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E4542 1 2012 Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon

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E4542

1 – 2012

Wo steht Europa?Die Europäische Union nach Lissabon

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Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung

THEMA IM FOLGEHEFT

»Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB)herausgegeben.

HERAUSGEBERLothar Frick, Direktor

CHEFREDAKTEURDr. Reinhold [email protected]

REDAKTIONSASSISTENZSylvia Rösch, [email protected] Hahn, Stuttgart/Berlin

ANSCHRIFT DER REDAKTIONStaffl enbergstraße 38, 70184 StuttgartTelefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77

REDAKTIONJudith Ernst-Schmidt, Oberstudienrätin,Werner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule für Elektrotechnik), Stuttgart Dipl.-Päd. Martin Mai, Wilhelm-Lorenz-Realschule,EttlingenDipl.-Päd. Holger Meeh, Akademischer Rat,Pädagogische Hochschule HeidelbergWibke Renner-Kasper, Konrektorin der Grund-, Haupt- und Realschule IllingenAngelika Schober-Penz, Studienrätin,Erich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule), Kornwestheim

GESTALTUNG TITELBertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulmwww.bertron-schwarz.de

DESIGN UND DIDAKTIKMedienstudio Christoph Lang, Rottenburg a.N., www.8421medien.de

VERLAGNeckar-Verlag GmbH, Klosterring 1, 78050 Villingen-SchwenningenAnzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Uwe StockburgerTelefon: 07721/8987-71; Fax: [email protected] gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005.

DRUCKPFITZER GmbH & Co. KG, Benzstraße 39, 71272 Renningen

Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich.Preis dieser Nummer: 3,20 EURJahresbezugspreis: 12,80 EURUnregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich mit je 3,20 EUR in Rechnung gestellt.

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung.

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

Titelfoto: Fotosearch/Juice ImagesAufl age dieses Heftes: 24.000 ExemplareRedaktionsschluss: 15. Februar 2012ISSN 0344-3531

Inhalt

Editorial 1Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport 2 Autoren dieses Heftes 2

Unterrichtsvorschläge 3 – 16

Einleitung 3Baustein A: Europa im Alltag 8Baustein B: In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon 10Baustein C: Baustelle Europa – wohin geht die EU? 13Literaturhinweise 15Kommentierte Internethinweise 16

Texte und Materialien 17 – 46

Baustein A: Europa im Alltag 18Baustein B: In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon 26Baustein C: Baustelle Europa – wohin geht die EU? 38

Einleitung und alle Bausteine: Martin Große Hüttmann und Dr. Georg Weinmann

Das komplette Heft fi nden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.politikundunterricht.de/1_12/europa.htm

Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier aus FSC-zertifi zierten Frischfasern und Recyclingfasern gedruckt. FSC (Forest Stewardship Council) ist ein weltweites Label zur Ausweisung von Produkten, die aus nachhaltiger und verantwortungsvoller Waldbewirt-schaftung stammen.

Die Vereinigten Staaten von Amerika

HEFT 1 – 2012, 1. QUARTAL, 38. JAHRGANG

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EditorialDie Europäische Union ist in aller Munde – und das zumeist in Zusammenhang mit den krisenhaften Entwicklungen der nationalen Haushalte einiger ihrer Mitgliedstaaten. Bei aller Bedeutung dieser Thematik sollten wir aber nicht vergessen, dass die EU ein einmaliges politisches Vorhaben ohne histo-risches Vorbild ist, weil es auf Frieden und Demokratie sowie auf den Grundwerten der Menschrechte und der Solidarität zwischen den Völkern beruht. Das sind hohe Ziele, die es sich aber immer wieder zu vergegenwärtigen gilt – gerade vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte.

Was macht die EU also interessant und wichtig? Welche be-sonderen Anforderungen stellen sich bei der Beschäftigung mit diesem eigentümlichen politischen Gebilde? Und welche praktische Bedeutung hat dieses einzigartige Großprojekt? Diese Fragen sind vor allem auch in der politischen Bildung von besonderer Bedeutung – und viel mehr noch, wenn es darum geht, die EU jungen Menschen zu vermitteln, für die die zerstörerischen Jahre zwischen 1914 und 1945 lang vergangene Geschichte sind.

Die Landeszentrale für politische Bildung sieht in der Be-schäftigung mit der EU eine ihrer zentralen Aufgaben. Unser europapolitisches Angebot ist groß und breit gefächert: fachwissenschaftliche und didaktische Publikationen sowie E-Learnig-Kurse, Politische Tage für die Schulen, Exkur-sionen, Bildungsreisen, Seminare, Spiele, Planspiele und vieles andere mehr. Mit der neuen Ausgabe von »Politik &

Unterricht« wollen wir das Thema in einer ganz grund-sätzlichen Auseinandersetzung erneut in die Schulen des Landes bringen. Dabei beginnt das Heft mit der Frage, wie sich die EU im Alltag der Menschen zeigt. Es fährt fort mit einer Auseinandersetzung über die Veränderungen, die sich mit dem Vertrag von Lissabon ergeben haben, und es endet mit der Beschäftigung mit der »Baustelle Europa«, mit der Frage also, wie sich das Gebilde EU verändern muss, um den zukünftigen Herausforderungen gewachsen zu sein. Wir freuen uns, damit den Lehrerinnen und Lehrern des Landes methodisch abwechslungsreiche Materialien zur Verfügung stellen zu können, mit denen sie einen anregenden Unter-richt gestalten können.

Lothar FrickDirektor der LpB

Dr. Reinhold WeberChefredakteur

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Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport»Auf der Basis einer umfassenden Kenntnis der Aufgaben- und Gewaltenteilung in der EU sind die Schülerinnen und Schüler in der Lage, die Zuständigkeiten und Arbeitsweisen der Institutionen der EU zu erläutern sowie aktuelle Bezüge zu Entwicklungen auf europäischer Ebene herzustellen.« So kurz und präzise werden die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler im Bildungsplan des Landes für den Fächerver-bund EWG in der Realschule in Klasse 10 umrissen. Etwas ausdifferenzierter gilt das im Grunde auch für den Bildungs-plan für die Gymnasien.

Wenn es darum geht, die Geschichte des europäischen Eini-gungsprozesses und die Funktionsweise der Europäischen Union im Unterricht zu vermitteln, sind immer wieder neue Ansätze und Ideen gefragt. Mit der vorliegenden Ausgabe von Politik & Unterricht ist es der Landeszentrale für poli-tische Bildung erneut gelungen, die Lehrerinnen und Lehrer in diesem Vorhaben zu unterstützen. Wo betrifft mich die Europäische Union im Alltag? Dieser Frage geht der erste Baustein des Heftes nach – und er bringt Beispiele, die den Lebenswelten der Jugendlichen nahe sind: Führerschein, Schüleraustausch, Reisen, Einkaufen oder mit dem Handy telefonieren im Ausland. Die Beispiele zeigen: Europa wird täglich gelebt!

Darüber hinaus bietet die Ausgabe in Baustein B die Mög-lichkeit zur grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Organen der Europäischen Union. Im Vordergrund steht dabei das Europäische Parlament, das durch den Vertrag

von Lissabon an Bedeutung gewonnen hat. Nun muss die nahe Zukunft weisen, ob es den Verantwortlichen in der EU beispielsweise gelingt, das oft beklagte Demokratiedefi zit in der EU abzubauen. Der dritte und letzte Baustein C stellt schließlich Materialien zur Verfügung, um die Zukunft der Europäischen Union zu diskutieren. Wie wird sich dieser einmalige Einigungsprozess der europäischen Völker wei-terentwickeln? Wie könnte sich die EU den weltpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahre gewachsen zeigen?

Wir danken der Landeszentrale für politische Bildung, dass sie die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer im Land mit dieser Ausgabe von »Politik & Unterricht« erneut unterstützt und damit deutlich macht, welche Bedeutung bei ihr und uns allen das Thema »Europa« hat.

Gernot Tauchmann Ministerium für Kultus, Jugend und SportBaden-Württemberg

AUTOREN DIESES HEFTES

Martin Große Hüttmann ist Akademischer Oberrat am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Der Europaexperte ist Mitherausgeber der Reihe »Brennpunkt Politik« beim Verlag W. Kohl-hammer, des »Handbuchs Europapolitik« der LpB Baden-Württemberg sowie des Europa-Lexikons beim Verlag J.H.W. Dietz.Dr. Georg Weinmann ist Studiendirektor am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Wert-heim am Main. Zu seinen Arbeitsschwer-punkten gehört der Bereich »Europa in der Schule – Schule in Europa«. Er ist u. a. Autor im »Handbuch Europapolitik« der LpB Baden-Württemberg und Mitglied im Beirat der LpB-Zeitschrift »Deutschland & Europa«.

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●●● E INLEITUNG

»Scheitert der Euro, scheitert Europa!« Diese Prognose von Bundeskanzlerin Angela Merkel bringt die Dramatik auf den Punkt, die zurzeit den europäischen Integrationsprozess be-herrscht. Die Finanzkrise dominiert seit 2007 die Tagesord-nung der Europäischen Union (EU) und prägt den aktuellen Blick vieler Beobachter auf den Kontinent. Dabei wird häufi g die Frage nach der Fähigkeit der Union zur effektiven Prob-lemlösung gestellt. Der Umgang mit der Finanzkrise wird darüber hinaus zum Testfall für die Bedeutung von Werten wie Demokratie, Solidarität, Wohlstand, sozialer Ausgleich und Transparenz.

Die Finanzkrise hat die öffentliche Wahrnehmung der Eu-ropäischen Union neu ausgerichtet. Sichtbar werden vor allem Bruchstellen bei der Einhaltung des Vertragswerks, eine hektische Betriebsamkeit im Rahmen des »Gipfelmara-thons« und unterschiedliche Vorstellungen über die Rezepte zur Krisenbewältigung. Nicht selten werden diese Entwick-lungen als Test für die europäische Integration insgesamt gedeutet: Wie weit kann, wie weit muss die Solidarität in der Union gehen, um einerseits die Handlungsfähigkeit von Staaten zu sichern und ein Übergreifen von krisenhaften Erscheinungen auf weitere Mitgliedsländer zu vermeiden? Wie kann andererseits dabei die nationale Eigenständigkeit gewahrt und länderspezifi schen Besonderheiten angemes-

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sen Rechnung getragen werden? Wie soll die künftige Aus-gestaltung der Europäischen Union angelegt sein, damit sich Krisen dieses Ausmaßes nicht mehr wiederholen können? Ist das europäische Institutionengefüge in der Lage, auf die Herausforderungen zu reagieren oder bedarf es einer Ergän-zung bzw. eines größeren Umbaus, um die Voraussetzungen für ein verlässliches Krisenmanagement zu schaffen? Sollten Veränderungen also mit einer Überarbeitung des Vertrages von Lissabon einhergehen oder wäre es nicht sinnvoller, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten Anpassungen vorzu-nehmen? Der Brüsseler Krisengipfel Anfang Dezember 2011 hat gezeigt, dass die Vorstellungen darüber in verschie-dene Richtungen gehen. Die Weigerung Großbritanniens, einer Änderung des bestehenden EU-Vertrages zuzustimmen, stellte die europäischen Regierungen vor ein Problem. Es musste ein alternativer Weg und eine rechtlich verbind-liche Vereinbarung gefunden werden, die die EU-Staaten verpfl ichtet, ihre nationalen Haushalte zu konsolidieren und sich einer europäischen Kontrolle zu unterwerfen – nur eben außerhalb des Lissabon-Vertrages. Da der EU-Vertrag nur ge-ändert werden kann, wenn wirklich jeder einzelne EU-Staat zustimmt, wurde auf Betreiben der deutschen Regierung auf dem EU-Gipfel Ende Januar 2012 ein sogenannter Fiskalpakt beschlossen. Dieser Pakt steht rechtlich gesehen neben dem EU-Vertrag, er ist aber eng mit diesem verknüpft, weil die Regelungen zur Währungsunion und zum Euro dort festge-schrieben sind. Auf diesen Fiskalpakt einigten sich 25 von den insgesamt 27 EU-Staaten. Außer Großbritannien wollte sich auch die Tschechische Republik nicht von der EU eine

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Bundeskanzlerin Merkel beim EU-Gipfel in Brüssel am 30. Januar 2012. Jeder neue Gipfel zur Schuldenkrise ist eine schwierige Gratwanderung.

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Einleitung

Sparpolitik und die Verankerung einer »Schuldenbremse« in ihrer nationalen Verfassung vorschreiben lassen. Der Fis-kalpakt muss von den EU-Staaten ratifi ziert werden, ehe er wirksam wird. Das heißt, es genügt nicht, wenn sich Angela Merkel und Nicolas Sarkozy auf den Pakt verständigt haben, es müssen auch die nationalen Parlamente bzw. – soweit dies rechtlich vorgeschrieben ist – die Bürger in den EU-Staaten dem Pakt zustimmen (z. B. in Irland). Weil das seine Zeit braucht, wird der Fiskalpakt frühestens Anfang 2013 in Kraft treten. Für den Fall, dass in dem einen oder anderen EU-Staat Probleme bei der Ratifi zierung auftreten und bei Abstimmungen keine Mehrheiten zustande kommen, wurde vorgesorgt. Der Fiskalpakt kann schon in Kraft treten, wenn in nur zwölf Euro-Staaten die Ratifi zierung erfolgreich abgeschlossen ist; der Pakt gilt dann freilich auch nur in den Staaten, die ihn tatsächlich ratifi ziert haben. Nach fünf Jahren soll der Fiskalpakt in den EU-Vertrag integriert werden. Dann wäre die aufgrund der britischen und tsche-chischen Weigerungshaltung gefundene Behelfskonstruk-tion, einen Vertrag außerhalb des Vertrags zu schließen, nicht mehr notwendig.

In der aktuellen Finanzkrise bündeln sich Kernfragen der europäischen Einigung. Integrationskritische Beobachter geben deshalb zu bedenken, ob es sich bei der EU nicht um ein »Schönwetterprojekt« handele, dessen Bestand bei stürmischen Bedingungen recht schnell ins Wanken ge-raten könne. Andere halten dieser Auffassung entgegen, dass die Geschichte der europäischen Integration vor allem aus der Geschichte ihrer Krisen bestehe und der Reifegrad des europäischen Integrationsprozesses nicht zuletzt auf der Überwindung elementarer Probleme fuße. Vor diesem Hintergrund habe die EU ihre Handlungsfähigkeit vielfach unter Beweis gestellt. Gerade die Debatten zur Finalität der europäischen Integration zeigen, dass den Auseinanderset-zungen nicht selten unterschiedliche Vorstellungen über das Wesen, die Struktur und die Zukunft der Europäischen Union zugrunde liegen. Oft bleiben diese Prämissen verborgen und treten lediglich als konkrete Forderungen zur Gestaltung des europäischen Einigungsprozesses an die Oberfl äche. In diesem Zusammenhang wird in der Fachliteratur und auch von vielen »EU-Praktikern« darauf hingewiesen, dass es keine Blaupause für die Entwicklung der EU gebe. Vielmehr sei »Einheit in Vielfalt« ein wesentliches Merkmal des euro-päischen Selbstverständnisses. Die zunehmende Komplexi-tät der europäischen Einigung trage zwar dazu bei, dass ihr Verlauf immer seltener verlässlich zu prognostizieren sei. Die unterschiedlichen Formen, in denen sich die Vorstellungen von »Europa« äußern, gehören aus ihrer Sicht jedoch zu den Stärken der Union und machen sie ungeachtet aller Ver-besserungsmöglichkeiten zu einem weltweit einzigartigen Gebilde mit Vorbildfunktion.

Trotz der unterschiedlichen Auffassungen über Sinn und Zweck der europäischen Einigung und der heterogenen Vo-raussetzungen in den einzelnen Mitgliedstaaten handelt es sich bei der EU nach wie vor um eine Wertegemeinschaft, die auch durch die beachtliche Zahl an Beitrittsaspiranten immer noch großen Zuspruch fi ndet. Das jüngste Beispiel

liefert Kroatien, das zum Jahresende 2011 den Beitrittsver-trag unterschrieben hat. Neben der Türkei könnte man noch Island nennen. Mit der kleinen Insel verhandelt Brüssel erst seit Juli 2010. Da in Island die ursprüngliche Europabegeis-terung jedoch abgenommen hat, ist noch unklar, ob am Ende der Verhandlungen, die heute schon weiter sind als die Bei-trittsgespräche zwischen der EU und der Türkei, die Isländer dann in einem Referendum dem Beitritt zur EU tatsächlich zustimmen werden.

Die Europäische Union muss immer wieder aufs Neue kon-kretisiert und für die Bürger sichtbar und erfahrbar werden. Nur so können die übergeordneten Ziele – Frieden, Demokra-tie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand – für die Lebenswelt der EU-Bürger bedeutsam sein und den Rückhalt für die »europäische Idee« vor Ort stärken. Zu diesem Zweck hat die EU in der Vergangenheit eine Reihe unterschiedlicher Wege beschritten. Sie reichen von einer bewusst vorangetriebenen Symbolpolitik über neue Kommunikationskanäle bis hin zu mehr Aufmerksamkeit für die Wirkungsweise europäischer Politik in lokalen oder regionalen Zusammenhängen. Oftmals geht es darum, den »europäischen Fußabdruck vor Ort« sichtbar zu machen und mit Blick auf die Bevölkerung den konkreten Niederschlag europäischer Politik im Mehrebe-nensystem der EU hervorzuheben.

Die Frage nach dem tieferen Sinn der EU stellt sich für viele Menschen nicht zuletzt deshalb neu, weil Kosten-Nutzen-Kalküle im Zuge der Finanzkrise an Bedeutung gewonnen haben. Dabei geht es in erster Linie um die Eigenverant-wortung der Mitgliedstaaten bei der Sanierung ihrer Staats-haushalte. Nicht wenigen scheint der Verweis auf die Milliar-densummen eine Vorstellung von der Last zu vermitteln, die einzelne Mitgliedsländer zu stemmen haben oder die die »So-lidargemeinschaft EU« – zumindest zu bestimmten Teilen –tragen soll. Abstraktere Themen wie die Sicherung des Frie-dens oder die Förderung von Demokratie und Wohlstand bringen viele EU-Bürger nicht mit der Europäischen Union in Verbindung: Zum einen werden entsprechende Entwick-lungen als selbstverständlich wahrgenommen, zum anderen tritt die Rolle der europäischen Institutionen in diesen Prozessen nicht immer deutlich zutage. Dies liegt auch an der Neigung von Mitgliedstaaten, Misserfolge oder Politik-versagen »Brüssel« zuzuschreiben. Erfolge hingegen werden gerne auf das eigene nationale Konto gebucht.

Vor diesem Hintergrund kann »Europa« nicht immer auf den ersten Blick im Alltag sichtbar werden, geschweige denn für sich in Anspruch nehmen, ganz konkret zur Verbesserung von Lebensbedingungen beizutragen. Dabei hat die euro-päische Ebene im Laufe ihres Bestehens auf vielen Gebie-ten Rahmenbedingungen geschaffen, die genau dieses Ziel vor Augen haben. Die Bereiche Verkehr, Verbraucherschutz, Agrar- und Strukturpolitik, Gesundheit und Sozialpolitik sind dafür einige Beispiele. In den Augen vieler Kritiker handelt es sich bei diesen Aspekten um »Randthemen« der europäischen Integration. Den Kern der EU bilden nach dieser Auffassung immer noch wirtschaftlich und macht-politisch ausgerichtete Interessen. Die »Alibi-Funktion« der

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Einleitung

»Feigenblattpolitik« sei unübersehbar. Des Weiteren könne bezweifelt werden, ob das komplizierte, schwerfällige und nicht selten intransparente Räderwerk der EU einen Beitrag zu effektivem Regieren leiste.

Integrationsbefürworter geben jedoch zu bedenken, dass das Prinzip der Subsidiarität dazu beitrage, den Kompe-tenztransfer von den Nationalstaaten zu den europäischen Institutionen zu begrenzen. Darüber hinaus führe die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit zwangsläufi g dazu, dass grenzüberschreitende Probleme auch grenzüberschreiten-der Lösungen bedürfen. Für den Bereich der Verbraucher-politik gelten die Rinderseuche BSE oder die Verbreitung gentechnisch veränderter Lebensmittel als Paradebeispiele für die Notwendigkeit europaweiter Zusammenarbeit. Sie können zeigen, dass die Europäische Union im Laufe ihrer Geschichte dazu gezwungen wurde, Antworten auf die nega-tiven Begleiterscheinungen einer zunehmenden Verfl echtung der Wirtschaftsräume sowie des technischen Fortschritts zu fi nden und im Bedarfsfall rasch zu reagieren.

Ungeachtet der umtriebigen Krisendiplomatie zur Bewälti-gung der Finanzkrise vollziehen sich derzeit auch wichtige Entwicklungen auf anderen Gebieten der europäischen In-tegration. Sie spielen für ihre Zukunft ebenfalls eine wich-tige Rolle. So ist die Aufnahme Kroatiens als 28. EU-Land ein wichtiges Signal für eine neue Epoche im ehemaligen Jugoslawien. Andere Aspiranten haben aus der Sicht von EU-Vertretern die Beitrittsreife noch lange nicht erreicht. So wird auch im Zusammenhang mit weiteren Bewerbern das »Monitoring« von Beitrittskandidaten eine wichtige Zu-kunftsaufgabe der EU bleiben. Die Erfüllung von Beitritts-konditionen in Staaten der letzten Erweiterungswelle steht ebenfalls nach wie vor ganz oben auf der EU-Agenda. Im Falle Bulgariens und Rumäniens geht es in erster Linie um die Eindämmung von Korruption, den Aufbau einer verlässlichen Verwaltung und die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen.

