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Wittgenstein Wittgenstein Wittgenstein Wittgenstein – eine kurze Einführung eine kurze Einführung eine kurze Einführung eine kurze Einführung 1. Leben 1. Leben 1. Leben 1. Leben Am 26. April 1889 kam Ludwig Josef Johann Wittgenstein in Neuwal- degg bei Wien zur Welt. Er war das achte und jüngste Kind von Karl und Leopoldine (geb. Kalmus) Wittgenstein. Karl war in seiner Zeit der Stahlindustrielle Österreichs, außergewöhnlich reich und ein großzügiger Kunstmäzen. Er zog sich bereits 1898 aus dem aktiven Geschäftsleben zurück und investierte einen Großteil des Vermögens in den USA. Gustav Klimmt und die Wiener Sezessionisten wurden von ihm gefördert. Ludwig hatte vier Brüder, Hans (1877–1902), Kurt (1878–1918), Rudolf (1881–1904) und Paul (1887–1961), von denen Kurt und Rudolf mit Sicherheit und Hans mit großer Wahrschein- lichkeit durch Suizid aus dem Leben schieden. Der zweitjüngste der Brüder, Paul, war Pianist, verlor im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm, übte seinen Beruf aber dennoch mit großer Willenskraft weiter aus. Maurice Ravel, Richard Strauss, Josef Labor, Franz Schmidt, Sergej Prokofjew, Benjamin Britten, Erich Wolfgang Korngold und Paul Hindemith haben in diesen Jahren Klavierwerke für die linke Hand geschrieben. Mit ihnen kehrte Paul 1921 auf das Konzertpo- dium zurück, auf dem er etwas mehr als ein halbes Jahr vor seiner Verwundung erst debütiert hatte. Ludwig hatte auch vier Schwes- tern, Hermine („Mining“, 1874–1950), die während oder kurz nach der Geburt verstorbene Dora (1876), Helene („Lenka“, 1879–1956) und Margaret („Gretl“, 1882–1958). Mit Hermine, Helene und Margaret blieb Ludwig Zeit seines Lebens eng verbunden. 1 Vater Karl (1847– 1913) stammte aus einer ursprünglich jüdischen Familie, Mutter Leopoldine (1850–1926) väterlicherseits ebenso. Ludwig wurde ka- 1 Die Schwester Hermine, mit der Ludwig besonders eng verbunden war, hat ihre Erinnerungen an Ludwig und die Familie aufgeschrieben: Iven 2006. Zu allen Mitgliedern der Familie hat Hermine Interessantes und für das Verständnis Wittgensteins zumindest indirekt Aufschlussreiches zu be- richten.

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Wittgenstein Wittgenstein Wittgenstein Wittgenstein –––– eine kurze Einführungeine kurze Einführungeine kurze Einführungeine kurze Einführung

1. Leben1. Leben1. Leben1. Leben

Am 26. April 1889 kam Ludwig Josef Johann Wittgenstein in Neuwal-degg bei Wien zur Welt. Er war das achte und jüngste Kind von Karl und Leopoldine (geb. Kalmus) Wittgenstein. Karl war in seiner Zeit der Stahlindustrielle Österreichs, außergewöhnlich reich und ein großzügiger Kunstmäzen. Er zog sich bereits 1898 aus dem aktiven Geschäftsleben zurück und investierte einen Großteil des Vermögens in den USA. Gustav Klimmt und die Wiener Sezessionisten wurden von ihm gefördert. Ludwig hatte vier Brüder, Hans (1877–1902), Kurt (1878–1918), Rudolf (1881–1904) und Paul (1887–1961), von denen Kurt und Rudolf mit Sicherheit und Hans mit großer Wahrschein-lichkeit durch Suizid aus dem Leben schieden. Der zweitjüngste der Brüder, Paul, war Pianist, verlor im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm, übte seinen Beruf aber dennoch mit großer Willenskraft weiter aus. Maurice Ravel, Richard Strauss, Josef Labor, Franz Schmidt, Sergej Prokofjew, Benjamin Britten, Erich Wolfgang Korngold und Paul Hindemith haben in diesen Jahren Klavierwerke für die linke Hand geschrieben. Mit ihnen kehrte Paul 1921 auf das Konzertpo-dium zurück, auf dem er etwas mehr als ein halbes Jahr vor seiner Verwundung erst debütiert hatte. Ludwig hatte auch vier Schwes-tern, Hermine („Mining“, 1874–1950), die während oder kurz nach der Geburt verstorbene Dora (1876), Helene („Lenka“, 1879–1956) und Margaret („Gretl“, 1882–1958). Mit Hermine, Helene und Margaret blieb Ludwig Zeit seines Lebens eng verbunden.1 Vater Karl (1847–1913) stammte aus einer ursprünglich jüdischen Familie, Mutter Leopoldine (1850–1926) väterlicherseits ebenso. Ludwig wurde ka-

1 Die Schwester Hermine, mit der Ludwig besonders eng verbunden war, hat ihre Erinnerungen an Ludwig und die Familie aufgeschrieben: Iven 2006. Zu allen Mitgliedern der Familie hat Hermine Interessantes und für das Verständnis Wittgensteins zumindest indirekt Aufschlussreiches zu be-richten.

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12 Wittgenstein – eine kurze Einführung

tholisch getauft und auch – auf Initiative seiner Schülerin Elizabeth Anscombe – in Cambridge so beerdigt. Das Leben der Familie drehte sich vornehmlich um Musik, Literatur und die Bildenden Künste. Ludwig verehrte Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Bruckner und Labor. Er war, wie es im Erinnerungsband seiner Schwester Hermine heißt, kein Vielleser, aber was er las, habe er sehr gründlich gelesen.2 Seine Lieblingsschriftsteller waren Eduard Mörike, Gottfried Keller und Johann Peter Hebel, aber auch Lessing, Goethe, Schiller und Hölderlin. Nicht weniger vertraut war er mit Kierkegaard, mit dem Aphoristiker Lichtenberg, mit Schopenhauer, mit Lenau, Nest-roy, Grillparzer und anderen österreichischen Schriftstellern und Dichtern, ebenso auch mit Tolstoi und Dostojewski. Mancher dieser Autoren hatte einen erkennbaren Einfluss auf Ludwigs Lebensent-scheidungen, Tolstoi etwa auf seinen Verzicht auf das ererbte Ver-mögen und die Wahl des Lehrerberufs nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. In den Häusern der Familie, im prachtvollen Palais in der Alleegasse in Wien, in der Villa in Neuwaldegg und im Familiengut Hochreith in Niederösterreich, fand der junge Ludwig in gut ausges-tatteten Bibliotheken jede nur wünschenswerte und anregende Lek-türe. Kunst und Kultur waren für die Wittgensteins keine der Zer-streuung dienenden Konsumgüter jenseits ihres Alltags, sondern Teil ihres täglichen Lebens. Im Wiener Palais führten die Eltern ein gro-ßes Haus, in dem einige der bedeutendsten Künstler der Zeit ein und aus gingen, in dem viel musiziert, gelesen und diskutiert wurde. Ludwig wuchs in dieser Kultur auf, in der nur die höchsten Ansprü-che und Maßstäbe galten. Die spätere Kompromisslosigkeit, mit der er sich und seine Arbeit, aber auch seine Zeitgenossen, seine Schüler und Freunde beurteilte, ist angesichts dieser frühen Prägung kaum überraschend. Entsprechendes gilt für die Sicherheit, mit der er Zeit seines Lebens nicht nur in Sachen Kunst urteilte und seine Entschei-dungen traf. Eines der zahlreichen Opfer dieser – begründeten oder willkürlichen – Entschiedenheit war Gustav Mahler, dessen Komposi-tionen – wie er meinte – „nichts wert“ (VB, 544)3 seien. Es lassen sich andere Beispiele dieser Meinungsstärke und eigenwilligen Entschie-denheit nennen. Sigmund Freud, Oswald Spengler, Karl Kraus und

2 Ebenda, 38. 3 Eine Übersicht über die Abkürzungen ist am Ende des Buches zu finden.

Für häufig benutzte Wittgensteintexte werden die dort angegebenen Ab-kürzungen verwendet. Auf andere Wittgenstein-Quellen wird in der Form „Wittgenstein, Titel, Seite“ verwiesen.

