schon länger aus Erdgas

in einem Dampfreformer. Der nächste

Schritt, die Herstellung von gasförmigen

Wasserstoff (durch Elektrolyse von Was-

ser mit Ökostrom) als Energiequelle,

liegt nahe. Innovation ist für die petro-

chemische Industrie der Treibstoff für

die eigene Zukunft; und sich immer wie-

der neu zu erfinden, für die Rheinland

Raffinerie ein Stück eigene Geschichte.

In den Anfangsjahren ab 1937 verarbei-

tete das Werk Wesseling zunächst Braun-

kohle aus dem nahen Rheinischen Revier.

Da raus wurden synthetische Treibstoffe

nach dem Bergius-Pier- Verfahren (Kohle-

hydrierung) gewonnen. Nach schweren

Bombenschäden 1944 geschlossen, stell-

te das Werk nach Kriegsende zunächst

Methanol und Ammoniak für die Dünge-

mittelindustrie her. Der moderne Raffine-

riebetrieb, auf Grund lage von Mineralöl, FO

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25DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

160 Jahre Ölförderung in Deutschland Heute kommen 2,4 Millionen Tonnen des in Deutschland verarbeiteten Rohöls aus inländischer Förderung – das sind gut 2,5 Prozent der in deutschen Raffinerien eingesetzten Menge. Historisch hat die Ölförderung hierzulande eine größere Bedeutung. Die Förderung im industriellen Maßstab begann mit einer Bohrung im niedersächsischen Wietze (1858). Dort hatten Landwirte bereits seit dem 17. Jahrhundert ölhaltige Sande gewonnen und das daraus gewonnene Öl unter anderem als Schmierstoff verkauft. Die Bohrung im Jahre 1858 durch den Geologen Prof. Georg Hunaeus war womöglich die Erste ihrer Art auf der ganzen Welt. Die Förderung im größeren Maßstab begann Ende des 19. Jahr-hunderts. In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Wietze das produktivste Ölfeld Deutschlands.

in der Bundesrepublik besonders deutlich:

Die Rheinland Raffinerie produziert rein

rechnerisch jede neunte Tankfüllung aller

deutschen Pkw mit Verbrennungsmotor.

Aber auch Branchen wie die Kunststoffin-

dustrie sind von ihr abhängig. „Entweder

geht es sicher oder gar nicht“ ist deshalb

das Motto, unter dem die Rheinland Raf-

finerie arbeitet. „Dazu“, sagt Claus-Chris-

toph Hoppe, Leiter des Bereichs Sicherheit

und Umweltschutz, „gehört seit 2014 auch

ein Schulungszentrum für Arbeitssicher-

heit.“ Die Idee dazu stammt aus den Nie-

derlanden. Wer im Werk arbeitet, musste

zuvor einen Sicherheitsparcours mit typi-

schen Szenarien absolvieren und einen

Test bestehen. Davon profitieren alle der

rund 3.000 Mitarbeiter (rund 1.600 von

Shell sowie im Schnitt mehr als 1.300 von

Partnerfirmen), die in beiden Werksteilen

beschäftigt sind. Allein in 2015 kamen so

26.000 Schulungsstunden im Safety Cen-ter zusammen.

All das braucht eine aktive Beglei-

tung im Betrieb, etwa durch Sicherheits-

posten und Gasmessgeräte. Dafür setzt

Shell auf die Expertise von Dräger. Täg-

lich sind rund 50 Fachkräfte des Lübecker

Unternehmens an beiden Stand orten im

Einsatz. Mit ihren Schutzhelmen in silber-

Gelebte Sicherheitskultur ist unverzichtbar für den Betrieb einer komplexen Raffinerie. Dazu gehören auch Sicherheitsposten

Sicherheit mit Strategie heißt auch, dass jeder Einsatz auf dem Raffineriegelände vorher abgestimmt wird

Page 26: Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

26 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Claus-Christoph Hoppe

„Höchstmaß an Sicherheit“Claus-Christoph Hoppe ist Bereichsleiter Sicherheit und Umweltschutz für die Shell Rheinland Raffinerie. Das Thema Arbeitssicherheit sieht er als ganzheitliche Aufgabe für den Betreiber der petrochemischen Großanlage.

Drä gerheft: Herr Hoppe, im Safety Center gibt es die Station „Housekeeping“. Gehört ein ordentlicher Haushalt zur Arbeitssicherheit?Claus-Christoph Hoppe: Ordnung auf der Baustelle trägt dazu bei, die Arbeits-sicherheit zu erhöhen. Nur ein aufgeräumter Arbeitsplatz ist auch sicher. Das fängt schon damit an, dass man auf die Baustelle nur das mitnimmt, was auch wirklich gebraucht wird. Und am Einsatzort werden die Arbeitsmittel und -materialien in Kisten geräumt – das reduziert Stolperfallen. Auch das Sichern von Arbeitsmitteln bei Arbeiten in Hö hen gehört zum Housekeeping.

Welche Rolle spielt dabei das Safety Center im Werk?Unser 2014 in Betrieb genommenes Zentrum für Arbeitssicherheit ist ein Meilenstein. Schon nach zwei Jahren hat sich gezeigt, wie nachhaltig diese Investition die Arbeitssicherheit erhöht hat: Bisher haben wir mehr als 22.000 Mitarbeiter geschult. Mit einem Wert von 1,0 meldepflichtigen Arbeitsunfällen auf eine Million Arbeitsstunden (bis September 2017) stehen wir in unserer Branche ganz weit oben – auch im Vergleich mit anderen Industrien.

Wie funktionieren die Schulungen?Im Safety Center sind zwölf raffinerietypische Arbeitssituationen aufgebaut – alle sind mit Fehlern behaftet, die jeder identifizieren muss, der bei uns arbeiten will. Anschließend folgt ein Test. Erst dann bekommt man eine Arbeitserlaubnis und darf auf dem eigentlichen Raffineriegelände arbeiten.

Welche Rolle hat die Zusammenarbeit mit öffentlichen Feuerwehren?Diese Kooperation funktioniert wirklich gut, auf allen Ebenen. So übt beispielsweise unsere Werkfeuerwehr in Wesseling mit der Freiwilligen Feuerwehr bestimmte Einsatzszenarien in unserem Hafen. Zudem werden regelmäßig alle Meldeketten überprüft und gegebenenfalls angepasst. Mit einem mehrstufigen Verfahren informieren wir alle zuständigen Behörden und Feuerwehren über mögliche Ereignisse. Die Werkfeuerwehr der Raffinerie hat zwei Wachen und mehr als 100 hauptamtliche Einsatzkräfte.

Was haben die Anwohner davon?Die Menschen, die nahe einem der beiden Werke wohnen, sind daran interessiert, dass der Betrieb sicher und zuverlässig funktioniert. Wir sind davon überzeugt, dass wir dieses „Goal Zero“ erreichen können; ohne ungeplante Ereignisse, Beschwerden oder Regelverstöße. Dazu gehört auch, dass wir unsere Nachbarn informieren. Wir haben für beide Werke einen E-Mail-Verteiler eingerichtet. Zudem gibt es ein kostenfreies, rund um die Uhr besetztes Nachbarschaftstelefon.

Wann sind Sie mit dem Sicherheitsniveau der Raffinerie zufrieden?Eigentlich nie, denn absolute Sicherheit gibt es nicht. Deshalb müssen wir immer daran arbeiten, ein Höchstmaß an Sicherheit zu gewährleisten – für unsere Mitarbeiter, Partnerfirmen, Nachbarn, Anlagen und die Umwelt.

ner, weißer und grüner Lackierung (für

Sicherheitsposten, Aufsichten und Gasprü-

fer) geben sie diesem Bereich der Arbeits-

sicherheit seit 2016 ein Gesicht. „Die lau-

fenden Prozess innovationen spiegeln sich

auch im Arbeitsalltag unserer Mitarbeiter

wider“, sagt Matthias Stuckstedte, Projekt-

koordinator von Dräger Rental & Safety

Services für die Rheinland Raffinerie.

„Mehr Baustellen führen zu einem höhe-

ren Bedarf an Leistungen für die Arbeitssi-

cherheit.“ Drägers Expertise im schnellen

und präzisen Messen von Gaskonzentra-

tionen in der Atmosphäre ist aber nicht

nur beim Freimessen jener Bereiche

gefragt, in denen gearbeitet werden soll.

Die Partner schaft zur größten deutschen

Raffinerie reicht viele Jahrzehnte zurück,

unter anderem durch die Ausstattung mit

Atemschutztechnik sowie mobiler und

stationärer Gasmesstechnik. Auch bei

der Umsetzung neuer Regularien arbei-

tet die Industrie mit den Lübecker Spe-

zialisten zusammen. In der Rheinland

Raffinerie beispielsweise laufen Versu-

Für Messungen flüchtiger organischer Gefahrstoffe in

der Atmosphäre ist das Dräger X-pid prädestiniert –

das Gerät zeigt die Konzentra-tion im Milliardstelbereich an

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27DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

PETROCHEMISCHE INDUSTRIE WIRTSCHAFT

Mehr als 17.000 Geräte auf Vorrat

che für Benzolmessungen mit dem neu-

en X-pid (siehe auch Drägerheft 402, Seite

40 ff.). Derzeit geht es darum, den Einsatz

des Gasmessgeräts für eine breite Anwen-

dung zu optimieren. Statt wie bisher Pro-

ben zu nehmen und diese im Labor zu

untersuchen, könnten künftig flüchtige

organische Gefahrstoffe auch im Bereich

der neuen, niedrigeren Grenzwerte mobil

bestimmt werden. Sicherheit ist etwas,

worüber die Rheinland Raffinerie offen

spricht. „Anders geht es auch nicht, bei

einem so großen Standort in einer dicht

besiedelten Region“, sagt Werksprecher

Zeese. Und wenn es trotz aller Anstren-

gungen doch einen Vorfall gibt, fließt die

entsprechende Erkenntnis in das Sicher-

heitskonzept ein. Aus Rückschlägen wür-

de man lernen, und die Chance nutzen,

künftig noch besser zu werden, sagte dazu

Raffinerie-Leiter Dr. Thomas Zengerly (ab

Juli neuer Deutschland-Chef bei Shell) in

einem Interview, das im Dezember 2015

in der Nachbarschaftszeitung des Werks

erschien.

Teil der ArbeitssicherheitManchmal braucht Sicherheit nur einen

freundlichen Gruß und einen flinken

Griff zum Scanner: „Guten Morgen!“,

ruft Rebecca Schaffrath, nimmt ein Ein-

gasmessgerät entgegen, scannt den Bar-

code und gibt ein neues Gerät aus. Die

On-site-Koordinatorin von Dräger Rental

& Safety Services ist verantwortlich für

mehr als 17.000 Geräte, die in den bei-

den Safety Shops der Raffinerie vorge-

halten werden. „Seit 2010 besteht dieses

Angebot“, sagt Volker Schütte, Leiter der

Vertriebs region West bei Dräger. „Wir sind

Bestandteil der Arbeitssicherheit und tief

verankert in der Prozesslandschaft des

Kunden.“ Während die Sicherheitsposten,

Aufsichten und Gasprüfer ihren Standort

jeweils vor dem Werkstor haben, befin-

det sich der Safety Shop mitten im Her-

zen der Raffinerie. Das entspricht auch

der Bedeutung des schnörkellosen Büro-

containers mit der großen Ladentheke,

erklärt Sven Schmellenkamp, der als Key

Account Manager bei Dräger für die Raf-

finerie zuständig ist. „Der Safety Shop ist

Dreh- und Angelpunkt der Arbeitssicher-

heit insbesondere für alle Fremdfirmen,

die hier mit Messtechnik ausgestattet wer-

den.“ Hierfür hält man mehrere Tausend

Eingas- sowie mehrere Hundert Mehrgas-

messgeräte von Dräger vor. „80 Prozent

der Ausleihen entfallen dabei auf Schwe-

felwasserstoffwarner.“

Von Montag bis Samstag ist der Shop

meist von 06:30 bis 16:00 Uhr geöffnet.

Außerhalb dieser Zeiten übernimmt ein

Rental Robot (siehe auch Drägerheft 388,

Seite 32 ff.). Der blaue Stahlschrank hält

eine umfassende Auswahl der wichtigs-

ten Geräte vor. Dazu gehört auch Alkohol-

messtechnik. Sie steht dem Schichtmeis-

ter zur Verfügung, etwa für Stichproben

von Kraftfahrern am Werkstor. Auch das ist

ein Stück Sicherheit – ohne die geht in der

Rheinland Raffinerie ohnehin nichts.

Technikkompetenz wie hier in einem der beiden Safety Shops gehört zu den Leistun-gen von Dräger in derRheinland RaffinerieF

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28 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Schmieröle/Wachse

WIRTSCHAFT PETROCHEMISCHE INDUSTRIE

Der lange Weg des

Rohöl

Von der Quelle bis zum fertigen Produkt durchläuft das schwarze Gold einen komplexen Prozess. Immer wichtiger wird in der Raffinerie der Wasserstoff.

20 °C

100 °C

300 °C

500 °C

einfache Moleküle

komplexe Moleküle

Hydrocracker

Dampfspaltung

Entschwefelung ist notwendig, weil die Verbrennung der Raffinerieprodukte sonst giftige Schwefeloxide erzeugt. Die Schwefelrückgewinnung dient aber nicht nur dazu, strenge Grenzwerte einzuhalten. Sie ist auch die wichtigste Quelle für elementaren Schwefel, einen Rohstoff der chemischen Industrie.Schwefel

Kerosin

Diesel

Koker oder Visbreaker

Katalytischer Reformer

Hydroentschwefelung

Die Menge von Rohöl wird oft in Barrel zu 159 Liter angegeben. Das Maß stammt aus dem 18. Jahrhundert, als Erdöl noch in alten Herings-fässern transportiert wurde.

H2

H2

Die Destillation steht am Anfang der Raffinerieprozesse:Das Rohöl wird erhitzt, um verschiedene Bestandteilevoneinander zu trennen. Stoffe mit kleinen Molekülenverdampfen bei niedrigen Temperaturen und annähernd Umgebungsdruck (atmosphärische Destillation). Große und komplexe Moleküle brauchen hohe Temperaturen bis 500 °C sowie reduzierten Druck (Vakuumdestillation).

Koks wird aus sehr schweren Ölen erzeugt, den Rückständen der Vakuumdestillation. Der sogenannte Grünkoks enthält noch Kohlenwasserstoffe. Sie werden bei einer starken Erhitzung, der Kalzinierung, entfernt.

Katalytischer Fließbettcracker

Wasserstoff wird als Prozessgas in Raffinerien genutzt. Er dient dazu, im Hydrotreating-Pro-zess Mitteldestillate zu entschwefeln oder beim Hydrocracken Vorprodukte für Treibstoffe zu gewin-nen. Der Wasserstoff entsteht in der Raffinerie entweder beim katalytischen Reforming oder durch die Dampfreformierung von Erdgas. Aber Wasserstoff gilt auch als Energieträger der Zukunft, den Brennstoffzellen emissionsfrei in elektrische Energie umwandeln. Deshalb investieren viele Raffinerien in Elektrolyseanlagen, um Wasserstoff über den eigenen Bedarf hinaus zu erzeugen. Künftig soll der dafür notwendige Strom vor allem aus erneuerbaren Energien stammen. So entsteht dann „grüner Wasserstoff“.

Aromatische Verbindungen

Atm

osph

äris

che

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tilla

tion

Vaku

umde

still

atio

n

Ethylen/Propylen

Petrochemisches Ausgangsmaterial

Butadien

Benzin

Petrolkoks

Flüssiggas (LPG)

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29DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

INFOGRAFIK: PICFOUR (QUELLEN: ISTOCK(7), SHUTTERSTOCK(3)); QUELLEN: BP: STATISTICAL REVIEW OF WORLD ENERGY (JUNI 2017), BUNDESANSTALT FÜR GEOWISSENSCHAFTEN UND ROHSTOFFE (BGR): ENERGIESTUDIE 2017, MINERALÖLWIRTSCHAFTSVERBAND (MWV): JAHRESBERICHT 2017, THE LIMITS TO GROWTH. A REPORT FOR THE CLUB OF ROME’S PROJECT ON THE PREDICAMENT OF MANKIND. NEW YORK 1972, THE ECONOMIST, 19. DEZEMBER 2017: THE WORLD IN A BARREL.

Nordamerika

4635

2615

7

Südamerika

1851

2552

Arabische Halbinsel/Iran

5310

9

316

Russland/Zentralasien

2920

2830

Asien/Ozeanien

156

2613

Afrika

17 17

2911

Europa/Türkei

102 5 5

Wann versiegt das schwarze Gold? 1972 hatte der Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ prognostiziert – auch die der Erdölförderung: Bei gleich-bleibender Förderung würde die letzte Quelle im Jahre 2000 versiegen, bei steigendem Verbrauch sogar zehn Jahre früher. Dabei waren die Wissenschaftler von den „Reserven“ ausgegangen: bekannten Vorkommen, die sich nach dem Stand der Technik wirtschaftlich fördern lassen. Und genau diese Reserven sind mit heute rund 240 Milliarden Tonnen beinahe viermal so groß wie der damals angenommene Wert. Möglich wurde dies durch die Weiterentwicklung von Bohr- und Fördertechniken sowie die Entdeckung von immer mehr Lagerstätten. Neue Abbaumethoden wie das Fracking oder die wirtschaftliche Nutzung von Ölsanden und -schiefer ließen die Prognosen über nutzbare Ölvorkommen ebenfalls steigen. Dennoch sind die Vorräte endlich. Wann genau der in Jahrmillionen aufgebaute Bestand versiegt, weiß man nicht – nur, dass dieser Zeitpunkt kommen wird. Daran ändern auch die gegenüber den Reserven weitaus größeren „Ressourcen“ nichts: bekannte Vorkommen, die sich noch nicht wirtschaftlich fördern lassen. Weltweit 4,4 Milliarden Tonnen Erdöl wurden 2016 gefördert. Das entspricht einer Energiemenge, wie sie ganz Deutschland in gut dreizehneinhalb Jahren verbraucht (Basis: 2017).

Schweröl

Schiffstreibstoff besteht meist aus einer Mischung aus Schwer- und Dieselöl. Das schwefelhaltige Schweröl wird aber in immer mehr Bereichen verboten – etwa in Häfen und entlang von Küsten.

BitumenBitumen (Erdpech) wird seit der Antike als Dichtmittel benutzt. Das bei der Vakuumdestillation von schweren Rohölsorten entstehende Bitumen kommt insbesondere im Straßenbau und für Dachabdichtungen zum Einsatz.