Unter dem Eindruck der momentanen Krise stellt sich aus der Sicht vieler Beobachter die Frage, inwieweit die Aufnahme weiterer Staaten unter den derzeitigen Bedingungen ver-kraftbar wäre. Die zunehmende Komplexität dürfe nicht dazu führen, dass Blockaden im Entscheidungsgefüge entstehen, die die Handlungsfähigkeit der EU einschränken und die Abläufe für die Umsetzung von Entscheidungen verzögern. Darüber hinaus sei mit Verteilungskonfl ikten zu rechnen, in deren Verlauf die Zuteilung fi nanzieller Hilfen zu einer schärferen Wettbewerbssituation zwischen den bisherigen Empfängern und den »Neulingen« führen und weitere Mode-rationsverfahren notwendig machen könnten.

Auch in der Außenpolitik zeigen verschiedene Beispiele, dass ein koordiniertes Vorgehen trotz gemeinsamer ideeller Grundlagen von Fall zu Fall neu verabredet werden muss. Immer deutlicher wird dabei, dass der Verknüpfung von au-ßenpolitischem EU-Profi l und Energie- bzw. Rohstofffragen eine wachsende Bedeutung zukommt. Trotz aller Anstren-gungen bei der Förderung regenerativer Energien geht es auf lange Sicht darum, die Energiewende im europäischen Rahmen durch die Erschließung neuer Bezugsquellen ab-zusichern. Auch an einer langfristigen, verlässlichen Roh-stoffversorgung der europäischen Industrie haben die EU-Staaten ein großes gemeinsames Interesse. Diese Kongruenz wird auch in Zukunft eine engmaschige Abstimmung in den Außenbeziehungen der EU notwendig machen.

Ein anderes Zukunftsthema liegt in der demografi schen Ent-wicklung der Europäischen Union. Wenn sich in vielen EU-Ländern die Zahl der über 65-Jährigen an die der Erwerbs-tätigen weiter annähert, wird ein »graues Europa« die Sozi-alsysteme mittelfristig vor große Herausforderungen stellen. Dabei handelt es sich bei der hohen Jugendarbeitslosigkeit in einigen südeuropäischen EU-Ländern um ein demogra-fi sches Problem eigener Art. Dieses besteht darin, dass die nationalen Arbeitsmärkte auf Grund der fi nanzpolitischen

Die europäische Einigung ist ein bislang einzigartiger Vorgang in der Geschichte des Kontinents. Sie ist auch die Folge von zwei Welt-kriegen und des Endes der Ost-West-Konfrontation.

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Einleitung

war allen Beobachtern klar, dass über kurz oder lang die EU noch einmal »in die Werkstatt« musste.

Die Halbwertszeit des Vertrags von Nizza war besonders kurz, denn schon zwei Jahre nach Inkrafttreten tagte der Europäische Verfassungskonvent, um einen neuen Vertrag zu schreiben. Im Juli 2003 legte der Konvent einen Ver-tragsentwurf vor, der dann noch im Rahmen einer Regie-rungskonferenz diskutiert und offi ziell beschlossen werden musste. 2004 wurde der Verfassungsvertrag – offi ziell hieß er »Vertrag über eine Verfassung für Europa« – von den Staats- und Regierungschefs beschlossen. Der offi zielle, aber etwas eigenartig anmutende Titel ist der Sorge in Großbritannien oder den skandinavischen EU-Staaten geschuldet, die EU könnte durch eine »Verfassung« staatsähnliche Züge erhal-ten. Dieser neue Verfassungsvertrag musste, wie bei Vertrags-änderungen üblich, in allen EU-Staaten ratifi ziert werden. In den beiden Gründerstaaten der Gemeinschaft Frankreich und in den Niederlanden sollte der Vertrag nicht nur von den Parlamenten ratifi ziert, sondern zusätzlich durch ein Refe-rendum legitimiert werden. In beiden Staaten sprach sich im Frühsommer 2003 eine (knappe) Mehrheit der Bevölkerung gegen den Verfassungsvertrag aus, so dass er politisch ge-sehen tot war. Die EU verordnete sich eine »Denkpause«, in der sie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben wollte, in den nationalen Öffentlichkeiten intensiver, als dies bislang geschehen ist, über den Vertrag zu diskutieren.

Als die deutsche Bundesregierung in der ersten Jahreshälfte 2007 die Ratspräsidentschaft der EU übernahm, waren die Erwartungen der Europafreunde an die Kanzlerin sehr hoch, dass sie den Vertrag doch noch retten könne. Angela Merkel hatte es dann tatsächlich geschafft, dem im Koma liegenden EU-Vertrag neues Leben einzuhauchen, sodass er dann am 13. Dezember 2007 von den europäischen Staats- und Re-gierungschefs unterzeichnet werden konnte. Inhaltlich war er in weiten Teilen identisch mit dem Verfassungsvertrag von 2004; auf der symbolischen Ebene wurde er jedoch deutlich abgespeckt: Man hat alle staatsähnlichen Symbole wie die EU-Flagge, die Hymne (»Ode an die Freude«), den Europa-tag (9. Mai) und auch den Leitspruch der EU (»In Vielfalt geeint«) wieder gestrichen; trotzdem wird natürlich bei öf-fentlichen Anlässen in Deutschland und anderen EU-Staaten die Europafl agge gehisst und die »Europa-Hymne« gespielt. Aber auch der Vertrag von Lissabon wäre fast gescheitert, weil sich die irische Bevölkerung im ersten Referendum gegen den Vertrag ausgesprochen hat; bei einer erneuten Abstimmung votierte dann eine Mehrheit für den EU-Vertrag, nachdem die anderen EU-Staaten den Iren kleinere Zuge-ständnisse gemacht hatten. Die europäische »Verfassungs-debatte« dauerte also fast ein Jahrzehnt und stand immer wieder kurz vor dem Scheitern.

Der Vertrag von Lissabon: Mehr Demokratie und mehr Effi zienz?Die zentralen Ziele des neuen Vertrags waren »Mehr Demo-kratie« und »Mehr Effi zienz«. Beides wurde bis zu einem gewissen Teil auch erreicht. Im Vergleich zum alten Vertrag von Nizza (2000) hat der jetzt gültige Vertrag von Lissabon

und wirtschaftlichen Verwerfungen derzeit nicht in der Lage sind, dieses junge Arbeitskräftepotenzial zur Entfaltung zu bringen. Unsichere Perspektiven für die eigene Existenz führen deshalb zu länderübergreifendem Protestverhalten. Es richtet sich auch gegen die Europäische Union mit For-derungen nach einer effektiven Schadensbegrenzung und einer gerechten Verteilung der Lasten, die für viele Länder der Europäischen Union mit der Finanzkrise verbunden sind.

Vielerorts sind die Erwartungen an die EU sehr hoch. Ihre führenden Politiker gehen mit Recht davon aus, dass die Glaubwürdigkeit der europäischen Idee eng mit der Fähig-keit zur Krisenbewältigung verknüpft ist. Die neuen Abspra-chen im Hinblick auf die nationalen Haushalte (Fiskalpakt)verschieben die Balance zwischen der europäischen und nationalen Politikebene deutlich. Dadurch werden nicht nur wichtige Sicherungen für die fi nanzpolitische Stabilität in Europa geschaffen. Mit diesem Schritt beschleunigt sich nach Meinung vieler integrationsskeptischer Beobachter auch die Tendenz zu einem Europa mit mehreren Geschwin-digkeiten. Nicht zuletzt deshalb haben die Debatten über die künftige Gestalt des europäischen Einigungsprozesses der-zeit wieder Hochkonjunktur – und wieder einmal muss die EU ihr Selbstverständnis überdenken und die Neuausrichtung zur Grundlage ihres Handelns nach innen und nach außen machen. Der Vertrag von Lissabon steht deshalb auch für das Bemühen, die Zukunftsfähigkeit der EU zu sichern.

Nach der Reform ist vor der Reform? Der Vertrag von Lissabon Als der Vertrag von Lissabon nach einer Zitterpartie am 1. Dezember 2009 schließlich in Kraft getreten ist, dachten viele, dass er für die nächsten zehn Jahre die Basis für die Politik der Europäischen Union bilden würde. Seit Mitte der 1980er Jahre waren die rechtlichen Grundlagen der Gemein-schaft in immer kürzeren Abständen verändert worden, die Europäische Gemeinschaft (EG) regelmäßig auf den Prüfstand gestellt worden. Als der Vertrag von Lissabon unter Dach und Fach war, setzte eine gewisse Reformmüdigkeit ein: Die erste große Vertragsreform kam 1985 mit der Einheitlichen Euro-päischen Akte; dieser Begriff wurde gewählt, um deutlich zu machen, dass die EG keine Verfassung im eigentlichen Sinne besitzt wie Deutschland mit dem Grundgesetz. Dann kam mit dem Maastrichter Vertrag, der 1993 in Kraft getreten ist, die bislang wichtigste Änderung des Gemeinschaftsvertrags: Neu eingeführt wurden nun die Wirtschafts- und Währungsunion und der Euro als gemeinsame Währung, aber auch eine Ge-meinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (kurz: GASP) und eine engere Zusammenarbeit im Rahmen der Justiz- und Innenpolitik, also etwa eine gemeinsame europäische Ver-brechensbekämpfung, kamen hinzu. Dann erfolgten in immer kürzeren Abständen weitere Anpassungen des EU-Vertrags (der Begriff »EU« wurde erst mit dem Maastrichter Vertrag eingeführt): erst der Vertrag von Amsterdam (im Juni 1997 unterzeichnet), dann der Vertrag von Nizza, der im Dezember 2000 nach sehr schwierigen Verhandlungen unterzeichnet werden konnte und die EU für die Osterweiterung fi t machen sollte. Da dies nur in einem begrenzten Maße gelungen ist,

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Einleitung

wichtige Veränderungen in Bezug auf diese beiden Zielmar-ken gebracht. Das Europäische Parlament (EP), welches seit Jahren im Verdacht steht, kein »richtiges« Parlament zu sein, weil es zu schwach sei, hat sich inzwischen als veritabler Mitspieler und Kontrolleur in der EU etabliert. Das »Demo-kratiedefi zit« der EU konnte in den letzten Jahren nicht nur dadurch abgebaut werden. Durch den neuen Vertrag wird das EP noch wichtiger, weil die Bereiche, in denen es heute mitentscheiden kann, ausgeweitet worden sind; es ist nun in fast allen Bereichen (nicht jedoch in der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik) ein gleichberechtigter Mitspieler. Das Parlament hat seine neue Macht auch gleich eingesetzt und das sogenannte SWIFT-Abkommen, das den Austausch von Kontodaten mit den USA regelt, in einer ersten Abstimmung Anfang 2010 zu Fall gebracht, weil aus seiner Sicht der Datenschutz nicht ausreichend war. Nach entsprechenden Nachbesserungen stimmte das Straßburger Parlament in der zweiten Abstimmung im Juli 2010 schließlich zu.

Darüber hinaus wurden im Rat, also dem Organ der EU, in dem die nationalen Regierungsvertreter sitzen, die Abstim-mungsmodalitäten geändert. In Zukunft kann im Rat (freilich erst ab 2014) nach dem Prinzip der »doppelten Mehrheit« (Mehrheit der Staaten und gleichzeitig Mehrheit der Be-völkerung) entschieden werden; die Folge ist – wie heute schon –, dass auch große Staaten wie Deutschland oder Frankreich überstimmt werden können, wenn eine Koalition von kleineren und größeren Staaten eine solch »qualifi zierte Mehrheit« zustande bringen. In der Praxis kommt dies jedoch weniger häufi g vor, als man vermuten würde – die EU zieht es in der Regel vor, so lange zu verhandeln, bis eine Ent-scheidung gefunden worden ist, der alle zustimmen können. Eine beliebte Variante ist auch das Schnüren von Paketen, das heißt, ein EU-Staat stimmt in einer Frage dem anderen zu, wenn dieser Staat einem in einer zweiten Frage, die ihm selbst besonders wichtig ist, ebenfalls entgegenkommt. Solche »package deals« halten die EU am Laufen und er-

möglichen, dass eine Europäische Union mit 27 und bald 28 Staaten sich nicht permanent selbst blockiert. Diese Praxis trägt maßgeblich zur Effi zienz der Europäischen Union bei.

Eine Stärkung der europäischen oder »supranationalen« Demokratie wird nicht nur durch die Aufwertung des Euro-päischen Parlaments erreicht, sondern auch durch die Ein-richtung des sogenannten Frühwarnmechanismus. In diesem Mechanismus ist vorgesehen – und es wird inzwischen auch so praktiziert –, dass alle nationalen Parlamente (in Deutschland also der Bundestag und der Bundesrat) sämt-liche Dokumente und wichtige Papiere der Europäischen Kommission direkt zugesandt bekommen. Dann können sie entscheiden, ob bestimmte Themen für sie von Bedeutung sind. Wenn eine bestimmte Zahl an nationalen Parlamenten parallel und koordiniert zu dem Eindruck kommt, dass die EU-Kommission mit ihren Vorschlägen das Subsidiaritäts-prinzip verletzt, dann können sie sich zusammenschließen, innerhalb von acht Wochen im Rahmen des neuen Systems eine »Frühwarnung« aussprechen und die Kommission ersu-chen, ihr Vorhaben einer erneuten Bewertung zu unterzie-hen. Die Kommission ist nicht verpfl ichtet, ihren Vorschlag aus dem Verkehr zu ziehen, sie wird sich jedoch die Kritik sehr genau ansehen und dann entscheiden, ob sie einen zweiten Anlauf unternimmt. Der Sinn des Systems ist es, dass nationale Parlamente sich über die staatlichen Gren-zen hinweg koordinieren und gemeinsam eine europäische Verantwortung übernehmen. Dies gilt auch für Landtage und Regionalparlamente.

Eine weitere Neuerung ist das Instrument der Europä-ischen Bürgerinitiative, die den Bürgerinnen und Bürgern zum ersten Mal die Möglichkeit gibt, sich im Rahmen eines rechtlichen Verfahrens direkt an die EU-Kommission zu wenden und die Brüsseler Behörde aufzufordern, ein EU-Gesetz auf den Weg zu bringen; das gilt natürlich nur für die Themen und Politikfelder, in denen die Europäische

Die Europäische Union ist weder Staat noch Staatenbund noch inter-nationale Organisation – und doch von allem etwas. Das macht sie zu einem historisch einzigartigen Gebilde. Ebenso einzigartig sind Aufbau und Funktionsweise ihrer Organe, die eine Klammer zwischen dem »Europa der Bürger« und dem »Europa der Staaten« und zwischen den verschiedenen Politikbereichen der EU bilden. Durch den Reform-vertrag von Lissabon wurden wich-tige Neuerungen im institutionellen Aufbau der EU eingeführt.

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Baustein A

Union auch die Befugnisse dazu besitzt, etwa im Bereich des europaweiten Verbraucherschutzes. Dies soll dazu beitra-gen, das sogenannte Demokratiedefi zit der Europäischen Union abzubauen, und einen Weg eröffnen, um die Bürger in den EU-Staaten unmittelbar in die Entscheidungsprozesse der Europäischen Union einzubinden – und zwar als Ideen-geber für EU-Initiativen. Dieses neue Instrument wird aber nur dann die hohen Erwartungen erfüllen können, wenn es gelingt, die erforderliche Zahl an Unterschriften (eine Million) europaweit zu organisieren und der Europäischen Kommission solche Themen vorzuschlagen, die wirklich »europäische« Belange betreffen und in mehreren EU-Staaten eine entsprechende Unterstützung fi nden.

Zu erwähnen ist auch noch die Einrichtung von zwei neuen Institutionen – zum einen der permanente Präsident des Europäischen Rates und der Hohe Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik. Von beiden Ämtern hat man sich mehr Kontinuität und Geschlossenheit der EU in ihrem Auftreten nach innen und nach außen versprochen. Herman Van Rompuy hat als EU-Ratspräsident – er ist für zweimal 2,5 Jahre bis 2014 gewählt – die Aufgabe, den Europäischen Rat, also die Sitzungen der Staats- und Regierungschefs zu leiten und seinen Teil dazu beizutragen, dass am Ende die »Chefs« Entscheidungen treffen können. Nicht selten geschieht dies bei EU-Gipfeln erst in den frühen Morgen-stunden und nicht selten wird in diesem Kreis auch heftig gestritten. Im Anschluss an einen Gipfelmarathon bei den Verhandlungen zum Vertrag von Amsterdam (1997) hatten sich etwa die belgische und niederländische Delegation ge-weigert, in denselben Aufzug im Hotel zu steigen, weil man in den Verhandlungen so heftig gestritten hatte und sich nun möglichst aus dem Weg gehen wollte.

Catherine Ashton, die Hohe Vertreterin bzw. EU-Außenbe-auftragte, hatte, als sie im Dezember 2009 in ihr Amt kam, einen schwierigen Start. Inzwischen hat sie jedoch ihre Rolle als Vermittlerin gefunden, bleibt aber nach Meinung der Mehrzahl der Experten politisch zu vorsichtig und hat bislang wenig eigene Initiativen gestartet, so dass Kritik an ihr immer wieder laut wird. Ihre Aufgabe besteht in erster Linie darin, die europäischen Außenminister zu koordinieren und für eine einheitlichere EU-Außenpolitik zu sorgen. Da die EU-Staaten ja weiterhin eine eigene Außenpolitik ver-folgen, ist dies kein leichtes Unterfangen. Zu welchen Ver-werfungen zwischen den europäischen Staaten dies führen kann, hat ja der von Frankreich und Großbritannien geführte NATO-Einsatz in Libyen im Jahre 2011 und die Enthaltung Deutschlands im UN-Sicherheitsrat in dieser Frage gezeigt. Dass sich die EU-Staaten und Washington in den ersten Monaten 2012 erfolgreich auf Sanktionen gegenüber dem Assad-Regime in Syrien verständigt haben, ist ein Beispiel für Lernfähigkeit in der EU.

Schließlich verankert der Vertrag von Lissabon in einigen Politikfeldern zum ersten Mal eine Handlungskompetenz der Gemeinschaft, etwa auf den Gebieten der Energie- und Kli-mapolitik, der Weltraumpolitik, der Sportpolitik und auch auf dem Feld des Katastrophenschutzes.

Alles in allem gilt der Vertrag von Lissabon als pragmatische Lösung, die für längere Zeit die rechtliche Grundlage der EU hätte sein können. Dann kam jedoch die Staatsschuldenkrise mit Macht auf die europäische Tagesordnung und setzte den Vertrag einem Stresstest aus. Dieser – noch anhaltende – Test hat gezeigt, dass die EU für die Krise nicht gut gerüstet ist. Nun hat sich die Diskussion deutlich gewandelt und seit 2010 ist die Europäische Union zusammen mit den euro-päischen Regierungen eigentlich täglich damit beschäftigt, durch immer neue »Rettungsschirme« und Anpassungen des Vertrags die EU und den Euro wieder wetterfest zu machen. Dieser Prozess wird die Europäer für die nächsten Jahre beschäftigen, die europaweite Solidarität testen und das Nachdenken über die Zukunft Europas bestimmen.

●●● Baustein A

EUROPA IM ALLTAG

Europa und der europäische Integrationsprozess haben viele Gesichter. Diese sollen im einleitenden Baustein A durch eine lebensweltlich orientierte Annäherung mit den Schü-lerinnen und Schülern erschlossen werden. Gleichzeitig ist beabsichtigt, die Gestaltung des Alltags durch Beschlüsse der EU zu verdeutlichen und auf die Problematik der Trans-parenz europäischer Politik hinzuweisen. Dabei wird auf die möglichst vielschichtige Begegnung mit »europäischen Phä-nomenen« Wert gelegt (eigene Erfahrungen, Familie, Schule, Freundeskreis, Gemeinde, Region). Dieser Ansatz soll auch als Motivation verstanden werden, sich intensiver mit der EU zu befassen, das eigene Wissen zu erweitern und mit neuen Aspekten zu verknüpfen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Symbolik des europäischen Eini-gungsprozesses einzugehen und seine ideellen Grundlagen zu verdeutlichen.

UNTERRICHTSPRAKTISCHE HINWEISE

Das Material A 1 bietet die Gelegenheit zu einer ersten An-näherung an die EU. Die Mindmap nimmt Assoziationen auf, die nach der Sammelphase erläutert und zueinander in Be-ziehung gesetzt werden können. Dabei ist es möglich, durch die zahlreichen »Hauptstränge« der Vorlage die Beiträge zu ordnen und zu gewichten. So werden Zusammenhänge und Strukturen sichtbar. Als Sozialformen bieten sich Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit an. Das Plenum eignet sich für das Vorstellen der Ergebnisse und ihren Vergleich. Eine Be-fragung von Eltern und Großeltern zum Thema »Europäische Union« könnte zu dem Ergebnis führen, dass die »EU-Bilder« verschiedener Generationen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede aufweisen. Generationengebundene Hal-tungen können in einer Tabelle (Tafel oder Plakat) generati-onenübergreifenden Sichtweisen gegenübergestellt werden.