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1. Leben 13

Albert Einstein seien „nicht groß“, weil jemand „um so weniger groß sei“, „je weniger sich Einer selbst kennt, …, wie groß auch sein Talent sein mag“ (VB, 516). Auch in Fragen des Geschmacks urteilte er ohne zu zögern, wenn er etwa feststellte: „Was hübsch ist, kann nicht schön sein“ (VB, 509). Äußerungen dieser Art finden sich zwar in Aufzeichnungen des Erwachsenen, sie entsprechen aber der charak-terlichen Prägung, der Mentalität und Lebenseinstellung, die er sich zu Hause erwarb. Wittgenstein war bei alledem ein scheuer, zurück-haltender, immer wieder von starken Selbstzweifeln geplagter Mensch.

Unterrichtet wurde Wittgenstein so wie seine Geschwister zu-nächst von Hauslehrern.4 Erst 1903, als Vierzehnjähriger, wurde er in eine Oberrealschule in Linz geschickt. Dort erwarb er nach drei Jah-ren die Matura und nahm anschließend in Berlin-Charlottenburg, an der dortigen Technischen Hochschule (heute Technische Universi-tät) im Wintersemester 1906 ein Studium der Ingenieurwissenschaf-ten auf. Lieber als nach Berlin wäre er zum Studium nach Wien, und zwar zu Ludwig Boltzmann, gegangen, dessen Schriften er bereits kannte. Boltzmann hatte sich aber 1906 das Leben genommen. In Berlin wohnte er bei einer Professorenfamilie (Jolles) und nahm rege am Musikleben der Stadt teil. Bereits im Mai 1908, also nach drei Semestern, erhielt er sein Abgangszeugnis und wechselte an das College of Technology in Manchester. Hier erst schloss der scheue junge Mann Freundschaften mit anderen Studenten und fand bei den Versuchen mit flugtechnischen und aeronautischen Geräten das, was ihn ingenieurwissenschaftlich interessierte. Er hatte sein von Bolt-zmann angeregtes Interesse an theoretischen Fragen aber nicht vergessen und begann, sich in Manchester, angeleitet durch den dort lehrenden Philosophen Samuel Alexander, für die Grundlagen der Mathematik zu interessieren. Besonders die Russell’sche Antinomie hatte es ihm angetan. Er machte sich auch gleich daran, sie zu lösen, ohne dass das Ergebnis allerdings überliefert wäre.

In Manchester las er, angeregt durch den Dozenten und späteren Professor für Mathematik in Cambridge, J. E. Littlewood, Bertrand Russells Principles of Mathematics, erstmals erschienen im Jahre 1903.

4 Hermine sieht in ihren Erinnerungen die Erziehung durch eine Kinderfrau und diverse Hauslehrer sehr kritisch. Sie hätte öffentliche Schulen vorge-zogen. Offenbar hatte sich Vater Karl mit seinen Vorstellungen von schuli-scher Erziehung ähnlich durchgesetzt, wie in allen anderen Belangen (Iven 2006, 20 f.).

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Diese Lektüre machte ihn wohl auf Gottlob Frege aufmerksam. Jeden-falls las er in dieser Zeit dessen Grundgesetze der Arithmetik (1893), die ihn so sehr beeindruckten, dass er Verbindung zu dem in Jena leh-renden Mathematiker aufnahm. Anlässlich dieses ersten Besuchs in Jena (1911) hat ihm Frege vermutlich geraten, sein Studium bei Rus-sell in Cambridge fortzusetzen. Eben dies tat Wittgenstein dann im Frühjahr 1912 als Student des Trinity College, an dem auch Russell lehrte. Die Verbindung zu Russell wurde rasch persönlich und inten-siv. Russell war sich anfänglich über Wittgensteins wahre Begabung nicht im Klaren, sah dann aber bald dessen überragendes Talent. Wittgenstein diskutierte beinahe täglich mit Russell über Fragen der Logik.5 Außerdem hörte er zu Beginn seines Studiums auch Vorle-sungen über Psychologie bei G. E. Moore. Nach dem Ende des Winter-Trimesters (Michaelmas Term) reiste er regelmäßig nach Wien. Os-tern und den Sommer verbrachte er entweder in Neuwaldegg oder auf der Hochreith, immer in Verbindung mit Russell und in Arbeit an Fragen der Logik. Den Sommer 1913 verbrachte er erstmals, gemein-sam mit seinem Freund David Pinsent, in Norwegen. Das Ergebnis der dortigen Arbeit, das unter dem Titel Notes on Logic überlieferte Ma-nuskript, trug er nach seiner Rückkehr Russell vor. Es zog Wittgens-tein im Frühjahr 1914 wieder nach Norwegen, und zwar nach Skjol-den am Sogneford. Dort ließ er sich eine Hütte bauen, in der er auch später viel Zeit verbrachte, um in Ruhe arbeiten zu können. Er will in dieser Zeit Russells Typentheorie in den Principia Mathematica um-schreiben und von Unklarheiten und Fehlern befreien. Immer deutli-cher zeichnete sich ein Dissens mit Russell in allen wesentlichen Fragen von Philosophie und Logik ab. Russell nahm diesen Dissens außerordentlich ernst. In seiner Autobiographie schreibt er, dass ihm Wittgensteins Kritik das Gefühl versagt zu haben vermittelt habe.6 Im Sommer 1914 enden die Jahre des Studiums in Cambridge, ohne dass Wittgenstein den Bachelor of Arts erworben hätte.

Unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Wittgenstein als Freiwilliger zur Österreichischen Armee. Er wurde Artillerist auf einem Boot, das als Wachschiff auf der Weichsel einge-setzt war. Wie die Tagebücher zeigen, war diese Zeit wegen des schwierigen Zusammenlebens mit den anderen Soldaten, aber auch wegen der teilweise heftigen Kämpfe, lebensbedrohlich, beschwer-

5 Russell berichtet darüber in seiner Autobiographie (Russell 1967, u. a. 282). 6 Ebenda, 302.

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1. Leben 15

lich und deprimierend. 1916 wurde er nach Galizien versetzt und wegen seiner Tapferkeit immer wieder befördert. In dieser Zeit fand er zufällig Tolstois Erläuterungen zu den Evangelien, ein kleines Buch, das ihn sein Leben lang begleitete, weil es offenbar seinen religiösen Empfindungen nahe kam. Die Tagebücher der Kriegszeit der Jahre 1914 und 1915 enthalten wesentliche logische und sprachphilosophi-sche Überlegungen, die für den Tractatus bedeutsam wurden. Die Tagebücher gegen Ende des Krieges (1916/17) beschäftigen sich dagegen v. a. mit religiösen und ethischen Themen, aber auch mit dem Solipsismus. In Olmütz traf er seinen späteren Freund, den Architekten und Loos-Schüler Paul Engelmann, der ihn Ende der 20er Jahre ermunterte, das Haus seiner Schwester Gretl in der Kund-manngasse in Wien zu bauen. Engelmann war wie Wittgenstein mu-sisch begabt und an den ethischen und religiösen Fragen interessiert, die in den Tagebüchern behandelt werden. Ende 1916 wurde Witt-genstein erneut an die Ostfront versetzt, dann im Frühjahr 1918 nach Italien, wo er nach schweren Kämpfen erneut ausgezeichnet wurde und Anfang 1919 in Gefangenschaft geriet. Während eines Erho-lungsurlaubs vor der Gefangenschaft vollendete er die Logisch-philosophische Abhandlung, besser bekannt unter dem Titel Tractatus logico-philosophicus. Eine der Abschriften dieses Textes schickte er an Frege, eine andere an Russell. Beide konnten mit dem Text nicht allzu viel anfangen. Russell vermutete, dass Wittgenstein zum Mysti-ker geworden war. Russell schrieb zwar für die spätere Veröffentli-chung eine ausführliche Einleitung7, die Wittgenstein aber nicht akzeptierte. Nach einigen Enttäuschungen auf der Suche nach einem Verleger druckte die von Wilhelm Ostwald edierte Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie 1921 den Text mit vielen Mängeln. Im Jahr darauf erschien bei Routledge & Kegan Paul (London) eine deutsch-englische Ausgabe. Der Logiker Frank Ramsey, mit dem Wittgenstein kurze Zeit später Freundschaft schloss, hatte einen Großteil des Textes ins Englische übertragen. G. E. Moore hatte für diese Ausgabe den an Spinoza erinnernden Titel Tractatus logico-philosophicus vorge-schlagen. In dieser Zeit (1922) war Wittgenstein bereits Volksschul-lehrer in Niederösterreich. Ramsey besuchte ihn dort im November 1923 und berichtet von dessen einfachem und sparsamem Leben. 1926 gab Wittgenstein den Lehrerberuf wieder auf. Äußerer Anlass

7 Nachzulesen in der von B. F. McGuinness u. J. Schulte herausgegebenen Kritischen Edition des Tractatus (siehe Kritische Edition, 258–287).