Petrochemikalien bilden eine Gruppe wichtiger chemischer Rohstoffe. Dazu gehören Ethylen (Grundlage des weltweit häufigsten Kunststoffs, Polyethylen – etwa für Textilfasern), Propylen und Butadien (Ausgangs-stoff für Synthesekautschuk).

Pharmazeutische Produkte sind auf (aus Erdöl gewonnene) Rohstoffe angewiesen. Zum Beispiel enthalten rund 90 Prozent aller Tabletten solche Erdölderivate.

Aromatische Kohlenwasserstoffe haben Moleküle mit Ringsystemen, ihre Stammverbindung ist das Benzol. Sie dienen als Lösemittel (zum Beispiel in Lacken) und als Vorprodukt der Kunststoffchemie (zum Beispiel für Anilin, Styrol und Nylon).

Gesamtpotenzial des Erdöls (2016; in Gigatonnen)

kumulierte Förderung Reserven Ressourcen (nicht konventionell) Ressourcen (konventionell)

Elektrolyse

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30 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

gegen die Flammen

Mit Übung macht den

Meister Es brennt in einem präparierten

Schiffs container: Für die Røykdykker

(„Rauchtaucher“) nur eine Übung – verbun-den mit der Hoffnung, dass die Holzhäuser in

der historischen Alt-stadt nie Feuer fangen

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BRANDSCHUTZ PANORAMA

31DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

Für Kjell-Ove Christophersen gehört Brandprävention zu

einer herausragenden Aufgabe: „Deshalb haben wir uns kürz-

lich mal etwas anderes einfallen lassen“, erzählt der Stations-

chef der Hauptbrandwache in Bergen. Die Hovedbrannstasjon

ist ein modernes Gebäude, das viel Licht hereinlässt – wenn

die Sonne denn mal scheint, in der als Regenloch verschrie-

nen zweitgrößten Stadt Norwegens. Im Herbst füllt sie sich.

Aber nicht mit Passagieren der Hurtigruten, sondern mit Stu-

dierenden, kurz vor Semesterbeginn. „Da wird viel gefeiert“,

sagt Christophersen. „Wir ziehen dann mit durch die Clubs

und Bars und verteilen Sandwiches.“ Die Gabe der Smørre-brød verbinden die Feuerwehrleute mit einem gut gemein-

ten Rat: „Fangt später zu Hause bloß nicht an zu kochen!“ Das

sei nun mal der Klassiker: alkoholisiert und hungrig etwas auf

den Herd zu stellen, um dann einzuschlafen. „Die sind total

abgefahren auf die Aktion, haben sie zigfach auf verschiedenen

Social-Media-Kanälen geteilt.“

F

SmørrebrødBergens Berufsfeuerwehr arbeitet nicht nur mit moderner Ausstattung, sondern auch mit kreativen Ideen. Die dicht bebaute Altstadt erfordert zudem Spezialfahrzeuge.

Text: Barbara Schaefer Fotos: Patrick Ohligschläger

BRANDSCHUTZ PANORAMA

So wird heute in Norwegen gebaut: Die skandinavisch helle Haupt-feuerwache lässt viel Licht in die Innenräume

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PANORAMA BRANDSCHUTZ

32 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Zurück auf der Wache zeigt Christophersen auf ein anderes Spe-

zialfahrzeug: Dessen zweiter Rädersatz – ohne Reifen und mit

schmalem Radstand – kann auf Trambahngleise gesetzt wer-

den. In Bergen, einer Stadt mit rund 280.000 Einwohnern, sind

von den 187 Feuerwehrleuten 37 immer im Dienst, verteilt auf

vier Schichten und sechs Stationen. In Städten ab 20.000 Ein-

wohnern ist in Norwegen eine Berufsfeuerwehr vorgeschrieben,

mit mindestens vier Mann und einem Leiter je Schicht. Ab 8.000

Einwohnern wacht tagsüber eine Berufsfeuerwehr, nachts rückt

die Freiwillige Feuerwehr aus. Auf der Bergener Hauptbrandwa-

che wird in 24-Stunden-Schichten gearbeitet, danach hat man 48

Stunden frei. „In vier Wochen arbeiten wir zehn Tage“, sagt einer

der Feuerwehrmänner und grinst. Für die Ölplattformen, die

nur 15 Helikopterminuten entfernt in der rauen Nordsee stehen,

sind Bergens Brandschützer, hier Røykdykker oder Rauchtaucher

Brände in einer größeren Stadt können schnell zum Desaster

werden – in Bergen sind sie gefürchtet: 1916 zerstörte ein Feu-

er die halbe Altstadt. Was von der historischen Bebauung blieb,

steht hier dicht an dicht; wie in Bryggen, dem ältesten Stadtteil

und ehemaligen Landungskai der Hanse. Wenn die hiesige Feu-

erwehr ihren nagelneuen, 42 Meter hohen Bronto Skylift aus-

fährt, zeigt sich von oben deutlich, wie heikel die Situation ist.

Eine Dachlandschaft wie von einer Modelleisenbahn, ein Zick-

zack von Giebeln. Es scheinen nicht einmal Gassen hindurch-

zuführen. Die Kontorhäuser sind vollständig aus Holz gebaut,

auf den Dächern verlaufen schmale Rohre – was aussieht wie

Blitzableiter, sind moderne Sprinkleranlagen. Man mag sich gar

nicht vorstellen, wie schnell sich hier ein Feuer ausbreiten könn-

te. „Früher wurde eigentlich überall dicht an dicht gebaut“, sagt

Kjell-Ove Christophersen. Die hiesige Berufsfeuerwehr ist mehr

als 150 Jahre alt, „wie in ganz Europa löschte man mit vielen

Händen, hat Eimer durchgereicht und Handpumpen bedient“.

Heute baue man wieder mit Holz, aber meist handle es sich

nur um Fassaden vor Steinmauern. Doch auch diese Architek-

tur hat es brandtechnisch in sich: Hinterlüftete Wände führen

zum Kamineffekt, Brände können sich so erst recht schnell aus-

breiten. Angepasst an die engen Straßen gehören deshalb auch

schmalere Fahrzeuge zum Fuhrpark. Die sind nicht die üblichen

2,40 Meter breit, sondern nur 2,00 bis 2,35 Meter.

Diese Architektur hat es brandschutz-technisch in sich

Bryggen von obenBergens bekannte Kaufmannssiedlung Bryggen wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. Beim Blick von oben zeigt sich die enge Bebauung der Kontorhäuser aus Holz

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33DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

genannt, nicht zuständig. Doch jede Wache betreut ein Spezialge-

biet. Die in Laksevåg, rund sechs Kilometer von Bergen entfernt,

ist für CBRNE-Unfälle ausgestattet. Aber auch in Bergen ist man

gut gerüstet für Unfälle etwa mit chemischen oder explosionsge-

fährdeten Stoffen. Deshalb hängen in der Hauptwache die blauen

CPS 7900-Chemikalienschutzanzüge von Dräger. Sie bieten den

Røykdykkern mitsamt Atemschutzgerät wirksamen Schutz bei

Einsätzen mit Gefahrgütern. Nach ihrer Rückkehr befreien Kol-

legen sie daraus. Allein lassen sich die gasdichten Verschlüsse nur

schwer bewältigen. Die Rettungstaucher befinden sich in Sand-

viken; sie rücken etwa 100-mal im Jahr aus, auch nach Schiffs-

kollisionen oder Segelunfällen. Christophersen gehörte 18 Jahre

lang dazu. „Die Polizei ruft sie immer dann, wenn Menschen ver-

misst werden und es Anhaltspunkte gibt, dass sie im Meer oder

in einem See verschwunden sein könnten.“ Hinzu kämen Selbst-

mordversuche. „Wenn jemand auf einer Brücke steht, fahren

wir mit dem Boot raus und haben dann auch Taucher an Bord.“

Etwa zur Askøybrücke über dem Byfjord, einer Hängebrücke im

Stil der Golden Gate Bridge, 1992 erbaut und mit 62 Metern so

hoch, dass selbst Kreuzfahrtschiffe durchpassen.

Brand auf norwegischer PassagierfähreGanz genau erinnert sich Kjell-Ove Christophersen an einen Ein-

satz im Jahre 2004: „Ein Lastschiff, das Steine aus der Nordsee

geladen hatte, rammte einen Felsen und kippte innerhalb von

zwei Minuten um. Die Mannschaft war eingeschlossen. Wir konn-

ten sie nur noch bergen.“ Leider hat Rettungstauchen meist mit

Bergung zu tun. Dennoch sehen sich die Taucher, wie alle Feu-

erwehrleute, als Lebensretter. „Selbst wenn nur noch geborgen

werden kann, ist das für die Angehörigen wichtig – für einen

Abschied, für ein Begräbnis“, sagt Christophersen. Bei einem

Einsatz im Jahre 2011, im rund 400 Kilometer nördlich gelege-

nen Ålesund, wurde auch die Bergener Feuerwehr zu Hilfe geru-

Jüngste ErrungenschaftDer 42 Meter hohe Bronto Skylift ist das neueste Pferd im Stall der Bergener Feuerwehr

fen. Es gab einen Brand auf einem Hurtigruten-Schiff. Auf der

legendären Postschiff-Route reisen heute mehr Touristen als Ein-

heimische. Die Schiffe fahren täglich von Bergen bis nach Kir-

kenes, ganz im Norden, an die Grenze zu Russland. Die „Nord-

lys“, 1993 in Stralsund vom Stapel gelaufen, nahm gerade Kurs

auf Ålesund, als sich im Maschinenraum eine Explosion ereig-

nete. Ein Großteil der Passagiere rettete sich auf andere Schif-

fe, zwei Besatzungsmitglieder starben. Die Rauchentwicklung

war so gewaltig, dass die Innenstadt von Ålesund evakuiert, Kata-

strophenalarm ausgerufen und weitere Einsatzkräfte von Städ-

ten entlang der Küste angefordert werden mussten. Die Berge

um Bergen sind von Tunneln durchlöchert; ein Brand dort zählt

zu den brenzligeren Einsätzen. „Dafür haben wir acht Kreislauf-

Atemschutzgeräte (Typ: Dräger PSS BG4 plus)“, sagt Nils Harald

Ekerhovd, als Service-Koordinator zuständig für das Material. Die

Geräte liefern im Einsatz bis zu vier Stunden Atemluft. Im Stra-

ßenverkehr geht das Ölförderland Norwegen grüne Wege. Bereits

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PANORAMA BRANDSCHUTZ

34 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

jedes dritte neu zugelassene Auto ist ein Elektroauto. Das stellt

die Feuerwehr vor neue Herausforderungen. Bei einem Brand sei

zunächst zu klären, ob das Auto spannungsfrei ist, erst dann kön-

ne gelöscht werden. Wie Kjell-Ove Christophersen erklärt, fehl-

ten bislang Erfahrungswerte. Erst zweimal brannte in Bergen

ein Elektrofahrzeug. „Es braucht immens viel Wasser, um eine

brennende Batterie zu löschen.“ Bei einem Einsatz seien 17.000

Liter Wasser geflossen. „Unter Wasserknappheit leiden wir hier

ja glücklicherweise nicht“, fügt er hinzu. Der Stationschef woll-

te schon als Jugendlicher Feuerwehrmann werden. Mitten in

Bergen aufgewachsen, hat er als Kind einige Brände mitbekom-

men. Bergen habe da keine spezielle Rolle gespielt, das sei über-

all gleich gewesen: „Um 23 Uhr waren alle im Bett, kaum jemand

hatte ein Telefon – es gab weder Feuerlöscher noch Rauchmel-

der. Wenn jemand ein Feuer bemerkte, musste er Alarm auslö-

sen und auf die Feuerwehr warten.“ Es habe damals zwar nicht

öfter gebrannt, „aber die Brände waren größer“. Bis heute stellen

Hausbrände das größte Problem dar. Deshalb seien Rauchmelder

und Feuerlöscher in jeder Wohnung Pflicht. „Die Bevölkerung

ist auf einen möglichen Brand vorbereitet, weil ein solches Sze-

nario an jeder Arbeitsstelle, egal ob Shoppingcenter oder Kran-

kenhaus, einmal im Jahr trainiert wird.“

In ganz Norwegen geht die Feuerwehr im Dezember von

Haus zu Haus. „Wir prüfen Notausgänge, Rauchmelder und

Feuer löscher.“ Es gehe nicht nur um praktische Dinge, sondern

auch darum, die Wachsamkeit aufrechtzuerhalten. „In Norwe-

gen werden pro Kopf mehr Kerzen angezündet als sonst wo auf

der Welt“, weiß der Feuerwehrchef. Das liege am koselig, was in

etwa „gemütlich“ bedeutet und das Bedürfnis meint, dem dunk-

len Winter nicht allzu viel Raum zu geben. Überall stehen Lam-

pen auf den Fensterbänken – und eben Kerzen. Hinzu kämen die

Kaminöfen. „Wenn die vorher ein halbes Jahr nicht in Betrieb

waren, geht beim Anfeuern schon mal etwas schief.“

Drohnen mit Infrarotkameras Glücklicherweise sei die norwegische Feuerwehr gut ausgestat-

tet, personell wie finanziell. „Wir versuchen immer, die neues-

ten Technologien einzusetzen.“ Nils Harald Ekerhovd demons-

triert, wie Infrarotkameras funktionieren. Er legt seine Hand

kurz auf einen Metalltisch und richtet dann die Wärmebildka-

Meerwasser löscht, macht aber Arbeit

Schnee, Chemie und RegenMit Schnee hat Bergen selten zu kämpfen – aber die Bekämpfung chemi-scher Stoffe zählt zum Einsatzgebiet der Feuer-wehr in der regenreichs-ten Stadt Norwegens

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35DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

Fotostrecke:In Norwegens zweitgrößter Stadt halten verschiedene Einsätze den Arbeitsalltag für die Brandschützer spannend und abwechslungsreich.www.draeger.com/403-35

Bryggen und die HanseGetrockneten Fisch gab es in Bergen in Hülle und Fülle. Die Hanse errichtete dort 1343 eine Handelsniederlassung, die der Hansestadt Lübeck unter-geordnet war. Das Hansekontor, genannt Deutsche Brücke,

bestand aus über 20 nebeneinander liegenden Höfen. Deutsche Kaufleute und Handwerker machten rund ein Viertel der Stadtbevölkerung aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus dem Namen Deutsche Brücke nur noch Bryggen. Es steht seit 1979 mit seinen rund 60 Gebäuden auf der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Im Laufe seiner über 1.000-jährigen Stadtgeschichte blieb Bergen von Bränden nicht verschont. Bei einem Großfeuer im Jahre 1702 wurden fast alle Holzgebäude vernichtet, anschließend aber wieder aufgebaut. Besonders dramatisch war es im Januar 1916 – 380 Gebäude fielen damals den Flammen zum Opfer, 2.700 Menschen wurden obdachlos. 1955 wütete ein Großbrand im Hafenviertel, neun Holzspeicher brannten vollständig nieder.

mera da rauf. Der Abdruck der Hand ist einwandfrei zu erkennen.

„So lassen sich in verrauchten Räumen, wo es mitunter pech-

schwarz ist, Wärmequellen ausfindig machen – ob Glutnester

oder am Boden liegende Personen.“ Eine der Drohnen ist eben-

falls damit bestückt. Die Drohnen kämen bei Waldbränden zum

Einsatz, oder um Vermisste zu finden. Solchen technischen Hilfs-

mitteln gehöre die Zukunft, sagt Ekerhovd.

Nach jedem Einsatz prüfen Ekerhovd und sein Team die

gesamte Ausrüstung. Die Chemikalienschutzanzüge etwa wer-

den gereinigt. „Wenn der Typ mir sympathisch ist, darf er die

Klamotten vorher ausziehen, sonst spritze ich den ganzen Mann

ab“, scherzt Ekerhovd. „Wenn mit Meerwasser gelöscht wurde,

ist die Reinigung des Materials besonders aufwendig.“ Das Team

muss sich darauf verlassen können, dass anschließend alles wie-

der einwandfrei funktioniert. Bereitet ihm die Verantwortung

mitunter Sorgen? Ekerhovd wägt ab. „Wenn mir ein Kollege nach

einem Einsatz sagt, dass etwas nicht in Ordnung war, komme ich

schon ins Grübeln. Wir säubern und testen hier alles ganz genau,

aber eine hundertprozentige Sicherheit gibt es einfach nicht.“

Sein Kollege Leif Erik Gjesdal fügt an, dass aber noch nie etwas

Schlimmes passiert sei.

Kürzlich rückte ein Löschzug aus, zu einer Hytte – sie ist

unabdingbarer Bestandteil eines norwegischen Lebens. Die

Hütte, am See oder in den Bergen, wird weitervererbt. Man ver-

bringt Wochen hier, im Sommer wie Winter. Ein Autofahrer hat-

te einen Brand gemeldet. Von einem Nachbarn bekamen sie

die Handynummer. „Da keiner abnahm, befürchteten wir, dass

noch jemand in der Hütte liegt“, sagt Stationschef Christopher-

sen. Das Team ging in voller Montur rein, aber die Hütte war

leer. „Wir haben nicht herausbekommen, was die Brandursache

war. Für derartige Untersuchungen ist die Polizei zuständig. Wir

löschen nur.“ Zum Löschzug gehört eine fahrende Kommando-

zentrale, die auch über WLAN verfügt. Dort können Stadtpläne

der Einsatzorte eingesehen und ausgedruckt werden, samt aller

Hy dranten und Notausgänge. „Die Ausdrucke laminieren wir

direkt im Wagen“, sagt Christophersen. „Es regnet nun einmal

viel.“ Wenn man so lange bei der Feuerwehr arbeitet, ändert sich

dann auch das private Verhalten? „Ja, ganz automatisch“, bekräf-

tigt der Feuerwehrchef. „In fremden Gebäuden bin ich immer

wachsam und zähle die Schritte bis zum Notausgang.“ Es sich

nur optisch einzuprägen reiche nicht. Im Alarmfall schließen

die Feuerschutztüren, und dann sähe plötzlich alles ganz anders

aus. Das mache er auch auf Schiffen und Fähren so. „Im Notfall

kann man sich nur auf sich verlassen. Die Überlebenschancen

sind in den ersten Minuten am größten. Das gilt für alle Notfäl-

le.“ Auch bei einem Feuer, oder wie Christophersen präzisiert:

„Flammen, die außer Kontrolle geraten sind“, könne man in

den ersten Momenten leicht selbst löschen. „Alles, was danach

kommt, ist schwierig bis gefährlich.“ Einmal hat er das in den

eigenen vier Wänden erlebt. „An Weihnachten. Ich sah aus dem

Augenwinkel, dass eine Kerze komisch flackerte – kurz darauf

brannte es drum herum.“ Er konnte den Brand rasch mit einer

Decke löschen. „Aber meine Familie hat große Augen gemacht,

wie schnell aus Flammen Feuer wird.“

Wächter über das Material: Den tadellosen Zustand der Ausrüstung immer im Blick hat Nils Harald Ekerhovd

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KRANKENHAUS IT-SICHERHEIT

36 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

USB-Killer sind ein heißes Thema für

IT-Sicherheitsexperten. Eigentlich dient

die USB-Schnittstelle dazu, Daten auf

einen Computer zu überspielen. Aller-

dings lässt sich auf diesem Wege auch die

Elektronik ganzer Notebooks zerstören.