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Baustein A

Besonders wichtig erscheint in diesem Zusammenhang die Ursachenforschung. Warum bestehen Überschneidungen und Unterschiede? Das Bemühen um Antworten auf diese Leit-frage führt bei den Schülerinnen und Schülern nicht selten zu einer Schärfung der subjektiven Wahrnehmung politischer und historischer Abläufe. Darüber hinaus kann dieses Vor-gehen auch qualitative Veränderungen im europäischen Einigungsprozess deutlich machen, die mehrere Jahrzehnte in Anspruch genommen haben.

Die Mindmap ermöglicht auch eine Verknüpfung mit dem Material A 2. Die Befragung kann ähnlich offen gestaltet werden wie in A 1 oder auf einem vorbereiteten Fragebogen basieren: Dieser gibt die Antwortvarianten von A 2 wieder und stellt den Befragten eine begrenzte Zahl an Stimmen zur Verfügung. So werden Entscheidungen und Gewichtungen erleichtert. Die Zielgruppe für eine Befragung kann sowohl die Klasse als auch eine erweiterte Gruppe innerhalb der Schule oder der breiteren Öffentlichkeit sein. Bei einer entsprechenden Computerausstattung ist die Auswertung der Resultate mit dem Statistikprogramm »GrafStat« denk-bar. Das Programm wird von den Landeszentralen und der Bundeszentrale für politische Bildung kostenlos zur Verfü-gung gestellt. Für die Besprechung der Ergebnisse bietet sich das Klassenplenum an.

Die Auseinandersetzung mit Material A 3 stellt unterschied-liche Erscheinungsformen von »Europa« in den Mittelpunkt. Es macht das breite Spektrum deutlich, in dem dieses Schlag-wort gebräuchlich ist, und thematisiert somit die Unüber-sichtlichkeit beim »europapolitischen Sprachgebrauch«. Die Erläuterungen der Jugendlichen zu den einzelnen Stichwor-ten können sowohl auf die institutionellen Erscheinungs-formen von »Europa« abzielen (Währungsunion, UEFA) als auch Alltagserfahrungen (Schüleraustausch, Urlaub, Euro-pean Song Contest) oder regulative EU-Politik (E-10-Kraft-stoff, Führerschein, KFZ-Kennzeichen) beschreiben. Die Zu-

ordnung weiterer Begriffe kann sich an diesen oder anderen Kriterien orientieren (z. B. Völkerverständigung, Konfl ikte).

Das Leitbild eines »Europas ohne Grenzen« greift A 4 auf. Hier liegt ein Vergleich zugrunde, der auf die Situation am Grenz-übergang Kehl–Straßburg im Abstand von zwanzig Jahren eingeht. Deutlich zu sehen ist der Abbau von Grenzanlagen und der fl ießende Verkehr auf dem zweiten Bild als Zeichen der Vereinfachungen im nachbarschaftlichen Miteinander zwischen Frankreich und Deutschland. Wie die Europafl agge zeigt, steht diese Situation stellvertretend für viele Gren-zen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Zur zeitlichen Einordnung von politischen Schritten, die diese Entwicklung möglich gemacht haben, bietet sich die Übersicht auf S. 5 sowie die Chronologie der europäischen Einigung im Mittelteil des Heftes an. Erfahrungsgemäß sind manche Kinder und Jugendliche bei dieser Thematik in der Lage, von eigenen »Grenz-Erfahrungen« zu berichten und Probleme zu benennen, die offene Grenzen eventuell mit sich bringen (z. B. Kriminalität). Europäische Initiativen wie das Schengen-Abkommen oder Frontex können deutlich machen, dass die EU negative Begleiterscheinungen von Integrationsschritten registriert und mit unterschiedlichem Erfolg versucht, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Die Karikaturen in A 5 zielen auf problemorientierte Zugänge zum Thema EU. Naturgemäß stellen sie symbolische Inhalte in den Mittelpunkt. Dabei bieten sich Recherchen über das Motiv des Stiers, seinen mythologischen Hintergrund und die aktuellen Bezüge zur Diskussion um die Erweiterung der EU an (z. B. Türkei, Island oder Serbien). Eine weitere Kon-fl iktlinie veranschaulicht die zweite Karikatur. Sie themati-siert das Problem der Konsensfi ndung in der EU. Dabei ist es naheliegend, auch auf mögliche (negative) Folgen einzuge-hen, die sich aus dem Widerstreit von nationalen Egoismen und europäischen Interessen ergeben können. Den aus Sicht des Karikaturisten verwirrenden Verlauf des europäischen

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Baustein B

Einigungsprozesses thematisiert die dritte Karikatur. Das im wahrsten Sinne des Wortes häufi ge Hin und Her, Vor und Zurück verunsichert Europa und vermittelt den Eindruck zielloser, beliebiger Politik. Sowohl die idealistischen An-sprüche der EU als auch die reale Situation können mit Aus-zügen aus dem Vertragstext und kritischen Stimmen aus der Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden. Aus methodischer Sicht bietet sich in diesem Zusammenhang eine Debatte oder eine »Talkshow« an, die von Schülerinnen und Schülern gestaltet wird.

Dem Material A 6 liegt die Absicht zugrunde, eine konkretere Vorstellung vom »politischen Mehrebenensystem« der EU zu vermitteln. Zentrales Ziel dieses Lernschrittes ist die Erkenntnis, dass regionale, nationale und europäische Po-litikebenen miteinander verfl ochten sind und verschiedene Bereiche der Politik in unterschiedlicher Intensität gemein-sam gestalten. Dieser Umstand kann seinen Niederschlag in den beiden anschließenden Arbeitsaufträgen fi nden (Ge-staltung einer eigenen Europafl agge, Recherche zum Zusam-menwirken der verschiedenen Politikebenen anhand eines bestimmten Beispiels).

Die Bedeutung europäischer Politik für den Einzelnen wird in A 8 aufgegriffen. Es weist auf Vorteile einer EU-Mitglied-schaft hin und bietet Schreibanlässe für Briefe an fi ktive Freunde auf anderen Kontinenten. Darüber hinaus kann der Text als Ergänzung für das Fallbeispiel Wertheim in A 9 herangezogen werden. In ihm kommen ebenfalls Chancen und Probleme der europapolitischen Zusammenarbeit zur Sprache. Handlungsorientiert ausgerichtet ist die »Europa-suche« von Schülerinnen und Schülern. Das individuelle »EU-Profi l« kann auf Landkarten entstehen, die durch Ver-bindungslinien, Fotos, Souvenirs, Postkarten, Notizen usw. die persönlichen Beziehungen der Schülerinnen und Schüler zu anderen Ländern in Europa veranschaulichen. Darüber hinaus ist denkbar, dass Jugendliche den (Ober-)Bürger-meister oder den Europabeauftragten ihres Wohnorts zu EU-Themen interviewen.

Das Beispiel »Verbraucherschutz« soll die Möglichkeit bieten, die Vor- und Nachteile von Harmonisierungsbestrebungen der EU kennenzulernen und zu beurteilen. Die Sicherheit von Nahrungsmitteln, Gesundheitsvorsorge, der Abbau von Han-delshemmnissen, Orientierungshilfen beim Einkauf und der Schutz vor überhöhten Gebühren stehen deshalb im Zentrum der Materialien A 10 bis A 13. Ausgehend von den eigenen Erfahrungen bietet sich die themengeleitete Erkundung eines Supermarktes als praktische Ergänzung dieser Einheit an. Eine fundierte und differenzierte Beurteilung europäischer Politik erfordert aber auch die Auseinandersetzung mit der oft beklagten Überregulierung »aus Brüssel« sowie die Be-schäftigung mit Interessen- bzw. Zielkonfl ikten zwischen Mitgliedstaaten der EU und europäischen Institutionen (siehe insbesondere A 14). Die Erarbeitung von Konfl iktlösungen kann zu der Einsicht führen, dass Kompromissbereitschaft und das »Prinzip des Gebens und Nehmens« (das sogenannte »Horse Trading«) wichtige Instrumente für die Überwindung von Problemen in der Europäischen Union sind.

●●● Baustein B

IN GUTER VERFASSUNG? –DIE EU NACH LISSABON

Als der Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, war eine jahrelange Debatte um die Reform der Europäischen Union zu Ende gegangen. Der neue Vertrag soll die EU vor allem demokratischer und effi zienter machen. Zu den wichtigsten Änderungen gehören folgende Reformen: Das Europäische Parlament wird durch den Vertrag in seinen Mit-wirkungs- und Kontrollrechten gestärkt. Es ist somit längst kein »zahnloser Tiger« mehr. Zudem können die einzelnen Parlamente in den EU-Staaten – in Deutschland also Bundes-tag und Bundesrat – die EU-Kommission direkt kontrollieren, weil alle Vorhaben und Pläne der Kommission vorab einem »Subsidiaritäts-Test« unterzogen werden können: Wenn na-tionale Parlamente aus mehreren EU-Staaten zu dem Ergeb-nis kommen, die Europäische Kommission überschreite mit ihren Plänen ihre Kompetenzen, können sie ihr eine »gelbe Karte« zeigen und die Kommission stoppen. Um dieses Kon-trollinstrument auch nutzen zu können, müssen sich die Par-lamente europaweit verständigen und Koalitionen bilden. So soll sichergestellt werden, dass dieser »Frühwarnmechanis-mus« nur dann zum Tragen kommt, wenn der Einspruch von einer entsprechenden Mehrheit geteilt wird, und nicht dazu missbraucht werden kann, rein nationale Sonderinteressen zu verfolgen und die EU zu blockieren.

Aber nicht nur die nationalen Parlamente wurden gestärkt, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger in der EU sollen ein neues Mitspracherecht bekommen. Sie können mit der »Europäischen Bürgerinitiative« der Kommission im Rahmen eines neuen rechtlichen Verfahrens konkrete Vorschläge und Ideen für neue EU-Gesetze übermitteln. Der Vertrag von Lissabon hat darüber hinaus zwei neue politische Ämter und wichtige Mitspieler auf der EU-Ebene gebracht: Mit Herman Van Rompuy hat die Europäische Union nun einen dauer-haften, für maximal fünf Jahre gewählten EU-Präsidenten, der die Brüsseler EU-Gipfel leitet und die EU-Politik nach innen und außen sichtbarer machen soll. (Bislang wurden die Treffen der Staats- und Regierungschefs von einer nur sechs Monate amtierenden Ratspräsidentschaft geleitet.) Das zweite neue Amt ist mit Catherine Ashton besetzt. Sie ist als EU-Außenbeauftragte eine Art »Außenministerin« und verleiht der EU Gesicht und Stimme auf der internationalen Bühne. Mit dem neu geschaffenen Europäischen Auswärtigen Dienst soll sie zu mehr Kohärenz und Geschlossenheit in den EU-Außenbeziehungen beitragen. Weil jedoch Außenpolitik zu den Kernbereichen der nationalen Souveränität gehört, sind hier die Anlaufschwierigkeiten einer geschlosseneren Außenvertretung der EU am größten.

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Baustein B

UNTERRICHTSPRAKTISCHE HINWEISE

Baustein B möchte die qualitativen Veränderungen im eu-ropäischen Einigungsprozess deutlich machen, die sich aus dem Vertrag von Lissabon ergeben. Dabei spielt die Erkennt-nis eine wichtige Rolle, dass die Komplexität europäischer Politik durch die Aufnahme zahlreicher Staaten in die EU Schritt für Schritt zugenommen hat. Die Reformschritte des Lissabonner Vertrages sind also nicht zuletzt der Versuch, die Funktions- und Entwicklungsfähigkeit der EU auf verän-derte Rahmenbedingungen einzustellen.

B 1 veranschaulicht die verschiedenen Erweiterungsrunden der Union. Die Karte vermittelt einen vielschichtigen Ein-druck von der Beschleunigung des Erweiterungsprozesses seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes. (Vgl. hierzu auch das groß angelegte EU-Quiz im Mittelteil des Heftes.) Die Frage »Aus welchen Gründen sind immer mehr Länder Mit-glied der heutigen EU geworden?« kann ein Einstieg in die Sammelphase zu den Beitrittsmotiven einzelner Staaten sein. Diese sind meist wirtschaftlicher, politischer, histo-rischer oder sozialer Art und können bei der Ergebnissiche-rung entsprechend klassifi ziert werden. Im Vorfeld bietet es sich an, dass Schülerinnen und Schüler Länderprofi le erar-beiten, die beispielsweise die Zusammensetzung der Bevöl-kerung, die Wirtschaftsleistung oder den Entwicklungsstand einzelner Regionen deutlich machen. Entsprechende Daten liefern die Europäische Statistikbehörde EUROSTAT und das Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes. Dieser Arbeits-schritt kann in Kleingruppen vor sich gehen. Anschließend werden die Resultate im Plenum zur Diskussion gestellt und mit der Frage nach den Gründen für einen EU-Beitritt ver-knüpft. Denkbar ist auch eine Umfrage in der Schule oder lokalen Öffentlichkeit über die Haltung von Befragten zum Aufnahmeantrag eines bestimmten Landes. Nach einer ent-sprechenden Auswertung (vgl. die Bemerkungen zu GrafStat auf S. 9) empfi ehlt sich die Erarbeitung von Aufnahmekri-

terien durch die Schülerinnen und Schüler. Ein Abgleich mit den Länderprofi len lässt dann Rückschlüsse auf die Chancen eines entsprechenden Gesuches zu und weist auf die Not-wendigkeit von Sonderabsprachen hin.

Die Behandlung der Erweiterungsthematik ist auch in einer kreativ ausgerichteten Variante möglich. So können Schü-lerinnen und Schüler aus der Sicht von Beitrittskandidaten ein Bewerbungsschreiben an die Europäische Kommission verfassen und darin die Motive für einen EU-Beitritt darle-gen. Im Gegenzug ist es denkbar, dass eine andere Gruppe die Rolle der Kommission übernimmt und Bedingungen for-muliert, unter denen eine EU-Mitgliedschaft denkbar wäre. Am Ende dieser Phase könnten »Beitrittsverhandlungen« stehen, in deren Verlauf die beteiligten Parteien neben in-haltlichen Schwerpunkten auch einen Zeitplan erarbeiten, der als Grundlage für den weiteren Beitrittsprozess dient. Bei größeren Lerngruppen bietet es sich an, die Zahl der Beitrittskandidaten zu erhöhen.

Die kritischen Anmerkungen des Journalisten Thomas Gack in B 2 können die Grundlage für ein Rollenspiel sein, in dem Kritiker und Befürworter des Vertrages von Lissabon den Versuch unternehmen, ihre Auffassungen vor Publikum überzeugend zu vertreten. Alternativ ist es auch möglich, Stärken und Schwächen des Vertragstextes in Gruppen auf der Grundlage von B 2 sowie B 3 arbeitsteilig zu erschließen und die Ergebnisse anschließend dem Plenum vorzustellen. Eine dritte Option ist das Verfassen von Leserbriefen an den Autor. Die Texte könnten sich auf einen wichtigen Aspekt konzentrieren (z. B. die Forderung nach einem »Europa der Bürger«) und die Sichtweisen bzw. Forderungen der Schüle-rinnen und Schüler darlegen.

Die Materialien B 4 – B 7 gehen in erster Linie auf die neuen Befugnisse und Herausforderungen für das Europäische Par-lament ein. Eine kombinierte Beschäftigung mit den Mate-

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rialien B 5 und B 6 kann zu der für viele Schülerinnen und Schüler überraschenden Einsicht führen, dass das Europä-ische Parlament trotz seiner heterogenen Zusammensetzung und trotz wechselnder Mehrheiten oftmals mit einer Stimme gegenüber dem Ministerrat spricht. Die Homepage des Eu-ropäischen Parlaments (www.europaparl.europa.eu) bietet Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, »ihr« Mitglied des Europäischen Parlaments (MdEP) kennenzulernen und mit ihm Kontakt aufzunehmen. In der Praxis hat sich die Erarbeitung eines Fragenkataloges im Vorfeld bewährt, auf dem der (auch virtuelle) Austausch basiert. Im Idealfall ergibt sich für die Jugendlichen eine Erkundung vor Ort, in deren Rahmen sie Einblicke in das Wirkungsfeld des oder der Abgeordneten in Straßburg, Brüssel oder in seinem Wahl-kreis erhalten. Im Unterricht kann es fruchtbar sein, die Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Materials einen Lückentext zum Thema »Die neuen Rechte des Euro-päischen Parlamentes« verfassen zu lassen, der dann von einem Mitschüler bzw. einer Mitschülerin vervollständigt wird. Die Beurteilung der Ergebnisse läge dann beim ent-sprechenden Autor bzw. der entsprechenden Autorin.

B 4 thematisiert die Steuerpolitik »als eine der letzten Bastionen der nationalen Souveränität«. Aus aktuellem Anlass bietet dieser Text Anknüpfungspunkte zum Thema »Fiskalpakt«. Schülerinnen und Schüler können durch eine Medienrecherche dessen Inhalte erschließen und sich da-durch bewusst machen, dass veränderte Problemlagen auch den Wirkungsradius und die Geltungsdauer des Vertrages von Lissabon begrenzen. Darüber hinaus ist es von großer Bedeutung, die Verhandlungspositionen einzelner Staaten näher kennenzulernen. So haben sich die 17 Länder der Euro-Zone den Vereinbarungen angeschlossen, ebenso acht EU-Mitglieder, die die europäische Währung nicht eingeführt haben. Tschechien und Großbritannien konnten sich nicht zu einer Unterschrift entschließen. Durch die Auseinander-setzung mit diesen Fakten in Form einer Simulation der Ver-handlungen mit verteilten Rollen lernen die Jugendlichen ein wesentliches Prinzip des europäischen Integrationspro-zesses kennen: Die Erweiterung und Vertiefung der Union führen immer wieder zu neuen, teilweise konfl iktreichen Konstellationen. Jeder vertraglich gefasste Konsens spiegelt somit Kompromisse wider und wird zu einer neuen Grundlage europäischer Politik.

B 5 (unten) veranschaulicht die nachlassende Beteiligung der EU-Bürger an den Wahlen zum Europäischen Parlament. Um diesem Trend entgegenzutreten, wertet »Lissabon« durch die Einführung der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) das »Europa der Bürger« – zumindest auf der Vertragsebene –erheblich auf (B 8 und B 9). Für die Schülerinnen und Schü-ler bietet sich durch den »Testlauf« einer EBI die Gelegen-heit, Einblicke in die »außerparlamentarische« Variante der europäischen Demokratie zu erhalten. Konkretisiert werden könnte dieses Projekt durch das Erstellen eines Flugblattes oder Werbespots, das bzw. der zur Teilnahme an einer be-stimmten EBI aufruft. Als Alternative ist auch das Ver-fassen einer Rede denkbar, die auf einer EBI-Informati-onsveranstaltung gehalten wird. Wie B 10 deutlich macht,

ist dieses Instrument nach wie vor in der Diskussion. Die Auseinandersetzung mit dem Für und Wider der europäischen Bürgerinitiative kann ein differenziertes Bild von einem bürgernahen Europa entstehen lassen und die Sensibilität für unterschiedliche Erscheinungsformen der Demokratie fördern.

Die Materialien B 11 – B 17 machen die große Kluft zwi-schen Anspruch und Wirklichkeit in der Außenpolitik der EU deutlich. Zur Veranschaulichung können B 18 und B 19 als Fallbeispiele für die schwache Kohärenz dieses Politik-feldes herangezogen werden. Die Erschließung der jüngsten Entwicklungen durch arbeitsteilige Gruppenarbeit und die Zusammenführung der Ergebnisse im Klassenverband führen Schülerinnen und Schülern zwei wesentliche Probleme bei der Entstehung und Umsetzung europäischer Politik vor Augen: Zum einen zeigt das heterogene Vorgehen, dass nationale und europäische Interessen weit auseinander liegen können. Zum anderen sind EU-Maßnahmen an be-stimmte Entscheidungsabläufe gebunden, die verzögerte Reaktionen zur Folge haben. Aus methodischer Sicht ist in diesem Zusammenhang eine Ideenwerkstatt denkbar, in der die Schülerinnen und Schüler Möglichkeiten ausloten, wie dieses Politikfeld zu einer stärkeren internationalen Glaubwürdigkeit der EU beitragen könnte. Es wäre deshalb möglich, die Arbeitsergebnisse in eine »Zukunftskonferenz« zum Thema »Die Außenpolitik der EU in den nächsten 50 Jahren« münden zu lassen. Teilnehmer könnten sein: Ver-treter verschiedener Einzelstaaten, Repräsentanten der EU sowie Wissenschaftler und Medienvertreter, die die Konfe-renzteilnehmer auf der Abschlusspressekonferenz befragen und entsprechende Medienbeiträge (Zeitungsartikel, Beitrag zu einer Nachrichtensendung, Magazinbeitrag, Blog usw.) erarbeiten.

Baustein B

Lösungen zum Quiz

Was weißt du über die Europäische Union?in der Mitte dieses Heftes

1b und 1c / 2b / 3b / 4b / 5b / 6c / 7a / 8c / 9a / 10c / 11b / 12a / 13a / 14c / 15a / 16a / 17c / 18b /19a / 20b / 21c / 22b / 23a / 24c / 25c / 26a / 27b /28c / 29b / 30c / 31c / 32b / 33a / Jokerfrage: Lösung a

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●●● Baustein C

BAUSTELLE EUROPA – WOHIN GEHT DIE EU?