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16 Wittgenstein – eine kurze Einführung

war, dass er eine seiner Schülerinnen so sehr körperlich gezüchtigt hatte, dass ihm eine Disziplinarmassnahme drohte. Wittgenstein war aber unabhängig von diesem Vorfall als Lehrer nicht glücklich. So sehr er sich um seine Schüler mühte, so sehr blieb er deren Eltern und den eigenen Kollegen fremd.

Im Herbst 1926 begann Wittgenstein, zunächst gemeinsam mit Paul Engelmann, der den ersten Entwurf gezeichnet hatte, am Bau des Hauses für seine Schwester Gretl (verheiratete Stonborough) zu arbeiten. Gleichzeitig traf er erstmals mit den Philosophen des Wie-ner Kreises (Schlick, Waismann, Carnap, Gödel, Feigl, Neurath u. a.) zusammen, nahm aber an deren regelmäßigen Sitzungen und Diskus-sionen nicht teil. Während sich mit Schlick und Waismann ein ver-trauensvolles Verhältnis entwickelte, blieb ihm Carnap und dessen Art zu denken und zu argumentieren fremd. Nach Abschluss der Bauarbeiten am Haus seiner Schwester reiste Wittgenstein nach Cambridge. Was zunächst als Urlaub gedacht war, veränderte seinen Lebensweg. Er blieb mit längeren und kürzeren Unterbrechungen, meistens um in Ruhe arbeiten zu können (u. a. in Norwegen und Irland) bis zu seinem Lebensende dort. Für den Tractatus erhielt er am 6. Juni 1929 den Doktortitel. Er wurde von Russell und Moore mündlich geprüft. In den beiden letzten Trimestern des Studienjah-res 1929/30 begann seine Lehrtätigkeit in Cambridge und Ende 1930 wurde er Fellow des Trinity College. 1939 verlieht ihm die Universität – in der Nachfolge von G. E. Moore – die Professur für Philosophie, im selben Jahr wurde er britischer Staatsbürger. In Cambridge begegne-te er seinen wichtigsten Freunden und Kollegen. Sein Austausch und seine Begegnungen mit G. E. Moore und dem Ökonomen Piero Sraffa, mit seinen Schülern und Freunden Maurice O’Connor Drury, Francis Skinner, Alice Ambrose, Margaret Macdonald, Rush Rhees, Norman Malcolm, Casimir Lewy, Yorick Smythies und Elizabeth Anscombe waren für Wittgenstein von unschätzbarer Bedeutung. 1947 gab er die Professur auf und zog sich bis 1949 nach Irland zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg besuchte er auch wieder regelmäßig seine in Ös-terreich lebenden Angehörigen. Am 29. April 1951 starb Wittgenstein in Cambridge an Krebs.

2. Werk2. Werk2. Werk2. Werk

Wittgensteins Nachlass umfasst etwa 30 000 Manuskriptseiten in unterschiedlichen Formaten und mit vielen Dubletten. Verglichen

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2. Werk 17

mit den mittlerweile publizierten Texten (siehe Literatur) bedeutet dies, dass ein großer Teil seines Werkes zumindest in Buchform noch immer unveröffentlicht ist. In den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod war es üblich, zwischen dem frühen und dem späten Wittgens-tein zu unterscheiden. Die Eckpunkte bildeten dabei einerseits der Tractatus andererseits die Philosophischen Untersuchungen. Dieses Werkverständnis setzte eine schroffe Trennung der frühen, bis zur Veröffentlichung des Tractatus (1921) reichenden von der späten, etwa 1929 einsetzenden Schaffensperiode voraus. Die Gründe, die für diese Periodisierung sprechen, wurden von Wittgenstein in seinem Vorwort zu den Philosophischen Untersuchungen, die von den Nach-lassverwaltern G. E. M. Anscombe, G. H. von Wright und Rush Rhees 1952 ediert wurden, selbst vorgegeben. Er spricht von „schweren Irrtümern“ (WW 1, 232) in seinem ersten Buch. Andererseits sagt er aber auch, dass mit der gemeinsamen Veröffentlichung der beiden Werke die „ältere Denkweise ihre rechte Beleuchtung erhalten könn-te(n)“ (ebenda). Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass das Ältere falsch ist. Die methodische Diskontinuität zwischen der konstrukti-ven Logik und Metaphysik des Tractatus und der therapeutischen Sprachphilosophie der Philosophischen Untersuchungen sind unüber-sehbar. Dennoch gibt es auch eine Kontinuität von Fragen und The-men. Unübersehbar ist die Kontinuität etwa im Hinblick auf den therapeutischen oder auch den anti-skeptischen Charakter der Phi-losophie. Schon im Tractatus sieht Wittgenstein im Verschwinden eines Problems dessen Lösung (TLP 6.521), und schon hier hält er den Skeptizismus für ähnlich unsinnig (TLP 6.51) wie später in Über Ge-wißheit (z. B. ÜG, §220). Ebenso deutlich ist die Kontinuität auch im Hinblick auf die Beseitigung von Scheinbegriffen und Scheinproble-men und den Gedanken der Philosophie als Sprachkritik (TLP 4.0031; PU, §119). Auch sein Interesse an religiösen Fragen und seine Skepsis gegenüber dem sog. Fortschritt und der vorherrschenden wissen-schaftlichen Weltanschauung durchziehen sein gesamtes Werk. Dasselbe gilt für seine Skepsis gegenüber der philosophischen Bedeu-tung, die der ersten Person Singular, dem Ich, seit Descartes beige-messen wird. Selbst die Überzeugung, dass die Bedeutung sprachli-cher Ausdrücke von ihrem Gebrauch abhängig ist, findet sich nicht erst im Spätwerk, sondern schon im Tractatus (z. B. TLP 3.262).

Einem sowohl die Diskontinuität als auch die Kontinuität berück-sichtigenden Verständnis des Gesamtwerks kommt eine Einteilung des Werks in drei Perioden entgegen, eine frühere (1913–18), eine mittlere (1929–38) und eine späte (1938–51). Die frühe enthält die von

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Wittgenstein selbst immer so genannte Logisch-philosophische Abhand-lung samt deren Vorarbeiten und Vorstufen, besonders dem sog. Prototractatus. Den besten Eindruck dieser Periode vermittelt die von Brian McGuinness und Joachim Schulte herausgegebene Kritische Edition des Tractatus. Die mittlere Periode schließt Texte wie die Be-merkungen über logische Form, den Vortrag über Ethik, die Philosophi-schen Bemerkungen, das Big Typescript, die Philosophische Grammatik, das Blaue und das Braune Buch ein. Nach 1938, einige meinen nach 1936, entstanden die Philosophischen Untersuchungen, die Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, die Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, die Bemerkungen über Farben und Über Gewißheit. Die eben genannten Texte gehören mehrheitlich zur Werkausgabe, die 1984 im Suhrkamp Verlag in Frankfurt erschien.

Die eben beschriebene Periodisierung des Gesamtwerks in drei Phasen wird nicht von allen Interpreten geteilt. Abweichende An-sichten gibt es vor allem zur Entstehung der Philosophischen Untersu-chungen. Der auf G. H. von Wright zurückgehende sog. „standard view“ besagt, dass die Arbeiten an diesem Text 1936 begannen und 1946 abgeschlossen wurden. Der Datierung des Beginn der Arbeiten widersprechen eine Reihe von Interpreten, die aus dem Nachlass sowohl Argumente für einen fünf Jahre früheren als auch für einen vier Jahre späteren Beginn jener Schrift fanden.8 Auch Joachim Schulte, der für die dreiphasige Periodisierung und für 1936 als Be-ginn der Arbeiten an den Philosophischen Untersuchungen plädiert, meint, dass Wittgenstein seit seiner Rückkehr nach Cambridge 1929 an diesem Werk geschrieben habe.9 Er stellt außerdem fest, dass es gute Gründe dafür gebe, Über Gewißheit von den übrigen Texten des Spätwerks zu trennen und „als Neuansatz“ zu werten.10 Was die Entstehung der Philosophischen Untersuchungen angeht, fordert etwa Josef G. F. Rothhaupt auch nach der von Joachim Schulte 2001 he-rausgegebenen Kritisch-genetischen Edition (sog. Bielefelder Edition) ein entschiedenes Umdenken.11 In seiner kürzlich vollendeten Mün-chener Habilitationsschrift argumentiert Rothhaupt für sechs Werk-phasen in Wittgensteins Spätwerk. Die erste (1929–1933) habe er in der eben erwähnten Schrift bereits kritisch analysiert. Rothhaupt

8 Kritiker des „standard view“ sind u. a. S. Hilmy, M. ter Hark, C. Sedmak, M. Kroß u. J. G. F. Rothhaupt (siehe Literatur).