Hierfür werden USB-Sticks zu Elektro-

schockern umgebaut, die in der Lage sind,

sehr hohe Spannungen zu erzeugen und

schlagartig auf den Computer zu schleu-

dern. „Wir haben diese USB-Killer auch

an unseren Anästhesiegeräten getestet“,

sagt Hannes Molsen, Product Security

Manager bei Dräger. „Tatsächlich war

die Schnittstelle anschließend nicht mehr

zu gebrauchen. Ansonsten funktionierte

das Gerät jedoch einwandfrei.“ Zu einer

Gefährdung von Patienten käme es in der

klinischen Praxis dadurch nicht, da die

USB-Schnittstelle nur dem Export statis-

tischer Daten, etwa des Logbuchs, dient.

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Wer medizintechnische Geräte vor Hackern schützen will, kann den Angreifern ihr Handwerk auf vielfältige Weise erschweren. Technisches Know-how spielt dabei eine wichtige Rolle, der gelebte Sicherheitsgedanke auch – und sogar der provozierte Zufall.

Text: Frank Grünberg

DIE UNBEKANNTEN

Produktsicherheit: Wie lässt sich dieses

Anästhesiegerät (Typ: Perseus A500)

vor Cyber-Angriffen schützen? Diese und

andere Fragen wurden Anfang des Jahres

bei Dräger in Lübeck diskutiert

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37DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

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befiel (siehe auch Drägerheft 401, Seite

6 ff.). Hier waren die Dräger-Experten im

Mai 2017 binnen 48 Stunden in der Lage,

Entwarnung für die eigenen Geräte zu

geben. Manche Kliniken allerdings zahl-

ten dafür, dass Hacker die PCs und IT-Netz-

werke – und damit wichtige Patientenda-

ten – wieder aus der Geiselhaft entließen.

Medizintechnische Geräte des Lübecker

Konzerns wurden seinerzeit nicht infi-

ziert. Technik allein aber hilft in Sicher-

heitsfragen nur begrenzt weiter. Denn die

größte Sicherheitslücke ist und bleibt der

Mensch. Durch Fahrlässigkeit oder Unwis-

senheit öffnet er Angreifern Türen, die

eigentlich verschlossen sind. „Sicherheit

ist kein Produkt, das man einmalig kauft“,

weiß Molsen. Vielmehr sei sie Folge eines

Prozesses, der nie endet, aber immer wei-

ter verbessert werden könne. „Aufklärung

tut not“, sagt er.

Molsen und seine Kollegen wählten

hierfür verschiedene Mittel. Sie luden

nicht nur professionelle Hacker ein,

die über ihr Handwerk berichteten; sie

baten auch Kollegen um einen Selbst-

versuch. Die Aufgabe: ein ungeschütz-

tes Windows-XP-Betriebssystem – inner-

halb von 15 Minuten – vollständig aus der

Ferne zu übernehmen. Die Erkenntnis:

Mit einer guten Anleitung ist das selbst für

Laien kein Problem.

Die USB-Sicherheitstests waren einer

der Höhepunkte der „Woche für Produkt-

sicherheit“, die Dräger Anfang des Jahres

erstmalig auf dem Lübecker Firmenge-

lände veranstaltete. Fünf Tage lang disku-

tierten Sicherheitsexperten, Softwareent-

wickler und Entwicklungsingenieure des

Hauses die Frage, wie sie Produkte vor

Angriffen jeglicher Art schützen können.

Eine feste Agenda gab es nicht. Es wurde

kreativ getestet und experimentiert. „Die

Woche war ein voller Erfolg“, blickt Orga-

nisator Molsen auf die Premiere zurück.

„Wir haben nicht nur viel voneinander

gelernt, sondern auch neue Ansätze ent-

deckt, wie wir den ‚unbekannten Unbe-

kannten‘ auf die Spur kommen können.“

Die „unbekannten Unbekannten“

gelten als eine der größten Herausforde-

rungen für Sicherheitsforscher. Sie sind

verantwortlich dafür, dass es keine abso-

lute Sicherheit gibt. Ein Restrisiko bleibt

immer, sei es auch noch so klein. Am leich-

testen kann man sich vor den „bekann-

ten Bekannten“ schützen. Von diesen Risi-

kofaktoren weiß man, dass sie existieren

und unter welchen Bedingungen sie auf-

treten. Gegen sie lassen sich Vorkehrun-

gen treffen. Schwieriger ist die Abwehr

der „bekannten Unbekannten“. Zwar ist

ihre Existenz bekannt, jedoch nicht ihr

Verhalten. Bei den „unbekannten Unbe-

kannten“ wiederum sind weder Existenz

noch Wesen gewiss. Um sie zu entdecken,

hilft keine Theorie, sondern meist nur der

Zufall. Diesem Zufall halfen Molsen und

seine Mitstreiter auf die Sprünge, indem

sie ihre Sicherheitstests so stark verdich-

teten wie nie zuvor. Zwar sind Sicher-

heitstests fester Bestandteil eines jeden

Entwicklungszyklus, allerdings finden sie

immer isoliert für einzelne Prototypen

statt. Im Rahmen der Woche für Produkt-

sicherheit hingegen trafen Material und

Menschen so intensiv zusammen, dass

sich die Tester aufwendige Rüstzeiten spa-

ren konnten und so Zeit für außergewöhn-

liche Experimente blieb. Beispielsweise

dachten sich die Beteiligten scheinbar

sinnlose Testdaten und Testreihen aus,

mit denen sie Beatmungs- und Anästhesie-

geräte massiv befeuerten. Und tatsächlich

traten dadurch Sicherheitslücken zutage,

die sie nicht hätten vorhersagen können.

„All das entdeckten wir weit vor der Pro-

dukteinführung“, sagt Molsen. „Niemand

kann sagen, ob die Lücke jemals einen

Schaden verursacht hätte.“ Fest steht: Bei

Dräger gibt es seitdem einige „unbekann-

te Unbekannte“ weniger.

Zehn Gebote für ProduktsicherheitDieser Zugewinn an Sicherheit baut auf

systematischen Vorarbeiten auf. So hat der

Hersteller die Richtlinien, die bei der Ent-

wicklung neuer Geräte zu befolgen sind,

in den „Zehn Geboten für Produktsicher-

heit“ dokumentiert. Dort ist etwa zu lesen,

dass es in der Software keine „versteckten

Hintertüren“ oder „fest kodierte Zugangs-

daten“ geben darf. Zudem sollen Betriebs-

systeme mit den „kleinstmöglichen Sys-

temrechten“ laufen. Was nicht gebraucht

wird, wird nicht aktiviert. Eine Minimal-

Architektur bietet die geringste Angriffs-

fläche und damit den größten Schutz. Es

ist wie bei einem Fahrrad: Was nicht ver-

baut ist, kann auch nicht kaputtgehen. Die

solchermaßen gewonnene Transparenz

beschleunigt zudem die Gefahrenana-

lyse. Beispiel: die Erpressungs-Software

„ WannaCry“, die viele Krankenhäuser

Page 38: Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

Stetspräsent

In der Stadtluft gelten STICKOXIDE als gefährlich, doch auch im Arbeitsschutz spielen sie eine gewichtige Rolle. Um die Einhaltung strenger Grenzwerte kontrollieren zu können, ist extrem empfindliche und zuverlässige Gasmesstechnik nötig.

Text: Peter Thomas

DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Im Untergrund der Bankenmetropole Frankfurt verläuft dieser 1978 eröffnete S-Bahn-Tunnel. Im August 2018 soll sein neues Stellwerk in Dienst gehen

38

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39DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

GEFAHRSTOFFE UMWELT

Von drohenden Fahrverboten in deut-

schen Innenstädten bis hin zu manipulier-

ten Motorsteuerungen von Dieselfahrzeu-

gen: Stickoxide kommen nicht mehr aus

den Schlagzeilen. Wer Fotos eines Staus in

der innerstädtischen Rushhour sieht, der

hat sofort die Diskussion um die Gefähr-

dung menschlicher Gesundheit und der

Umwelt durch die Gase Stickstoffmono-

xid (NO) und Stickstoffdioxid (NO2) vor

Augen. Dabei sind Verbrennungsmoto-

ren nur eine von mehreren Quellen, die

Stickoxide freisetzen. Stickoxide entste-

hen überall dort, wo Öl, Holz, Kohle oder

Gas verbrannt werden – aber auch bei der

Metallverarbeitung, etwa beim Schweißen.

Betroffen sind verschiedene Branchen, ob

Energiewirtschaft, Montanindustrie oder

Düngemittelherstellung.

Neu ist das Thema nicht. Stickoxide

(kurz: NOX) sind schon lange als toxische

Stoffe bekannt. NO2 gilt als die gefährliche-

re Substanz. Es reizt Atemwege und Augen,

schädigt Schleimhäute und kann bei länge-

rer Exposition zu chronischen Herz-Kreis-

lauf-Erkrankungen führen. Die Umwelt

leidet ebenfalls durch die stark reaktiven

Stickstoffoxide, die zur Bildung von boden-

nahem Ozon beitragen. Das hatte die bei-

den Gase bereits in den 1990er-Jahren in

den Fokus gerückt. Nicht nur im Blechge-

wühl des Straßenverkehrs werden Stick-

oxide genau beobachtet, sondern auch tief

im Erdinneren. Wie sie dorthin gelangen?

Die Antwort gibt ein gelb lackierter Lind-

wurm, der plötzlich aus dem Dunkel eines

Eisenbahntunnels auftaucht. Das Unge-

heuer faucht und kreischt den stählern

glitzernden Schienenstrang entlang. Es

sind gigantische Dieselmotoren, die die-

ser Gleisbaumaschine ihre Kraft verleihen.

Die Maschine arbeitet im unterirdischen

Netz der S-Bahn von Frankfurt am Main,

das in einem Jahrhundertprojekt umge-

baut und mit neuer Leit- und Sicherungs-

technik ausgestattet wird. Nach umfang-

reichen Vorarbeiten hatte das eigentliche

Vorhaben 2015 begonnen. In diesem Jahr

soll die Maßnahme mit Inbetriebnahme

eines elektronischen Stellwerks (ESTW)

der neuesten Generation abgeschlossen

werden.

Anspruchsvoller Arbeitsschutz „Dabei steht der Arbeitsschutz für alle

Mitarbeiter an oberster Stelle“, sagt Ralf-

Ulrich Michalski. Der Ingenieur hat im

Auftrag von DB Netz, einer Tochtergesell-

schaft der Deutschen Bahn, die Bewet-

terung der unterirdischen Baustellen

geplant, um die Emissionen der Motoren

und der Arbeiten an Gleiskörpern sowie

Schienen gezielt abzuführen. Im Fokus

stehen neben Stäuben auch Stickoxide. Sie

spielen im Arbeitsschutz eine wichtige Rol-

le. Die Einhaltung der Arbeitsplatzgrenz-

werte (AGW) ist besonders anspruchsvoll,

seitdem im Mai 2016 in der Technischen

Regel für Gefahrstoffe („Arbeitsgrenz-

werte“; TRGS 900) neue, bis zu zehn-

mal strengere Werte für die beiden Gase

gelten. In ihrer jüngsten Fassung, vom

31. Januar 2018, nennt die TRGS 900 hier

je Kubikmeter Luft 2,5 Milligramm NO

sowie 0,95 Milligramm NO2 als Obergren-

zen. Diesen Konzentrationen sollen sich

erwachsene Menschen an ihrem Arbeits-

platz bis zu acht Stunden – ohne gesund-

heitliche Beeinträchtigungen – aussetzen

können. Umgerechnet in die gängige Grö-

ße parts per million (ppm) sind das 2 ppm

(NO), beziehungsweise 0,5 ppm (NO2).

Diese Werte entsprechen auch den Emp-

fehlungen des Wissenschaftlichen Aus-

schusses für Grenzwerte berufsbedingter

Exposition der Europäischen Kommissi-

on (SCOEL) sowie der daraus im Januar

2017 abgeleiteten EU-Richtlinie 2017/164.

„Mittlerweile hat das Thema richtig Fahrt

aufgenommen – sowohl was die Strategien

für die Einhaltung der Grenzwerte betrifft

als auch deren zuverlässige Messung“,

sagt Christoph Feyerabend. Der Ingenieur

arbeitet bei Dräger im Geschäftsbereich

Bergbau. Hinsichtlich NOX gebe es eine

Schnittmenge zwischen Bergbau, Bauar-

beiten in unterirdischen Verkehrsanlagen

und Tunnelneubauten, sagt Feyerabend.

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Licht in der Mitte des Tunnels: Bauarbeiten auf Deutschlands meistbefahrener Bahnstrecke,

dem S-Bahn-Tunnel in Frankfurt am Main

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UMWELT GEFAHRSTOFFE

40 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Bewetterung wie im Bergbau

Strategien zur Einhaltung der Grenzwer-

te führten beispielsweise auch im Erzberg-

bau zu Konzepten wie der elektrischen Mine. Darin sollen so viele Aggregate wie

irgend möglich mit Strom statt mit Ver-

brennungsmotoren betrieben werden. Das

reduziert auch den Ausstoß von Kohlen-

stoffdioxid und hat Vorteile hinsichtlich

der Umweltauflagen. Eine zweite Emis-

sionsquelle, die etwa der bergmännische

Tunnelvortrieb in den Griff bekommen

muss, sind Sprengschwaden. Auch sie ent-

halten hohe Konzentrationen an NOX. Dass

die Thematik sehr aktuell ist, hat auch das

diesjährige Symposium Gefahrstoffe der

Berufsgenossenschaft Rohstoffe und che-

mische Industrie (BG RCI) „Schlema IX“

gezeigt. Dort ging es um Konzepte zum

Umgang mit Stickoxiden im Bergbau und

um neue Messtechnologien. Unterirdi-

sche Verkehrsanlagen zeigen schon lan-

ge, dass Stickoxide nicht zwingend ein Pro-

blem sein müssen. Im laufenden Betrieb

von elektrifizierten Tunnel-Bahnstrecken

beispielsweise spielen die NOX-Emissio-

nen so gut wie keine Rolle. Diesen Effekt

der lokal emissionsfreien E-Motoren nutz-

ten schon britische Ingenieure, als sie –

lange vor den ersten Arbeitsplatzgrenz-

werten – das tief liegende und ab 1890 in

Betrieb genommene Londoner Tube-Netz

bauten. Die Tunnelanlagen hätten wegen

der schädlichen Emissionen unmöglich

mit Dampfloks betrieben werden kön-

nen. Doch genau diese zogen die Wag-

gons in den Anfangsjahren der ältesten

U-Bahn der Welt nach der Eröffnung der

ersten oberflächen nahen Strecke mit zahl-

reichen Ventilationsöffnungen im Jahre

1863. Vom Dampfzeitalter ist die moder-

ne S-Bahn des Rhein-Main-Gebiets natür-

lich weit entfernt, aber in Phasen inten-

siver Bautätigkeit sind Emissionen von

Arbeitsmaschinen wie Diesellok und

Schwellen-Motorschrauber eine Heraus-

forderung. Und die hat in den vergange-

nen Jahren sogar zugenommen, erklärt

Ingenieur Michalski: „Einerseits sind die

Grenzwerte strenger geworden, anderer-

seits hat auch die Maschinenleistung deut-

lich zugenommen – und mit ihr das Maß

an Emissionen. Schon deshalb kommt

man ohne eine ausgefeilte Strategie für

die technische Bewetterung nicht aus.“

Königsklasse der BewetterungDie Lösungen dafür haben im Frank-

furter Untergrund nicht nur den Namen

mit der Be- und Entlüftung von Bergwer-

ken gemein. Sie brauchen sich auch mit

ihrer Komplexität nicht vor den Anla-

gen für Abbau und Abtransport von Koh-

le, Erzen und Salzen zu verstecken. Denn

der Tunnel der ab 1978 eröffneten S-Bahn

unter dem Finanzplatz am Main besteht

aus einem verzweigten Netz von Strecken

und Stationen, von Querverbindungen,

Kreuzungen und Notausstiegen. „Im Ver-

gleich zu einem herkömmlichen Eisen-

bahntunnel, der nur zwei Portale und

die dazwischen liegende Röhre hat, ist

das die Königsklasse“, sagt Michalski. In

der Hochphase der emissionsträchtigen

Bauarbeiten kamen daher nicht nur luft-

dichte Röhren („Lutten“) für die Bewet-

terung zum Einsatz, sondern auch fahr-

und drehbare Großventilatoren mit jeweils

200 Kilowatt Leistung. Doch Emissionen

sicher und kontrolliert abzuführen ist

das eine. Die Einwirkung von Stoffen auf

den Menschen – die Immission – zu kon-

trollieren, das andere. „Im betrieblichen

Alarm- und Gefahrenabwehrplan sowie

der Betriebs- und Bauanweisung wurde

deshalb ein Messkonzept für besonders

emissionsträchtige Arbeiten entwickelt“,

erklärt Christian Ludwig, Projektingeni-

eur für den Neubau des ESTW. Dazu setzte

DB Netz fest installierte und mobile Gerä-

te ein. Die stationären Anlagen messen

neben den beiden Stickstoffoxiden auch

Kohlenstoffmonoxid und -dioxid, Sauer-

stoff, Luftfeuchtigkeit sowie Richtung und

Stärke der Luftbewegung. Andererseits

wurden Arbeitstrupps, die nahe an Emis-

sionsquellen eingesetzt waren, zusätzlich

mit mobilen Gasmessgeräten ausgestat-

Großgebläse werden bei Arbeiten in unterirdischenVerkehrsanlagen verwendet, um die Emissionen von Maschinen gezielt abzuleiten

Tragbare Gasmesstechnik

wie das Dräger X-am 8000

kommt auf Tunnel-baustellen je nach Bedarf ebenso zum

Einsatz wie fest installierte Geräte

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41DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

tet. Das Konzept habe sich bewährt, sagt

Ludwig. Auch weil sich alle im Auftrag der

Bahn tätigen Unternehmen an die Arbeits-

schutzregeln gehalten hätten. „Dass sol-

che Prozesse hinterlegt sind, ist mindes-

tens ebenso wichtig wie die Messung

selbst. Nur so kann man bei kritischen

Ergebnissen angemessen reagieren“, sagt

Gero Sagasser, Produktmanager für Sta-

tionäre Gasmesstechnik bei Dräger. Die

mehrjährige Baustelle auf Deutschlands

längster unterirdischer S-Bahn-Strecke ist

zwar besonders komplex, aber kein Einzel-

fall. Vielmehr steige die Zahl der Projekte

für den Bau oder die Ertüchtigung unterir-

discher Verkehrsanlagen, so Sagasser. Das

gelte für herausragende Eisenbahnvorha-

ben wie den Brenner-Basistunnel eben-

so wie für urbane Tunnelinfrastrukturen.