Krisenzeiten sind Zeiten der Unsicherheit und des Nach-denkens. So ist es kein Wunder, dass die Europäische Union sich im Zuge der Euro- und Staatsschuldenkrise wieder mit der Frage »Quo vadis?« und mit den Zielen und Leitbil-dern der europäischen Integration auseinandersetzt. In der britischen Zeitung »Financial Times« gab es Anfang 2012 zahlreiche Beiträge, die unter der Überschrift »Re-thinking Europe« die Zukunftsperspektiven der EU disku-tierten. Dieses »Neu Nachdenken über Europa« beschreibt die intellektuelle Herausforderung sehr treffend, vor der Europapolitiker, Medien und Bürgerinnen und Bürger aktuell stehen. Langjährige Beobachter der europäischen Integra-tion mögen sich die Augen reiben, weil nun leicht verstaubte und etwas in Vergessenheit geratene Leitbilder wie das von den »Vereinigten Staaten von Europa« wieder hervorgeholt werden. Diese Leitbild-Diskussionen führen zurück zu den Anfängen der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg. Berühmt ist die Europa-Rede von Winston Chur-chill, die er 1946 in Zürich gehalten hat. In dieser Rede hat er den Europäern – wohlgemerkt ohne Großbritannien – die Schaffung einer »Art von Vereinigten Staaten von Europa« ans Herz gelegt.

Damals wie heute wird dieses Leitbild jedoch ganz unter-schiedlich aufgenommen: Während für die einen dieses Ziel eine wünschenswerte Zukunftsperspektive in Richtung »Mehr Europa« darstellt, reagieren andere geradezu allergisch auf solche »föderalen« und »supranationalen« Ideen. Sie plä-dieren im Gegenzug für eine Stärkung der »intergouverne-mentalen« Kooperation in Europa, also der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Regierungen der EU-Staaten anstelle der Übertragung von Kompetenzen auf die Brüsseler Ebene.

Die Materialien im Baustein C sollen auf der Grundlage von aktuellen Beiträgen aus der Politik und der Publizistik eine Auseinandersetzung mit den ganz grundsätzlichen Fragen nach Sinn und Zweck der europäischen Zusammenarbeit ermöglichen. Das Auswärtige Amt (AA) hat Ende Februar 2012 ein Papier zur »Europa-Kommunikation« vorgelegt. Dort wird festgestellt, dass Europa »die größte politische Erfolgsgeschichte« sei, was in der Schuldenkrise aber in Vergessenheit zu geraten drohe: »Wir müssen uns neu ver-gewissern, worin der Wert Europas liegt. Europa bedarf einer neuen Begründung. Europa muss die Europäer überzeugen; dann wird auch die Bewältigung der Krise gelingen.« Das europäische Einigungswerk, so das AA-Papier weiter, sei die »Antwort auf die Selbstzerstörung unseres Kontinents in der Vergangenheit« und habe »sechzig Jahre des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands gebracht«.

Diese Argumentation verweist auf ein anderes Leitbild – »Europa als Friedensprojekt« –, das vor allem prägend war für die erste Generation von Europapolitikern, die auf der Grundlage von millionenfachem Tod und unendlichem Leid, das der Zweite Weltkrieg und der Holocaust gebracht haben, einen dauerhaften Frieden in Europa durch die wirtschaft-liche und politische Verfl echtung sichern wollten. Dass dieser Zusammenhang für nachfolgende Generationen und für die heutige Jugend erst recht an Anschaulichkeit und Überzeugung verloren hat, liegt auf der Hand. Der Schweizer Zeichner Patrick Chappatte hat dies mit seiner Karikatur auf den Punkt gebracht. Die Suche nach neuen bzw. die Anpas-sung der alten Begründungen für die EU hat gerade erst begonnen. Europa braucht, so wird allenthalben gefordert, eine neue, eine der heutigen Zeit angemessene »Meister-erzählung« (master narrative).

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UNTERRICHTSPRAKTISCHE HINWEISE

Im Mittelpunkt von Baustein C steht das Nachdenken über die Zukunft der Europäischen Union. Dabei sollen die Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Vorstellungen kennenlernen, diese bewerten und eigene Szenarien ent-wickeln. Ein wesentliches Lernziel ist die Verdeutlichung der verschiedenen Perspektiven, aus denen die künftige Entwicklung der EU beleuchtet werden kann. Dies geschieht entweder auf der Grundlage wirtschaftlicher, sozialer oder »politisch-kultureller« (Zitat Joschka Fischer, Material C 14) Kriterien.

Die Quellenarbeit mit C 1 bietet den Jugendlichen die Ge-legenheit, das Erreichte überblicksartig zu erschließen. In einem nächsten Schritt kann die europäische Integration aus dem Blickwinkel des Jahres 2150 mit ihren Höhen und Tiefen schriftlich dargestellt werden (vgl. Arbeitsaufträge C 1 – C 3). Dadurch rücken historische Zusammenhänge und verschiedene Stadien im Reifeprozess der europäischen Eini-gung in den Vordergrund. Die Chronologie (vgl. S. 5) und das Quiz im Mittelteil des Heftes bieten Hilfestellungen an.

Für eine Problematisierung eignet sich die Feststellung des Journalisten Heribert Prantl, nach der Europa »ein unver-dientes Paradies für die Menschen des ganzen Kontinents« sei (C 1). Ausgehend von der Frage »Was stellt ihr euch unter ›Paradies‹ vor?« kann eine Brainstorming-Phase oder ein »Blitzlicht« zu der Erkenntnis führen, dass sich diese Aussage in erster Linie auf die lange Friedensphase nach dem Zweiten Weltkrieg bezieht. In vielerlei Hinsicht besteht jedoch nach wie vor noch großer Handlungsbedarf, um die Kluft zwischen dem Anspruch des Vertrags von Lissabon und der europäischen Wirklichkeit zu überwinden. Beispiele hierfür sind die Euro-Krise (C 4 und C 8), die hohe (Jugend-)Arbeitslosigkeit (C 12) oder Probleme bei der Harmoni-sierung von Lebensverhältnissen (z. B. Bekämpfung von Armut). Die Auseinandersetzung mit diesen Aspekten des europäischen Entwicklungsprozesses kann in einer Gegen-überstellung von erreichten und noch nicht erreichten Zielen der EU festgehalten werden (Tafelbild, Plakat). Folgende Fragestellungen erscheinen hierbei sinnvoll: Was hat die EU bislang Positives gebracht? Was ist noch nicht gelun-gen? Welche Gründe gibt es dafür? Was bedeutet das für die Zukunft der EU? Den Jugendlichen eröffnet sich so die Möglichkeit, »Europa« als fortwährenden Gestaltungsauf-trag wahrzunehmen, der die Erfahrungen der Vergangenheit berücksichtigen muss (C 2).

Dass die EU auch in Zukunft mit Hindernissen konfrontiert sein wird, macht C 3 deutlich. Für die Schülerinnen und Schüler bietet es sich an, in Kleingruppen die »Widerstände« (Wolfgang Schäuble) zu konkretisieren, die dazu geführt haben, dass die wirtschaftliche und währungspolitische In-tegration der politischen Einigung Europas weit vorausgeeilt ist. Denkbare Antworten sind z. B. Hinweise auf die Erhaltung nationaler Souveränität, große Unterschiede in der ökono-mischen Entwicklung oder parteiprogrammatische Aussagen, die von einer Distanz zum europäischen Einigungsprozess

geprägt sind. Der Austausch von Ergebnissen kann in Form eines rotierenden Partnergesprächs oder eines »Fish-Bowls« vonstatten gehen. Auch der Rückgriff auf die Materialien C 4 – C 7 erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll. Zur Klärung des Begriffes »Schicksalsgemeinschaft« (C 5) bietet sich ein ähnliches Vorgehen an wie bei der Behandlung des Stichwortes »Paradies« (C 1).

Denkbar ist im Anschluss eine Abstimmung über die Leitfrage »Die Wirtschafts- und Währungsunion – eine Schicksalsge-meinschaft?« (C 5). Dabei positionieren sich die Stimmbe-rechtigten je nach Auffassung in drei verschiedenen »Zonen« des Raumes (Ja-Zone, Nein-Zone, Enthaltungszone), um ihre Haltung deutlich zum Ausdruck zu bringen. Nach dem Er-stellen des Meinungsbildes obliegt es jeder Gruppe, Gründe für ihre Sichtweise vorzubringen. Eine zweite Abstimmung kann Aufschlüsse darüber liefern, welche Partei ihre Position am überzeugendsten vorgebracht hat und eventuell sogar weitere Anhänger gewinnen konnte. Argumentationshilfen bieten die Materialien C 5, C 6 und C 7.

Die Auseinandersetzung mit dem Titelblatt des »Economist« vom November 2011 (C 8) verfolgt mehrere Ziele: Zum einen sollen die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit erhal-ten, ihre Fähigkeiten im Umgang mit bildhaft dargestellten Problemen der Politik auszubauen. Andererseits bringt der Titel »Is this really the end?« die Frage nach der Zukunft der Währungsunion auf den Punkt. Im Unterrichtsgespräch können Stichworte gesammelt werden, die den Jugendlichen im Lauf der Auseinandersetzung mit der Darstellung ein-fallen. Das Festhalten der Beiträge auf Moderationskarten erleichtert die Strukturierung der Resultate. Die Ergebnisse können reichen vom Euro als einem sinkenden Stern der europäischen Integration über Verluste an Glaubwürdigkeit der europäischen Politik bis hin zu einer düsteren Prognose für den Verlauf des europäischen Einigungsprojektes ins-gesamt. Dabei bieten die Materialien C 10 und C 14 den Jugendlichen die Möglichkeit, die grundsätzliche Bedeutung der Währungsunion für die EU zu erkennen und sich mit ihr auseinanderzusetzen: In einem Streitgespräch der beiden »Kontrahenten« Niall Ferguson (»Der Euro ist der größte Antreiber der europäischen Spaltung«) und Joschka Fischer (»Indem ich den Euro rette, erhalte ich die EU«) können Schülerinnen und Schüler vor »Publikum« die verschiedenen Standpunkte vertreten und argumentativ untermauern. Die Zahl der Diskutanten kann je nach Größe der Lerngruppe um die Positionen von Hans-Werner Sinn (C 9) und die Auffassungen von Ursula von der Leyen (C 11) erweitert werden. Das Tableau an Vorschlägen macht deutlich, dass die Empfehlungen zur Bewältigung der momentanen Krise in unterschiedliche Richtungen gehen und ein »Masterplan« nicht in Sicht ist.

Dass die Zukunftsperspektiven der jüngeren Generation oft-mals nicht sehr günstig sind, veranschaulicht C 12. In dem Text spricht die Journalistin Sibylle Haas sogar von der »Hoffnungslosigkeit einer ganzen Generation«. Die Statistik zur Jugendarbeitslosigkeit in Europa bietet die Gelegenheit, diese Aussage zu überprüfen. Darüber hinaus ist es denkbar,

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sich mit Konsequenzen dieser Situation für betroffene Al-tersgenossen der Schülerinnen und Schüler in ausgewählten Ländern zu beschäftigen. Naheliegend ist in diesem Fall die Aufgabe, Lebensläufe von Jugendlichen zu verfassen, die dort weder einen Arbeitsplatz noch eine Ausbildungs-perspektive haben. Ergänzend oder alternativ dazu kann auch das Thema »Auswanderung« in einem Rollenspiel zur Sprache kommen: Eine Familie wägt in einem Gespräch Vor- und Nachteile eines Neuanfangs in einem anderen EU-Land gegeneinander ab. Zuvor empfi ehlt sich die Erarbeitung von »Drehbüchern« in Kleingruppen. Ähnlich handlungsorien-tiert sind »Bewerbergespräche«, die die »Aktion Nikolaus« konkretisieren können (C 13).

Den Bezug zu Baden-Württemberg – und damit zur »regi-onalen Lebenswelt« der Schülerinnen und Schüler – stellt

C 15 her. Minister Friedrich kommt zu dem Schluss, dass »Europamüdigkeit« eine Gefahr für den derzeitigen Entwick-lungsstand der europäischen Idee in sich berge. Schülerinnen und Schüler können vor diesem Hintergrund in Standbildern zum Ausdruck bringen, welche negativen Folgen mit dieser Entwicklung einhergehen. Im Anschluss daran ist die Aus-schreibung eines Ideenwettbewerbs zur Überwindung der Europamüdigkeit denkbar. Die Klasse kann dabei die Rolle der Jury übernehmen und prüfen, inwieweit eine Verwirk-lichung der Vorschläge im Bereich des Möglichen liegt. Die Erfahrung zeigt, dass erst dann die Planung und Umsetzung konkreter Schritte sinnvoll ist.

Baustein C / Literaturhinweise

Abels, Gabriele/Eppler, Annegret/Träsch, Jennifer: Zum »Demokra-tiedefi zit« der EU – und wie es sich (nicht) abbauen lässt, in: Der Bürger im Staat, Heft 3/2010, S. 256–266.

Aktion Europa. Entdeckt Europa! Berlin 2010.

Bendiek, Annegret/Lippert, Barbara/Schwarzer, Daniela (Hrsg.): Ent-wicklungsperspektiven der EU. Herausforderungen für die deutsche Europapolitik, Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin 2011 (www.swp-berlin.org).

Bergmann, Jan (Hrsg.): Handlexikon der Europäischen Union, 4. Aufl ., Baden-Baden 2012.

Der Bürger im Staat: »Europa konkret – Wie die EU funktioniert«, Heft 3/2010, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 2010 (www.buergerimstaat.de).

Europa nach Lissabon. Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 18/2010.

Europa sind wir! Methoden für die europapolitische Jugendbildung, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und Centrum für angewandte Politikforschung CAP, Stuttgart/München 2007.

Europäische Gemeinschaften: Entdecke Europa! Luxemburg 2008.

Europäische Kommission (2010): Europa 2020. Eine Strategie für in-telligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, Brüssel [KOM (2010) 2020 endg.].

Frech, Siegfried/Große Hüttmann, Martin/Weber, Reinhold (Hrsg.): Handbuch Europapolitik, Politik in Baden-Württemberg Bd. 4, Stuttgart 2009.

Große Hüttmann, Martin/Chardon, Matthias/Frech, Siegfried (Hrsg.): Das neue Europa, Schwalbach/Ts. 2008.

Große Hüttmann, Martin/Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Europalexikon. Begriffe, Namen, Institutionen, 2., akt. und erw. Aufl ., Bonn 2012 (im Erscheinen).

Große Hüttmann, Martin: Politische Partizipation und Parlamentaris-mus im EU-Mehrebenensystem, in: Deutschland & Europa, Heft 62, 2011, S. 28–37 (www.deutschlandundeuropa.de).

Große Hüttmann, Martin: Reformen durch Regierungskonferenzen: Struktur und Wandel von Vertragsänderungen in der Europäischen Union, Baden-Baden 2012.

Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Frankfurt/M. 2011.

LITERATURHINWEISE

Hüfner, Martin: Rettet den Euro! Warum wir Deutschland und Europa neu erfi nden müssen, Hamburg 2011.

Lippert, Barbara/Schwarzer, Daniela: Kurs auf die Politische Union. Die EU sollte jetzt trotz vieler Hürden mehr Integration wagen; SWP-Aktuell 52, Berlin 2011 (www.swp-berlin.org).

Plieninger, Jürgen: Recherche im Internet – Was leisten frei zugäng-liche Suchdienste zum Thema Europäische Union?, in: integration, Heft 3/2009, S. 314–317.

Reichstein, Ruth: Die 101 wichtigsten Fragen: Die Europäische Union, München 2012.

Reinhardt, Sibylle/Richter, Dagmar (Hrsg.): Politik-Methodik. Hand-buch für die Sekundarstufe I und II, 2. Aufl ., Berlin 2011.

Schulz-Reiss, Christine: Nachgefragt: Europa: Basiswissen zum Mit-reden, Bindlach 2007.

Sekretariat der Kultusministerkonferenz/Pädagogischer Austausch-dienst: Comenius. Neue Schulwege in Europa. 2. Aufl ., Bonn 2010.

Stratenschulte, Eckart: Europa. Ein (Über-)Blick. Bonn 2007.

Varwick, Johannes (Hrsg.): Die Europäische Union. Krise, Neuorien-tierung, Zukunftsperspektiven, Schwalbach/Ts. 2011.

Vertrag von Lissabon (mit einer Einführung von Roland Sturm), he-rausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2010.

Weidenfeld, Werner und Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration. 11. Aufl ., Baden-Baden 2011.

Weidenfeld, Werner (unter Mitarbeit von Edmund Ratka): Die Europä-ische Union. 2. Aufl ., Paderborn 2011.

Weidenfeld, Werner: Europa leicht gemacht. Antworten für junge Europäer, Bonn 2007.

Weinmann, Georg: Schule und Europa – zwischen Verfassungsauftrag und aktiver Unionsbürgerschaft, in: Siegfried Frech/Martin Große Hüttmann/Reinhold Weber (Hrsg.): Handbuch Europapolitik, Stutt-gart 2009, S. 187–199.

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Kommentierte Internethinweise

in alphabetischer Reihenfolge

http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Europa/Uebersicht.htmlAuf dieser Homepage steht das Verhältnis Deutschlands zur EU im Vordergrund. Die Seite liefert aktuelle Informationen, zahlreiche Links und bereitet die Rolle Deutschlands in der EU zum Teil his-torisch auf.

http://www.baden-wuerttemberg.de Diese Seite bietet Grundlageninformationen zur EU und liefert viel-fältige Zugänge zum Thema »Baden-Württemberg in der EU«. Der Regionalbezug ist durch die Verlinkung mit Seiten der EU mög-lich (z. B. Strukturpolitik, Regionalfonds, Donauinitiative, http://ec.europa.eu/regional_policy/index_de.htm)

http://www.bpb.de Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) hält ein breites Angebot an europapolitischen Themen bereit. Diese werden ständig aktualisiert und zum Teil auch didaktisch-methodisch aufbereitet. Zielgruppen sind sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schü-ler unterschiedlicher Altersstufen. Ein Link bietet auch Zugang zu zahlreichen (teilweise kostenpfl ichtigen) Planspielen und Möglich-keiten der Wissensüberprüfung (Rätsel, Quiz usw.).

http://www.bpb.de/themen/2R70J2,0,Die_Europ%E4ische_Union.htmlDas Europa-Themendossier der BpB.

http://www.ecb.europa.eu/ecb/educational/html/index.en.htmlDie Unterrichtsmaterialien der Europäischen Zentralbank eignen sich für verschiedene Altersgruppen und Leistungsniveaus. Viele von ihnen setzen wirtschaftliche Grundkenntnisse voraus (z. B. in der Finanz- und Währungspolitik), so dass sie sich in erster Linie für Fortgeschrittene eignen.

http://www.europa.euDie offi zielle Seite der EU bietet einen breiten Überblick und dient Lehrkräften zur Orientierung. Es empfi ehlt sich, möglichst ziel- bzw. themenorientiert vorzugehen, um durch die Fülle an Informationen und Links nicht überfordert zu werden. Zahlreiche Angebote müssen vor dem Einsatz im Unterricht aufbereitet werden.

http://europa.eu/abc/keyfi gures/index_de.htm Diese Seite empfi ehlt sich für die statistische Erschließung der EU. Viele Übersichten bieten Lehrkräften Hintergrundinformationen. Auszugsweise oder in vereinfachter Form kann das Material auch im Unterricht eingesetzt werden. Wichtig ist die Wahl der deutschen Version – für den bilingualen Unterricht kann auf weitere EU-Sprachen zurückgegriffen werden.

http://europa.eu/teachers-corner/index_de.htmDer Schwerpunkt dieser Seite liegt auf Unterrichtsmaterialien zu verschiedenen europapolitischen Themen. Die meisten stehen im PDF-Format als Download zur Verfügung.

http://www.europaminister.de/de/europaminister/mitgliederDiese Seite konzentriert sich auf die Verankerung der deutschen Bundesländer im Mehrebenensystem der EU. Verlinkt sind die Seiten mit den Homepages der einzelnen Landesregierungen. Ihr Einsatz im Unterricht bietet sich zum Beispiel in der (arbeitsteiligen) Grup-penarbeit an.

http://www.europarl.de/view/de/index.htmlSeite des Informationsbüros des Europäischen Parlaments in Deutschland mit Meldungen über aktuelle Politik und Informati-onen, die sich speziell an Jugendliche richten.

KOMMENTIERTE INTERNETHINWEISE

http://ec.europa.eu/deutschland/commission/offi ces/berlin/index_de.htmSeite des Informationsbüros der Europäischen Kommission in Deutschland mit Meldungen über aktuelle Entwicklungen.

http://europa-zentrum.de/Das Europa-Zentrum Baden-Württemberg in Stuttgart ist in der europabezogenen Bildungsarbeit tätig und bietet EU-Seminare und Informationen an.

http://www.eurotopics.net/de/home/presseschau/aktuell.htmlDiese Seite bietet eine täglich aktualisierte internationale Presse-schau und ist ein Angebot der Bundeszentrale für politische Bil-dung. Sie bringt die wichtigsten Stimmen aus der europäischen Presse (mit Verweisen zu den Original-Internetseiten der Zeitungen; besonders nützlich für den Einsatz in Sekundarstufe II). Das Motto von Eurotopics lautet: »28 Länder – 300 Medien – 1 Presseschau«.

http://www.jugendpolitikineuropa.deAuf dieser Seite präsentiert die EU ihre Initiativen zum Thema »Jugendpolitik«. Sie ist vor allem für Lehrkräfte konzipiert und weist auf verschiedene Angebote in den Bereichen Fremdsprachen, poli-tisches Engagement, Ehrenamt, Jugendbegegnung und Auslands-aufenthalte hin.

http://ombudsman.europa.eu/home/de/default.htmDiese Seite bietet einen wichtigen Zugang zum Themenbereich »Europa der Bürger«. Der »direkte Draht« zum Europäischen Bür-gerbeauftragten kann Schülerinnen und Schülern eine Variante der europäischen Demokratie anschaulich nahebringen und problema-tisieren.