9 Schulte 2005, 86. 10 Ebenda, 55. 11 Rothhaupt 1999, 196–203 u. Rothhaupt 2006, 278–280.

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2. Werk 19

kommt dabei zu einer Fülle neuer Einsichten und macht deutlich, dass die bisherigen Vorstellungen zu Wittgensteins Werkentwick-lung an vielen Stellen nicht nur philologisch, sondern auch im Blick auf die Entwicklung seines Denkens zu korrigieren sind.12

2.1 Der Tractatus

Äußerlich gesehen ist der Tractatus, die einzige von Wittgenstein selbst publizierte Schrift13, eine Sammlung von numerisch aufgebau-ten Sätzen und Textstücken. Mit ganzen Zahlen von 1 bis 7 werden jeweils Themenbereiche wie „Welt“ (1), „Tatsache“, „Sachverhalte“ (2), „logisches Bild“, (3), „Gedanke“, „sinnvoller Satz“ (4), „Satz“, „Wahrheitsfunktion“, „Elementarsatz“ (5), „allgemeine Form der Wahrheitsfunktion“, „allgemeine Form des Satzes“ (6), „Schweigen“ (7) bezeichnet. Die sich an die Sätze 1 bis 6 anschließenden Sätze repräsentieren eine doppelte Hierarchie, eine äußere numerische und eine inhaltliche. Die äußere Hierarchie der sich an die einfachen Zahlen anschließenden Textstücke entsteht durch weitere numme-rierte Stellen (z. B. 1.1, 2.01. 3.001, 4.001 etc.). Diejenigen, die mit mehr Stellen nummeriert sind, z. B. die Sätze 4.0311 und 4.0312, er-läutern und vertiefen die vorausgehenden mit weniger Stellen, in diesem Fall die Sätze von 4.031. Die durch Zahlen ausgedrückte Hie-rarchie entspricht aber auch einer inhaltlichen. Es wäre zwar falsch zu meinen, die Sätze mit weniger Ziffern seien wichtiger als diejeni-gen mit mehr Ziffern. Die einfacheren Nummern enthalten aber definitionsartige Aussagen wie „Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen“ (TLP 2.01), „Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke“ (TLP 3), „Der Gedanke ist der sinnvolle Satz“ (TLP 4) oder „Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze“ (TLP 5). Auf der Grundlage dieser, wie Definitionen zu gebrauchenden Aussagen, entsteht das System14 von Sätzen, das den Tractatus zu einem der wichtigsten Texte der modernen philosophischen Logik

12 Rothhaupt 2008. 13 Die Schwierigkeiten, einen Verleger zu finden, schildere ich in: Vossen-

kuhl 2003, 60 ff. 14 V. Mayer hat dieses System in ihrem Beitrag „Der Tractatus als System“

überzeugend beschrieben und interpretiert, in: Vossenkuhl 2001, 11–33.

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20 Wittgenstein – eine kurze Einführung

macht. Ohne die Definitionen ist der Text weder inhaltlich noch systematisch verständlich.

Wittgenstein gebraucht für die einzelnen Themenbereiche nicht die herkömmlichen Bezeichnungen wie „Ontologie“, „Sprachphilo-sophie“, „Urteilslehre“, „Erkenntnistheorie“, „Metaphysik“ oder „Logik“. Zu diesen Bereichen enthält der Tractatus dennoch wichtige und höchst eigenwillige Überlegungen. Der Anzahl der Nummern nach kurz vor der Mitte des Textes steht eine seiner zentralen Aus-sagen:

Die Möglichkeit des Satzes beruht auf dem Prinzip der Vertre-tung der Gegenstände durch Zeichen. – Mein Grundgedanke ist, daß die ‚logischen Konstanten‘ nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt (TLP 4.0312).

Im Ausgang von dieser Textpassage sollen im Folgenden einige Grundüberlegungen des Tractatus klar werden. Die rätselhaft klin-gende Passage wird verständlich, wenn die Begriffe im Zusammen-hang gesehen werden. Die sog. Bildtheorie des Tractatus und mit ihr die besondere Verbindung von Logik und Ontologie stehen im Mit-telpunkt der folgenden Erläuterungen. Sie sollen auch Hinweise darauf geben, wo sich Wittgensteins Logik von derjenigen Freges und Russells unterscheidet.

Gegenstände oder Dinge werden im Tractatus in Sätzen durch Na-men oder Zeichen vertreten. Gegenstände können nur genannt wer-den. Durch Sätze – nicht durch Gegenstände – erfahren wir etwas über die Welt, und Sätze bilden Tatsachen oder mögliche Sachverhal-te, aber keine Gegenstände ab. Nur Sätze, aber nicht Gegenstände oder Namen können – wie schon Frege lehrte – wahr oder falsch sein. Für Wittgenstein besteht die Welt, wie wir sie verstehen können, nicht aus Gegenständen, sondern aus Tatsachen und diese wiederum sind für ihn bestehende Sachverhalte. Sachverhalte allgemein sind mögliche Verbindungen von Gegenständen (TLP 2.01). Von diesen Verbindungen machen wir uns Bilder (TLP 2.1), deren Elemente wiederum die Gegenstände sind, und diese Bilder sind Tatsachen. Wenn es sich um komplexe Verbindungen von Gegenständen als Elementen handelt, spricht Wittgenstein von Sachlagen. Sachverhalte werden durch einfachste Sätze, sog. Elementarsätze beschrieben. Wie diese zu verstehen und miteinander verbunden sind, werden wir gleich sehen. Man könnte nun in konstruktivistischer Manier mei-nen, da wir uns Bilder der Tatsachen machen, dass auch die Gegens-

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2. Werk 21

tände als deren Elemente von uns gemacht sind. Dann hätte die Welt aber, wie Wittgenstein im Tractatus annimmt, keine unzerstörbare Substanz. Die Substanz ist für ihn aber das, „was unabhängig von dem was der Fall ist, besteht“ (TLP 2.024). Sie kann demnach weder kontingent noch konstruiert sein, obwohl wir uns Bilder der Tatsa-chen machen. Dementsprechend können auch die Gegenstände we-der kontingent noch konstruiert sein, da sie die Substanz der Welt bilden (TLP 2.021). Außerdem dürfen die Gegenstände als Substanz der Welt nicht zusammengesetzt, sondern nur einfach sein (TLP 2.02). Wittgenstein liefert für die Einfachheit der Gegenstände und ihre Substantialität ein Argument, und zwar ein indirektes: „Hätte die Welt keine Substanz, so würde, ob ein Satz Sinn hat, davon ab-hängen, ob ein anderer Satz wahr ist“ (TLP 2.0211). Und gleich an-schließend: „Es wäre dann unmöglich, ein Bild der Welt (wahr oder falsch) zu entwerfen“ (TLP 2.0212).