Ob Baustelle oder Bergwerk: Die Frage

nach NOX ist angesichts immer strengerer

Grenzwerte stets präsent.

Messungen ab 0,04 ppmEinen Trend zu noch niedrigeren AGW als

in Europa gibt es in Kanada. Dort schrei-

ben einige Provinzen bereits Arbeitsplatz-

grenzwerte von höchstens 0,2 ppm des

toxischen NO2 vor. Solche Dimensionen

jenseits analytischer Messtechnik zuverläs-

sig zu detektieren galt noch vor zehn Jah-

ren als kaum lösbar. „Heute jedoch bieten

wir Sensoren für extrem niedrige Konzent-

rationen an – mit neuer Elektrodentechnik

auf Basis von Carbon-Nanoröhren“, sagt

Christoph Feyerabend. „Sie lassen sich in

unseren gängigen mobilen wie stationä-

ren Gaswarngeräten verwenden.“ NO2-LC-

Sensoren sind seit etwa sieben Jahren für

tragbare und seit 2013 in stationären Gas-

messgeräten verfügbar. Sie messen NO2 in

Konzentrationen ab 0,04 ppm mobil (z. B.

Dräger X-am 8000) und 0,05 ppm statio-

när (z. B. Dräger Polytron 8000). So hilft

moderne Messtechnik dabei, immer stren-

gere Arbeitsplatzgrenzwerte verlässlich zu

kontrollieren.

Stickoxide: Messstellenvon Sylt bis zur Zugspitze Stickoxide sind auch im Umweltschutz schon lange ein Thema. Das reicht von der Auseinandersetzung mit dem sauren Regen über die Ozonbelastung bis zur aktuellen Debatte über Emissionen von Kraftfahrzeugmotoren. Unerlässlich für eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung sind verlässliche Messdaten der NO

X-Konzentration in der Atmosphäre. Das Umweltbundesamt (UBA)

trägt solche Messwerte aus ganz Deutschland zusammen – und misst bereits seit seiner Gründung 1974 auch selbst: zum Beispiel die NO

2-Konzentration

in der Atmosphäre. Dabei kamen stets verschiedene, kontinuierliche und diskontinuierliche Methoden zum Einsatz. „Die verwendete Technik hat sich seither erheblich weiterentwickelt“, sagt Dr. Axel Eggert vom UBA. Besonders in den vergangenen fünf Jahren habe das Tempo der Innovation deutlich angezogen. Anfangs setzten die Wissenschaftler zum Beispiel das Saltzman-Verfahren ein. Dabei wird Luft durch Waschflaschen mit einer Lösung geführt, die sich je nach Kontakt mit NO2

rot färbt. Noch bis 2017 wurden auch sogenannte Glasfritten verwendet: Glasschäume mit großer Oberfläche, die mit Natriumjodid und Natrium hydroxid imprägniert sind. Wird Luft durch diese Fritte geleitet, reagiert das NO2

mit der imprägnierten Oberfläche. Längst jedoch setzt das UBA auch fotometrische Verfahren wie Chemilumineszenz und Cavity-Enhanced- Absorption-Spektroskopie ein. Ein Schwerpunkt der Arbeit des Umweltbundesamtes sind Hintergrundmessungen. Dabei wird nicht die lokale Belastung an besonders emissionsträchtigen Punkten gemessen, sondern der weiträumige Transport von Schadstoffen. Die sieben Messstellen liegen deshalb bewusst außerhalb von Ballungsgebieten und fern von Industrie oder Kraftwerken. Die nördlichste Station befindet sich auf Sylt, die südlichste auf der Zugspitze.

Die NO2-Immission

in Deutschland zeigt diese Karte des Umweltbundesamtes mit Jahresmittelwerten. Sie ist auf Grund-lage von Daten lokaler Messstationen entstanden

Westerland Zingst

Neuglobsow

Waldhof

Schmücke

Schauinsland

Zugspitze

Langen

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Messstelle

Messnetz-Zentrale

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> 20 ug/m3

> 25 ug/m3

> 30 ug/m3

> 35 ug/m3

> 40 ug/m3

> 45 ug/m3

> 50 ug/m3

> 55 ug/m3

> 60 ug/m3

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WISSENSCHAFT MEDIZIN

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42 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Stammzellensind für den Laien unter dem Mikroskop kaum zu erkennen – hier eine künstlerische Interpretation

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43

Als John Gurdon (*1933) vor 60 Jah-

ren Froscheier an der University of Oxford

untersuchte, konnte er nicht wissen, dass

er sich gerade in die Geschichtsbücher der

Medizin schrieb – Nobelpreis inklusive.

Gurdon bestrahlte die Eier mit UV-Licht,

um deren Erbgut zu zerstören. Dann saug-

te er mit einer Pipette den Zellkern samt

Erbgut eines erwachsenen Frosches aus

einer Zelle und injizierte die DNA in das

präparierte Ei. In wenigen Tagen entwi-

ckelte sich daraus ein lebendiger Frosch.

Ohne dass es sein Ziel war, hatte Gurdon

damit erstmals einen Klon von einem

erwachsenen Tier geschaffen – also eine

exakte genetische Kopie eines lebenden

Wesens. Eigentlich ging der damalige Dok-

torand der Frage nach, ob alle Zellen das

gleiche Erbgut bergen, oder ob sie sich

in ihren Erbanlagen unterscheiden. Wie

sonst könnte es sein, dass ein Körper aus

so unterschiedlichen Gewebearten und

Organen besteht? Nierenzellen filtern das

Blut, Neuronen leiten die Nervensignale

weiter. Muskelzellen bewegen den Kör-

per, der weit mehr als 100 Gewebetypen

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STAMMZELLEN versprachen lange Zeit eine Revolution der Medizin – als universelles Reparaturkit für defekte Organe. Dann bemerkten Forscher, dass es gar nicht so leicht ist, die Heilkraft der Universalzellen zu nutzen. Nach einigen Schwierigkeiten gibt es inzwischen Erfolg versprechende Ansätze.

Text: Hanno Charisius

DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

beherbergt, und pumpen das Blut. Wie

aber kommt es zu dieser Vielfalt, wenn

doch alle Zellen das gleiche Erbgut in sich

tragen? Denn das hatte ja der Klonfrosch

bewiesen: dass jede Zelle eines Lebewe-

sens sämtliche Gene in sich trägt, um von

einer befruchteten Eizelle zu einem Orga-

nismus heranzuwachsen. Nebenbei zeig-

te Gurdon mit seinem Versuch, dass es

umgekehrt Wege gibt, aus einer erwach-

senen Zelle wieder eine Universalzelle zu

machen, aus der die Vielfalt eines Orga-

nismus entstehen kann.

Traum vom ReparaturkitGenau diese Reprogrammierung pas-

siert beim Klonen: In wenigen Stunden

dreht die Eizelle die Entwicklung der

erwachsenen Zelle zurück, die als Spen-

der gedient hat. Das gleicht einem Jung-

brunnen für Zellen. Werden diese so in

einen Zustand zurückversetzt, wie er in

ganz jungen Embryonen herrscht, ver-

wandeln sie sich zu Fast-Alleskönnern.

Sie bringen zwar keinen Menschen her-

vor, aber nahezu alle Zelltypen. Seit der

Entdeckung em bryonaler Stammzellen

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WISSENSCHAFT MEDIZIN

44 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Neustart: Ausgereifte Körperzellen lassen sich wieder in einen Urzustand versetzen

träumen Mediziner von ihnen als einer

Art universellem Reparaturkit für den Kör-

per. Lädiertes Gewebe sollte sich damit

wieder instand setzen lassen, so die Idee

der regenerativen Medizin. 1998 berich-

tet der amerikanische Zellbiologe James

Thomson, wie es ihm gelang, embryonale

Stammzellen zu erschaffen. Damit schien

das Ziel, schwere Krankheiten – wie Dia-

betes, Alzheimer und Parkinson – oder

die Folgen von Verletzungen und Infark-

ten therapieren zu können, in greifbare

Nähe gerückt. Es gab nur ein Problem:

Um an die Zellen zu gelangen, muss man

zunächst einen Embryo erschaffen. Weni-

ge Tage, nachdem Eizelle und Spermium

miteinander verschmolzen sind, bildet

sich eine Blastozyste, ein bläschenförmi-

ges Gebilde, das aus einer Hülle und einer

inneren Zellmasse besteht. Diese beher-

bergt jene pluripotenten Zellen, die sich

in so ziemlich jeden Gewebetyp verwan-

deln können. Würde man Stammzellen

für einen Patienten herstellen wollen,

käme hier ein ähnliches Verfahren zum

Einsatz, das auch Gurdon bereits nutzte:

Erbgut aus der Eizelle entfernen, es in

eine Zelle des Patienten einpflanzen und

warten, bis daraus ein Embryo mit den

begehrten Zellen geworden ist.

Meister der VerwandlungUm diese Zellen jedoch nutzen zu kön-

nen, muss man den jungen Embryo zerstö-

ren. Das birgt derart fundamentale ethi-

sche Probleme, dass die Herstellung von

menschlichen embryonalen Stammzel-

len in Deutschland gleich ganz verboten

wurde. Und die Forschung an embryona-

len Stammzellen, die importiert wurde, ist

nur eingeschränkt erlaubt. 2007 wischte

eine Entdeckung des japanischen Stamm-

zellforschers Shin’ya Yamanaka prak-

tisch all diese Bedenken beiseite. Er hatte

eine Möglichkeit gefunden, Zellen eines

erwachsenen Menschen auf chemischem

Wege wieder in den Embryonalzustand zu

versetzen. Gezielt mit verschiedenen Wirk-

stoffen behandelt, erwachen in den entwi-

ckelten Zellen Gene, die normalerweise

nur in Embryonen aktiv sind und später

stillgelegt werden. So können etwa aus

Hautzellen wieder embryonale Stamm-

zellen entstehen. Sie gelten als pluripo-

tent und können sich in viele verschiedene

Gewebetypen verwandeln – nur eben nicht

in einen Menschen. Yamanaka verwandel-

te mit seinem Rezept Hautzellen von Mäu-

sen in Stammzellen, die als induzierte plu-ripotente Stammzellen (iPS) bezeichnet

werden. 2012 hat er für seine Entdeckung

den Medizin-Nobelpreis erhalten. Er teilte

ihn sich mit John Gurdon, der die Grund-

lage für Yamanakas Werk legte, indem er

beobachtete, dass man ausgereifte Zellen

wieder zurückversetzen kann – in eine Art

Urzustand, in dem ihnen wieder alle ent-

wicklungsbiologischen Wege offen stehen.

Ganz so wie der Meeresgott Proteus aus

der griechischen Mythologie, der als Meis-

ter der Verwandlung jede beliebige Gestalt

annehmen konnte.

Bereits Ende 2012 wollen Wissen-

schaftler des US-amerikanischen White-

head-Instituts das Potenzial dieser Zel-

len im Tierversuch demonstriert haben.

Sie berichteten in einem Fachartikel, wie

sie Mäuse heilen konnten, die an Sichel-

Stammzellensind kostbar. Deshalb hantieren Forscher im Labor immer nur mit winzigen Mengen

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45DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

zellenanämie litten. Bei dieser Krankheit

produziert der Körper durch einen Gende-

fekt deformierte rote Blutkörperchen, die

Organe zerstören können. Die Forscher

entnahmen Mäusen ein paar Hautzellen

und verwandelten sie durch den chemi-

schen Proteus-Effekt in iPS-Zellen, die sie

wiederum in Vorläuferzellen des Blutes

umwandelten. Den Gendefekt reparierten

sie durch einen Eingriff und spritzten die

Vorläuferzellen den kranken Tieren, wo

sie zu gesunden Blutzellen heranreiften.

Nach Angaben der Forscher verschwanden

die Symptome der Tiere fast vollständig.

Wenige Studien an MenschenMittlerweile wird die Qualität dieser ers-

ten Studie mit iPS-Zellen von verschiede-

nen Experten angezweifelt. Zwar gibt es

zahlreiche Untersuchungen, die das Kon-

zept prinzipiell bestätigen, jedoch liegen

nur wenige Berichte über Heilversuche

mit den Wunderzellen an Menschen vor.

2014 war die Augenärztin Masayo Takaha-

shi vom Riken Center for Developmental

Biology in Kobe die Erste, die iPS-Zellen

an einer Patientin ausprobierte. Die über

70-jährige Patientin litt an einer alters-

bedingten Makuladegeneration, bei der

die Pigmentschicht der Netzhaut zerstört

wird. Bereits als Takahashi ihr ein winzi-

ges Stück gezüchteter Pigmenthaut ins

Auge pflanzte, betonte die Ärztin, dass es

bei diesem ersten Test ausschließlich um

die Sicherheit der Methode ginge und es

nicht das Ziel wäre, die Sehkraft wieder

vollständig herzustellen. Knapp drei Jah-

re später veröffentlichte sie die Ergebnis-

se. Es habe keine Abstoßungsreaktionen

oder andere Nebenwirkungen gegeben.

Besser sehen kann die Patientin zwar

immer noch nicht, doch die experimen-

telle Therapie hatte die Krankheit auf-

gehalten. Keinesfalls verwechseln darf

man derartige streng kontrollierte Expe-

rimente mit obskuren Heilversuchen, wie

sie in manchen kommerziellen Stamm-

zellkliniken angeboten werden. Vor sol-

chen Praktiken warnten Wissenschaftler

im vergangenen Jahr in derselben Ausga-

be des Fachjournals, in dem Takahashi

ihren Bericht veröffentlichte. Dafür gab

es einen tragischen Anlass: Drei ameri-

kanische Frauen waren erblindet, nach-

dem Ärzte ihnen Zellen injizierten, die

sie aus dem Fettgewebe ihrer Patientin-

nen gewonnen hatten.

Wie sorgsam hingegen seriöse Wis-

senschaftler vorgehen, zeigt sich auch

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Reprogrammierung

Körperzellen

Zellen reprogrammierenVerschiedene biochemische Faktoren schicken differenzierte Zellen wieder in den Urzustand – aus dem sie sich in viele andere Gewebetypen verwandeln können.

Page 46: Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

46 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

im Fall Takahashi. Die Augenärztin ver-

zichtete darauf, einem zweiten Patienten

die maßgeschneiderten Stammzellen ein-

zusetzen, weil sich während der Herstel-

lung im Labor zu viele Fehler in das Erb-

gut eingeschlichen hatten. Diese erhöhen

das Risiko für Komplikationen, etwa durch

das Entstehen von Krebs. Das ist ein allge-

meines Risiko von Stammzellen, denn sie

können sich nicht nur in das gewünsch-

te Gewebe verwandeln, sondern auch

in Tumore. 2011 zeigte eine amerikani-

sche Forschergruppe, wie weit verbreitet

schwere genetische Veränderungen nicht

nur in embryonalen Zellen sind, sondern

auch in den iPS-Zellen, die bis dato als

Hoffnungsträger der regenerativen Medi-

zin galten. In embryonalen Stammzel-

len fanden die Wissenschaftler zahlrei-

che duplizierte Genabschnitte, während

den iPS-Zellen offenbar Gen-Informatio-

nen fehlten. Ob das für künftige therapeu-

tische Anwendungen problematisch ist,

zählt bis heute zu den drängendsten Fra-

gen. Weit mehr Erfahrung haben Medizi-

ner mit adulten Stammzellen gesammelt,

die sich im Gewebe eines jeden Menschen

finden. Auch sie können sich fast unein-

geschränkt vermehren, sind aber bereits

auf einen Gewebetyp oder ein Organ spe-

zialisiert und so etwas wie die Reparatur-

truppe des Körpers. Sie sorgen auch dafür,

dass Ersatz zur Stelle ist, wenn betagte Zel-

len ihren Dienst quittieren. Je nach Organ

liegt die Lebenserwartung zwischen eini-

gen Tagen und vielen Jahren. Rote Blutkör-

perchen leben circa drei Monate, die Zel-

len der Darmoberfläche erneuern sich fast

permanent. Zwar ist dieser Zelltyp nicht

so vielseitig wie seine pluripotenten Ver-

wandten aus Embryonen oder Zellen nach

der chemischen Verjüngungskur der iPS-

Zellen, dafür kennt er seine zukünftigen

Aufgaben schon recht gut, weil er ja das

spezialisierte Gewebe bildet.

Gentechnisch veränderte HautDie bekannteste Stammzelltherapie ist

die gegen den Blutkrebs. Dabei überträgt

man Blutstammzellen vom gesunden und

genetisch passenden Spender auf den

Leukämiepatienten. Bei der klassischen

Knochenmarkspende werden dem Spen-

der unter Vollnarkose ein bis anderthalb

Liter Knochenmark aus dem Hüftkno-

chen entnommen. Der einfache Eingriff

dauert etwa eine Stunde, in der ein Arzt

mit einer Spritze Stammzellen absaugt.

Massayo Takahashi ist die Augenärztin, die erstmals Patienten mit chemisch reprogrammierten Stammzellen behandelt hat

An Leukämieerkrankt

gesund

Blutkrebs: Es gibt sehr unterschiedliche Leukämieformen, die meist im Knochenmark beginnen und zu einer stark erhöhten Zahl weißer Blutkörperchen und Vorläuferzellen (orange) führen. Die Zahl der roten Blutkörperchen für den Sauerstoff-transport und der Thrombozyten (blau), die bei Verletzungen für die Blutgerinnung sorgen, verändert sich kaum

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47DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

MEDIZIN WISSENSCHAFT

Stammzellen:Die Fast-Alleskönner helfen auch bei der Entwicklung neuer Medikamente.www.draeger.com/403-47

Stammzellen eignen sich auch dafür, verschlissene Gelenke wieder zu mobilisieren

Normalerweise kann der Spender noch

am selben Tag das Krankenhaus wieder

verlassen. Mögliche Risiken sind sehr

gering. Es dauert nur wenige Wochen,

bis sich das Knochenmark wieder rege-

neriert hat. Der Transfer auf den Empfän-

ger funktioniert ganz einfach per Trans-

fusion. Die Blutstammzellen finden ihren

Weg eigenständig durch die Blutbahn bis

hin zu den Knochen, wo sie sich ansie-

deln. Sogenannte mesenchymale Stamm-zellen, wie sie im Knochenmark herum-

schwimmen, eignen sich aber auch, um

verschlissene Gelenke wieder mobil zu

machen – oder abgenutzten Knorpel wie-

der aufzubauen.