Wertvolle Informationen bieten darüber hinaus die Europe Direct Informationszentren in Baden-Württemberg sowie die Vertretungen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments in Deutschland:

www.ostalbkreis.de

www.freiburg.de/ipe

www.europedirect-karlsruhe.de

www.mannheim.de/europabuero

www.europe-direct-stuttgart.de

www.ulm.de

www.europabuero.info

www.europarl.de

www.eu-kommission.de

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Wo steht Europa? Die Europäische Union nach Lissabon

Baustein A Europa im Alltag

A 1 – A 4 Was verbinde ich mit der Europäischen Union? 18A 5 – A 7 Europa und der Stier: Symbole und Politikfelder 20A 8 – A 9 Europa bedeutet Vielfalt – Europa beginnt vor Ort 22A 10 – A 14 Was die EU bewirkt – konkrete Beispiele 24

Baustein B In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 1 – B 7 Ein attraktives Modell – die EU nach Lissabon 26B 8 – B 10 Ein »Europa der Bürger«? 32B 11 – B 19 Außen- und Sicherheitspolitik der EU 34

Baustein C Baustelle Europa – wohin geht die EU?

C 1 – C 3 Was ist Europa? – Die Krise als Chance? 38C 4 – C 11 Die Eurozone – eine Schicksalsgemeinschaft? 40C 12 – C 13 Jugendarbeitslosigkeit in der EU 44C 14 – C 15 Die Zukunft der europäischen Integration 45

Texte und Materialien für Schülerinnen und Schüler

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Hinweis: Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg übernimmt keine Verantwortung für die Inhalte von Websites, auf die in diesem Heft verwiesen oder verlinkt wird.

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A • Europa im Alltag

A • Europa im Alltag Materialien A 1 – A 14

A 1 Was verbinde ich mit der Europäischen Union?

A 2 Umfrage zur Europäischen Union

… die Freiheit zu reisen, zu studieren, zu arbeiten

… mehr Gewicht in der Weltpolitik

… die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage

… Schutz der Bürgerrechte

… eine europäische Regierung

… dauerhaften Frieden

… Bürokratie, Zeit- und Geldverschwendung

… Verlust kultureller Identität

Die EU bedeutet … Von jeweils 100 Jugendlichen antworteten mit JA:

94 %

78 %

64 %

69 %

59 %

65 %

38 %

24 %

Quelle: Ergebnisse einer nichtrepräsentativen Umfrage unter Jugendlichen der Universität Münster und der Bundeszentrale für politische Bildung, 2009 © 84

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EuropäischeUnion

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A • Europa im Alltag

A 3 Begriffe zur Europäischen Union

A 4 Grenzübergang – früher und heute

Die beiden Fotos zeigen den deutsch-französischen Grenzübergang zwischen Kehl und Straßburg. Das Foto

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links stammt aus dem Jahr 1972, die rechte Aufnahme wurde im Jahr 1992 gemacht.

◗ Erläutert, wie bei den Begriffen in A 3 Europa jeweils de-fi niert wird. Ergänzt die Sammlung um weitere Begriffe.◗ Gebt den beiden Fotos in A 4 jeweils einen Titel. Welche Situation zeigen sie und wie haben sich die Situationen im Lauf der Zeit verändert?

◗ Überlegt Begriffe, die euch zum Stichwort Europäische Union einfallen, und tragt sie in die Mindmap (A 1) ein. Vergleicht in der Klasse und erklärt eure Einträge.◗ Fordert eure Eltern und/oder Großeltern auf, ebenfalls Begriffe zum Stichwort Europäische Union zu sammeln. Notiert die Unterschiede zu eurer Sammlung und begrün-det diese.◗ Schaut euch die Ergebnisse der Umfrage unter Jugend-lichen (A 2) an und führt die Umfrage auch in eurer Klasse durch. Kommt ihr zu anderen Ergebnissen?

Arbeitsaufträge A 1 – A 4

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Bringe diese Begriffe in Zusammenhang mit Europa:

Führerschein

Schüler-austausch

Fußball

EuropeanSong Contest

Urlaub

Wahlrecht

Währung

Personal-ausweis

KFZ-Kennzeichen

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A • Europa im Alltag

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A 5 Europa und der Stier

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A • Europa im Alltag

Flaggen vor dem Landtag von Baden-Württemberg.

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A 6 Die EU – ein politisches Mehrebenensystem

A 7 Politikfelder in der Europäischen Union

Im Sommer 2009 bringt die Wochen-zeitung DIE ZEIT diese Grafi k unter dem Titel »Europas Baustellen«.

◗ Überlegt, welche Flaggenmotive die Ziele der Europä-ischen Union noch verdeutlichen könnten.◗ Entwerft in Gruppenarbeit eine eigene Europafl agge und stellt sie in der Klasse vor.◗ Wie spielt die Zeichnung A 7 mit dem Bild des Stieres? Listet die dargestellten Politikfelder der EU in einer Ta-belle auf und recherchiert im Internet zu jedem Begriff ein konkretes Beispiel aus der EU-Politik.

◗ Analysiert die Karikaturen in A 5. Recherchiert, woher der Name Europa kommt. Erläutert, auf welches histo-rische Ereignis im europäischen Integrationsprozess die erste Karikatur anspielt. Erläutert das Problem der EU, auf das die zweite Karikatur anspielt. Inwiefern könnte auf die dritte Karikatur die Aussage zutreffen: »Europa ist noch nicht am Ziel angekommen«? ◗ Erklärt die drei Flaggen in A 6. ◗ Defi niert anhand eigener Recherchen in einem kurzen Text den Begriff »politisches Mehrebenensystem«.

Arbeitsaufträge A 5 – A 7

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A • Europa im Alltag

A 8 Vielfalt und Frieden in Europa

Isst du zum Frühstück gern Baguette oder Croissant? Schmeckt dir mittags Gyros mit Tsatsiki? Und wie wär’s abends mit einer Pizza? Dann hättest du den Tag begon-nen wie ein Franzose, mittaggegessen wie ein Grieche und abends geschlemmt wie ein Italiener: Du hättest dich durch eine europäische Speisekarte gefuttert. (...)

Im Alltag leben und fühlen wir längst europäisch, begegnen wir »Europa« außer beim Essen auch beim Lernen und Lesen. (...) Stehen [im Bücherregal] die Abenteuer von Tim und Struppi? Der junge Mann und sein Hund, der Whisky liebt, kommen aus Belgien. Die superstarke Pippi Langstrumpf aus Schweden kennt bei uns jedes Kind. Hat dir schon mal Graf Dracula Furcht eingefl ößt? Dann ging es dir wie den Leuten in seiner rumänischen Heimat. Mit dem traurigen Ritter Don Quijote und seinem Klepper Rosinante bist du in Spanien unterwegs. Der märchenhafte Rübezahl ist ein Berggeist aus Polen, Harry Potter ein Zauberlehrling aus Großbritannien. Natürlich könnten wir englische oder dänische Geschichten auch lesen, wenn unsere Länder nicht in der EU verbun-den wären. Aber gerade die Bücher (wie die Speisekarten!) zeigen uns, wie bunt und vielfältig ein europäisches Leben sein kann.

Und auch die europäische Politik betrifft jeden von uns. So sind zum Beispiel Reisen ohne Passkontrollen in der EU heute selbstverständlich – deine Eltern kannten noch lange Autoschlangen vor den Schlagbäumen an den Grenzen der Nachbarländer, vor denen sie darauf warten mussten, ihre Ausweise vorzuzeigen. Heute ist es in 17 EU-Ländern nicht einmal mehr nötig, Geld umzutauschen, weil dort inzwi-schen alle mit dem Euro zahlen. Wenn deine Mutter oder dein Vater eine Arbeit im Ausland fi nden, können sie ohne Probleme die ganze Familie mitnehmen. Und wenn du später anderswo in der EU leben willst, kannst du dort einen Job annehmen und sogar für das Bürgermeisteramt in deinem Wohnort kandidieren. (...) Dank der EU kannst du auch in jedem Land zur Schule gehen, Praktika machen oder in den Ferien jobben. Das alles ist europäische Politik.

Besonders kümmert sich die EU um gemeinsame Regeln für die Wirtschaft und das Arbeitsleben. Schließlich soll es den fast 500 Millionen Menschen in den 27 Ländern möglichst gleich gut gehen. (...) Das Essen, das die Menschen im Supermarkt kaufen, soll die gleiche Qualität haben, egal ob die Kunden in Portugal oder in Finnland wohnen. Damit Produkte wie Joghurt oder Brathähnchen überall ähnlich wertvoll sind, erlässt die EU Normen (ein anderes Wort für Regeln oder Bestimmungen). (...) Der Kunde kann an den Handelsklassen sehen, was sein Händler verkauft. Solche Kennzeichnungen können auch aus anderen Gründen wichtig sein: Manche Menschen dürfen beispielsweise keine Milch trinken oder Nüsse essen, weil sie sie nicht vertragen. Andere reagieren allergisch auf bestimmte Stoffe in Seife und Cremes. Deshalb muss auf allen Produkten stehen, was drin ist.

Gehst du gern mit deinen Eltern im Gasthaus essen? Dann bist du vielleicht froh, dass in vielen Restaurants nicht mehr geraucht werden darf. Dieses Verbot verdankst du der EU. Ebenso, dass die Luft in vielen Städten Europas sauberer wird: Sie haben begonnen, schmutzige Autos auszusperren. So kommen weniger giftiger Feinstaub und Ruß in die Luft. Außerdem will die EU, dass Flüsse, Meere und Seen in Europa sauberer werden. Umwelt und Gesundheit sind ihr wichtig – gerade weil es dabei um die Zukunft von Kindern geht.

Solche Vorschriften durchzusetzen dauert allerdings immer ziemlich lange: Schließlich haben 27 Staaten mitzureden. Die alle unter einen Hut zu bringen ist gar nicht so einfach. (...) Wenn die Menschen in den unterschiedlichen Ländern ähnlich gut leben können, gibt es zwischen ihnen keinen Grund für Neid, Streit oder Krieg. Für die Länder der Europä-ischen Union hat sich diese Idee bewährt: Hier geht es viel friedlicher zu als in anderen Weltgegenden. (....)

Die ZEIT vom 10. Juni 2009 (Christine Schulz-Reiss)

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A • Europa im Alltag

A 9 Europa beginnt am Mainufer

Täglich schlängelt sich der Main an ihr vorbei, täglich ebnet sie Touristen aus der ganzen Welt den Weg nach Wertheim: die Schiffsanlegestelle am Mainufer. (...) Sie ist mit Hilfe von Zuschüssen aus Brüssel gebaut worden, ein Schild erinnert noch an die Mittel der Europäischen Union, die beim Bau des Anlegers gefl ossen sind. Weiter geht die Spurensuche (...) [im Stadtteil] Reinhardshof. Denn ohne den Abzug der amerikanischen Soldaten hätte die Schiffsanlegestelle nicht aus Mitteln des Fördertopfes bezahlt werden können. »Auf dem Reinhardshof ist mit dem Abzug Infrastruktur weggefal-len, sind etwa Wasser- und Energieabnehmer nicht mehr da gewesen«, erklärt Volker Mohr, Europabeauftragter der Stadt Wertheim. Mit Zuschüssen zum Bau der Schiffsanlegestelle habe die Europäische Union helfen wollen, den Verlust der Infrastruktur auf dem Reinhardshof durch die Förderung des Tourismus auszugleichen. Doch wie funktioniert das eigentlich? »Es sind furchtbar hohe Hürden zu nehmen, um an Fördermittel zu kommen«, berichtet der Europabeauf-tragte. Durch einen Wust an Unterlagen müssten sich die Antragsteller kämpfen, wenn sie Zuschüsse bei der Union beantragen möchten. Volker Mohr hat als Europabeauftrag-ter von Wertheim die Vorgänge in der Europäischen Union im Blick, sichtet die Informationen, die das Europabüro der Kommunen in Form eines Newsletters an das Wertheimer Rathaus schickt. (...)

Die Wertheimer pfl egen seit 1964 partnerschaftliche Bezie-hungen zum europäischen Ausland. (...) Entstanden sind

die Partnerschaften aus dem Gedanken heraus, nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem mit Frankreich wieder freund-schaftliche Beziehungen aufzubauen. »Wir leben mit un-seren Städtepartnerschaften Europa«, sagt Manuela Erba-cher, die sich im Wertheimer Rathaus um die Partnerschaften mit den Städten kümmert. Die Grenzüberschreitungen seien besonders für Jugendliche immer ein tolles Erlebnis, die bei festen Veranstaltungen wie dem Jugendsportturnier oder dem Jugendkulturfestival immer wieder für Begeisterung sorgten. »Vor drei Jahren haben wir das Internetportal Four Twins ins Leben gerufen«, berichtet Erbacher. Dort pfl egten die Jugendlichen vor allem nach solchen Veranstaltungen Kontakte und tauschten sich aus. »Das Projekt soll dem europäischen Dialog dienen«, sagt Erbacher. (...)

»Europa begegnet uns überall in Wertheim«, sagt auch der Europabeauftragte Volker Mohr. (...) Viele Dinge, wie die Bezahlung mit dem Euro oder die Reisefreiheit inner-halb Europas, seien inzwischen derart selbstverständlich für die Bürger geworden, dass ihnen der tägliche Einfl uss, den Europa auf sie hat, gar nicht mehr bewusst sei, fi ndet Mohr. Bei der Ausschreibung zur OB-Wahl hätten sich auch »Unionsbürger« um das Amt bewerben können: »Doch es hat sich niemand aus Spanien oder Italien beworben«, sagt Mohr schmunzelnd. (...)

Wertheimer Zeitung vom 5. Mai 2011 (Susanne Gilg)

Ein bekennender Europäer: Wertheims Europabeauftragter Volker Mohr an der mit EU-Zuschüssen fi nanzierten Schiffs-anlegestelle in Wertheim.

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◗ Benennt die Schwierigkeiten, die für den Europabeauf-tragten der Stadt bei der Zusammenarbeit mit EU-Stellen auftauchen. Wo könnten die Ursachen dafür liegen? Be-nennt Lösungsvorschläge.◗ Begebt euch auf »Europasuche« in eurer Umgebung (Fa-milie, Freundeskreis, Vereine, Schule, Gemeinde). Welche Verbindungen ergeben sich zu anderen Ländern der EU?

◗ Stellt in einer Tabelle dar, wie die EU das Zusammen-leben der Menschen in Europa (A 8) erleichtert. ◗ Verfasst einen Brief an eine(n) Brieffreund(in), die/der auf einem anderen Kontinent lebt. Beschreibt darin das Zusammenleben der Völker in der EU.◗ Beschreibt anhand des Beispiels von Wertheim (A 9), wie Europa im Alltag sichtbar werden kann.

Arbeitsaufträge A 8 – A 9

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A • Europa im Alltag

Die Waren im Einzelhandel kommen mittelerweile aus allen Teilen der Welt. Verbraucher müssen sich darauf verlas-sen können, dass ein Produkt nach einheitlichen Quali-tätskriterien zugelassen ist – egal in welchem der 27 EU-Staaten. Kommt ein Produkt aus einem Drittstaat in den Binnenmarkt, muss der Importeur für die Einhaltung der Vorschriften sorgen.

Der Verbraucher soll sich aber auch darauf verlassen können, dass behördlich kontrolliert wird, ob die gemeinsamen Vor-schriften von Produzenten und Handel tatsächlich beachtet werden, ob beispielsweise der Aufdruck des CE- oder auch des Bio-Zeichens auf dieser Ware seine Berechtigung hat. Die Überwachung der Produkt- sowie Lebensmittelsicher-

heit liegt im Wesentlichen bei den nationalen Behörden. In Deutschland sind die 16 Bundesländer zuständig. (...)

Die Europäische Kommission sieht die Verbraucher aber nicht nur in einer schützenswerten Position, sondern auch in einer sehr aktiven und fürs Konjunkturklima im Binnenmarkt entscheidenden Rolle. (...) Das Kaufverhalten von knapp einer halben Milliarde Menschen könnte Innovation sowie Effi zienz entscheidend vorantreiben und damit die globale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft stärken.

EU-Nachrichten Nr. 23, 2008, S. 11

A 10 Verbraucherschutz

A 11 »Bio in Europa«

Bio-Lebensmittel boomen. Um den Verbrauchern Gewissheit zu geben, dass auch tatsächlich Bio drin ist, wo »Bio« drauf-steht, hat die Europäische Union eine Verordnung erlas-sen. Diese defi niert genau, wann ein Lebensmittel als Bio-Lebensmittel verkauft werden darf. So muss die Erzeugung und auch die Weiterverarbeitung ökologischen Kriterien ge-nügen. (...) Bio-Produkte dürfen weder bestrahlt werden (um etwa die Haltbarkeit zu verlängern) noch gentechnisch veränderte Organismen enthalten. Auch die Tierhaltung muss artgerecht sein. Die EG-Öko-Verordnung, die all das regelt, gilt übrigens auch für importierte Lebensmittel. (...)

Das Bio-Siegel ist eines der bekanntesten Verbraucherschutz-Kennzeichnungen überhaupt und klebt auf mittlerweile über 60.000 Produkten. Verstöße gegen die EG-Öko-Verordnung werden mit hohen Geldbußen geahndet, sogar Haftstrafen sind möglich.

Europäisches Parlament (Hrsg.): Europa 2011. Wissen. Verstehen. Mitreden. Berlin, S. 92

A 12 Verloren in der Flut der Siegel

Ein grünes Rechteck, auf dem kleine weiße Sterne die Form eines Baumblattes umreißen – so sieht das neueste Öko-label aus, das auch die Verbraucher in Deutschland kennen sollten. Spätestens vom 1. Juli 2012 an müssen alle ver-packten Biolebensmittel in der Europäischen Union dieses Zeichen tragen. Es signalisiert, dass bei der Produktion ver-bindliche und kontrollierte Mindeststandards eingehalten wurden, zum Beispiel bei der Tierhaltung oder der Düngung von Feldern. Das neue EU-Biolabel ist also ein echtes Qua-litätssiegel und insoweit eine gute Sache.

Das Problem ist nur, dass sogar im streng regulierten Bio-markt schon eine Vielzahl anderer Labels für Lebensmittel existieren. Neben dem sechseckigen deutschen Biosiegel gibt es seit vielen Jahren die Logos von mehr als einem halben Dutzend ökologischer Anbauverbände. Demeter, Bio-land, Gäa und Naturland sind nur einige davon. Diese Güte-siegel dürfen weiter verwendet werden. Auf Biomilch oder Bioquark wird also noch ein Signet mehr prangen.

Ob das nötig ist, darüber lässt sich streiten. Das neue EU-Zeichen schafft europaweit einheitliche Regeln. Das ist ein Vorteil. Das deutsche Biozeichen wird dadurch aber eigentlich überfl üssig, denn es steht für exakt die glei-chen Mindeststandards. Umso wichtiger sind die Zeichen der Anbauverbände. Denn Demeter oder Bioland stellen an ihre Mitglieder besonders hohe Anforderungen an Quali-tät, Tierhaltung und Umweltschutz, die teils weit über den EU-Mindestvorschriften für Biobetriebe liegen und streng kontrolliert werden. Die Gütesiegel der Anbauverbände ge-nießen bei den Verbrauchern daher großes Vertrauen.

Stuttgarter Zeitung vom 20. Januar 2012 (Thomas Wüpper)

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A • Europa im Alltag

A 13 EU-Parlament attackiert die »Abzocke« der Netzbetreiber

Netzbetreibern wie der Deutschen Telekom und Vodafone drohen in Europa noch größere Gewinneinbußen beim Ge-schäft mit der Datenübertragung per Handy als bislang er-wartet: Die für die neue Roaming-Verordnung zuständige Berichterstatterin im EU-Parlament, Angelika Niebler (CSU), forderte gestern, dass die Preise für das Surfen per Handy im EU-Ausland viel stärker sinken sollen als von der EU-Kommis-sion vorgeschlagen: »Mit der Abzocke muss Schluss sein.«

Konkret plädiert Niebler in ihrem Bericht etwa dafür, dass die Betreiber ab dem 1. Juli 2012 nicht mehr als 50 Cent je Megabyte Daten verlangen dürfen. Ab 2014 sollen es dann maximal 20 Cent sein. Aktuell zahlen Nutzer im Schnitt 2,50

Euro. Die Kommission hatte im Sommer 90 Cent ab 2012 und 50 Cent ab 2014 vorgeschlagen. Für die Mobilfunkkonzerne in Europa ist das eine Hiobsbotschaft. Das Geschäft mit der Datenübertragung ihrer Kunden im Ausland beschert ihnen satte Gewinne und ist damit enorm lukrativ. Bislang gibt es überhaupt keine festgelegten Endkundenpreise. Schon die Vorschläge der Kommission waren als schwerer Schlag gewertet worden. Als Berichterstatterin hat Niebler großen Einfl uss auf die Meinungsbildung im EU-Parlament. Der feder-führende Industrieausschuss will bereits im April 2012 in erster Fassung über die neue Verordnung abstimmen.