Das Argument ist so zu verstehen: Da die letzte Vermutung falsch ist, – denn es ist möglich, ein wahres oder falsches Bild der Welt zu entwerfen, – kann es auch nicht wahr sein, dass die Welt keine Subs-tanz hat. Damit ist auch indirekt bewiesen, dass die Gegenstände einfach sind. Für diese weitergehende, nicht unmittelbar verständli-che Folgerung können wir wiederum zwei Versionen jenes indirek-ten Arguments anführen, eine ontologische und eine analytische. Die ontologische Version ist: Angenommen, die Welt bestünde nur aus komplexen Gegenständen, dann wären auch diejenigen Gegenstände komplex, aus denen ein Gegenstand zusammengesetzt ist. Würden wir nun einen Sachverhalt mit einem Satz beschreiben, in dem komplexe Gegenstände und ihre Beziehungen untereinander an-geordnet sind, würde jeder Name dieses Satzes für jeweils einen komplexen Gegenstand stehen. Die Verbindung eines Namens zu einem komplexen Gegenstand kann aber fehlschlagen, wenn der Gegenstand z. B. nicht existiert. Der besagte Satz wäre aber nur dann sinnvoll, wenn die komplexen Gegenstände, die er beschreibt, tat-sächlich existieren würden. Der Satz wäre also nur sinnvoll, wenn – wie in TLP 2.0211 gefordert – ein anderer Satz wahr wäre, nämlich derjenige, der die Existenz der komplexen Gegenstände behauptet. Die analytische Version dieses Arguments ist: Wenn, wie es in TLP 2.0201 heißt, jede Aussage über Komplexe in eine über deren Be-standteile zerlegt werden kann, indem die Aussage in Sätze zerlegt wird, welche die Komplexe „vollständig beschreiben“, wäre eine vollständige Beschreibung unmöglich. Es würde ein infiniter Regress drohen, weil den Komplexen keine einfachen Gegenstände zugrunde

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22 Wittgenstein – eine kurze Einführung

lägen. Nehmen wir, um dies zu erläutern, – angelehnt an den Protot-ractatus (2.02) – einen Satz ϕ(a) mit a als Symbol für den Komplex an. Dann kann a aus x und y bestehen, die zueinander im Verhältnis R stehen, sofern a existiert. ϕ(a) besagt zweierlei, einmal, dass der Komplex aus den Gegenständen x und y mit der Eigenschaft ϕ be-steht, zum anderen dass das Verhältnis zwischen x und y R ist. Insge-samt hieße dies, dass ϕ(a) aus dieser Konjunktion besteht: ‚ϕ(x).ϕ(y).xRy‘. Wenn nun aber ϕ(x) und ϕ(y) selbst wieder Komplexe sind, wäre jene Konjunktion nicht das Ende der Analyse. Sie müsste vielmehr endlos weitergeführt werden, wenn es keinen für jeden Gegenstand allein stehenden Namen als Urzeichen (TLP 3.26) gäbe. Beide Versionen des indirekten Arguments zeigen, dass es einfache Gegenstände gibt.

Bereits diese kurze Darstellung eines Aspekts der Bildtheorie zeigt, dass das, was Wittgenstein unter ‚Gegenständen‘ versteht, nicht der üblichen Auffassung von Gegenständen als kontingenten, materiellen Gegebenheiten entspricht. Vielmehr haben die Gegens-tände des Tractatus keine materiellen Eigenschaften, sondern als Substanz der Welt eine feste Form (TLP 2.022 bis 2.0232), und diese Form ist logischer Natur. Wittgenstein kann dementsprechend sa-gen, die Substanz sei Form und Inhalt (TLP 2.025). Er hebt die Form-Inhalt-Differenz auf und überbrückt damit den Dualismus zwischen Ontologie und Logik. Nebenbei bemerkt werden damit auch alle Versuche überflüssig und fragwürdig, die wie Freges Begriffsschrift oder Russells Typentheorie quasi nachträglich eine Verbindung zwischen Ontologie und Logik herstellen wollen. Wittgenstein hält die Typentheorie für zirkulär (Prototractatus 5.25–5.2523), weil die Form, der formale Begriff bzw. die Satzvariablen für nichts anderes, Außerlogisches stehen. Jeder beliebige „variable Name ‚x‘“ ist für Wittgenstein „Zeichen des Scheinbegriffs Gegenstand“ (TLP 4.1272). Die Gegenstände, die als Werte unter eine Variable fallen, sind also selbst logische Entitäten und keine materiellen Objekte. Anders als Frege annimmt, können Gegenstände im Sinn materieller Objekte im Tractatus nicht unter einen formalen Begriff fallen. Die rein logische Mechanik des Tractatus funktioniert aber nur, wenn die logischen Möglichkeiten der Verbindungen der Gegenstände in Sachverhalten und mit ihnen der Sinn der Bilder, die wir verstehen können, selbst nicht durch etwas Drittes vermittelt, sondern unmittelbar zugäng-lich ist. Eben dies meint Wittgenstein, wenn er sagt, dass die Sätze ihren Sinn zeigen (TLP 4.022). Wie sich die Dinge verhalten, zeigt sich, wenn die Sätze wahr sind. Dieses ‚wenn‘ darf nicht als empirische

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Bedingung verstanden werden, sondern bezieht sich ausschließlich auf die in der Wahrheitstafel dargestellten möglichen Wahrheitswer-te. Zwischen den Sätzen bzw. den Bildern und den Gegenständen gibt es weder ein vermittelndes, erklärendes Sagen noch empirische Be-dingungen. Der unüberbrückbare Unterschied zwischen Sagen und Zeigen15 ergänzt den Grundgedanken, dass die logischen Konstanten nicht vertreten. Auch die Variablen vertreten nicht, da sie zu logi-schen Konstanten werden können (vgl. TLP 3.313).

Auf diese Weise wird verständlich, warum Wittgenstein in TLP 4.0312 sagt, dass sein Grundgedanke der sei, dass die logischen Kons-tanten nicht vertreten. Sie stehen wie die Variablen für nichts Au-ßerlogisches. Vielmehr verbindet die logische Form die Gegenstände mit den Bildern, die wir uns in Sätzen machen, unmittelbar und unvermittelt. Die einfachsten Bilder sind im System des Tractatus die Elementarsätze. Sie bilden Sachverhalte ab, indem sie die Möglich-keiten, in denen Gegenstände zueinander stehen können, logisch-syntaktisch darstellen. Mit den Sachverhalten lassen sich Sachlagen und schließlich die gesamte denkbare Wirklichkeit beschreiben. Elementarsätze sind die logischen Grundbausteine des überaus komplexen Bildes der Welt. Wittgenstein hat im Tractatus aber nicht nur die Grundbausteine, sondern der Form nach ein logisches Ge-samtbild der Wirklichkeit, genau genommen ein Gesamtbild der logisch möglichen, denkbaren Wirklichkeit entworfen.

Das entscheidende logische Element für die Darstellung der lo-gisch möglichen Wirklichkeit ist der N-Operator. Er ist Teil der all-gemeinen Satzform, die Wittgenstein als Wahrheitsfunktion darstellt (TLP 6). Jeder Satz, so heißt es in TLP 6.001 (vgl. schon TLP 5.5), ist „ein Resultat der successiven Anwendung der Operation N’(ξ ) auf die Elementarsätze“. N ist übrigens der einzige Operator im System des Tractatus. N ist als Konjunktion der Negationen aller Elementar-sätze der beliebig großen Menge ξ zu verstehen. Da alle Sätze Wahr-heitsfunktionen von Elementarsätzen sind, wird jeder einzelne wah-re Satz mit Hilfe des N-Operators aus Elementarsätzen gebildet. Witt-genstein deutet diese Operation in TLP 5.52 an: „Sind die Werte von ξ sämtliche Werte einer Funktion fx für alle Werte von x, so wird N(ξ) = ∼ (∃x).fx“. Ausführlicher gesagt bedeutet dies, dass die Konjunktion aller Werte von fx negiert wird, d. h. es gibt keinen Gegenstand der

15 Im Einzelnen gehe ich auf diesen Unterschied in dem Kapitel „Sagen und Zeigen. Wittgensteins ‚Hauptproblem‘“ ein.

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Form x, auf den f zutrifft. Dies wird von dem gezeigt, was rechts von dem Gleichheitszeichen steht. Wird der N-Operator nun auf dieses Resultat angewandt, ist das Ergebnis (∃x).fx. Der N-Operator sorgt für eine wahrheitsfunktionale Abbildung aller logisch möglichen Sach-verhalte und bildet damit die logisch mögliche Struktur der Wirk-lichkeit ab. Von jedem Elementarsatz lassen sich zwei logische Mög-lichkeiten aussagen, die dem Bestehen oder Nichtbestehen von Sach-verhalten entsprechen. Wenn es eine Menge von n möglichen Ele-mentarsätzen gibt, sind 2n mögliche Sachverhalte denkbar. Deren Verbindung zu einem Bild der Wirklichkeit leistet der N-Operator.

Es empfiehlt sich, ausführlich auf das System des Tractatus einzu-gehen, weil dessen logische Dignität immer wieder in Frage gestellt wurde.16 Matthias Varga von Kibéd hat – angestoßen durch solche Zweifel – gezeigt, dass der N-Operator kohärent interpretiert werden kann, und dass der Tractatus ein ernst zu nehmender, bedeutender Logikentwurf ist.17 Es würde dem Gesamttext des Tractatus aber nicht gerecht, ihn nur logisch zu interpretieren. Auch seine Metaphysik, insbesondere der als Solipsismus dargestellte reine Realismus und die Abgrenzung des Sagbaren und Sinnvollen, der Sätze der Naturwis-senschaften von den sinnlosen Sätzen der Logik und dem Unsagba-ren, der Ethik und Ästhetik, sind anspruchsvoll und verdienen große Aufmerksamkeit. In den Gedanken, dass der Sinn der Welt nicht in der Welt liegen könne (TLP 6.41) und dass die es eine Täuschung sei zu meinen, die Naturgesetze seien „Erklärungen der Naturerschei-nungen“ (TLP 6.371) kommt Wittgensteins auch später ungebroche-ne Skepsis gegenüber dem Szientismus und dem naturwissenschaft-lichen Weltbild insgesamt zum Ausdruck.