Stammzellen aus verschiedenen

Geweben wurden bereits getestet, um

beschädigte Herzmuskeln nach einem

Infarkt wieder zu kräftigen. Bislang gab es

in diesem Bereich jedoch keinen durch-

schlagenden Erfolg, obwohl die Zellthe-

rapie am Herzen bereits an einigen Hun-

dert Patienten getestet wurde. Noch ist

unklar, ob die Stammzellen sich in den

lädierten Muskel integrieren und sich an

die neue Aufgabe anpassen – oder ob sie

lediglich biologische Signalstoffe abson-

dern, die dem Herzen dabei helfen, sich

selbst zu helfen. Wenn es aber da rum

geht, nicht nur verschlissene Organe

oder Gewebe zu ersetzen, sondern auch

angeborene Krankheiten zu heilen, müs-

sen Ärzte die Fähigkeiten der Stammzel-

len mit den Möglichkeiten der Gentech-

nik kombinieren. Erstmals ist das einem

deutsch-italienischen Ärzteteam gelun-

gen, das einen Jungen mit einer lebensbe-

drohlichen Hautkrankheit retten konnte.

Die genetisch bedingte Schmetterlings-

krankheit (Epidermolysis bullosa) hatte

etwa 80 Prozent seiner Oberhaut zerstört.

Alle bekannten Medikamente hatten ver-

sagt, deshalb wagten die Ärzte im Jahre

2015 ein Experiment: Sie entnahmen

dem Jungen ein Stück noch intakter Haut,

vermehrten die Stammzellen darin und

schleusten eine intakte Version des defek-

ten Gens ein. Ende vergangenen Jahres

berichteten die Mediziner in der Fachzeit-

schrift Nature, dass es ihrem Patienten –

zwei Jahre nach der Verpflanzung von fast

einem Quadratmeter gentechnisch verän-

derter Haut – so gut gehe, dass er wieder

ein fast normales Leben führen könne.

Als John Gurdon (Anfang 1958) sei-

ne Experimente zur genetischen Identi-

tät von Zellen begann, war diese Entwick-

lung noch nicht abzusehen. Für ihn ist

das eine der besonderen Überraschun-

gen, die die Wissenschaft bereithält. In

seiner Nobelpreisrede (2012) erklärte er,

dass es für ihn eine besondere Freude sei,

dass aus einer ursprünglich durch reine

Neugierde betriebenen Grundlagenfor-

schung und nicht zuletzt durch die Entde-

ckung Yamanakas „etwas wurde, das der

menschlichen Gesundheit nützt“. Das

lässt sich wahrlich nicht über jeden Ver-

such mit Froscheiern sagen.

Glossar Adulte Stammzellen bilden die Reserve in Geweben und Organen; sie bringen Nachschub hervor, wenn Zellen kaputt oder zu alt geworden sind. Sie sind nicht so vielseitig wie embryonale Stammzellen.

Embryonale Stammzellen können sich in nahezu jedes Körper-gewebe verwandeln; deshalb werden sie als pluripotent bezeichnet. Im ganz jungen, nur wenige Tage alten Embryo gibt es noch solche Fast-Alleskönner-Zellen. Doch auch sie haben bereits Entwicklungspotenzial eingebüßt – ein Mensch kann aus ihnen nicht mehr erwachsen, sonst wären sie totipotent. Reprogrammieren ist ein Begriff, der eher mit Computern in Zusammenhang gebracht wird. Doch auch der Code, der einer Zelle sagt, ob sie zu einer Niere gehört, zum Gehirn oder zum Blut, lässt sich neu interpretieren. Das geschieht durch chemische Markierungen an den Genen, sogenannte epigenetische Marker. Jede Zelle eines Lebewesens trägt sämtliche Gene in sich.

Epigenetische Markierungen steuern, welche Gene wo und wann genau gebraucht werden.

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DRÄGERHEFT 403 | 1 / 201848

PANORAMA NATURKATASTROPHEN

Das vergangene Jahr war verheerend – und vermutlich nur der Auftakt: Trotz besserer

Vorhersagemodelle stehen den USA und anderen Teilen der Welt künftig wohl noch mehr Natur-

katastrophen bevor. Bevölkerungswachstum an den falschen Orten und der Klimawandel

dürften das Problem noch verschärfen.

Text: Steffan Heuer

DAS WIRBELSTURM-TRIO KATIA, IRMA UND

JOSE AM 8. SEPTEMBER 2017 ÜBER DEM ATLANTIK.

BILANZ: MINDESTENS $68 MRD. SACHSCHADEN

Page 49: Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

49DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018 49

Mehrere Hundert Tote, Zehntausende Obdachlose – zerfetz-

te Häuser, Autos und Fabriken, die unter Wasser stehen. Ganze

Landstriche, in denen auch Monate später noch kein Strom

fließt. Die Hurrikansaison 2017 stellte in den USA einen neuen

traurigen Rekord auf, was die durch Wind, Regen und Über-

schwemmungen verursachten Schäden angeht.

Nach vorläufigen Erhebungen kostete das Wirbelsturm-

Trio Harvey, Irma und Maria fast 207 Milliarden US-Dollar, als

es die Millionenstadt Houston und diverse Karibikinseln (ein-

schließlich des US-Außengebietes Puerto Rico) verwüstete. Die

Schäden übersteigen damit die Summe der Serie von Stürmen

zuvor, als Katrina, Rita, Dennis und Wilma 2005 an Land feg-

ten und Schäden von mehr als 151 Milliarden Dollar verursach-

ten. Doch selbst wenn man davon einmal absieht, schrieb das

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vergangene Jahr Geschichte. Meteorologen und Klimaforscher

notierten insgesamt 17 große Stürme, davon sechs der Kate-

gorie 3 oder stärker, also mit einer Windgeschwindigkeit von

178 Stundenkilometern und mehr. Seit 1893 hatte man keine

derart schlimme Saison mehr erlebt. Die im Fernsehen und in

den Sozialen Netzwerken live ausgestrahlte Zerstörungskraft der

Natur hat Wissenschaftler wie Katastrophenschützer weltweit

aufgeschreckt. Sie treiben gleich mehrere Fragen um, bevor die

diesjährige Saison am 1. Juni wieder offiziell beginnt: Besitzen

ihre Modelle genügend Datendichte und Analysekraft, um die

nächsten Stürme akkurat und mit größerer Vorlaufzeit vorher-

zusagen? Wie können sich die Menschen entlang der Küsten-

regionen besser auf die Verwüstungen vorbereiten? Und inwie-

weit verschärft der fortschreitende Klimawandel die Stürme

samt ihren verheerenden Auswirkungen?

Page 50: Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

PANORAMA NATURKATASTROPHEN

John Cangialosi arbeitet am National Hurricane Center (NHC)

im Süden Floridas. Mit seinen neun Kollegen ist er tagein, tagaus

damit beschäftigt, Wirbelstürme zu verfolgen, ihre Intensität und

Route vorauszuberechnen sowie vorbeugende Öffentlichkeitsar-

beit zu leisten. Medien, Kommunen und Katastrophenschützer

verlassen sich jedes Jahr auf die detaillierten Vorhersagen und

Ratschläge des NHC, die ihnen bei der Entscheidung helfen

sollen, ob und wann ein Gebiet zu evakuieren ist. „Fast jeder,

der sich beruflich mit Wirbelstürmen beschäftigt, war von Kin-

desbeinen an von ihnen fasziniert – ich auch“, erinnert sich

Cangialosi. Er wuchs bei New York auf und kannte vor allem Bliz-

zards aus Eis und Schnee. „Dabei“, korrigiert Cangialosi höflich,

„verwenden Fachleute gar nicht den Begriff Hurrikane, son-

dern tropische Zyklone.“ Wie man sie auch nennt: „Wirbelstür-

me brauchen immer dieselben Voraussetzungen, um groß und

gefährlich zu werden.“ Zunächst muss die Oberflächentempe-

ratur des Ozeans zwischen 26 und 26,5 Grad Celsius warm und

obendrein viel Luftfeuchtigkeit vorhanden sein, damit ein Zyklon

entstehen und Kraft erlangen kann. Dann benötigt er möglichst

wenig vertikale Windturbulenzen oder Scherwinde. Je weniger

die Windgeschwindigkeit und Windrichtung in verschiedenen

Punkten der Luftsäule über dem Meer voneinander abweichen,

desto stärker kann er seine Kraft entfalten. Der Vollständigkeit

halber: Ein Tornado ist ein völlig anderes Wetter system, das sich

nur über Land zusammenbraut, mit einem Durchmesser von

bis zu 1 Kilometer sehr kompakt ist und eine bunt durchmisch-

te Säule aus kalter und warmer Luft liebt. „Bei aller Forschung

ist das keine exakte Wissenschaft. Es kommen viele Faktoren ins

Spiel, die einander beeinflussen“, sagt Cangialosi. Ein Teil in die-

sem dynamischen Puzzle ist das El-Niño-Phänomen. Dabei stei-

gen die Temperaturen des äquatorialen Pazifiks im Winter an

und beeinflussen auch das Klima über dem Atlantik. Die küh-

lere La Niña hingegen hat genau den umgekehrten Effekt und

kann so für mehr Wirbelsturmaktivität sorgen.

Dass Forscher überhaupt ermitteln können, wo als nächstes

ein Sturm droht und an Land gehen könnte, verdanken sie einem

über Jahrzehnte ausgebauten Messsystem sowie verbesserten

Computersimulationen. Der mit Abstand wichtigste Datensatz

stammt von Satelliten, die die Intensität und Geschwindigkeit des

Windes auf der Wasseroberfläche erfassen. Ihre Messungen wer-

den ergänzt durch regelmäßige Datenflüsse von Flughäfen, Flug-

zeugen, Schiffen und Wetterballons. „Die Messungen im Ozean

durch Bojen und Schiffe sind sehr wertvoll, doch angesichts der

riesigen Wasseroberfläche auch dünn gesät“, erklärt Phil Klotz-

bach, Hurrikan-Experte an der Colorado State University in Fort

Collins. Seine Forschungsgruppe gibt seit mittlerweile 34 Jah-

ren eine weltweit beachtete Prognose heraus, die dreimal jähr-

lich aktualisiert wird (Anfang April, Anfang Juni sowie Anfang

August), um die zu erwartenden Aktivitäten bis Ende November

besser einschätzen zu können. „Je weiter wir uns der Hochsai-

son nähern, desto mehr Daten haben wir und desto besser wird

die Vorhersage“, sagt Klotzbach. Das Hurricane Center in Flori-

da kümmert sich im Gegensatz dazu mehr um kurzfristige Vor-

hersagen, die den Verlauf eines Sturms bis zu fünf Tage im Vor-

aus berechnen.

Leistungsstarke Computer speisen alle Messungen und his-

torischen Daten in Modelle, bei denen die Erdatmosphäre in

rund 40 Kilometer große, dreidimensionale Würfel unterteilt ist.

Wobei: Es gibt nicht nur ein Modell, sondern deren viele, die von

Behörden in den USA, Europa und Japan über das Militär sowie

Hochschulen – wie in Boulder – bis zu privaten Institutionen und

natürlich Versicherungen entwickelt wurden. „Jeder hat Zugang FO

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Auf Halbmast:US-Staaten amGolf von Mexiko(hier: Florida)sind eine beliebteEinfallsschneisefür Wirbelstürme

HURRIKAN „HARVEY“ IM ANMARSCH AUF DIE TEXANISCHE METROPOLE HOUSTON:

MIT EINEM SOLCHEN STURM RECHNEN EXPERTEN NUR ALLE 500 JAHRE.

BINNEN 24 STUNDEN FIELEN 60 ZENTIMETER WASSER –STRASSEN VERWANDELTEN SICH IN REISSENDE FLÜSSE

Page 51: Wie viel ist genug? · Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn

JoJohnhnh CCCananannggigigiala ossi,i, WWetettet rexpxxpxpertete am National Hurricane Center

Sturmflut in der südchinesischen Provinz Guangdong: Auch über dem warmen Wasser des Pazifiks brauen sich verheerende Stürme zusammen. Taifun Usagi suchte 2013 die Philippinen, Japan, Taiwan und China heim

zu denselben Rohdaten, doch es gibt genug Spielraum, was deren

Interpretation betrifft“, sagt NHC-Fachmann Cangialosi. Selbst

die Einstufung eines Sturms ist international unterschiedlich.

Die bekannteste Kategorisierung (Stärke 1-5) stammt von zwei

US-Beamten, die die nach ihnen benannte Saffir- Simpson-Skala

Anfang der 1970er-Jahre entwickelten.

Drei Modelle liefern die besten PrognosenUnter den Computermodellen gelten drei Algorithmen als die

verlässlichsten: das Global Forecast System des amerikanischen

National Weather Service, das Modell des European Centre for

Medium-Range Weather Forecasts sowie das UKMET-Modell aus

Großbritannien. Dabei schneidet das EU-Modell seit Jahren am

besten ab, insbesondere was den Weg eines Wirbelsturms angeht.

So prognostizierten US-Experten, dass Hurrikan Sandy 2012 die

Ostküste entlangtaumeln würde, während die europäischen Wet-

terforscher korrekt davor warnten, dass der Sturm direkt auf

New York zusteuere. „Die Vorhersagen sind besser geworden

und haben schon viele Leben gerettet. Doch wir brauchen ein

noch dichteres Netz an Beobachtungspunkten und Computer-

modelle mit höherer Auflösung. Da haben die Europäer in der

Vergangenheit konsequenter investiert als die USA“, sagt Katha-

rine Hayhoe, Leiterin des Climate Science Center an der Texas

Tech University. Die gebürtige Kanadierin warnt mit am lautes-

ten vor den Folgen des Klimawandels. Das tödliche Wechselspiel

von Erderwärmung und Wirbelstürmen lässt sich laut Hayhoe

an verschiedenen Zusammenhängen festmachen. „Es gibt vie-

les, das wir noch nicht wissen“, sagt sie, „aber es gibt mindes-

tens fünf Risiken im Zusammenhang mit Wirbelstürmen, die

durch den Klimawandel noch verschärft werden und – auf unter-

schiedlichem Niveau – wissenschaftlich belegt sind.“ Da ist zum

einen der Anstieg der Meeresspiegel durch steigende Wassertem-

peraturen und Eisschmelze. Das versorgt Stürme mit mehr Was-

ser, um es an Land zu peitschen. Zudem sorgt der Klimawan-

del für mehr Wasserdampf, von dem eine wärmere Atmosphäre

mehr aufnehmen kann. Ein warmer Ozean ist ein unerschöpfli-

ches Reservoir für sintflutartige Regenfälle. Internationale For-

scherteams veröffentlichten Ende 2017 zwei Studien, die zum

selben Ergebnis kamen: Harvey lud genau deshalb zwischen 15

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52 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

PANORAMA NATURKATASTROPHEN

und 38 Prozent mehr Niederschlag über Houston ab. Obendrein

kann ein Hurrikan aus einem warmen Ozean mehr Energie sau-

gen. Satellitendaten von 1986 bis 2010 belegen, dass sich Stür-

me deswegen in immer kürzerer Zeit zu tropischen Zyklonen

zusammenbrauen. Im Schnitt sparen sie aufgrund der Erder-

wärmung neun Stunden, um zu einem Sturm der Kategorie 3

heranzureifen. Schließlich, so Hayhoe, sorge der Klimawandel

nicht unbedingt für mehr, aber mit großer Wahrscheinlichkeit

für stärkere und größere Stürme der Kategorien 4 oder 5. Und

selbst wenn es im Atlantik seltener zu einem Zyklon kommt, ist

es gut möglich, dass sich die weitaus schlimmeren Stürme im

wärmeren Pazifik zusammenbrauen und Asien verwüsten wer-

den, obwohl die Augen der westlichen Öffentlichkeit stets wie

gebannt auf den Atlantik starren.

Immer mehr Strandvillen in exponierter LageSelbst wenn der genaue Zusammenhang zum Klimawandel noch

aussteht, hat Hurrikan-Forscher Klotzbach ein ganz anderes Pro-

blem identifiziert, das die Menschheit aus Unvernunft und Leicht-

sinn verschlimmert. „Hurrikane werden auch deshalb verheeren-

der, weil wir ihnen immer mehr Dinge in den Weg bauen – meist

in Gebieten, die für starke Winde und Sturmfluten anfällig sind“,

sagt Klotzbach. Er hat gerade mit drei Kollegen alle Wirbelstür-

me ausgewertet, die seit 1900 in den USA an Land gegangen sind.

Ihr Fazit: Die steigenden Sachschäden lassen sich mit mehr Men-

schen und mit immer teurerem Eigentum in exponierten Lagen

erklären. „Hurrikane haben in den USA statistisch betrachtet

seit 1900 nicht an Intensität oder Frequenz zugenommen“, so

die Forscher. Doch allein entlang des Atlantiks und des Golfs von

Mexiko sind seit 1970 rund 34 Millionen neue Häuser gebaut

worden. „Früher waren das bescheidene Strandhütten, jetzt sind

es riesige Villen, die im Schnitt 245 Quadratmeter Wohnfläche

haben“, sagt Klotzbach. Wenn dann eine drei Meter hohe Sturm-

flut auf die Villa mit Meerblick zurollt, nützen selbst modernste

Bauvorschriften wenig. „Der Trend zu mehr Sachschäden wird

sich fortsetzen“, warnt Klotzbach. „Solange wir dort siedeln, wo

wir nicht siedeln sollten.“ Das UN-Gremium zum Klimawandel

(IPCC) hat das Dilemma in einem Diagramm zusammengefasst.