Die EU hatte 2007 mit der ersten Roaming-Verordnung erst-mals Preisobergrenzen für Telefonate und Kurzmitteilungen ins und aus dem EU-Ausland festgelegt und diese 2009 noch verschärft. Bei Geschäftsleuten und Urlaubern machte sie sich damit beliebt. Die Branche beklagte dagegen Milliarden-einbußen. Die neue Verordnung ersetzt die 2012 auslau-fenden Regeln. »Wer bisher im Urlaub oder auf Geschäfts-reise seine E-Mails auf einem Multimediahandy liest, ist oftmals geschockt, wenn er nach der Rückkehr eine saftige Rechnung erhält«, sagte Niebler. Langfristig dürfe das Surfen im Internet im EU-Ausland nicht teurer sein als zu Hause.

Financial Times Deutschland vom 22. Dezember 2011 (Mark Schrörs)

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Es kommt nur selten vor, dass sich Werber in Rage reden. Doch sobald in einem Gespräch zwei ganz bestimmte Buch-staben fallen, ist die Wahrscheinlichkeit dafür relativ groß. »EU« lauten diese Buchstaben, auf die die deutsche Werbe-branche so allergisch reagiert, wahlweise auch das Schlag-wort »Brüssel«. Denn was aus dem Machtzentrum Europas kommt, sorgt unter Werbeschaffenden selten für Freude: Verbote, Einschränkungen, Reglementierungen. Das war in der Vergangenheit so, und das wird, so fürchten es zumin-dest die Agenturen, auch im Jahr 2012 so sein.

22 EU-Richtlinien und vier Verordnungen regeln schon heute die kommerzielle Kommunikation, hat der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) gezählt. Das bekannteste Beispiel davon ist wohl die Tabakwerbung. »Was dort be-

reits an Werbeverboten in relevanten Medien vollzogen und immer weiter EU-behördlich vorbereitet wird, bedeutet eine Zerstörung von Markenbildern, Produktnamen und Logos und damit die Vernichtung von Markenkapital der Unternehmen«, kritisiert ZAW-Präsident Michael Kern und verweist darauf, dass Zigaretten nach wie vor ein legales Produkt seien. Wenn die Kommission nun auch noch vorschreibe, Zigaretten wie in Australien in schlichten Einheitsverpackungen ohne das charakteristische Markenlogo zu verkaufen, gehe das end-gültig zu weit.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Dezember 2011 (Hendrik Kafsack und Julia Löhr)

A 14 Werbung made in Brüssel

◗ Unterbreitet Vorschläge, wie vermieden werden könnte, dass nationale Vorschriften und Vorschriften der EU mit-einander in Konfl ikt geraten.

◗ Stellt dar, welche Vorteile und welche Nachteile die beschriebenen Initiativen der EU (A 10 – A 14) für be-stimmte Bevölkerungsgruppen haben.◗ Begründet, warum gegen manche Missstände EU-weit vorgegangen werden sollte, weil nationale Lösungen nicht ausreichend sind.

Arbeitsaufträge A 10 – A 14

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon Materialien B 1 – B 19

B 1 Ein attraktives Modell!

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 2 Neue Etappe auf dem Weg der Einigung

Heute beginnt eine neue Etappe der europäischen Einigung. Nach fast zehn Jahren der politischen Kämpfe und immer neuen Anläufen tritt der neue Grundlagenvertrag, der Ver-trag von Lissabon, endlich in Kraft. Im Unterschied zur ge-scheiterten Europäischen Verfassung, die einfacher, klarer, ehrgeiziger und deshalb besser war, ist er nicht aus einem Guss, sondern ein Kompromiss, an dem die Narben der Kor-rekturen, Streichungen und nationalen Vorbehalte sichtbar sind. Der politische Kern der Verfassung konnte jedoch trotz aller Widerstände in den Lissabon-Vertrag gerettet werden. Künftig werden ein ständiger EU-Ratspräsident und eine EU-Außenministerin der EU ein Gesicht geben, ein eigener Aus-wärtiger Dienst wird die Interessen Europas in der Welt ver-treten, die EU-Grundrechtecharta wird rechtlich verbindlich und Entscheidungen in der EU werden einfacher, weil in fast allen Bereichen Einstimmigkeit durch Mehrheitsbeschlüsse ersetzt werden. Der große Gewinner ist aber das Europäische Parlament – und damit die europäische Demokratie. Ohne Europas Volksvertreter werden künftig so gut wie keine eu-ropäischen Gesetze und Regeln mehr beschlossen werden können. Sie werden über den Haushalt entscheiden und bei der Ernennung der Exekutiven, der Europäischen Kommis-sion, das letzte Wort haben.

An den im Juni [2009] neu gewählten Abgeordneten, der neuen EU-Kommission und an den 27 Regierungen wird es nun liegen, dass aus den blassen Buchstaben des neuen EU-Vertrags politische Praxis wird. Obgleich die Geschichte der Europäischen Union eine Geschichte der ständigen Vertrags-veränderungen ist, der ständigen Entwicklung, Bewegung und Anpassung an die Realitiät, muss die Europäische Union nun vermutlich über Jahre hinweg mit den Grundlagen des Lissabon-Vertrags leben. Auf absehbare Zeit wird es keinen neuen und besseren EU-Vertrag geben. Um so wichtiger ist es deshalb, dass das neue Vertragswerk mit Leben erfüllt wird und die darin enthaltenen Chancen zur Vertiefung der europäischen Einigung genutzt werden.

Das wird nicht einfach sein. EU-Mitgliedstaaten wie Groß-britannien, Tschechien oder Polen werden auf ihre nationale Souveränität pochen und sich vermutlich gegen weitere Schritte in Richtung europäischer Integration sperren. Die Gefahr ist groß, dass auch Deutschland, einst zusammen mit Frankreich der Motor der europäischen Einigung, künftig eher zum Hindernis des Fortschritts wird. Das Bundesverfas-sungsgericht, das sich zutiefst konservativ am Demokratie-verständnis des Nationalstaats des 19. Jahrhunderts orien-tiert, hat mit seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag der Bun-desregierung die Hände gebunden. Doch auch in der Runde der 27 Regierungschefs fehlt es an politischem Willen, die europäische Einigung entschlossen voranzutreiben. Die No-minierung des glanzlosen Belgiers Herman Van Rompuy und der international unbekannten Britin Catherine Ashton aus der zweiten Reihe der europäischen Politik sind ein trauriger Beweis für das europapolitische Desinteresse der Regie-rungen. Die Gefahr ist deshalb groß, dass die Europäische Union trotz des neuen Lissabon-Vertrags in den europa-politischen Stillstand abgleitet. Schlimmer noch: Alles weist darauf hin, dass die Regierungen ohne weitere Vertiefung der Integration die blinde Erweiterung der EU fortsetzen. Je größer und heterogener die EU aber wird, je mehr sie sich in Richtung eines gesichtslosen Vielvölkergebildes ent-wickelt und je größer die Unterschiede der Kultur und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit werden, desto weniger werden die Menschen in der EU europäische Identität, Zu-sammengehörigkeitsgefühl und Solidarität empfi nden.

Die weltweite Entwicklung, der Zwang, in einer globalisier-ten Welt gegenüber den aufstrebenden neuen Mächten zu bestehen, und die Logik der inneren Entwicklung der EU, die von der Zollunion, dem EU-Binnenmarkt, der Euro-Wäh-rungsunion zur politischen Einigung drängt, wird zweifellos Druck auf die Regierenden ausüben, das Rad der europä-ischen Einigung nicht zurückzudrehen, sondern anzutreiben. Entscheidend wird aber sein, ob es gelingt, die Menschen mit Verstand und Herz zu gewinnen und mitzunehmen. Europa wird nur dann Zukunft haben, wenn aus dem Europa der Regierungen ein Europa der Bürger wird.

Stuttgarter Zeitung vom 1. Dezember 2009 (Thomas Gack)

Der Vertrag von Lissabon vor seiner Unterzeichnung im Dezember 2007.

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 3 Die EU nach dem Vertrag von Lissabon

B 4 Mehr Macht für Europas Volksvertreter

Die parlamentarische Demokratie in der EU kommt (...) einen entscheidenden Schritt weiter. Bisher nämlich gibt es immer noch einige Bereiche der europäischen Politik, in denen Europas Volksvertreter nichts – oder wenig – zu sagen haben: Von der Innen- und Rechtspolitik über Asyl und Einwanderung bis zur Gesundheitspolitik. Weil hier die 27 Regierungen im EU-Ministerrat alleine Politik machen und das Parlament allenfalls »angehört« wird, sprechen Kritiker bisher von einem »Demokratiedefi zit« in der EU. (...)

Ein ganz entscheidender Fortschritt ist dagegen, dass das Europaparlament jetzt ohne Einschränkungen das Haushalts-recht erhält – ein parlamentarisches Grundrecht, aus dem in der Geschichte Westeuropas die Demokratie entstanden ist. (...) Künftig werden Europas Volksvertreter in der Haus-haltspolitik das letzte Wort haben. Allerdings gilt das nur für die Ausgaben. Die Einnahmen liegen nach wie vor in der Kompetenz der Einzelstaaten. Die Steuerpolitik bleibt somit eine der letzten Bastionen der nationalen Souveränität.

Haushaltsrecht, Gesetzgebung, neue Kontrollrechte gegen-über den Regierungen – »der EU-Grundlagenvertrag von Lissabon ist ein Vertrag der Parlamente«, sagt Elmar Brok,

der als Vertreter des EU-Parlaments an der Ausarbeitung der gescheiterten EU-Verfassung mitgearbeitet hatte. Denn durch den Lissabon-Vertrag werden nicht nur die Kontroll-rechte des Europaparlaments gegenüber der Brüsseler EU-Kommission und dem EU-Ministerrat gestärkt. Auch die nati-onalen Parlamente werden im europäischen Zusammenspiel der Parlamente und Institutionen eine wichtige Rolle spie-len: Sie sollen über die sogenannte Subsidiarität wachen. Dieses Gebot der EU-Verfassung besagt, dass die EU nur die Aufgaben übernehmen soll, die von den Mitgliedstaaten nicht befriedigend gelöst werden können. (...)

Stuttgarter Zeitung vom 16. Mai 2009 (Thomas Gack)

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 5 Das Europäische Parlament

Bergmoser + Höller Verlag AG©

Fraktionslose

Allianz der Liberalenund Demokraten für Europa

Europa der Freiheitund der Demokratie

EuropäischeKonservativeund Reformisten

Grüne/Freie Europäische

Allianz

ProgressiveAllianz der

Sozialisten undDemokraten

EuropäischeVolkspartei(Christdemokraten)

(*14)

(*12)

(*23)

(*8)

(*42)

Abgeordnete(*davon aus

Deutschland: 99)

VereinigteEuropäische Linke,

Nordische Grüne Linke

ZAHLENBILDER714 051

Stand: Februar 2012

Fraktionen im Europäischen Parlament

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 6 Wie stark ist das Europäische Parlament?

Kein Parlament leidet so unter seiner Vergangenheit, unter tief sitzenden Vorurteilen und dem politischen Bildungs-notstand wie das Europäische Parlament. »Es hat nichts zu sagen,« meinen die einen. »Das ist kein richtiges Parlament«, behaupten die anderen. »Die Europaabgeordneten wählen ja keine Regierung. Wenn es aber um nichts geht, wieso dann überhaupt seine Stimme abgeben?« Wenige Wochen vor den Europawahlen fi ndet sich das klassische antiparlamenta-rische Denken, das gerade in Deutschland tiefe, giftige Wur-zeln hat, in vielen Internet-Blogs, die zu einer Art Spucknapf der öffentlichen Meinung geworden sind. (...)

Tatsächlich jedoch hinkt die öffentliche Wahrnehmung weit hinter der politischen Wirklichkeit her. Das Europäische Par-lament ist längst nicht mehr machtlos. In den vergangenen 30 Jahren hat es von einer EU-Vertragsreform zur anderen mehr und mehr Kompetenzen erkämpft. In der vergangenen fünfjährigen Legislaturperiode war es in vielen Bereichen der EU-Politik neben der EU-Kommission und dem EU-Minister-rat der 27 Mitgliedstaaten gleichberechtigter Gesetzgeber. Es hat im Jahr rund 300 Gesetze oder Gesetzesänderungen verabschiedet, viele davon mit unmittelbarer Auswirkung auf das Leben der Bürger in den EU-Mitgliedstaaten.

Eine der wichtigsten Entscheidungen war zweifellos die Ver-abschiedung der ehrgeizigen EU-Chemikaliengesetzgebung, abgekürzt »REACH«. Die Registrierung und die verschärfte Zulassung von Chemikalien in der EU haben den besseren Schutz von Mensch und Natur zum Ziel. Im Laufe des langen Gesetzgebungsprozesses konnte das Europaparlament gegen-über den Regierungen zahlreiche Änderungen durchsetzen, die das umstrittene Gesetz praktikabler machen werden und für eine vernünftige Balance zwischen Verbraucherschutz und Wettbewerbsfähigkeit sorgen.

Europas Volksvertretern ist es auch zuzuschreiben, dass die EU-Dienstleistungsrichtlinie, die vor drei Jahren vor allem in Deutschland und Frankreich für helle Aufregung gesorgt hatte, am Ende sozialverträglich wurde. Mit dem Kompromiss (…) können jetzt alle leben.

Ob Klimapaket, Tierschutz, Preistransparenz bei Urlaubsfl ü-gen, billigere Handy-Gespräche oder Verbot von gefährlichen Pfl anzenschutzmitteln – das Europaparlament verstand sich in den vergangenen fünf Jahren als Anwalt der Verbraucher und der Umwelt. »Wir haben viele Dinge durchgesetzt, von denen die Menschen in ihrem täglichen Leben direkt pro-fi tieren«, sagt Dagmar Roth-Behrendt, die Sprecherin der Sozialdemokraten für Verbraucher, Gesundheit und Umwelt im Straßburger Parlament. Gegenspieler war in vielen Fällen der EU-Ministerrat, in dem die 27 Regierungen der Mitglied-staaten vertreten sind.

»Im Europaparlament gibt es kein statisches Abstimmungs-verhalten – hier Regierungsparteien, dort Opposition, hier Linke dort Rechte«, erklärt Dagmar Roth-Behrendt. Darin unterscheidet sich das Europaparlament von den nationalen Parlamenten, in denen die Rollen der Abgeordneten fest-liegen: Unterstützung der Regierung oder Kampf gegen sie. »Ich musste vor den Abstimmungen oft wechselnde Mehr-heiten quer über die Parteien hinweg suchen«, berichtet die SPD-Europaabgeordnete, »im Tierschutz andere als bei der Lebensmittelsicherheit, bei Kosmetika andere als beim Kinderspielzeug.« Wer tatsächlich in der praktischen Politik etwas erreichen will, der muss im Europaparlament zweck-gebundene Koalitionen bilden und Kompromisse schmie-den. Die politischen Fronten verlaufen im Europaparlament nämlich keineswegs immer zwischen den Parteien, zwischen links und rechts, sondern in vielen Fällen zwischen einer-seits dem gesamten Parlament und auf der anderen Seite den Regierungen, die im EU-Ministerrat die Vorschläge der Verbraucher- oder Umweltschützer blockieren. »Es ist ein-facher, sich im Europaparlament mit den anderen Parteien zu verständigen, als einen gemeinsamen Nenner mit dem Ministerrat zu fi nden«, sagt Dagmar Roth-Behrendt. (...)

Wie sehr das Europaparlament inzwischen ein »Arbeitspar-lament« geworden ist, das routiniert Gesetze berät und verabschiedet, zeigte sich in dieser letzten Plenumswoche Anfang Mai. Sie war vollgepackt mit Gesetzesbeschlüssen und politischen Entscheidungen: Schärfere Eigenkapitalvor-schriften für die Banken, Asylpolitik, Mindestanforderungen für den Mutterschaftsurlaub und das Handelsverbot für See-hundfelle, das vermutlich die Robbenschlächterei vor der kanadischen Küste beenden wird. (…)

Stuttgarter Zeitung vom 18. Mai 2009 (Thomas Gack)

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Die Europaabgeordneten stimmen im Plenum ab.

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 7 Martin Schulz: Ein Deutscher ist Parlamentspräsident

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Der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz ist seit Januar 2012 Präsident des Europaparlaments.

Das Europaparlament (EP) soll nach dem Willen seines neuen Präsidenten Martin Schulz mehr Einfl uss bei den EU-Gipfeln bekommen. Der Sozialdemokrat Schulz besteht darauf, künf-tig an den kompletten Gipfelberatungen teilzunehmen und nicht nur wie seine Vorgänger jeweils an der ersten halben Stunde. Das kündigte Schulz gegenüber den Fraktionen an. Der 55-jährige bisherige Vorsitzende der Sozialdemokraten wurde am Dienstag [17. Januar 2012] in Straßburg bereits im ersten Durchgang mit großer Mehrheit an die Spitze der EU-Volksvertretung gewählt. Seine Amtszeit dauert zweiein-halb Jahre – bis zur nächsten Europawahl im Juni 2014.

Schulz greift mit seiner Initiative die Stimmung im Par-lament auf, das durch den Lissabon-Vertrag 2009 in der Gesetzgebungsarbeit gestärkt wurde. Nun will es mehr Ein-fl uss auf die Staats- und Regierungschefs gewinnen. Diese hatten seit Beginn der Euro-Krise stärker als früher in die Alltagsgeschäfte der EU eingegriffen. Schulz möchte ein »kämpferischer Präsident« sein, der die EU-Politik ebenso mitbestimmt wie Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy.

Bereits sein Vorgänger Jerzy Buzek hatte sich einen Zugang auch zu inoffi ziellen Treffen der Regierungschefs erkämpft. Schulz setzt aber anders als Buzek mehr auf realen Einfl uss als auf Repräsentation. Der 55-Jährige ist der erste Par-lamentspräsident der EU, der den Posten nicht als Krönung seines politischen Lebenswerks ansieht, sondern als Sprung-brett entweder in eine künftige SPD-geführte Bundesregie-rung oder an die Spitze der EU-Kommission. (…)

Schulz hofft im Machtkampf mit den Staatenvertretern im Rat auch auf EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Seit längerem drängt Schulz Barroso, gemeinsame Sache mit dem Parlament gegen den Rat zu machen. Barroso als ehemaliger Regierungschef versucht meist, einen Mittel-weg zwischen den Interessen zu gehen. Schulz dagegen meint, die Gipfel seien ein undemokratisches Regierungssys-tem wie einst der Wiener Kongress, der Europa Anfang des 19. Jahrhunderts neu geordnet hatte.

Financial Times Deutschland vom 16. Januar 2012(Peter Ehrlich)

◗ Auf der Karte B 1 seht ihr, dass die Europäische Union von einer kleinen Gemeinschaft mit nur sechs Ländern (1958) nach und nach zu einer EU der »Größe XXL« mit 27 Mitgliedstaaten angewachsen ist. Überlegt, weshalb 2004 bzw. 2007 mehr Staaten in die EU aufgenommen wurden als in den Jahrzehnten davor.◗ Lest den Text B 2 und schreibt tabellarisch auf, weshalb es zu einem neuen EU-Vertrag gekommen ist und was der Vertrag von Lissabon an Veränderungen gebracht hat. ◗ Der Autor erwähnt in B 2 die EU-Grundrechtecharta. Be-sorgt euch den Text dieser Charta und lest die ersten drei Artikel. Vergleicht sie mit den ersten Artikeln des deut-schen Grundgesetzes, in denen ebenfalls die Grundrechte verankert sind. Tragt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in beiden Texten zusammen.◗ Im Europäischen Parlament sind Abgeordnete aus den 27 EU-Staaten versammelt (B 3 und B 4). Die meisten EU-Parlamentarier kommen aus Deutschland, weil es ge-messen an der Bevölkerungszahl das größte EU-Land ist. Recherchiert auf der Homepage des Europäischen Parla-

Arbeitsaufträge B 1 – B 7

mentes (www.europarl.europa.eu), welche Abgeordnete für eure Region im EU-Parlament sitzen. Findet heraus, zu welcher Fraktion (B 5) sie gehören und für welche politischen Ziele sie sich persönlich einsetzen.◗ Seit 1979 ist die Wahlbeteiligung an den Europawahlen kontinuierlich gesunken (B 5). Diskutiert, woran das mangelnde Interesse der Bürgerinnen und Bürger liegen könnte. Überlegt euch dann eine Wahlkampagne (Plakate, Slogans usw.), mit der das Interesse besonders bei jungen Erwachsenen erhöht und die Wahlbeteiligung an den nächsten Europawahlen gesteigert werden könnten. (Hin-weis: Die sehr hohe Wahlbeteiligung z. B. in Belgien hängt mit der dortigen Wahlpfl icht zusammen).◗ Der Bericht zur Wahl von Martin Schulz zum Präsidenten des Europäischen Parlamentes (B 7) spekuliert darüber, dass Schulz nach Ablauf seiner Amtszeit an die Spitze der EU-Kommission wechseln könnte. Erläutert mithilfe des Schaubilds B 3, wie sich die Aufgaben von Kommissions- und Parlamentspräsident unterscheiden.

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 8 Die EU auf dem Weg zu einem »Europa der Bürger«?