Der Satz 7 am Ende des Tractatus hat eine traurige Berühmtheit als Kalauer erreicht. Das überernst klingende und außerdem paradox erscheinende Schweigegebot am Ende des beredten Textes ist für viele das einzig Memorable. Es ist tatsächlich für Wittgenstein das Ende seines kaum überbietbaren, konsequenten Bemühens um end-gültige logisch-philosophische Klarheit. Eine Fortsetzung dieses Bemühens wäre schwer vorstellbar und letztlich unsinnig. Dennoch gibt es ein Danach, das allerdings ein Jahrzehnt des Schweigens und der zunächst gar nicht beabsichtigten philosophischen Neuorientie-rung voraussetzt.

16 Siehe u. a. Fogelin 1976, 54–67 u. ders. 1982, 124–127. 17 Varga von Kibéd 2001, 209–229.

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2. Werk 25

2.2 Die Philosophischen Untersuchungen Die Schriften, die nach Wittgensteins Rückkehr nach Cambridge entstanden und zur mittleren Periode gerechnet werden, zeigen, wie sich der Autor behutsam von der Begrifflichkeit und Methodologie des Tractatus löst, ohne den Problembereich der Sprache und des Verstehens dessen, was ist, zu verlassen. Er erkennt zunächst in den „Bemerkungen über logische Form“ (1929), dass es das Problem gibt, ob sich Farbsätze zurück bis zu logisch unabhängigen Elementarsät-zen analysieren lassen, wenn nicht, würde die gesamte Bildtheorie ins Wanken geraten. Es ist fraglich, ob z. B. der Satz ‚a ist rot‘, der Forderung des Tractatus entsprechend, logisch unabhängig von dem Satz ‚a ist grün‘ ist. Wittgenstein ist bemüht, das Problem zugunsten seines bisherigen Ansatzes zu lösen. Er meint, Sätze dieser Art wür-den sich zwar ausschließen und wären unsinnig, sie würden sich aber nicht widersprechen.18 An Beispiele dieser Art, hat er früher nicht gedacht, als er überzeugt war, dass es rein logische Gründe für Elementarsätze gebe (TLP 5.5562). Beispiele der Umgangssprache ohne logische Hintergrundsannahmen treten nun in den Vorder-grund und lassen erkennen, wie und in welcher Richtung er sich vom Frühwerk entfernt. Während es im Tractatus heißt, dass der Satz seinen Sinn zeigt (TLP 4.022), notiert Wittgenstein in den Philosophi-schen Bemerkungen, also in den Jahren 1929 und 1930, dass der Sinn eines Satzes sein Zweck sei (PhB, 60) und wenig später im selben Text, dass die Verifikation der Sinn des Satzes und nicht ein Anzei-chen seiner Wahrheit sei (PhB, 200). Einerseits kündigt sich in sol-chen Bemerkungen der Vorrang der Frage nach dem alltäglichen Gebrauch sprachlicher Ausdrücke an, andererseits lässt der fremde, an den Wiener Kreis erinnernde Begriff der Verifikation aber auch erkennen, dass Wittgenstein sich über seinen weiteren Weg noch nicht im Klaren ist. Besonders offenkundig sind diese und andere Merkmale des Übergangs zu einer methodisch anderen Art zu den-ken im Big Typescript, das er 1933 abschloss. In dieser Schrift finden sich anders als in späteren Schriften herkömmliche Kapitel mit eben-so herkömmlichen Titeln wie z. B. „Philosophie“ oder „Phänomeno-logie“, aber auch „Grammatik“ oder „Grundlagen der Mathematik“, also Themen, die für das nun entstehende Denken maßgeblich wer-den.

18 Siehe Wittgensteins „Bemerkungen über logische Form“ in: VüE, 25.

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„Grammatik“ ist das Konzept, das wie kein anderes sowohl den Zusammenhang mit dem Frühwerk als auch den Beginn des neuen Denkens repräsentiert. Ersteres ist erkennbar an dem logischen und nicht syntaktischen Gebrauch des Ausdrucks, letzteres an der sprachphilosophischen Bedeutung des Regelbegriffs, die mit dem Konzept der Grammatik ins Spiel kommt. Der nun erstmals zugängli-che Beitrag G. E. Moores zu einer Diskussionsgruppe Wittgensteins 1932 zeigt die Unsicherheit, die Ausdrücke wie „grammatische Regel“ und „Regel der Grammatik“ bei den Hörern zunächst auslösten.19 Es wurde erst allmählich klar, wie bedeutsam das philosophische Kon-zept der Grammatik für Wittgensteins Denken ist. Die Irritation, welche zunächst noch die Frage der Analysierbarkeit von Farbsätzen in Elementarsätze auslösen konnte, ist mit dem Konzept der gram-matischen Regel beseitigt. Dass sich z. B. ‚a ist rot‘ und ‚a ist grün‘ ausschließen, liegt – wie Wittgenstein nun erkennt – an den gramma-tischen Regeln, welche dem Gebrauch dieser Farbausdrücke zugrun-de liegen. Es sind nun die Regeln einer sprachphilosophisch zu ver-stehenden Grammatik und nicht die logische Ordnung der Namen im Satz, die über den sinnvollen und unsinnigen Gebrauch von Ausdrü-cken und Sätzen entscheiden. Die Grammatik ist aber ebenso auto-nom wie die Logik des Tractatus. Ihre Regeln lassen sich nun aber nicht mehr durch logische Analyse, sondern nur durch eine Be-schreibung des Sprachgebrauchs finden (PU, §109). Das Werk, das dieser Aufgabe gewidmet ist, sind die Philosophischen Untersuchungen. Hilfreich für das Verständnis dieser Schrift ist das Blaue Buch mit Texten aus den Jahren 1933 und 1934, während das Brown Book (Eine philosophische Betrachtung), Texte aus den Jahren 1934 und 1935 eher eine weitere, von Wittgenstein verworfene Versuchsphase darstellt.20

Die Struktur der Philosophischen Untersuchungen ist zumindest im ersten Teil ähnlich wie der Tractatus durchnummeriert, aber ohne eine entsprechende hierarchische Bedeutung. Die im Literaturver-zeichnis genannten wissenschaftlichen Kommentare zu dieser Schrift von Baker, Hacker und von Savigny lassen anders als die bloße Nummerierung einen thematischen Aufbau erkennen, der zwischen Gruppen von Paragraphen einen inhaltlichen Zusammen-

19 Moore 2006, 201–207. 20 Die Auswahl der Manuskripte bei der editorischen Zusammenstellung

dieser Texte muss nach den Untersuchungen von Josef Rothhaupt (siehe: Rothhaupt 2008) kritisch betrachtet und möglicherweise revidiert werden.

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hang herstellt. Dabei geht es um sprachphilosophische Themen wie die Frage, ob Wörter ihre Bedeutung durch ostensive Definition er-halten und welche Rolle Sprachspiele und ihre Regeln für die Bedeu-tung der Wörter und Sätze haben. Die Aufgabe der Beschreibung des Sprachgebrauchs und die Aufklärung der Regeln von Sprachspielen folgen keinem Selbstzweck, sondern dienen der philosophischen Therapie, Scheinprobleme und philosophische Verwirrungen aufzu-lösen und letztlich das herkömmliche systematische Philosophieren überflüssig zu machen. „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit“ (PU, §255), heißt es lapidar. Obwohl Wittgenstein das therapeutische Ziel, das seiner Philosophie ihren unverwechselbaren Charakter gibt, häufig nennt, hat sich die Forschung damit weitaus weniger beschäftigt21 als mit den Fragen des Regelfolgens und dem sog. Privatsprachenargument. Diese Fragen lassen sich leichter in den herkömmlichen Duktus begrifflicher und analytischer philoso-phischer Argumentation einordnen als die kompromisslose, radikale philosophische Therapie, die eben jenem Denkduktus skeptisch gegenüber steht. Es kann aus diesem Grund durchaus in Zweifel gezogen werden, ob die Philosophischen Untersuchungen der Tradition der Analytischen Philosophie zuzuordnen sind. Es lohnt sich aber nicht, diese Frage allzu sehr zu vertiefen.