Danach braucht ein Wirbelsturm folgendes, um zum Desaster zu

werden: extremes Wetter, eine „Exponierung“ der zerstörbaren

Infrastruktur sowie eine daraus resultierende Verwundbarkeit von

zudem schlecht vorbereiteten Menschen. So stellte sich in Hous-

ton heraus, dass zigtausende Bürger in tiefliegenden Regionen

wohnten, wo wider besserer Vernunft Häuser gebaut und zu viele

Flächen mit Beton und Asphalt versiegelt worden waren, so dass

sie die starken Regenfälle nicht absorbieren konnten. Bevor wich-

tige Dämme endgültig brechen konnten, mussten die Behörden

andere gezielt öffnen, um für Entlastung zu sorgen. Bei einem

massiven Sturm wie Harvey potenzieren sich planerische Fehlent-

scheide schnell mit unvorhergesehenen, akuten Problemen. Kata-

strophenschützer sollten deshalb möglichst alle Varianten vorher

einmal durchgespielt haben. Dabei stellt sie jeder Sturm vor eine

komplizierte Kalkulation, ob mit starken Winden, Regen oder

einer Sturmflut zu rechnen ist. Während man sich vor Wind böen

verbarrikadieren kann, sollte man vor Wassermassen fliehen.

„Dieser Teil von Texas ist ein riesiger Sumpf. Wer hier wohnt,

muss sich darauf einstellen, dass das keine kurze Schlacht, son-

dern ein langer Feldzug wird“, sagt Joseph Leonard leicht martia-

lisch. Leonard war fast drei Jahrzehnte bei der Küstenwache und

arbeitet heute als Berater für die Firma CTEH, die Unternehmen

und Kommunen auf den Fall der Fälle vorbereitet. „Entlang der

„Der Trend zu mehr Sachschäden wird sich fortsetzen“Phil Klotzbach, Hurrikan-Experte

Kaputte Karibik: Sturm Irma verwüstete

tropische Paradiese wie St. Martin

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53DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Allzeit bereit!Sich für den nächsten Sturm zu rüsten, kann zur Vollzeitbeschäftigung werden.www.draeger.com/403-53

Golfküste haben wir seit 1950 alle neun Monate eine Naturkata-

strophe. Ich selbst habe seit 1990 sechs Mal evakuieren müssen.“

Das sorgt zwangsläufig für reichlich Übung, was den Schutz von

Menschen, Industrieanlagen und anderer kritischer Infrastruk-

tur angeht. Bohrinseln etwa haben ein ausgeklügeltes Verfahren

entwickelt, das Systeme mit ein paar Tagen Vorlauf herunterfährt.

Deshalb sind größere Schäden eher selten. Chemiewerke und

andere Industrieanlagen auf dem Festland haben ebenfalls Pro-

tokolle entwickelt, um vorübergehend schließen zu können. Und

sie sind mit aufgeständerten Notstromaggregaten sowie ande-

ren Schutzvorkehrungen auf Überschwemmungen vorbereitet –

solange diese nicht wie bei Harvey historische Rekorde brechen.

Nicht alles lässt sich vorhersehenBei den Aufräumarbeiten kommen auch regelmäßig Dräger-Pro-

dukte zum Einsatz, etwa um festzustellen, ob gefährliche Substan-

zen wie Gase ausgetreten sind. Langzeit-Atemschutzgeräte sowie

Chemikalienschutzanzüge erlauben Rettern zudem, schnell und

sicher mit Gefahrgütern umzugehen und Menschenleben zu ret-

ten. Trotz aller Erfahrung und Planspiele kann man nie alles vor-

hersehen. Als Harvey ganz Houston unter Wasser setzte, fiel nicht

nur das Internet der Coast Guard aus, sondern auch das Video-

konferenzsystem zur Koordinierung der Rettungsmannschaften

und obendrein das Notrufsystem der Millionenstadt. „So lande-

ten plötzlich alle Notrufe bei der Küstenwache. Wir mussten mit

Privathandys improvisieren und unsere Frauen und Kinder Anru-

fe beantworten lassen“, erinnert sich Leonard. „Ein dreifaches

Versagen hatte ich in den Übungen nie durchgespielt. Man lernt

immer wieder dazu, bekommt einen besseren Überblick aller

verfügbaren Ressourcen und kann die Zusammenarbeit der Ret-

tungskräfte weiter verbessern.“ Bevor die nächsten Stürme an

Land fegen, sollten Kommunen und Katastrophenschützer eini-

ge grundlegende Dinge regeln, argumentieren Klimaforscher wie

Hayhoe. Das betrifft nicht nur die Fragen, wer wo bauen darf und

nach welchen Vorschriften – sondern auch Initiativen, um ausrei-

chend Grünflächen und Reservoire vorzuhalten, die eine Sintflut

auffangen können. „Wenn wir den Klimawandel nicht in unsere

langfristige Planung für Infrastruktur, Wasser, Energie und die

gesamte Volkswirtschaft einbeziehen, sind mehr Not und Leid

vorprogrammiert“, warnt Hayhoe. „Nur leider macht es sich bes-

ser, den heroischen Helfer zu spielen, als die vorsorgliche Nanny

zu sein, die den Menschen vor dem Sturm ins Gewissen redet.“

Von einer Idee hat die Fachwelt seit langem Abstand genom-

men: Stürme mit chemischen oder anderen Mitteln steuern zu kön-

nen. „Trotz vieler Fördermittel haben derartige Experimente noch

nie überzeugende Ergebnisse gebracht“, sagt Klotzbach. „Das Wet-

ter ist einfach ein paar Nummern zu groß für uns Menschen.“

Die Hurricane Hunters starten mit einer WC-130J Super Hercules (oben), um die mächtigen Wolkenwirbel von innen heraus studieren und verfolgen zu können

Flug ins Auge des SturmsDie US-amerikanische Wetterbehörde (NOAA) lässt Piloten das tun, was sie eigentlich vermeiden sollten: mitten in ein Unwetter zu fliegen. Die „Hurricane Hunters“ genannten Mitarbeiter der NOAA versuchen so, Daten über Wirbelstürme zu sammeln, zu analysieren und ihren weiteren Weg vorherzusagen. Die Teams bestehen aus Piloten, Wissenschaftlern und Meteoro-logen. Sie fliegen auf rund 3.000 Metern direkt ins Auge des Sturms und sammeln Daten aus drei Quellen: Sensoren an Bord, indirekte Daten von der Meeresoberfläche sowie punktuelle Messungen mit Hilfe von Einweg-Dropsonden, die ins Unwetter geworfen werden. Die US-Luftwaffe betreibt zehn dieser Spezialflugzeuge, zwei Maschinen fliegen für die NOAA, die im

vergangenen Jahr rund 500 Flugstunden absolvier-ten. Natürlich sammeln auch Satelliten Informationen über Wirbelstürme, sie können aber nicht deren Inneres erfassen. „Die besten Daten über einen Sturm verbergen sich nun mal im Sturm selbst“, sagt einer der Piloten.

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DRÄGERHEFT 403 | 1 / 201854

99, Ganz gleich, ob Arzt, Pfleger, Patient oder Klinikbesucher – wer Menschenleben retten will, der sollte vor allem eines tun: HÄNDE DESINFIZIEREN. Und das ist alles andere als trivial.

Text: Sascha Karberg

Die Sache mit den

Der Disco-Effekt: Das fluoreszierende Desinfektionsmittel zeigt unter UV-Licht, ob die Hände vollflächig desinfiziert wurden und damit keimfrei sind. Dort, wo keine ausreichende Desinfektion stattgefunden hat, wurde auch keine fluoreszierende Flüssigkeit verteilt. An diesen Stellen können Keime sitzen

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HYGIENE KRANKENHAUS

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999 % Regensburg hat Gold geholt. Die Rede ist nicht von einer olym-

pischen Medaille, sondern von einer Auszeichnung, die Tag für

Tag Leben rettet: Die Uniklinik der Stadt hat das Gold-Zertifi-

kat für 2018/19 der „Aktion Saubere Hände“ bekommen, die

seit zehn Jahren unter anderem vom Bundesgesundheitsminis-

terium unterstützt wird. „Das Desinfizieren der Hände ist gera-

de in Krankenhäusern eine der wichtigsten Maßnahmen, um

eine Ausbreitung gefährlicher Keime zu verhindern“, sagt Wulf

Schneider, Professor für Krankenhaushygiene an der Universität

Regensburg. Schneider ist seit 1999 am Klinikum (UKR), über-

nahm 2010 die Leitung der Krankenhaushygiene und 2017 zusätz-

lich die Professur für Krankenhaushygiene. Und so wie Trainer

Athleten auf Medaillen vorbereiten, hat Schneider die Aktion

„UKR goes for Gold“ ausgerufen. „Ein solcher Wettbewerb wie

die ,Aktion Saubere Hände‘ hilft, Ärzte und Pflegepersonal über

die üblichen Hygieneregeln hinaus zu motivieren – und ihre täg-

lichen Arbeitsabläufe noch besser und sicherer zu machen“, sagt

Schneider. Handlungsbedarf besteht genügend. Schätzungsweise

500.000 Menschen infizieren sich jedes Jahr in deutschen Klini-

ken, etwa 10.000 Patienten sterben dadurch. Denn immer häu-

figer sind die Erreger gegen einzelne oder mehrere Antibiotika

resistent, sodass Ärzte entzündete Wunden und Blutvergiftungen

kaum noch oder erst zu spät behandeln können. Eine umso wich-

tigere Rolle bekommt die Infektionsprävention.

Aufgaben auf dem Weg zum GoldstandardDie Aufgabe des Mediziners und seines Teams ist es daher, die

Krankenhäuser fit zu machen für eine nahe Zukunft, in der Ärz-

te mehr und mehr Infektionen mit gängigen Antibiotika nicht

mehr werden stoppen können. Mit Schulungen und Seminaren

allein, in denen Hygieneregeln für den Verbandswechsel oder den

Umgang mit Kathetern geübt werden, ist es dabei nicht getan.

„Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Schneider. Bes-

ser sei es, den Alltag und die Handgriffe auf den Stationen zu

sehen und direkt Feedback zu dem zu geben, was noch optimiert

werden kann. „Denn was nützt die beste Schulung, wenn sich

der Alltagstrott nicht ändert?“ Schulungen, in denen Ärzten mit

UV-Licht jene Stellen an den Händen gezeigt werden, die nicht

richtig desinfiziert wurden, seien zwar „nett, aber da dürfen

wir nicht stehen bleiben, wenn wir von Hygiene 1.0 zu 4.0 kom-

men wollen“.

Auf dem Weg zum Goldstandard müssen bestimmte Krite-

rien erfüllt werden – etwa die Verwendung zertifizierter Desin-

fektionsmittel, die die Anzahl der Keime auf der Haut oder auf

R

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KRANKENHAUS HYGIENE

56 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

einer Fläche um 99,999 Prozent reduzieren. „Mit Seife schafft

man bestenfalls 90 bis 99 Prozent“, sagt Schneider. „Ein Grund-

pfeiler der krankenhaushygienischen Versorgung ist die regelmä-

ßige Desinfektion all jener Flächen, von denen Erreger auf die

Hand und von der Hand auf Schleimhäute oder Wunden über-

tragen werden können.“ Welchen Anteil die Fläche an der Ver-

breitung von Erregern hat, ob resistent oder nicht, ist allerdings

umstritten. Schließlich müssen die Keime zur weiteren Verbrei-

tung erst von dieser Fläche zum Körper gelangen. Womit man

wieder bei der Handdesinfektion wäre. „Wenn sich das Perso-

nal vor und nach dem Patientenkontakt ausgiebig, also mindes-

tens 30 Sekunden lang, die Hände desinfiziert,

ist es eigentlich egal, was auf der Fläche ist.“

Dass sich Hygienebemühungen lohnen und kein

Selbstzweck sind, lässt sich beispielsweise an den

Neuinfektionen mit Grippeviren innerhalb einer

Klinik ablesen. Deutschlandweit liegt die Zahl

bei etwa 17 Prozent, in goldzertifizierten Kran-

kenhäusern deutlich darunter. So sehr man sich

hierzulande auch müht, den Hygienestandard zu

heben, im direkten Vergleich haben die Nieder-

lande die Nase vorn. „Das hängt mit der Organi-

sation des Gesundheitswesens zusammen“, sagt

Schneider. Bezogen auf die Bevölkerungsgröße

stünden in den Niederlanden nur 50 Prozent der

in Deutschland vorhandenen Krankenhausbet-

ten zur Verfügung. Dadurch gibt es weniger Kli-

niken, die über mehr Ressourcen verfügen, mit

denen sich die hohen Qualitätsstandards erfül-

len lassen, zu denen sich die Einrichtungen ver-

pflichtet haben – ohne dass es dazu Vorschriften

der Überwachungsbehörden gibt. „In den Nie-

derlanden wird ein Patient auf einer Intensivsta-

tion von einer Pflegekraft pro Schicht betreut“,

sagt Schneider. „Schon deshalb lassen sich die

Hygieneregeln einfacher befolgen als hierzulan-

de, wo mehrere Patienten gleichzeitig von einer

Pflegekraft betreut werden.“ In einer Stellung-

nahme „Zum Verhältnis von Medizin und Öko-

nomie im deutschen Gesundheitssystem“ emp-

fiehlt die Leopoldina, die Nationale Akademie

der Wissenschaften Deutschlands, deshalb eine Neuverteilung

der Ressourcen sowie eine Reduzierung der rund 1.900 Kranken-

häuser in Deutschland auf höchstens 500. Die verbliebenen Kli-

niken könnten sich dann beispielsweise eine eigene mikrobiolo-

gische Abteilung leisten, die in den Niederlanden längst Standard

an Einrichtungen mit Intensivstationen ist. „Wenn ich das bei

meinen krankenhaushygienischen Beratungen vorschlage, fra-

gen die Geschäftsführer, in welcher Vorschrift das stehe“, so der

Hygiene-Spezialist. „Und wenn ich dann sage, dass das nirgend-

wo steht, sondern ein selbst gewähltes Qualitätsmerkmal der Kli-

nik ist, dann heißt es meist, das könne man sich nicht leisten.“

Dabei wäre es gerade für die Diagnose und Bekämpfung resis-

tenter Keime wichtig, Mikrobiologen nicht nur für Schnelltests,

sondern auch für die Beratung und Planung des Einsatzes von

Antibiotika vor Ort zu haben.

Händedesinfektion bleibt wichtigste MaßnahmePraktikabel wäre das auch in Deutschland, anders allerdings als

das Screening neuer Patienten auf resistente Erreger. In den Nie-

derlanden kommen Patienten erst in Quarantäne, dann wird ein

Abstrich genommen und kontrolliert, ob eine Besiedlung mit pro-

blematischen Keimen vorliegt. Gesucht wird nach MRSA-Keimen,

gegen das Antibiotikum Methicillin resistente Staphylokokken.

Erst nach einem negativen Befund darf der Patient auf die Stati-

on. „In Deutschland wäre das nicht machbar – zu viele Tests, die

zu teuer sind. Aber es ist ohnehin fraglich, wie sinnvoll ein sol-

ches Massenscreening ist“, meint Schneider. Denn selbst wenn

ein Patient gefährliche Keime an oder in sich trägt: Die wichtigste

Maßnahme gegen deren Verbreitung ist und bleibt die Händedes-

infektion. Darüber hinaus gibt es nicht für alle problematischen

Erreger flächendeckend geeignete Tests. Für Bakterien vom Typ

VRE – Enterokokken, die gegen das Antibiotikum Vancomycin resistent sind und über die Tierproduktion und Nahrung in den

Darm gelangen – gibt es ebenso wenig Screeningkriterien wie für

gramnegative multiresistente Stäbchenbakterien (MRGN). „Mit

denen haben auch die Niederländer ein Problem, trotz allem.“

Die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprä-

vention (KRINKO) des zuständigen Robert Koch-Instituts in Ber-

lin setzt vor Tests zunächst auf Information. So ist es ein Qua-

litätsmerkmal für eine Klinik, wenn sie jeden ihrer Patienten

Viele Kranken-hausinfektionen lassen sich nicht vermeiden

Hände desinfizieren, aber richtig: Vor und nach dem Patientenkontakt muss sich das Krankenhauspersonal sorgfältig die Hände desinfizieren. Wie das wirksam funktioniert, zeigt diese Anleitung in acht Schritten. Wichtig ist,dass für die jeweilige Handgröße ausreichend Desinfektionsmittel verwendet wird. Für die Schritte 1-8 werden rund 30 Sekunden benötigt

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57DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

Richtig oder falsch? Rund um die Krankenhaushygiene halten sich einige Mythen hartnäckiger als mancher Keim. Hygiene-Experte Wulf Schneider klärt auf.www.draeger.com/403-57

eingangs fragt, ob er in den vergangenen Monaten mit Antibiotika

behandelt, ein Katheter gelegt, im Ausland medizinisch versorgt

wurde oder im landwirtschaftlichen Bereich arbeitet. „Wenn sol-

che Risikokriterien erfüllt sind, wird ein MRSA-Test gemacht“,

sagt der Hygiene-Experte. Ab wann ein Erreger ein Krankenhaus-

keim sei oder als eingeschleppt gelte, sei indes eine Definitions-

frage. Schlägt der Bakterientest binnen 72 Stunden nach Einlie-

ferung an, gelten die Keime per Definition als „ins Krankenhaus

verschleppt“. Das ist in etwa 90 Prozent der Fälle so, zumindest

was MRSA-Nachweise betrifft. Nur für diesen Keimtypus gibt es

hinreichend Daten. Ob die restlichen zehn Prozent der Patien-

ten, deren Infektion erst nach mehr als 72 Stunden diagnosti-

ziert wurde, sich wirklich erst in der Klinik angesteckt haben,

bezweifelt Schneider. „Die gute Nachricht ist also, dass die Über-

tragungsrate im Krankenhaus – bezogen auf die Menge – zu ver-

nachlässigen ist.“

Aber widerspricht das nicht dem Mythos, dass jede dritte

Krankenhausinfektion von anderen Patienten stamme und von

Ärzten oder Pflegepersonal übertragen wurde? „Es gibt keine

Daten, die das belegen“, entgegnet Schneider. Studien zeigen,

dass die meisten Infektionen aus der eigenen Patientenflora

stammen und nicht aus der Umgebung, weder vom Personal noch

von Nachbarpatienten. „Jede Dritte – das wäre ein Albtraum.“

Die Übertragung von Mensch zu Mensch können nicht nur Ärz-

te und Pfleger vermeiden, sondern auch Patienten, Angehörige

und sonstige Besucher. Dräger beispielsweise schult seine Ver-

triebsmitarbeiter regelmäßig in Hygienefragen, mitunter bis hin

zur VHD-Qualifikation. Die KRINKO fordert Kliniken inzwischen

auf, auch Besucher besser über die Hygieneregeln zu informie-

ren – und die Hände zu desinfizieren, bevor man das Kranken-

haus betritt, aber auch wenn man es wieder verlässt. „Das wird

vermutlich nicht der Durchbruch sein, aber schaden kann Hän-

dehygiene auch in diesem Fall nicht“, ist sich Schneider sicher.