Ist die EU auf dem Weg zu einem »Europa der Bürger«? Die Europäische Union wird durch den Vertrag von Lissa-bon demokratischer, das sogenannte Demokratiedefi zit der EU wird reduziert. Das Europäische Parlament hat stärkere Kontrollrechte, ebenso die Parlamente in den Mitgliedstaaten der EU, so auch Bundestag und Bundes-rat in Berlin. Darüber hinaus steht mit der »Europä-ischen Bürgerinitiative« zum ersten Mal ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich die Bürgerinnen und Bürger in den EU-Staaten direkt mit konkreten Vorschlägen an die Europäische Kommission wenden können:

Der Lissabonner Vertrag hat mit der Europäischen Bürger-initiative eine völlig neue Möglichkeit eingeführt, wie die

Unionsbürgerinnen und -bürger nicht nur über die Wahlen zum Europäischen Parlament, sondern auch unmittelbar als Initiatoren die politischen Entscheidungen auf europäischer Ebene beeinfl ussen können. Wenn mindestens eine Million Bürgerinnen und Bürger aus einer beträchtlichen Zahl von Mitgliedstaaten hinter einer Initiative stehen, ist das eine politische Bewegung, die sich Gehör verschaffen wird und die keine EU-Institution ignorieren kann.

Europäisches Parlament: Europa 2011. Wissen. Verstehen. Mitreden, Berlin 2011, S. 36

B 9 Wie funktioniert eine EU-Bürgerinitiative?

Ehe eine Bürgerinitiative nach EU-Recht gestartet werden kann, müssen einige Anforderungen erfüllt sein und von der EU-Kommission geprüft werden. Die Kommission hat in einem Info-Blatt eine Reihe von Fragen und Antworten zusammengestellt. Nur solche Themen können an die EU-Kommission herangetragen werden, bei denen die EU überhaupt berechtigt ist zu handeln, also zum Beispiel bei Themen, die den Europäischen Binnenmarkt betref-fen (z. B. europaweiter Verbraucherschutz, einheitliche Kennzeichnung von Lebensmitteln usw.). Seit April 2012können Initiativen gestartet werden.

Welchen Anforderungen muss eine Initiative genügen, um registriert zu werden? Die Organisatoren müssen die Regis-trierung ihres Vorschlags bei der Kommission beantragen. Dazu müssen sie folgende Angaben in einer der Amtsspra-chen der EU in ein von der Kommission bereitgestelltes Online-Register eintragen:

◗ Bezeichnung der geplanten Bürgerinitiative;◗ Gegenstand;◗ Beschreibung der Ziele des Vorschlags, den die Kommis-

sion unterbreiten soll;◗ die Vertragsvorschriften, die von den Organisatoren als

für die geplante Initiative relevant erachtet werden;◗ vollständige Bezeichnung, Postanschrift, Staatsangehö-

rigkeit und Geburtsdatum der sieben Mitglieder des Bür-gerausschusses [ein solcher Bürgerausschuss muss erst gebildet werden, denn nur er ist berechtigt, eine Initi-ative auf den Weg zu bringen], wobei insbesondere ihr Vertreter und dessen Stellvertreter anzugeben sind, sowie die E-Mail-Adressen dieser Personen;

◗ alle Quellen, aus denen die Initiative fi nanziert bzw. unterstützt wird.

Aus: Europäische Kommission: Europäische Bürgerinitiative, MEMO/10/683, 15. Dezember 2010, S. 5 f.

Direkt mitreden in Europa: Seit dem 1. April 2012 sind EU-Bürgerinitiativen möglich. Es ist das erste Element di-rekter Demokratie in der Europäischen Union.

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 10 Stärken und Schwächen der Europäischen Bürgerinitiative

Mehr Demokratie e. V. ist eine bundesweit tätige Orga-nisation, die sich für direkte Demokratie und mehr Bür-gerbeteiligung auf allen politischen Ebenen einsetzt. Ihr Bundesvorstand nimmt Stellung zur Europäischen Bürgerinitiative:

Am 15. Dezember 2010 hat das Europäische Parlament eine Verordnung zur Umsetzung der Europäischen Bürgerinitiative beschlossen, nachdem dies zuvor bereits der EU-Ministerrat und die EU-Kommission getan hatten. »Mehr Demokratie« analysiert die Verordnung und markiert positive Aspekte sowie Schwachstellen.

Mit der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) können Bürge-rinnen und Bürger laut Lissabon-Vertrag die Europäische Kommission auffordern, eine Gesetzesinitiative zu ergreifen. Dafür sind 1.000.000 Unterschriften aus einer signifi kanten Zahl von Mitgliedsstaaten notwendig.

Stärken:◗ Unterschriftensammlung ist auch online möglich.◗ Hierfür stellt die EU-Kommission Open-Source-Software

für Initiativen bereit.◗ Initiativen erhalten bei erfolgreicher EBI die Möglichkeit

der öffentlichen Anhörung; diese wird vom Europäischen Parlament organisiert; die EU-Kommission muss vertreten sein.

◗ Für die Unterschriftensammlung gilt das Prinzip der de-gressiven Proportionalität (in kleinen Staaten müssen relativ mehr, in großen Staaten relativ weniger Unter-schriften gesammelt werden).

◗ Initiative muss ihre Finanzierung offenlegen.

Schwächen:◗ Eine EBI wird nicht registriert, wenn sie offensichtlich

gegen die Werte der EU verstößt, offensichtlich nicht im Rahmen der Zuständigkeit der EU-Kommission liegt oder offensichtlich missbräuchlich oder unernst ist. Diese Regeln sind zu vage und geben der Kommission die Mög-lichkeit, ohne eine frühzeitige intensive Prüfung eine EBI zu blockieren.

◗ Eine endgültige rechtliche Prüfung des Gegenstandes der EBI erfolgt erst nach Einreichung der für eine erfolgreiche EBI notwendigen Unterschriften (1 Mio). Damit bleibt das Risiko, dass ihre EBI auch tatsächlich behandelt wird, bis zum Ende der Unterschriftensammlung bei der Initiative. (...)

◗ 18 der 27 Mitgliedsstaaten verlangen die Angabe der Per-sonalausweis- bzw. Passnummer bei der Unterzeichnung einer EBI; Deutschland verlangt dies nicht.

◗ Die Unterschriften müssen aus einem Viertel (7 von der-zeit 27) der Mitgliedsstaaten kommen (Vorschlag »Mehr Demokratie« und Europäisches Parlament: ein Fünftel).

◗ Es gibt – im Unterschied zum Europäischen Parlament – keine Frist für die Umsetzung einer EBI, wenn die Kom-mission sich zum Handeln entschlossen hat.

Mehr Demokratie e. V., Berlin, 15. Dezember 2010 (Michael Efl er, Ralf-Uwe Beck)

und bei welchen eher nicht. Welche Themen könnten in besonderer Weise junge Menschen interessieren?◗ Stellt die Stärken und Schwächen der EU-Bürgerinitia-tive (B 10) einander gegenüber und wägt ab. Stimmt dann über die Frage ab: Ist die EU-Bürgerinitiative ein guter Weg zu einem »Europa der Bürger«?◗ Stellt einen Plan auf, wie ihr eine europaweite Bürger-initiative organisieren würdet. Auf der Website der Euro-päischen Union fi ndet ihr hierzu weitere Informationen und Unterlagen zum Download (www.europa.eu).

◗ Überlegt, bei welchen Themen die Bürgerinnen und Bürger in mehreren EU-Staaten eine Initiative starten könnten, um die EU-Kommission zum Handeln aufzufor-dern?◗ Wie hoch schätzt ihr die Chance ein, dass sich eine Million Unterschriften europaweit (z. B. über das Internet) sammeln lassen, sodass eine Initiative überhaupt gestar-tet werden kann?◗ Überlegt gemeinsam, bei welchen Themen einzelne EU-Staaten und ihre Bevölkerungen sich beteiligen würden

Arbeitsaufträge B 8 – B 10

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 11 Ist das der Flieger nach Europa?

B 12 Hat Europa eine Telefonnummer?

Sowohl die einzelnen Mitgliedstaaten der EU als auch die Europäische Union selbst verfolgen eine Außen- und Sicherheitspolitik. Wie passt das zusammen?

Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger soll einmal in den 1970er Jahren die Frage aufgeworfen haben: »Wen soll ich anrufen, wenn ich mit Europa spre-chen möchte?« Nun hat die EU mit der Einführung von zwei neuen Ämtern – dem EU-Ratspräsidenten Herman Van Rompuy und der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton – zwei zusätzliche Telefonnummern, was eine Antwort auf Kissingers Frage nach der europäischen Tele-fonnummer nicht einfacher gemacht hat. Wen also kann die US-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton heute anrufen, wenn sie mit »Europa« sprechen möchte? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb dazu:

Vessela Tcherneva brachte als Sprecherin des bulgarischen Außenministeriums die auch nach dem Lissabonner Vertrag anhaltende außen- und sicherheitspolitische Misere Europas auf den Punkt, indem sie einen beliebten Witz von EU-Chef-diplomatin Catherine Ashton zitierte: Henry Kissinger wacht morgens auf und stellt fest, dass Europa nun eine Telefon-nummer hat. Er wählt sie, worauf sich ein Anrufbeantworter in Gang setzt: »Hier ist der Anschluss des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Für die deutsche Position wählen Sie bitte die eins, für die französische die zwei, für die britische die drei.«

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Oktober 2010(Horst Bacia)

B 13 Ja!, sagt Catherine Ashton

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton arbeitet eng mit dem US-amerikanischen Außenministerium (State Department) zusammen. In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL sagte sie:

SPIEGEL: Ihre Worte hören sich nicht danach an, als säßen Sie neben dem Telefon, dessen Nummer der frühere US-Außenminister Henry Kissinger einst vermisste, wenn er »mit Europa« sprechen wollte.

Ashton: Die Amerikaner verstehen, dass wir aufgeholt haben. Wir reden mit ihnen stündlich, manchmal noch öfter. Der Austausch zwischen dem State Department und meinem Amt ist enorm. Wir sind protokollarisch der erste Ansprech-partner für sie. Insofern habe ich die Nummer, die Kissinger suchte.

DER SPIEGEL, Ausgabe 7/2011 vom 14. Februar 2011

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 14 Kritik an der Arbeit von Catherine Ashton

So führungs- und ideenlos wie unter Catherine Ashton war Europas Außenpolitik lange nicht mehr – und das obwohl die Union noch nie so viele Instrumente und Kompetenzen in der Außenpolitik hatte wie heute. Das Problem ist, dass Ashton ihre Aufgabe nicht verstanden hat. Sie wartet ab und hört zu, bis sich auch die letzte nationale Regierung eine Meinung gebildet hat. Der kleinste gemeinsame Nenner davon wird dann ihr Vorschlag. Auch wenn es tatsächlich häufi g am politischen Willen der Mitgliedstaaten mangelt, der Lissabonner Vertrag sieht eine viel stärkere Rolle für Ashton vor: als Ideen- und Impulsgeberin, die Europas Au-ßenpolitik proaktiv vorantreibt.

Franziska Brantner, deutsche Abgeordnete im Europäischen Parlament, in einer Pressemitteilung vom 11. Mai 2011

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Die Britin Catherine Ashton ist seit 2009 Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik.

B 15 Ausländische Beobachter zur EU-Außenpolitik: »The Incredible Shrinking Europe«

It was supposed to be the moment Europe grew muscles. Last fall [2009], after a decade of work to simplify policymaking and make the European Union more effi cient at home and stronger abroad, the last few holdouts signed a 1,000-page document known as the Lisbon Treaty. In November [2009], the E.U.’s fi rst real President and Foreign Minister were chosen. Europhiles dusted off their familiar dream: of a newly emboldened world power stepping up to calm trouble spots, using aid and persuasion where it could, but pre-pared to send in troops when it had to. Brussels would lead the fi ght against climate change. And Europe’s economies would prove to the ruthless free markets of North America and Asia that the social market still offers the best way out of an economic crunch.

The dream didn’t last a month. At the climate change con-ference in Copenhagen in December [2009], it was China

and the U.S. who haggled over a fi nal deal, while Europe sat on the sidelines. Instead of a foreign policy triumph, 2010 began with an unseemly squabble over whether or not to bail out Greece, whose debt has dragged down Europe’s currency (…).

Little wonder that Europe fi nds itself in one of its periodic bouts of angst-ridden self-doubt. And little wonder that the rest of the world is asking questions: What does Europe stand for? Where does it fi t into a world that seems set to be dominated by China and the U.S.? Would anyone notice if it disappeared?

Time Magazine, March 8, 2010 (Simon Robinson)

◗ Überlegt, bei welchen globalen Problemen die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton sich als »Ideen- und Impulsgeberin« einbringen und der EU in der internatio-nalen Politik mehr Gewicht verschaffen könnte (B 14).◗ Imagine and discuss the future of world politics when a common EU voice is completely absent and the European nation states are the only players next to China and Russia (B 15).

◗ Analysiert die Karikatur B 11. Erläutert, wie der Zeichner seine Aussage zuspitzt.◗ Auf welches Problem der Europäischen Außenpolitik möchte der Witz in B 12 aufmerksam machen? ◗ Kennt ihr aktuelle Fragen aus der internationalen Politik, in denen die Europäer unterschiedliche Meinungen haben?◗ Wie reagiert Catherine Ashton (B 13) auf diesen Witz?◗ Verfasst einen Brief, in dem Catherine Ashton ihrer Kriti-kerin Franziska Brantner (B 14) antwortet. Berücksichtigt dabei auch B 12 und B 13.

Arbeitsaufträge zu B 11 – B 15

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 16 Europa als Wertegemeinschaft

Bei allen kulturellen Unterschieden teilen wir 500 Millionen Europäer dieselben Werte, wir haben unsere Staaten auf den Grundsätzen der Freiheit und der Menschenwürde aufgebaut. Für mich ist es eine große Beruhigung, dass wir Deutsche uns in der Welt der Globalisierung nicht alleine behaupten müssen. Denn unter nunmehr sieben Milliarden Menschen können wir Europäer unsere Interessen und Werte doch nur noch in der Gemeinschaft erfolgreich vertreten. Nur wenn wir in Europa zu einer einheitlichen Haltung kommen, haben

wir gegenüber 1,3 Milliarden Chinesen oder 300 Millionen Amerikanern eine Stimme, die gehört wird. Ob im interna-tionalen Handel oder beim Klimaschutz oder in Fragen von Krieg und Frieden außerhalb Europas: Die Einheit Europas verleiht uns Kraft. Ohne Europa hat Deutschland keine gute Zukunft.

Angela Merkel in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 11. September 2011

B 17 Werte in der Außen- und Sicherheitspolitik

Der Artikel 21 des Vertrags über die Europäische Union (Lissabon-Vertrag) zählt die Werte auf, denen sich die EU in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik verpfl ichtet fühlt:

Die Union lässt sich in ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, die für ihre eigene Ent-stehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren

und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gül-tigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte und Grund-freiheiten, die Achtung der Menschenwürde, der Grundsatz der Gleichheit und der Grundsatz der Solidarität sowie die Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.

B 18 Der Dalai Lama appelliert an die EU

The Dalai Lama has urged foreign affairs chief Catherine Ashton to keep asking China for EU diplomats to visit Tibet. »The situation in Tibet is very desperate. It is urgent that the international community sends fact-fi nding delegations to the Tibetan area to investigate the situation on the ground. This will have a restraining infl uence on the Chinese authorities«, he said in written remarks sent to EUobserver during his visit to Prague on 12 December 2011. »Should the Chinese side reject the request, the EU could issue a strong statement of deep concern and raise the issue at international fora, such as the United Nations Human Rights Council.« He noted that China cares about its international reputation and is not immune from Arab-Spring-type events. »As powerful as China may be, she is still part of this world and cannot escape the global trend toward more freedom and democracy. The international perception of China is of great importance to the Chinese leadership – China has the ambition to play a leading role in the world.«

Internet-Informationsdienst EUobserver vom 13. Dezember 2011 (Andrew Rettman) (www.EUobserver.com)

Anmerkung: Zwischen der EU und China kommt es immer wieder zum Streit über die Anerkennung Tibets und den Umgang westlicher Politi-ker mit dem Dalai Lama, die Volksrepublik China lehnt eine politische Anerkennung der Autonomie Tibets ab. Der Streit um die Autonomie Tibets geht zurück auf die 1950er Jahre.

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Der Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt der Tibeter, im Europäischen Parlament im Dezember 2008.

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B • In guter Verfassung? – Die EU nach Lissabon

B 19 Libyen: Das Versagen der EU-Außenpolitik

Politik Europas gegenüber den arabischen Staaten. »Wir haben keine politischen Konzepte«, wetterte er in einem Gastbeitrag des Handelsblatts und nannte die Gemeinschaft ein »armseliges Europa«. Sein Fazit lautete: »Eine europä-ische Außenpolitik existiert nicht.« Denn wenn es um die Beziehungen zu Ländern Nordafrikas geht, zählen nationale Interessen mehr als das Interesse Europas. Viele Jahre lang haben die Europäer den umstrittenen Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi hofi ert, weil er ihnen Öl lieferte und Schutz vor afrikanischen Flüchtlingen zusagte. Jetzt fürch-ten sie die Folgen wie steigende Benzinpreise. Daher fanden Wirtschaftssanktionen – wie Gaddafi kein Öl mehr abzukau-fen – keine Mehrheit.

Manche Staaten preschten einfach vor. Während Großbritan-nien schon am Wochenende das Gaddafi -Vermögen einfror, vollzog Italien – das sich lange gegen Strafmaßnahmen ge-sperrt hatte – erst am Montag die Kehrtwende. Italien sieht Libyen als wichtigen Handelspartner; Regierungschef Silvio Berlusconi bezeichnete den libyschen Oberst lange Zeit als einen persönlichen Freund. (...)

Wegen dieser Blockaden läuft Europa der Entwicklung hin-terher. Gerade mal hat man sich auf Sanktionen geeinigt, schon steht die Frage einer Flugverbotszone über Libyen an. Diese würde Bürger des Landes vor Luftangriffen schützen und das Regime vom Nachschub abschneiden. Die Debatte schwappt aus den USA herüber, wobei Italien und Frankreich geografi sch am ehesten in Frage kämen, um das Flugverbot umzusetzen. »Dafür ist ein klares Mandat der UN notwen-dig«, wiegelte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmus-sen noch vor Tagen ab. Doch wenn sich die Lage in Libyen nicht bessert, wird die EU klare Antworten geben müssen. In Brüssel kursierten am Montag Gerüchte über einen mög-lichen Sondergipfel der EU-Staatschefs zum Ende der Woche. Dort könnte dann über militärische Schritte, die Verteilung von Flüchtlingen und ein Flugverbot gesprochen werden. Letzteres sei eine komplexe Frage und bedürfe weiterer Diskussionen, dämpfte die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton bereits die Erwartungen: »Ich werde Sie natürlich in-formieren, wenn irgendeine Entscheidung getroffen wird.«

dpa vom 28. Februar 2011 (Marion Trimborn)

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Im Januar 2011 begannen in Libyen breite Proteste gegen das Regime Muammar al-Gaddafi s. In dem Kon-fl ikt, der rasch an Schärfe zunahm, griff der Diktator hart gegen die Demonstranten durch. Der politische Konfl ikt eskalierte zu einer militärischen Auseinandersetzung. Nachdem die Vereinten Nationen in der »Resolution 1973« militärische Maßnahmen gegen al-Gaddafi und seine Truppen ermöglicht hatten, um Zivilisten in Libyen zu schützen, begannen die USA, Großbritannien und Frankreich im März 2011 mit Luftangriffen auf Libyen.

Im Februar 2011, inmitten der Diskussion um eine ange-messene Reaktion auf den Bürgerkrieg in Libyen, schreibt die Nachrichtenagentur dpa:

Fast eine Woche lang wurde in der EU debattiert und gestrit-ten, geplant und wieder verworfen. Nur, um sich dann auf Mini-Sanktionen zu einigen, die in großen Teilen lediglich die UN-Resolution umsetzen. Die Unruhen in Libyen haben die tiefe Zerstrittenheit Europas zutage gefördert. Sanktionen oder die Entsendung von Truppen, Flüchtlingsstrom ja oder nein – bei keinem Thema waren sich die Länder einig. Manche Politiker sprechen bereits ganz offen vom Versagen Europas.

»Es ist schon bemerkenswert, dass der Weltsicherheitsrat eine klarere Position bezogen hat [als die EU] «, sagte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, bereits vor einigen Tagen. Der frühere Präsident der EU-Kommission, Romano Prodi, wurde deutlicher und geißelte die ängstliche

◗ Führt Gründe an, warum einige Länder in der Libyen-Frage (B 19) einfach »vorgeprescht« sind.◗ Welche Lehren sollte die EU eurer Meinung nach aus den Erfahrungen im Libyen-Konfl ikt ziehen? Entwerft Vor-schläge, wie es gelingen könnte, dass die EU künftig außenpolitisch mit einer Stimme spricht.

◗ Für welche Werte sollten sich deiner Meinung nach die Eu-ropäer in besonderer Weise in der Welt einsetzen? Sammelt Werte und stimmt dann in der Klasse darüber ab, welche Werte die Europäische Außenpolitik prägen sollten.◗ Überlegt, weshalb sich der Dalai Lama mit seinen For-derungen an die EU-Außenbeauftragte Ashton wendet.◗ Why could it be an advantage for the EU to speak with one voice in talks about Tibet with Chinese politicians (B 18)?

Arbeitsaufträge zu B 16– B 19

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C • Baustelle Europa – wohin geht die EU?

C • Baustelle Europa – wohin geht die EU? Materialien C 1 – C 15

C 1 Was ist Europa?