Wittgenstein nennt nämlich im Vorwort dieses Werkes eben jene Begriffe als Themen, die auch für die Analytische Tradition sympto-matisch sind: Bedeutung, Verstehen, Satz, Logik, Grundlagen der Mathematik und Bewusstseinszustände (WW 1, 231). Er entwickelt mit diesen Begriffen allerdings einen radikal anderen Umgang als die analytische Tradition. Im selben Vorwort nennt er seinen Text „eine Menge von Landschaftsskizzen“, die auf „langen und verwickelten Fahrten entstanden sind“ (ebenda). Es kommt darauf an, sich auf Wittgensteins „Fahrten“ – Joachim Schulte nennt sie treffend „eine Art Reisebericht“22 – einzulassen, um zu verstehen, wohin dieser andere Umgang mit jenen Begriffen führt. Ein Reisebericht bietet meist zweierlei in einem an, einerseits die eigenen Erfahrungen un-terwegs und andererseits eine Beschreibung der besuchten Statio-nen. Ganz ähnlich schildert der Text der Philosophischen Untersuchun-

21 Konsequenter als die Mehrzahl der Interpreten stellt E. Fischer Wittgens-teins philosophische Therapie in den Mittelpunkt seiner Forschungen und versucht diesen Ansatz systematisch weiterzuentwickeln, in: Fischer 2008.

22 Schulte 1989b, 87 f.

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gen Wittgensteins Denkbewegungen und deren Stationen. Beides zusammen entspricht dem, was er die „Beschreibung“ von Proble-men im Unterschied zu einer theorieabhängigen „Erklärung“ nennt (PU, §109). Er sammelt und schildert Erfahrungen mit der Sprache. Anstelle von Aussagen über deren Wesen oder über die allgemeine Satzform, um die es noch im Tractatus ging, findet er Verwandtschaf-ten zwischen Sprachspielen, „Familienähnlichkeiten“, wie er sie nennt (PU, §§65–67). Im Nachdenken über scheinbar Selbstverständ-liches wie etwa das Lesen (PU, §§156–173) beleuchtet er nicht nur die Rolle von Wörtern im Leben, sondern gewinnt ein ganzes Bündel von Einsichten. Er schildert, wie ein „Sprachspiel“ gespielt wird, indem er darstellt, wie sich die eigene Lesebewegung mit der Führung durch die Buchstaben zum Lesen verknüpft. Er könnte das Automatische, durch Abrichten Erlernte und das gleichzeitig Bewusste, Spontane und selbst Gekonnte des Regelfolgens an keinem Beispiel besser erläutern. Gleichzeitig vermittelt er die Einsicht, dass es sich ähnlich wie beim Lesen auch beim Regelfolgen nicht um einen seelischen, inneren Vorgang, sondern um eine öffentliche, beobachtbare Tech-nik und eine Praxis handelt, die niemand nur einmal vollziehen kann (PU, §§196–199). Damit steht er mit seinen Überlegungen an der Station, die er ein „Paradox“ nennt (PU, §201). Es ist das Paradox des Regelfolgens, das eng mit dem verbunden ist, was von späteren Interpreten ‚Privatsprachenargument‘ genannt wurde.23 Das Paradox ist aber nur ein scheinbares. Es scheint nämlich so, als könnte man jede Handlungsweise mit einer Regel sowohl in Übereinstimmung als auch in Widerspruch bringen. Dies sei ein Missverständnis, das sich schon daran zeige, „daß wir in diesem Gedankengang Deutung hinter Deutung setzten“ könnten (PU, §201). Den dabei drohenden Regress, nicht unähnlich dem der komplexen Sätze im Tractatus, wendet Wittgenstein mit einem Hinweis auf die Praxis des Regelfolgens an. In der Praxis zeigen wir nämlich, dass es sich bei dem, was wir tun, wenn wir Regeln folgen, nicht um Deutungen, sondern um prakti-sche Akte handelt. Wir wüssten, so Wittgenstein, wie sich das Befol-gen einer Regel vom „ihr entgegenhandeln“ unterscheide. Dann fasst er diesen Gedanken zusammen: „Darum ist ‚der Regel folgen‘ eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ‚privatim‘ folgen, weil sonst

23 Empfehlenswert zum Thema „Privatsprachenargument“ sind die beiden Texte von Severin Schroeder (Schroeder 1998 u. ders. 2004, 147–169).

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der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen“ (PU, §202). Die Auflösung des scheinbaren Paradoxes setzt das voraus, was mit ‚Privatsprachenargument‘ gemeint ist, dass man Regeln nicht privat folgen und dass „nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein“ kann (PU, §199). Diese Aussagen sind zwar kein Argument, sondern Behauptungen, die man am Ende eines Argu-ments erwartet, das eine Begründung enthält. Die Begründung be-steht im richtigen Verständnis dessen, dass „einen Satz verstehen“ soviel heißt wie „eine Sprache verstehen“ (PU, §199). Die Menschen müssen, um diese Praxis zu beherrschen, „in der Sprache“, in der „Lebensform“ (PU, §241) und „in den Urteilen“ (PU, §242) übereins-timmen. Eine Antwort auf Fragen der Begründung des richtigen oder falschen Regelfolgens kann nur diese Praxis geben. Die Praxis kommt vor dem individuellen Regelfolgen. Würde man diese Ordnung um-drehen und im Ausgang von einzelnen, ‚privaten‘ Akten nach Grün-den für das Gelingen oder Misslingen des Regelfolgens suchen, würde man keine finden, die für die Begründung eines Praxis taugen könn-ten. Saul Kripke hat – verbunden mit anderen Intentionen – gezeigt, warum das Regelfolgen nicht mit privaten Akten oder Ereignissen begründet werden kann.24 Nur die Praxis der Sprachspiele kann Gründe für den richtigen oder falschen Regelgebrauch liefern. Die Existenz privater Akte muss deshalb keineswegs in Frage gestellt oder gar geleugnet werden.

Wittgenstein tut dies auch nicht (PU, §308). Seine Überlegungen zur Bedeutung und Zuschreibung von Empfindungen stellen deren Existenz nicht in Frage, sondern zeigen, dass es keine Sprache geben kann, die auf privaten Empfindungen aufbaut, seien es die eigenen oder die von anderen (PU, §243). Es hat nicht einmal Sinn, sich selbst nach dem Muster des privilegierten Zugangs „private“ Empfindun-gen zuzuschreiben.25 Natürlich kann ich Schmerzen haben und sie durch mein Verhalten anderen kenntlich machen; ich kann sie aber nicht wissen, weil eine solche Zuschreibung voraussetzt, dass mein Wissen wahr oder falsch sein kann. Ich kann zwar Schmerzen heu-cheln, mich aber weder über sie irren, noch sie bezweifeln; nur haben kann ich sie (PU, §§246–251). Es gibt auch keine Definition (PU, §258)

24 Kripke 1982. 25 Stephen Mulhall (Mulhall 2006) ist hier zurückhaltender. Er bietet eine

„entschiedene Interpretation“ („resolute reading“) der Möglichkeit einer Privatsprache an, nach der eine private Zuschreibung einer Empfindung als Bedeutung eines Ausdrucks „S“ zumindest logisch möglich sei.

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und kein Kriterium der Identität von Empfindungen. Ein Irrtum über die eigenen Empfindungen wäre nur möglich, wenn es ein Kriterium ihrer Identität gäbe (PU, §288). Es fehlt also alles, was es sinnvoll machen würde, über die sprachlich mitteilbare Bedeutung von Emp-findungen oder eine private Schmerzsprache nachzudenken. Witt-genstein vermittelt unangestrengt und scheinbar mühelos, dass Versuche dieser Art ins Leere laufen. Ein Muster dieser therapeuti-schen Kunst ist sein Beispiel mit den Schachteln, in die jeder nur selbst hineinschauen kann, und deren Inhalt von allen ‚Käfer‘ ge-nannt wird; jeder würde – quasi als private Empfindung – für sich allein sehen können, was in der Schachtel drin und mit ‚Käfer‘ ge-meint ist. Wittgenstein folgert: Was immer darin sein mag, es kann nicht zum Sprachspiel gehören, weil die Schachtel auch leer sein könnte (PU, §293). Aus Überlegungen dieser Art können wir schlie-ßen, dass Wittgenstein keinen Sinn in der Diskussion zentraler The-men der analytischen Philosophie des Geistes, des sog. privilegierten Zugangs, des Leib-Seele-Problems oder des Fremdpsychischen er-kennen kann. Stattdessen denkt er, dem Ziel des Beschreibens treu, in seiner Philosophie der Psychologie über den Zusammenhang zwi-schen Wörtern, ihr Geladensein mit Gefühlen und die Ähnlichkeit von Wörtern mit Gebärden nach (PU II, 559; LS PhPs, §712).