Während in Krankenhäusern die Hände desinfiziert werden soll-

ten, reiche das Händewaschen im Alltag in der Regel völlig aus.

Damit ist allerdings nicht gemeint, zwei Sekunden Wasser über

die Hände laufen zu lassen. „Die Hände müssen nass sein, zehn

bis 15 Sekunden schäumend eingeseift und dann gründlich abge-

spült werden“, sagt Schneider. „Alles andere ist Psychohygiene.“

Die häufig geäußerte Hoffnung, dass perfekte Hygiene rund ein

Drittel aller im Krankenhaus erworbenen Infektionen vermei-

den könne, dämpft der Experte. „Diese Zahl stammt von einer

Studie aus den 1970er-Jahren, in der zwei Krankenhäuser mit-

einander verglichen wurden.“ Bei dem einen wurde das Perso-

nal auf hygienisches Arbeiten trainiert, das andere lief weiter wie

zuvor. Nach ein paar Jahren zählte man in dem Krankenhaus,

in dem für Hygiene geworben wurde, 30 Prozent weniger Infek-

tionen im Vergleich zum Startpunkt. „Heute wäre der Abstand

geringer, denn im Vergleich zu den 1970ern sind die Hygiene-

standards überall besser geworden“, so Schneider. „Außerdem

müssen wir akzeptieren, dass die meisten Krankenhausinfektio-

nen selbst bei Einhaltung der besten Hygiene nicht vermeidbar

sind.“ Der Grund ist, dass kein Mensch steril, sondern am gan-

zen Körper mit Bakterien besiedelt ist. Zwar könne man die Haut

vor einer Operation dekontaminieren, aber eben nicht sterilisie-

ren. „Das Risiko ist hoch, dass sich Patienten mit den eigenen

Erregern, etwa Staphylokokken aus der Nase, infizieren.“ Selbst

wenn Ärzte und Pfleger also alles richtig machen und jeden Gold-

standard erfüllen – auf null wird das Infektionsrisiko in Kranken-

häusern nie sinken.

Prof. Dr. Wulf Schneider forscht, lehrt und berät am

Institut für Klini-sche Mikrobiologie

und Hygiene des Universitätsklinikums

Regensburg

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INDUSTRIE NORMEN

58 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Wenn es keine INTERNATIONALEN STANDARDS gäbe, müsste man sie schleunigst erfinden. Denn ohne diese verbindlichen Normen wäre nicht nur der Alltag verwirrender, auch der Industrie würde ein effizientes Produktionsmittel fehlen.

Text: Nils Schiffhauer

Manchmal scheint alles so genormt

zu sein, dass nichts zueinander passt:

der deutsche Schuko-Netzstecker nicht in

die Dose des Konferenzraums in Shang-

hai, das Ladegerät der Kollegin nicht ans

Mobiltelefon. Und bei den Duscharma-

turen in den Hotels dieser Welt scheinen

sich Ingenieure und Designer oft gegen

den gesunden Menschenverstand verbün-

det zu haben.

Wenn sich der Ärger darüber gelegt

hat, treten umso schärfer die Segnungen

des Alltags hervor, in dem auf wundersa-

me Weise doch vieles zueinander passt:

„Solang’ das Deutsche Reich besteht, wer-

den Schrauben rechts herum gedreht“,

lautete einer der Merksprüche, die wir

heute ebenso wenig brauchen, wie wir

uns die vertikale Abfolge an Ampeln (Rot,

Gelb und Grün) bewusst machen müssen

und jedes Mal darüber staunen, wie gut

in einen Fenster-Briefumschlag ein ent-

sprechend gefaltetes DIN-A4-Blatt passt.

Genau dieses Format ist die bekanntes-

te der deutschen Industrienormen. Die

nahmen vor rund 100 Jahren mit Grün-

dung des Normenausschusses der deut-

schen Industrie am 22. Dezember 1917

ihren Anfang. Seit 1975 firmiert diese

Organisation als Deutsches Institut für

Normung (DIN) in Berlin. Mittlerweile

sind es rund 34.000 Normen, die unseren

Alltag durchdringen – und vieles leichter

machen, ohne dass man die oft langjähri-

ge Arbeit der Gremien dahinter spürt. Tho-

mas von Högen etwa befasst sich im Auf-

trag von Dräger seit vielen Jahren mit der

Normung von Chemikalienschutzanzü-

gen. „In diesem Gremium sitzen vor allem

M

des globalen Schmierstoff

die Vertreter von Herstellern, Anwendern,

Prüfinstituten und Berufsgenossenschaf-

ten“, sagt der Diplomphysiker. „Sie alle

eint das Ziel, den Arbeitsalltag sicherer zu

machen.“ Unter den Uni-Absolventen galt

dieses Thema lange als unattraktiv. „Als

ich vor vielen Jahren zum ersten Mal in

ein solches Gremium kam“, erinnert sich

von Högen, „waren das eher Altherrenver-

anstaltungen, in die Unternehmen ihre

Entwicklungsleiter schickten, die kurz vor

der Rente standen.“

Zugriff auf 700.000 StandardsDas hat sich geändert. Und so ist auch

für von Högens Kollegen, wie Carola

Mentrup, Klaus-Michael Rück und Mat-

thias Marzinko, Normungsarbeit durch-

aus ein spannender Karrierepfad, auf

dem sich vieles bewirken lässt. Sie alle

zählen zu insgesamt 32.000 Experten,

die allein in Deutschland ihre Experti-

se in den Normungsprozess einbringen –

und zu den mehreren Dutzend Mitarbei-

tern weltweit, die für Dräger in Sachen

Normung in externen Gremien im Ein-

satz sind. Nicht immer in Vollzeit, aber

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59DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

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Handels

immer mit vollem Engagement. „Man ist

viel unterwegs, fliegt auch an Wochen-

enden in attraktive Städte, von denen

man allerdings nur die Konferenzräume

sieht – das muss man mögen“, sagt Mat-

thias Marzinko. Er mag genau das und

ist im Lübecker Unternehmen zuständig

für das International Standards Manage-

ment (ISM) in der Medizintechnik. „In

unseren Datenbanken können wir rund

700.000 Normen weltweit durchsuchen,

von denen wir einige Tausend vorhal-

ten – man muss sie nämlich kaufen.“ Der

Ingenieur, der zunächst ein Medizinstu-

dium begann, dann aber sein Faible für

die Technik dahinter entdeckte, spricht

hiermit die Themen Aufwand und Nut-

zen an. Was bewegt Unternehmen, ihre

Mitarbeiter in Gremien zu schicken, die

mit einem Aufwand von oft mehreren Per-

sonenjahren eine Norm entwickeln oder

vorantreiben, die dann dasselbe Unter-

nehmen kaufen muss? Einen frühen Hin-

weis liefert ein in Sütterlin handschrift-

lich verfasster Rundbrief von Bernhard

Dräger. Darin beklagte er gegenüber sei-

nen Mitbewerbern die „bewundernswür-

DIN-Norm 477: Bis heute ist dieses von Bernhard Dräger 1895 vorgeschlagene Normal-gewinde ein Industriestandard

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60 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

dige Mannigfaltigkeit“ der Gewinde von

Verschlussventilen an Kohlensäurefla-

schen als „Krebs für die ganze Kohlen-

säure-Industrie“. Der Sohn des Firmen-

gründers hatte in seinem Brief vom 12.

November 1895 auch gleich eine Lösung

parat. Zunächst studierte er „die Größen-

verhältnisse der gangbarsten Gewinde“

und entwickelte daraus sein „Normal-

Kohlensäure-Gewinde“. Als technische

Instanz für diesen Normungsvorschlag

bat er Prof. Dr. Reuleaux aus Berlin um

dessen fachliche Meinung.

Kegelstifte: die erste NormProfessor Franz Reuleaux war der Weg-

bereiter dessen, was er „Austauschbau“

nannte. Heute spricht man von modu-

larer Technik. Bernhard Dräger kann-

te ihn, seit er als Gasthörer seine Vorle-

sungen mit Begeisterung verfolgt hatte.

Schon wenige Wochen nach der Initiati-

ve gab Professor Reuleaux dem Einheits-

anschlussgewinde „W 21,8 mm x 1/14

rechts“ durch die Veröffentlichung einer

„gutachterlichen Bewertung“ in einer

Fachzeitschrift seinen Segen. 1920 wur-

de es vom inzwischen gegründeten DIN

zur DIN 477 bestimmt – und hat bis heu-

te Bestand. Wie in einem Brennglas zei-

gen sich hier wesentliche Impulsgeber

der Normung. Die Industrie sieht durch

Normen einen größeren Markt. Sie selbst

muss die Sache fachlich in die Hand neh-

men – und einerseits einen Konsens unter

allen Interessenten finden, andererseits

eine von allen anerkannte Stelle, die die-

se Ergebnisse wie ein Notar beglaubigt

und veröffentlicht. Halten muss sich dar-

an übrigens niemand. Die Einhaltung von

Normen ist grundsätzlich freiwillig. Doch

schon ihr volkswirtschaftlicher Nutzen

von zwischen 15 und 20 Milliarden Euro

pro Jahr (allein in Deutschland) macht

die Anwendung von Normen attraktiv.

Vor allem aber bieten sie Sicherheit, da

sie den in vielen Gesetzen ganz allge-

mein geforderten Stand der Technik in

konkrete und nachprüfbare Eigenschaf-

ten umsetzen. Das dient nicht nur dem

Schutz von Menschen, sondern öffnet

auch Märkte – weltweit.

Eigentlich sind Normen ein Kind des

Ersten Weltkriegs. Sie wurden unaus-

weichlich, etwa, um das sprichwörtli-

che Maschinengewehr MG 08/15 in den

unterschiedlichen Waffenfabriken des

Deutschen Reichs in hoher Stückzahl

absolut identisch zu fertigen. Die erste

DIN vom 1. März 1918 allerdings legte

Werkstoffe und Abmessungen für Kegel-

stifte fest – konische Verbindungselemen-

te, die in entsprechende Bohrungen ein-

gebracht wurden, um Maschinenteile

zusammenzuhalten. Nicht mehr nach-

vollziehen allerdings lässt sich, wa rum

gerade das die erste Norm wurde. Da

sich Kegelstifte jedoch nicht für Verbin-

dungen eignen, auf die Erschütterungen

oder Stöße einwirken, ist der Bezug die-

ser ersten Norm auf das MG 08/15 eher

wenig wahrscheinlich und auch nicht

belegt. Heute sind Normen ohnehin vor

In Sütterlin machte Bernhard Dräger 1895 den Vorschlag für ein Normal-Kohlensäure-Gewinde. Die durchaus mit Witz vorgetragenen Argumente hatten Erfolg

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NORMEN INDUSTRIE

61DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018

Gremienarbeit hat viel mit Menschen zu tun. Ziel ist höchste Sicherheit im Konsens

allem wirksame Werkzeuge des Frie-

dens – für Sicherheit, Schutz von Perso-

nen und weltweiten Austausch. „Sie sind

so formuliert“, weiß Matthias Marzinko

von Dräger, „dass sie einerseits die maxi-

male Sicherheit nach dem Stand der

Technik fordern, sich andererseits aber

möglichst nicht auf ein Patent beziehen

und somit genügend Gestaltungsraum für

Hersteller bieten.“ Sein Kollege Thomas

von Högen ergänzt: „So schreibt die DIN

EN 443:2008 vor, dass ein Feuerwehr-

helm – nach mehrminütiger Wärmeex-

position – Temperaturen von mindestens

900 Grad Celsius für zehn Sekunden

widerstehen muss – aber nicht, aus wel-

chem Material er zu sein oder welche Far-

be und Form er zu haben hat.“ Die Arbeit

an technischen Details ist jedoch nur ein

Teil der Tätigkeit in Normungsgremien,

wie etwa Thomas von Högen als ehema-

liger Sekretär des DIN-Normenausschus-

ses Persönliche Schutzausrüstung (NPS)

weiß: „Meine Tätigkeit hatte sehr viel mit

Menschen zu tun. Ziel der Diskussionen

dort war und ist auch heute noch der Kon-

sens, bei maximaler Sicherheit der Pro-

dukte.“ Natürlich ginge es dabei gelegent-

lich auch mal profan zu. Etwa, wenn ein

Unternehmen eine von ihm entwickelte

Technologie in eine Norm gießen wollte

oder ein Prüfunternehmen den Prozent-

satz der Prüfmuster einer Serie gern ver-

vielfacht sähe. Hier ist Fingerspitzenge-

fühl gefragt, nicht nur über geografische

Grenzen hinweg.

Ziel: weltweit gültige NormenUnd auch jenseits davon erkennt man

die Kraft der Normung und treibt sie vor-

an, wo man sie nicht schon nutzt, hat

Matthias Marzinko beobachtet: „Indi-

en unternimmt derzeit große Anstren-

gungen, seine Normenarbeit zu entwi-

ckeln, China sowieso.“ Beide Länder

wissen, dass sie sich sonst vom Weltmarkt

abkoppeln – vom Export ebenso wie vom

Import. Normen sind so etwas wie der

Schmierstoff des globalen Handels. Auch

deshalb werden sie immer internationa-

ler. In Europa macht die Harmonisierung

große Fortschritte, bei der aus einzelnen

Ländernormen eine europaeinheitliche

Norm entwickelt wird. Die Digitalisie-

rung (siehe auch Seite 6 ff.) und Tele-

kommunikation lassen die Normenwelt

zu einem Dorf schrumpfen – für das Inter-

net gilt überall dasselbe Protokoll, und

auch die Zeit unterschiedlicher Handy-

standards ist vorbei. Der neue Standard

5G erfordert zudem derart hohe Inves-

titionen in Entwicklung und Infrastruk-

tur, dass die sich nur bei einem Milliar-

den von Kunden zählenden Markt lohnen.

So treibt der technische Fortschritt

die Normen an. Thomas von Högen

erlebt das gerade bei den Chemikalien-

schutzanzügen immer wieder: „Etwa,

wenn neue Substanzen auf den Markt

kommen, sich Arbeitsschutzgrenzwerte

ändern oder bestimmte Substanzen vom

Markt verschwinden.“ Ziel aller Bemü-

hungen sind weltweit gültige Normen.

Sie sind zumindest in den Branchen für

Medizin- und Sicherheitstechnik logisch,

da der Schutz des Menschen ebenfalls

universal sein sollte. „Dennoch“, sagt

von Högen, „gibt es immer wieder län-

derspezifische Anforderungen. Vielfach

haben sie eine gewisse Logik, wie etwa die

erhöhte Sicherheit gegenüber Erdbeben

in Japan. Gelegentlich haben sie jedoch

auch protektionistischen Charakter.“ Drä-

ger entwickelt seine Produkte von Anfang

an vorausschauend mit einer 360-Grad-

Sicht auf alle Normen der Welt, sodass

die Geräte sie einhalten oder gar über-

treffen – dort, wo sie in ihrem Zielmarkt

relevant sind. Seit Neuestem, ergänzt

sein Kollege Matthias Marzinko, sei Drä-

ger auch in jenen Gremien vertreten, die

darüber verhandeln, wie eigentlich Nor-

men prinzipiell entwickelt und vertrieben

werden. „Selbst heute gibt es kaum einen

Standard, wie wir ihn gerne hätten – etwa

XML-basiert. So müssen wir weiterhin

eine Reihe von Normen erst einmal in

die einzelnen Spezifikationen aufteilen,

um diese dann digital in der Produktent-

wicklung strukturiert zu berücksichti-

gen.“ Nicht zu reden von den Handrei-

chungen in Nationalsprachen, bei deren

fachsprachlich korrekter Übersetzung

dann die Kollegen vor Ort unterstützen.

In Lübeck weiterhin ChefsacheNormen sind in ihrer über 100-jährigen

Geschichte vom ungeliebten Papierkram

zur Chefsache geworden. Gelegentlich

sogar wortwörtlich, wenn jemand wie Ste-

fan Dräger, Vorstandsvorsitzender der Drä-

gerwerk Verwaltungs AG, auch Mitglied

des DIN-Präsidiums ist. Und er hat auch

eine Antwort auf die Frage, ob Normen

die hauseigenen Produkte austauschba-

rer machen: „Das führt noch lange nicht

dazu, dass wir als Lieferant ausgetauscht

werden. Wenn wir unsere vorhande-

ne Kundennähe nutzen und ausbauen,

indem wir mehr und mehr komplexe Sys-

teme liefern, dann können wir weiterhin

erfolgreich sein – und erste Wahl für den

Kunden bleiben oder werden.“

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62 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Jeder spricht von Digitalisierung. Ihre wahre Kraft schöpft sie aus der Auswertung und Verknüpfung von Daten.

Text: Frank Grünberg

BIG DATABIG DATA– Vernetzung tut not

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DATENLESE WISSENSCHAFT

63DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

PPrognosen bestimmen unseren All-

tag. Manches Grillfest wird erst nach dem

Blick auf die Wetter-App geplant. Auch

Piloten ziehen Wetterberichte zu rate.

Die Vorhersagen haben sich in den ver-

gangenen 50 Jahren deutlich verbessert

(siehe auch Seite 48 ff.). Anfänglich reich-

ten sie für drei Tage, bis heute hat sich

diese Spanne mehr als verdreifacht. Das

ist auch ein Verdienst von Big Data. Mitt-

lerweile messen Satelliten und Bodensta-

tionen weltweit regelmäßig Temperatu-

ren, Windstärken, Niederschlagsmengen

und Sonnenstunden. Rechenzentren sam-

meln diese Daten in Echtzeit, um sie zu

analysieren und zu verdichten. Durch das

wachsende Datenaufkommen werden die

Wetterberichte immer präziser. Diese Ent-

wicklung unterstützen heute auch selbst-

lernende IT-Systeme. Entscheidend hier-

für sind die Eingangsdaten. Deshalb sieht

die Big-Data-Strategie des Unternehmens

EUMETSAT vor, die Anzahl der Satelliten

so weit zu erhöhen, dass diese 99 Prozent

aller Wetterdaten direkt aus dem Welt-

all zur Erde funken können. EUMETSAT

wird von 30 europäischen Mitgliedslän-

dern finanziert. Nur noch ein Prozent soll

künftig aus den Mess- und Beobachtungs-

netzen am Boden kommen. Beim Aufbau

dieser Infrastruktur kommen der Organi-

sation offene Standards zugute. So defi-

niert die Weltorganisation für Meteoro-

logie (WMO), eine Unterorganisation der

Vereinten Nationen, die digitalen Schnitt-

stellen, über die der schnelle Austausch

meteorologischer Daten erfolgt. Die tech-

nologische Basis bietet das Internet.