Fragen der Mathematik begleiten Wittgenstein seit seiner Rück-kehr nach Cambridge. Seine umfangreichen Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik sind ähnlich wie die Logik des Tractatus nicht immer ernst genommen worden. Wittgenstein will klären, wie in der Mathematik Regeln gebraucht werden. Dies ist von besonde-rem Interesse, weil er glaubt, dass die Mathematik Begriffe und die Regeln ihres Gebrauchs bilden und verändern kann (BGM, §§31, 41). Er glaubt sogar, dass die Funktion mathematischer Beweise im Bilden und Ändern von Begriffen besteht. Der bewiesene Satz werde als neue Regel angenommen. Felix Mühlhölzer, der diese Gedanken über die Funktion von Beweisen ernst nimmt26, zeigt, dass Wittgenstein ständig bemüht ist, den Auffassungen Freges „eine eigene Position entgegenzustellen, bei der die menschliche Praxis zu ihrem Recht kommt“.27 Die Gedanken über Fragen der Mathematik lassen sich nicht von den Fragen trennen, die Wittgenstein in den Philosophischen

26 Dazu: Mühlhölzer 2002a. 27 Mühlhölzer 2007. Die Untersuchung Mühlhölzers bezieht sich v. a. auf die

Texte, die zwischen 1929 und 1933 entstanden.

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3. Wirkung 31

Untersuchungen beschäftigen. Was er hier zur Übersichtlichkeit der Darstellung, zum Regelfolgen oder zum Thema ‚Familienähnlichkei-ten‘ und Sprachspiele sagt, hat er zunächst in seiner Auseinanderset-zung mit mathematischen Fragen entwickelt (z. B. in BGM III, §§22, 48, 54) und dann erst sprachphilosophisch erweitert. Selbst das sog. Privatsprachenargument hat einen Vorgänger in seiner Philosophie der Mathematik, wenn es heißt, dass „ein Mensch…nicht nur einmal in seinem Leben rechnen“ könnte (BGM III, §67).

Die Vielfalt der Bezüge zwischen Wahrnehmung und Sprache et-wa im Hinblick auf das Aspektesehen oder die Aspekteblindheit oder im Hinblick auf die Farben darf nicht unerwähnt bleiben, weil sie zeigen, wie reich und vielschichtig, aber auch verflochten Wittgens-teins Denken ist. Nicht einmal die Psychologie lässt sich bei ihm von der Mathematik trennen.

3. Wirkung3. Wirkung3. Wirkung3. Wirkung

Die Wirkungsgeschichte von Wittgensteins Denken beginnt genau genommen bereits in seiner Studentenzeit. Russell war früh von der Ernsthaftigkeit und Tiefe von Wittgensteins Denken beeindruckt, lehnte aber die späteren Entwicklungen ab. Selbst der Tractatus und noch mehr die Philosophischen Untersuchungen blieben ihm fremd. Dennoch stellt er in seiner Autobiographie fest, dass er sah, dass Wittgenstein mit seiner Kritik an ihm Recht hatte und dass er selbst nicht mehr darauf hoffen konnte, jemals wieder grundlegende Leis-tungen in der Philosophie – vor allem im Bereich der Logik – zu er-bringen.28 In Cambridge waren nach 1929 Ramsey und dann Moore kritische Wegbegleiter von Wittgensteins Denken. Der Tractatus fand nicht zuletzt wegen der raschen Publikation in englischer Überset-zung sehr viel Aufmerksamkeit. Eine ähnliche Wirkung hatte das große Interesse der Mitglieder des Wiener Kreises um Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Otto Neurath und Kurt Gödel an der Schrift. Sie wurde in den regelmäßigen Sitzungen des Kreises, der immer auch interna-tionale Gäste wie Hempel, Quine und Tarski hatte, ab 1924 diskutiert. In Oxford und anderswo kursierten in den frühen 30er Jahren, v. a. durch Studenten verbreitet, Abschriften des Blauen und des Braunen Buchs. Keinem dieser Texte blieben Fehldeutungen erspart. Der Trac-

28 Russel 1967, 282.

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tatus wurde als einer der Grundtexte des Logischen Positivismus missdeutet und das Blaue Buch diente als Textvorlage für ernsthafte, aber auch manierierte Nachahmungen des neuen, revolutionären philosophischen Stils. Wittgenstein war früh schon ein Geheimtipp und wurde später sogar zu einer Kultfigur, der Filme, Romane und andere Kunstwerke gewidmet wurden.29

Die Philosophischen Untersuchungen erschienen zwei Jahre nach Wittgensteins Tod in einer Deutsch-Englischen Ausgabe. Die Wir-kung dieses Buchs übertraf diejenige des Tractatus bei weitem. Viele brachten es fälschlich in Verbindung mit der in Oxford von Ryle und Austin entwickelten Philosophie der Normalen Sprache (der sog. Ordinary Language Philosophy), welche die Bedeutung der gespro-chenen Sprache zum Gegenstand hat. Die Ähnlichkeiten sind nur oberflächlicher Natur. Ähnlich wie sich die Logischen Positivisten vorschnell mit dem Tractatus identifizierten, taten dies nun die Ver-treter der Analytischen Philosophie mit den Philosophischen Untersu-chungen. Dies führte auch in den USA zu einer raschen und weiten Verbreitung der sog. Spätphilosophie Wittgensteins. Namhafte Phi-losophen wie Peter Strawson, Hilary Putnam, Donald Davidson und Saul Kripke und in deren Nachfolge Crispin Wright und John McDo-well griffen Fragestellungen und Begriffe Wittgensteins auf und integrierten sie in ihr eigenes Denken. Im deutschsprachigen Raum setzte das Interesse an Wittgenstein eher zögerlich ein, nicht zuletzt weil der Tractatus und die Philosophischen Untersuchungen erstmals 1960 publiziert wurden. Nach einer ersten Rezeption v. a. der Spät-philosophie durch deutsche Autoren wie Heinrich Scholz, Hermann Lübbe, Wolfgang Stegmüller, Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas nahm das Interesse an Wittgenstein rasch zu. Von einem Durchbruch des Interesses kann aber erst nach der Publikation der achtbändigen, recht zuverlässigen Ausgabe der Werke im Suhrkamp Verlag 1989 die Rede sein. Große Verdienste um die Diskussion v. a. der Philosophi-schen Untersuchungen haben die Kommentare, die von Gordon Baker, Peter Hacker in englischer und von Eike von Savigny in deutscher Sprache erschienen. Die seit den 1970er Jahren jährlichen interna-tionalen Tagungen der österreichischen Wittgenstein-Gesellschaft in Kirchberg am Wechsel, die Gründung von Wittgenstein-Gesellschaften in vielen Ländern, die deutschen Wittgenstein-

29 J. Schulte gibt eine gute Übersicht über diese Seite der Rezeption (Schulte 2005, 131–136).

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3. Wirkung 33

Studien und ihre Schriftenreihe, schließlich die seit 2000 in Bergen erarbeitete Edition des Gesamtnachlasses auf CD-ROM und die Bände der Wiener Ausgabe mit Manuskripten und Typoskripten der Zeit zwischen 1929 und 1933 haben das ihre dazu beigetragen, dass das Interesse an Wittgenstein stetig gewachsen ist. Besondere Verdiens-te, was die kritischen Editionen des Tractatus und der Philosophischen Untersuchungen angeht, erwarben sich Brian McGuinness, Georg Henrik von Wright und Joachim Schulte. Das Verständnis von Witt-gensteins Denken wurde v. a. durch die Editionen seiner Werke und die Zugänglichkeit der Manuskripte auf CD-ROM immer mehr ver-tieft. Es hat inzwischen eine bemerkenswerte und erfreuliche histori-sche Zuverlässigkeit und methodologische Differenziertheit erreicht. Auch die Rezeption seines Denkens in den Sozialwissenschaften, in den Literatur- und Kulturwissenschaften ist lebhaft und ungebro-chen.