Doch Big Data verspricht auch im

Gesundheitswesen allerhand Potenzial:

für bessere Befunde, Diagnosen und The-

rapien. Wer klinische, epidemiologische,

molekulargenetische und ökonomische

Daten zusammenführt, kann neues Wis-

sen zur Entstehung, Prävention und The-

rapie von Krankheiten erzeugen. Mithilfe

statistisch relevanter Vergleichsdaten lie-

ßen sich Risiken so bereits im Frühstadi-

um erkennen. Ähnlich wie in der Meteo-

rologie sind die Messstationen zahlreich

und flächendeckend verteilt: angefangen

bei Arztpraxen und Krankenhäusern bis

hin zu Patienten, die ihre Daten (Herzfre-

quenz, Blutdruck etc.) immer öfter selbst

sammeln.

Der Anfang ist gemachtDie Vernetzung bereits verfügbarer

Gesundheitsdaten hinkt den Möglichkei-

ten allerdings noch hinterher – vor allem

aufgrund datenschutzrechtlicher Beden-

ken sowie fehlender Standards für die Ver-

netzung aller medizintechnischen Gerä-

te. Der Schutz der persönlichen Daten

ist ein hohes Rechtsgut. Um einen Miss-

brauch zu verhindern, darf niemand

außer den Betroffenen darüber verfügen,

was mit ihren identitätsstiftenden Daten

geschieht. Viele Menschen aber stellen

ihre Gesundheitsdaten globalen Internet-

konzernen inzwischen freiwillig zur Verfü-

gung – ohne zu wissen, wie diese die Daten

am Ende nutzen. Das Problem: Langfristig

könnte diese Entwicklung zu einer Priva-

tisierung der Wissenschaft führen. Denn

während Unikliniken und andere öffent-

liche Einrichtungen das Potenzial von Big

Data aus datenschutzrechtlichen Grün-

den nur eingeschränkt nutzen können,

füttert die private Konkurrenz ihre Prog-

nosemodelle mit immer neuen Daten, um

sie Schritt für Schritt auf Höchstleistung

zu trimmen. So wächst ihr Vorsprung von

Tag zu Tag. Hier braucht es neue Ansätze,

wie sich Patientendaten in anonymisier-

ter Form leichter für Forschungszwecke

zugänglich machen lassen. Unabhängig

davon ist die technische Vernetzung aller

Geräte eine Aufgabe, die die Gesundheits-

branche nur gemeinsam leisten kann.

Doch wie können Daten aus unterschied-

lichen Quellen – wie Beatmungsgeräten,

Patientenakten und Gesundheitsbehör-

den – zusammenfließen, ohne dass zeit-

aufwendige Nacharbeiten erforderlich

werden? Standardisierungsinitiativen

wie die Fast Healthcare Interoperability

Resources (FHIR) sind dafür ein wichtiger

Schritt, allerdings auch nur ein Anfang.

Daten-Kooperationen über die Grenzen

von Krankenhäusern oder gar Ländern

hinweg bilden immer noch die absolute

Ausnahme.

Wer Big Data im Gesundheitswesen

zum Leben erwecken will, darf nicht in

Einbahnstraßen denken. Diese Vision

dürfte scheitern, wenn alle Beteiligten ihr

eigenes Süppchen kochen. Digitalisierung

lebt von Transparenz und Partnerschaft.

Das beginnt schon bei der Sammlung, Ver-

netzung und Analyse der Daten.FO

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Blutzuckerwert per Sensor: Immer mehr Vitaldaten lassen sich heute – oft berührungslos – mit elektronischen Sensoren erheben und sammeln

WISSENSCHAFT DATENLESE

64 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Die Entwicklungder letzten Jahre ist rasant

Bereits ein einfaches Fitness-Armband

kann bei Datenschützern und Medizinern

gemischte Gefühle auslösen. Die dazu-

gehörigen Gesundheits-Apps, die Ext-

rem- wie Freizeitsportler auf Schritt und

Tritt begleiten, können vielen Menschen

eine wertvolle Hilfe sein, heißt es in der

CHARISHMA-Studie, die die deutsche Bun-

desregierung 2016 veröffentlichte. Bei

mehr als 100.000 Apps ist es allerdings

nicht so einfach, zwischen guten und

schlechten Angeboten zu unterscheiden.

„Nötig sind klare Qualitäts- und Sicher-

heitsstandards für Patienten, medizini-

sches Personal und App-Hersteller“, raten

Experten. Umkehren wird sich der Trend

deshalb nicht. Schließlich eröffnet die

regelmäßige Kontrolle des eigenen Kör-

pers neue Optionen für die Gesundheits-

vorsorge – ganz ohne Schnitt und Nadel.

Blutzuckerwert in der AppEs ist noch nicht lange her, da führte an

einer Blutentnahme kein Weg vorbei. Für

Laktattests, mit denen Sportler ihre Aus-

dauer bestimmen, ist der Pieks ins Ohr-

läppchen nach wie vor die Regel. In ande-

ren Bereichen gibt es inzwischen immer

mehr elektronische Alternativen. Senso-

ren und Software sorgen dafür, dass Medi-

zintechnik nicht mehr unter die Haut

gehen muss und Auswertungen in Echt-

zeit vorliegen. Innovation ist nicht nur

digital, sondern auch mobil und nicht-

invasiv. Die Entwicklung der letzten Jah-

re ist rasant. Für Diabetiker etwa gibt

es inzwischen Alternativen zum Finger-

Pieks. Seit rund fünf Jahren sind Analyse-

geräte erhältlich, die den Blutzuckerwert

per Sensor scannen. Der Sensor steht mit

einem Messfühler in Kontakt, der sich mit

einer Setzhilfe einmalig unter die Haut

stechen lässt. Mittlerweile kann man die

Werte sogar per App und Smartphone

scannen.

Geringere VerweildauerIn der Intensivmedizin ist der Trend zu

mobilen, nicht-invasiven Untersuchungs-

methoden ebenfalls spürbar: Techniken

wie die Elektrische Impedanztomogra-

phie (EIT) können dabei helfen, die Zahl

von Computertomographien (CT) zu ver-

ringern – auch wenn EIT keine CT ersetzt

(siehe auch Drägerheft 402 Seite 26 ff.).

Dabei ist es nicht allein die medizinische

Perspektive, die eine enge Kopplung von

Medizintechnik und IT wünschenswert

erscheinen lässt. Auch ökonomisch spre-

chen viele Argumente für mehr digitale

Assistenz. Denn die Zahl der Patienten

wächst, die Fachkräfte dagegen werden

knapp. Laut offizieller Krankenhaus-Sta-

tistik wurden 2015 in Deutschland 2.355

Krankenhausfälle je 10.000 Einwohner

registriert, rund 29 Prozent mehr als

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65DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

Krankenhausaufenthalte von Patienten werden heute digital begleitet, ihre persönlichen wie medizinischen Daten systematisch erfasst und gesammelt. Einen therapeutischen Nutzen aber stiften die Daten nur dann, wenn sie sich problembezogen und leicht verständlich aufbereiten lassen.

Mit dem SmartPilot View (SPV) brachte Dräger 2010 eine Software auf den Markt, die relevante Parameter für die Narkosesteuerung auf dem Monitor eines Anästhesiearbeitsplatzes anzeigt. Sie informiert beispielsweise über den er-rechneten, zeitlichen Verlauf der Wirkung verabreichter Medikamente sowie über deren kombinierten Effekt. Zudem ver-deutlicht sie die Narkosetiefe als numeri-schen Wert, basierend auf Modellen zur Interaktion von Schlaf- und Schmerzmit-teln. Welchen Nutzen der SmartPilot View für die Arbeit im OP stiften kann, zeigt eine Studie eines Forscherteams am Universitätsklinikum im französischen Angers. Knapp 100 Testpersonen nah-men daran teil, die Ergebnisse wurden im November 2017 veröffentlicht. Demnach waren die Patienten, deren Hüft-OP mit Unterstützung des SmartPilot View durchgeführt wurde, nach der Narkose insgesamt stabiler als die Kontrollgruppe, die konventionell behandelt wurde. Zu-dem konnten die SmartPilot-View-Patien-ten das Krankenhaus deutlich früher ver-lassen; auch traten bei ihnen innerhalb von 30 Tagen nach der Operation weni-ger Komplikationen auf. 2011 folgte mit dem PulmoVista 500 ein Lungenfunk-tionsmonitor, der die Beurteilung der regionalen Verteilung der Ventilation erlaubt. Ärzte und Pfleger können die Wirkung von therapeutischen Maßnah-men, die über das Beatmungsgerät

Live-Einblicke in die Lunge bietet die Elektrische Impedanztomographie. Auch hier

fallen viele Daten an, die ausgewertet, gespeichert und weitergeleitet werden können

Aktive AssistentenIm OP und auf der Intensivstation lassen sich große Datenmengen immer dann gut nutzen, wenn man sie mit den Arbeitsabläufen verzahnt. Entsprechend aufbereitet können sie das Krankenhauspersonal bei Entscheidungen unterstützen und ihm sogar die Arbeit abnehmen. Welche Entwicklungen möglich sind, zeigt das aktuelle Produktportfolio von Dräger.

gesteuert werden, damit unmittelbar verfolgen und bei Bedarf korrigieren. Der PulmoVista 500 baut auf der Elektri-schen Impedanztomographie (EIT) auf, die den elektrischen Widerstand (Impe-danz) misst und somit Rückschlüsse auf die Vorgänge in der Lunge ermöglicht. Für die Messung muss dem Patienten lediglich ein Brustgurt angelegt werden.

Mit SmartSonar Sepsis stellte Dräger 2014 ein weiteres System vor, das eine Sepsis frühzeitig erkennen kann. Als funktionelle Erweiterung des Integrated Care Managers (ICM) bewer-tet die Software die aktuellen Vitaldaten eines Patienten auf Basis anerkannter Leitlinien und zeigt das Ergebnis intuitiv an. Somit hilft es dem Krankenhausper-sonal, rechtzeitig geeignete Maßnahmen einzuleiten. Mit Smart Ventilation Control (SVC) hat Dräger in 2016 sein erstes Assistenzsystem für die Beatmung im OP eingeführt. Auf dem Zeus IE, einem Anästhesiegerät, lässt sich SVC mit dem SmartPilot View sowie SmartSonar Sepsis am Arbeitsplatz des Anästhe-sisten kombinieren. SVC passt die Beatmungssteuerung nach den Vorgaben des Anästhesisten selbst-ständig an. Dafür muss dieser lediglich das gewünschte Beatmungsziel angeben. Soll die Beatmung geändert werden, zum Beispiel von einer kontrollierten Beatmung hin zu einer Spontanatmung, genügt ein Tasten-druck. Smart Ventila tion Control führt die Beatmung diesem Ziel anschließend kontinuierlich näher.

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Organische Elektronik bietet die Möglichkeit, eine Vielzahl von Sensoren zur Erhebung ganz unterschiedlicher Vitalfunktionen einfach auf die Haut zu kleben – wie dieses Pflaster

WISSENSCHAFT DATENLESE

66 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018

noch vor 25 Jahren. Dennoch ging die

Zahl der Belegungstage zurück, weil sich

die durchschnittliche Verweildauer auf

7,3 Tage halbierte. Personell rüsteten die

Krankenhäuser daher nicht auf. Die Zahl

der vollzeitbeschäftigten Ärzte und Pfleger

in Deutschland lag 1991 und 2015 stabil

bei rund 880.000.

Gerollt, gebogen oder geknicktDie kürzere Verweildauer führen Exper-

ten auf neue medizinische Verfahren

zurück, aber auch auf die Einführung von

Fallpauschalen. Fraglich ist allerdings,

wie stark sich die Verweildauer noch ver-

ringern lässt. Irgendwann droht ein Dreh-

türeffekt: Patienten, die zu früh entlas-

sen wurden, kommen schnell wieder

zurück. Fraglich ist auch, wie sich – ange-

sichts des demografischen Wandels – das

Betreuungsverhältnis entwickelt. Da die

Menschen immer älter werden, dürf-

te die Zahl der Krankenhausfälle auch

künftig steigen. Zudem nähert sich die

Babyboomer-Generation dem Rentenal-

ter. Mitte der 1960er-Jahre wurden jähr-

lich mehr als 1,3 Millionen Kinder gebo-

ren; fast zwei Drittel mehr als in 2016. Die

Informationstechnologie kann dabei hel-

fen, das demografische Problem zu ent-

schärfen und das Krankenhauspersonal

von Routine aufgaben zu entlasten.

Den nächsten Schub der Prozessau-

tomatisierung soll die organische Elek-

tronik bringen. Sie erlaubt es, aus langen

Ketten organischer Moleküle (Polymere)

elektronische Bauteile zu drucken, statt

sie in Silizium zu ätzen. Im Vergleich zu

traditionellen Computerkomponenten

sind diese Bauteile sehr leicht und las-

sen sich rollen, biegen oder knicken. Das

elektronische Pflaster könnte eine der ers-

ten Anwendungen sein. Die Idee: Um die

Vitalfunktionen von Patienten zu über-

wachen, werden flache, dehnbare Sen-

soren direkt auf die Haut geklebt. Dort

messen sie die Atem- und Herzfrequenz

und übertragen die Daten direkt an eine

medizinische Zentrale. Erste Pilotsyste-

me wurden bereits vorgestellt. Japanische

Forscher gingen im Sommer 2017 sogar

mit einem Konzept an die Öffentlichkeit,

das die Sensoren direkt mit der Haut ver-

webt. Anders als aufgeklebte Pflaster sol-

len sie sich nicht lösen und somit auch

nicht die Messergebnisse verfälschen kön-

nen. Dafür wird ein Netz aus hauchdün-

nen Golddrähten geflochten, das sich fle-

xibel an alle Bewegungen anpasst. Erste

Tests mit der gasdurchlässigen und bio-

kompatiblen elektronischen Haut seien

positiv verlaufen. Die Probanden hätten

sie gar nicht gespürt. Sollte diese Tech-

nologie den Sprung von der Vision zur

Wirklichkeit schaffen, müssten Patienten

künftig vielleicht nicht einmal mehr zum

Wechseln der Pflaster ins Krankenhaus.

Bald sollen elektronische Pflaster die Herzfrequenz und Atem-tätigkeit überwachenkönnen

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INFOS SERVICE

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Was wir beitragenEinige PRODUKTE dieser Aus gabe finden sich hier im Überblick – in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Zu jedem Produkt gehört ein QR-Code, der sich mit einem Smartphone oder Tablet scannen lässt. Danach öffnet sich die jeweilige Produkt-information. Haben Sie Fragen zu einem Gerät oder zum Drägerheft? Dann schreiben Sie uns: [email protected]

X-pid 9000/9500 Diese Kombination aus Gasmessgerät (links) und Bedieneinheit misst flüchtige organische Gefahrstoffe in der Umgebungsluft und zeigt ihre Konzentration im Milliardstelbereich an.Seite 26

CPS 7900 Chemikalienschutzanzug, der vor Industriechemikalien und anderen Gefahrstoffen schützt.Seite 33

PSS BG4 plus Bis zu vier Stunden versorgt dieses Kreislauf-Atemschutzgerät seinen Träger in toxischer Umgebung mit Atemluft.Seite 33

Perseus A500 Anästhesiegerät für optimierte Abläufe im Operationssaal. Seite 36

X-am 8000 Dieses Gaswarngerät misst bis zu sieben toxische sowie brennbare Gase, Dämpfe und Sauerstoff gleichzeitig – im Pumpen- oder Diffusionsbetrieb.Seite 40

PulmoVista 500 Elektrischer Impedanz-tomograph zur nicht-invasiven Beurteilung der regionalen Verteilung der Ventilation.Seite 65

Smart Ventilation Control Assistenzsystem zur Beat-mungssteuerung während des gesamten Operationsverlaufs.Seite 65

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Maschinelle Beatmung ist seit dem

Pulmotor von 1907, einer Erfi ndung

von Firmengründer Johann Heinrich

Dräger, eine Kernkompetenz des Hauses.

Das Oxylog VE300 setzt diese Tradition

mit einem neuen Gerät für die Notfall-

und Transportbeatmung fort. Eine große

Herausforderung bei dieser Entwicklung

lag darin, die Handhabung so einfach

wie möglich zu machen. Gespräche mit

Anwendern hatten gezeigt, dass nur

ein leichtes und einfach zu bedienendes

Gerät auch wirklich sofort mit in

den zwölften Stock genommen wird.

Natürlich stehen alle Formen der

volumen kontrollierten Beatmung, die

Unterstützung der Spontanbeatmung

sowie (mit der Option „Plus“) eine

druckunterstützte Beatmung zur Verfü-

gung. Doch es sind die Details, die das

Versprechen einer leichten Nutzung

auch wirklich einlösen. Das Oxylog

VE300 wiegt rund 1,5 kg weniger als sein

Vorgänger, was durch den Einsatz

hochwertiger und widerstandsfähiger

Werkstoffe erreicht wird. Die Schutz-

bügel 1 , die früher aus Metall waren,

wurden durch Kunststoff ersetzt. In

der Variante mit Tragesystem lässt sich

die Sauerstofffl asche 2 mittels

aufklapp barer Scharniere 3 schnell

über den Druckminderer 4 anschlie-

ßen. Das Gerät ist an der Wand des

Rettungswagens vielseitig positionierbar

und über den Tragesystemhalter auto-

matisch – zum Aufl aden des internen

Langzeitakkus 5 – am Bordstrom

an geschlossen. Mit nur einer Hand lässt

sich das Oxylog VE300 über den Schnell-

kupplungsanschluss 6 mit einer zen-

tralen Gasversorgung verbinden und

wieder lösen. Dank der schmalen,

ausbalancierten Form kann das Gerät –

mithilfe des gummierten Griffs 7 –

bequem und dicht am Körper getragen

werden. Das Gerät ist wenige Sekunden

Sicher, leicht und handlich:110 Jahre Erfahrung stecken in diesem Notfall- und Transport-

beatmungsgerät – die von Dräger sowie Anwendern aus aller Welt

nach dem Einschalten 8 betriebsbereit.

Auf dem farbigen Touch-Display 9

muss man lediglich „Erwachsener“

oder „Kind“ sowie den Beatmungstyp

auswählen und kann anschließend die

Beatmung starten. Weitere Funktionen

und Anzeigen stehen über das Display

sowie den Drehknopf 10 zur Verfügung.

Die Anzeige kann um 180 Grad gedreht

werden und ist von verschiedenen Posi-

tionen gut einsehbar. Alle beatmungs-

relevanten Daten werden automatisch

dokumentiert und lassen sich drahtlos

(via Bluetooth) oder per USB 11 auslesen.

RettendeAtemluft

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