Europa ist das Beste, was den Deutschen, Franzosen und Italienern, den Tschechen und Dänen, den Polen und Spaniern, den Niederländern und Griechen, Bayern und Balten, Wallonen und Württembergern, Schotten und Sizilianern, den Basken wie den Badenern in ihrer Ge-schichte passiert ist. Europa ist die Verwirklichung so vieler alter Friedensschlüsse, die den Frieden dann doch nicht gebracht haben. Die Europäische Union ist das Ende eines fast tausendjährigen Krieges, den fast alle gegen alle geführt haben. Sie ist ein unverdientes Paradies für die Menschen eines ganzen Kontinents.

Heribert Prantl, Journalist, in der Süddeutschen Zeitung vom 2. Juli 2011

Ganz allgemein redet man über Europa, als wäre Deutsch-land völlig eigenständig. Die Gegenfrage gehört endlich auf den Tisch: Man stelle sich vor, die EU würde tat-sächlich zerfallen. Welche Kosten würde es verursachen, die europäische Währung wieder durch zwölf nationale Währungen zu ersetzen, wieder alle nationalen Grenzen zu kontrollieren und nationale Zölle einzuführen, europä-ische Regulierungen wieder durch 27 nationale zu erset-zen? Ganz davon abgesehen, dass sich nationale Politik zu den globalen Verwicklungen wie dem Klimawandel oder der Finanzkrise wie die Fahrradklingel und -bremse am Interkontinentalfl ugzeug ausnimmt.

Ulrich Beck, Soziologe, in der ZEIT vom 30. Juni 2011

Nicht weniger, sondern mehr Europa, nur so kann der Ausweg aus der europäischen Krise lauten. Dafür aber müssen die Verantwortlichen mehr tun, als sich von Kri-sengipfel zu Krisengipfel zu hangeln und das Schlimmste zu verhindern. Dazu gehört eine sichtbare und erfahrbare Demokratisierung. Wie wäre es zum Beispiel mit der Di-rektwahl der Präsidenten von Rat und Kommission? Das würde immerhin dazu führen, dass die zentralen Akteure Europas nicht mehr so blutarme Bürokraten wie derzeit wären, sondern im Idealfall Identifi kationsfi guren der eu-ropäischen Bürger. Männer und Frauen, die in der Lage wären, eine Geschichte darüber zu erzählen, weshalb das vereinigte Europa, allen Krisen, Fehlern und Irrwegen zum Trotz, die bedeutendste Errungenschaft der westlichen Welt seit dem Zweiten Weltkrieg ist. Eine Bastion für Frieden und Wohlstand, Demokratie und Menschenrechte, die zu verteidigen eine lohnende, eine große Sache ist.

Holger Schmale, Journalist, in der Frankfurter Rundschau vom 23. Juli 2011

Dieser Kontinent mit seinen unterschiedlichen Traditi-onen und Sprachen mag ein furchtbar kompliziertes Ge-bilde sein. Aber furchtbarer ist die Sprachlosigkeit seiner Politiker – und zwar die der jüngeren. Denn heute ist das gemeinsame Europa ein Entwurf alter Männer. Helmut Schmidt, Jacques Delors oder Wolfgang Schäuble haben Krieg und Nachkriegszeit erlebt; der Zusammenschluss verfeindeter Länder ist ihr Friedensprojekt. Für alle Gene-rationen danach klingt es banal, weil der Frieden längst selbstverständlich ist. Doch eine andere Begründung für die politische Union hat man nie gefunden. Und deswe-gen liegt die Lösung der europäischen Krise jetzt nicht bei den Alten. Es braucht die Kraft – und die Sprache – einer neuen Politikergeneration in Europa. Womöglich ist das die größte Herausforderung.

Marc Brost, Journalist, in der ZEIT vom 21. Juli 2011

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C • Baustelle Europa – wohin geht die EU?

C 2 Ist das europäische Haus noch zu bestellen?

In einem Interview mit der Zeitung »Das Parlament« äußert sich der CDU-Politiker und ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments Hans-Gert Pöttering:

Wir haben mit Kroatien bald 28 (EU-)Mitglieder. Was verspricht sich die EU von der Erweiterung? Daran sind Staaten schon zugrunde gegangen.Zuvor das: Die EU ist eine Erfolgsstory. Wer hätte 1979, als das Europäische Parlament zuerst gewählt wurde, zu hoffen gewagt, dass zehn osteuropäische Länder am 1. Mai 2004 der Europäischen Union beitreten? Es ist aber passiert, weil die Menschen in diesen Ländern die gleichen Werte für sich beanspruchen, die wir ganz selbstverständlich gelebt haben und leben: Würde des Menschen, Menschenrechte, Freiheit, Gleichheit – Rechtsstaatlichkeit. Es war ein Sieg unserer Werte. Und jetzt zu den Herausforderungen: Was die Länder des Balkan angeht, so werden diese schrittweise, nach indi-vidueller Erfüllung der Anforderungen, aufgenommen. (...)

Schrittweise Heranführung an die EU: Wie prüft man denn beispielsweise, ob die Korruption in Bulgarien aus-reichend bekämpft wird?Meine persönliche Wertung ist: Rumänien und Bulgarien wur-den zu früh Mitglied der EU. Ich stelle das heute nicht mehr in Frage, aber daraus sind Konsequenzen zu ziehen. Unter anderem die, in Zukunft sorgfältiger hinzuschauen. (...)

Mit den Balkanstaaten werden wir weiter wachsen – auf mehr als 30 Mitglieder. Ist das europäische Haus dann noch zu bestellen?Diese Herausforderung haben wir ja heute schon mit 27. Für die europäische Gesetzgebung gilt, dass sich EU-Parlament und Ministerrat die Gesetzgebung teilen. Dies verwirklicht Demokratie in der EU. Eine andere Frage ist die der Außen- und Sicherheitspolitik, wo nach dem Prinzip der Einstimmig-keit entschieden wird. Aber auch dort kann man nach dem Lissabon-Vertrag heute schon zu Entscheidungen kommen, ohne dass alle einig sein müssen. Wenn eine Staatengruppe vorangehen möchte, kann sie das tun. (....)

Die EU betont Bürgernähe und doch gelingt es ihr nicht, die Brücke zu den Menschen auf der Straße zu schlagen. (...)Wir müssen Europa viel stärker vermitteln. Auch die Medien sollten sich mehr dem Erreichten zuwenden und nicht immer auf negativen Details herumhacken. Und ganz wich-tig: Unsere nationalen Politiker dürfen den Schwarzen Peter nicht nach Brüssel schieben. (...)

Das Parlament vom 28. Februar 2011 (Interview: Sabine Seeger und Knut Teske)

C 3 Die Krise als Chance?

Bundesfi nanzminister Wolfgang Schäuble gehört seit Jahrzehnten zu den Verfechtern einer europäischen Ei-nigung. In der aktuellen Euro- und Staatsschuldenkrise spielt er neben Kanzlerin Angela Merkel die zentrale eu-ropapolitische Rolle. In einem SPIEGEL-Interview sagte er:

Tragen Europafreunde wie Sie und Helmut Kohl nicht eine Mitschuld an dieser Krise, weil Sie damals eine Währungsunion eingeführt haben, ohne die Euro-Zone politisch zu einigen?In den neunziger Jahren war eine politische Union nicht zu haben. Sicherlich wäre es klüger gewesen, beides miteinan-

der auf den Weg zu bringen. Deswegen wollten wir es ja. Aber die Widerstände waren einfach zu groß.

Mit anderen Worten: Sie freuen sich insgeheim über die Euro-Krise, weil sie die Europäer dazu zwingt, politisch zusammenzurücken?Das ist Unsinn, ich freue mich nicht über die Krise. Aber rückblickend ist schon wahr: Jeder große Integrationsschritt Europas folgte auf eine Krise. Das war bisher immer so, und das kann jetzt auch die Lösung sein.

DER SPIEGEL, Ausgabe 51/2011 vom 17. Dezember 2011 (Interview: Markus Feldenkirchen und René Pfi ster)

aus der Sicht der EU und einmal aus der Perspektive eines Beitrittskandidatenstaates (z. B. Kroatien oder Türkei).◗ Jede Krise bietet die Chance für einen Neubeginn (C 3). Recherchiert im Internet nach früheren Krisen im europä-ischen Einigungsprozess (z. B. »Politik des leeren Stuhls« in den 1960er Jahren oder »Eurosklerose« in den 1980er Jahren). Findet heraus, wie die Europäische Gemeinschaft ihre Krisen in der Vergangenheit überwunden hat. Hin-weise enthält auch das Quiz in der Heftmitte.

◗ Die Texte geben unterschiedliche Begründungen für den Nutzen der Europäischen Union und diskutieren verschie-dene Perspektiven der Zukunft der europäischen Zusam-menarbeit (C 1). Fasst die Argumente in eigenen Worten zusammen und schreibt auf dieser Grundlage eine kleine Geschichte der EU aus dem Jahre 2150, die beginnt mit den Worten: »Es war einmal eine Europäische Union …«.◗ Diskutiert die Chancen und Probleme, die mit der Erwei-terung der Europäischen Union einhergehen (C 2) – einmal

Arbeitsaufträge C 1 – C 3

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C • Baustelle Europa – wohin geht die EU?

Mit der am 1. Januar 1999 gestarteten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) hat die EU einen Höhepunkt ihrer Integrationsgeschichte erreicht. Seit diesem Zeitpunkt sind die Währungen der teilnehmenden Staaten unwiderrufl ich fi xiert und seit 2002 durch eine gemeinsame Währung, den Euro, ersetzt worden. Ziele sind die Beseitigung der den Gemeinsamen Markt behindernden Währungsschwankungen, Währungsstabilität, die Stärkung Europas im Weltmarkt und die Wiedergewinnung der währungspolitischen Handlungs-fähigkeit. Außerdem erhoffen sich die Akteure einen en-geren Zusammenhalt der EU und eine weitere Integrations-dynamik. (…)

Die Bilanz der Wirtschafts- und Währungsunion fällt zwie-spältig aus. Einerseits erwies sich der Euro in den ersten zehn Jahren nach seiner Einführung als stabile und interna-tional anerkannte Währung. Die Europäische Union und ihr Gemeinsamer Markt profi tierten vom Wegfall des Währungs-risikos und der Erleichterung des innereuropäischen Zah-lungsverkehrs. (…) Andererseits führte die große Heteroge-nität der Euro-Länder dazu, dass sie sich in ihrer Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit auseinanderentwickelten, ohne dass dies durch Währungsabwertungen kompensiert werden konnte. (…) Spätestens die krisenhafte Entwicklung des

Euro hat deutlich gemacht, dass die WWU die EU zu einer Schicksalsgemeinschaft hat werden lassen. Entsprechend muss sie über die 2010 beschlossenen Notfallpläne hinaus weiterentwickelt werden.

Olaf Hillenbrand: Wirtschafts- und Währungsunion, in: Werner Weidenfeld und Wolfgang Wessels (Hrsg.), Europa von A bis Z. Taschenbuch der europäischen Integration, 12. Aufl ., Nomos Verlag, Baden-Baden 2011, S. 394–399

Währungsrisiken: Vor Einführung des Euro konnten die Unternehmen in Deutschland und in anderen europäischen Staaten aufgrund der schwankenden Wechselkurse – etwa im Verhältnis von D-Mark zu italie-nischer Lira – nie sicher sein, wie viel Geld sie verdienen würden, wenn sie Waren ins Ausland exportierten. Denn abhängig vom Wechselkurs verdienten sie mal mehr und mal weniger.

Abwertungen: Da in einer Währungsunion die beteiligten Staaten die-selbe Währung nutzen, ist eine direkte Abwertung der eigenen Währung wie früher nicht mehr möglich. Vor Einführung des Euro konnten zum Beispiel die italienischen oder griechischen Regierungen durch die Ab-wertung der Lira oder der Drachme die eigenen Produkte »verbilligen«, sodass sie im Vergleich zu konkurrierenden Produkten wettbewerbs-fähiger wurden.

C 4 Die Euro-Zone

C 5 Die Wirtschafts- und Währungsunion – eine Schicksalsgemeinschaft?

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C • Baustelle Europa – wohin geht die EU?

C 6 Staatsverschuldung der Euro-Länder

C 7 Wirtschaftliche Grundregeln

Auch in der besten aller möglichen Welten wäre eine wirt-schaftliche Grundregel nicht außer Kraft gesetzt. Es ist eine etwas biedere, hausbackene, wenig elegante Regel, und wer an sie erinnert, gewinnt keinen intellektuellen Schönheits-wettbewerb: Auch Staaten können auf Dauer nicht mehr ausgeben, als sie einnehmen. Tun sie es doch, erhalten sie irgendwann die Quittung. Einige Staaten früher, andere später, die meisten aber erst dann, wenn diejenigen, die den Schuldenberg angehäuft haben, schon tot sind. Das berührt eher einen Mangel an Demokratie (zumindest aber

an Gerechtigkeit) als der Umstand, dass Griechenland im Schuldenturm der Märkte sitzt und ihn ohne unsere Hilfe nicht wird verlassen können.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6. November 2011 (Michael Martens)

◗ Weshalb ist die Europäische Wirtschafts- und Währungs-union aus Sicht des Textes C 5 eine »Schicksalsgemein-schaft«?◗ Die Staatsverschuldung in den 17 Euro-Staaten ist un-terschiedlich hoch. Recherchiert und diskutiert, weshalb dies so ist (C 6 und C 7).

◗ In 17 von 27 EU-Staaten wird mit dem Euro bezahlt (C 4). Wer jedoch in London ein Adele-Konzert oder in Manchester ein Spiel von »ManU« besucht, muss seine Karte mit britischen Pfund bezahlen. Überlegt, weshalb Großbritannien (wie etwa auch Dänemark, Polen oder Schweden) den Euro (noch) nicht eingeführt haben.

Arbeitsaufträge C 4 – C 7

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C • Baustelle Europa – wohin geht die EU?

C 9 Vision von Europa

Hans-Werner Sinn ist Wirtschaftswissenschaftler und äußerte sich zu seiner Vision von Europa:

Wie sieht Ihre Vision von Europa aus?Der Euro ist wirtschaftlich vernünftig, vielleicht werden wir in 50 Jahren auch die Vereinigten Staaten von Europa haben. Im Moment sieht es aber eher danach aus, als würde der Euro-Raum sich etwas verkleinern. Wir müssen vor allem verhindern, dass Europa eine Union wird, die die Schulden sozialisiert [etwa durch die Einführung von gemeinsamen Euro-Staatsanleihen; Anm. der Red.]. Dahin sind wir aber gerade auf dem Weg.

Eine Union ist doch aber immer auch eine Gemeinschaft, in der die Schwachen gestützt werden.Hilfen sind selbstverständlich. Ich bin sehr für temporäre Unterstützungen, um einem Land, das Zahlungsschwierig-keiten hat, ein, zwei Jahre zu helfen, bis es seine Steuern hat erhöhen können. Was nicht geht ist, dass die Gemein-schaft die Schulden einzelner Länder übernimmt.

Südwest Presse vom 19. November 2011

C 8 »Is this really the end?«

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C 10 Eine Währungsunion ohne EU?

In einem Interview äußerte sich der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson zur Euro-Krise:

Wie gefährlich ist die Euro-Krise?Sehr gefährlich. Es geht um die Existenz der Europäischen Union. Für mich ist dieses Szenario vollkommen plausibel: Der Euro überlebt die Krise, aber nicht die Europäische Union.

Wie soll das gehen – eine Währungsunion ganz ohne Europäische Union?Es ist sehr schwer, die Währungsunion zu verlassen. Und es ist leicht, aus der EU auszutreten.

Aber muss es nicht so heißen: Euro und Europäische Union sind gemeinsam erfolgreich oder scheitern ge-meinsam.Im Gegenteil. Wenn der Euro Erfolg haben sollte, scheitert die Europäische Union. Das ist die größte Ironie: Der Euro ist der größte Antreiber der europäischen Spaltung. Er trennt 17 EU-Länder von den 10 EU-Staaten ohne Euro. Zudem treibt er die Länder der Währungsunion auseinander. Das Problem ist: Wir haben ihn und können ihn ohne riesige Kosten nicht wieder loswerden.

Frankfurter Rundschau vom 31. Oktober 2011(Interview: Markus Sievers)

Im November 2011 kommt die britische Wochen-zeitschrift »The Economist«, die als global gelesenes Magazin gilt, mit dieser Titelseite zur Euro-Krise heraus.

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C • Baustelle Europa – wohin geht die EU?

C 11 Das Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa

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Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales.

Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Arbeit und Soziales, äußerte sich im SPIEGEL zur Euro-Krise:

Europa ist wie eine in die Jahre gekommene Romanze, die plötzlich vor die Frage gestellt wird: Wollen wir heiraten? Es ist die Krise vor dem Standesamt. Man prüft sich, reicht die Liebe, um dauerhaft durch dick und dünn zu gehen mit allen Rechten und Pfl ichten für beide Partner? Wenn wir ausein-anderbrechen, werden sich die unterschiedlichsten Allianzen in Europa bilden, mit allen Gefahren für den Gemeinsamen Binnenmarkt und die politische Zusammenarbeit. Wenn Europa im globalen Wettbewerb bestehen will, sollte es zusammenstehen. Aber dann müssen wir das auch ehrlich machen. Dann reicht eine gemeinsame Währung nicht, dann brauchen wir eine politische Union.

War es also der falsche Weg, zuerst den Euro und dann die politische Union einzuführen?Die Aufgabe meiner Generation ist es, das vereinte Europa zu schaffen. Das Problem ist: Wir sind nach der Einführung des Euro einfach stehengeblieben.

Und jetzt wollen Sie unter dem Druck der Krise nachho-len, was damals versäumt worden ist.Mein Ziel sind die Vereinigten Staaten von Europa – nach dem Muster der föderalen Staaten Schweiz, Deutschland oder USA. Das heißt, es bleibt ganz viel lebensnahe Ge-staltung in den Ländern und Regionen, aber in wichtigen fi nanz-, steuer- und wirtschaftspolitischen Fragen nutzen wir den Größenvorteil Europas. Das wird ein langer Weg, aber wir können ihn schaffen. (…)

Wo soll die neue Begeisterung für Europa herkommen?Die Krise rüttelt uns doch wach. Europa hat uns Frieden gebracht: Wir können reisen, arbeiten, forschen, studieren, Handel treiben und vieles mehr. Das gilt heute als selbstver-ständlich. Wollen wir wirklich zurückfallen in die Zeit der Na-tionalegoismen? Wollen wir wieder Schlagbäume und Zölle einführen, Visazwang und Aufenthaltsgenehmigungen? Ich will das nicht.

DER SPIEGEL, Ausgabe 35/2011 vom 27. August 2011 (Interview: Markus Dettmer und Michael Sauga)

sollte die EU noch stärker politisch und wirtschaftlich zusammenarbeiten und sich in Richtung der »Vereinigten Staaten von Europa« entwickeln (C 11).

◗ Was will das Titelbild des »Economist« (C 8) aussagen?◗ Viele Experten äußern sich angesichts der Euro- und Staatsschuldenkrise skeptisch über die Zukunftsperspek-tiven der EU. Sammelt die Argumente der Pessimisten (C 9 und C 10) und stellt sie den Vorstellungen der Optimisten (C 11) gegenüber. Überlegt, was sich alles ändern würde,

Arbeitsaufträge C 8 – C 11

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C • Baustelle Europa – wohin geht die EU?

C 12 Welche Zukunft hat die Jugend?

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Europas Jugend hatte lange nicht mehr so viel Grund sich zu wehren, wie heute. Sie protestiert, wenn es friedlich zugeht, zurecht. In sämtlichen Ländern Europas ist die Jugendarbeitslosigkeit höher als die Arbeitslosigkeit insgesamt. (...) Die jungen Leute sollten es satt haben, für die Altlasten ihrer Eltern und Großeltern aufzukommen. Sie sollten nicht hinneh-men, dass an der Bildung gespart wird. Und sie müssen laut aufschreien, wenn ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt so gering sind, dass sie sich nicht trauen, eine Familie zu gründen. Junge Men-schen in Spanien, Frankreich, Portugal und Griechenland nehmen das alles nicht mehr hin. Sie fühlen sich ausgegrenzt aus der Gesellschaft und um ihre Zukunft betrogen. Es ist die Verzweifl ung, die sie umtreibt. Die hohe Jugendarbeitslosig-keit in vielen Ländern ist bedrückend. (...) Worte alleine sind zu wenig, Taten sind notwendig. Die Jugend in Europa macht sich auf den Weg, indem sie auf die Straße geht und ihren Protest hinausruft. Es ist ein Schritt zu mehr Selbstverant-wortung und zur Entscheidung »Nein« zu sagen. Nein zur Hoffungslosigkeit einer ganzen Generation.

Süddeutsche Zeitung vom 6. August 2011(Sibylle Haas)

C 13 Fachkräftemangel in Deutschland – Unterstützung aus Spanien

Kein EU-Land hat eine höhere Jugendarbeitslosigkeit als Spanien. Knapp fünf Millionen Menschen sind dort ohne Job. Und das, obwohl viele junge Spanier eine hohe Qua-lifi kation haben und gut ausgebildet sind. Also suchen sie ihr Glück im Ausland, zum Beispiel in Deutschland. Denn hier werden dringend Fachkräfte gebraucht, allen voran in Baden-Württemberg.

Baden-Württemberg hat den roten Teppich ausgerollt für spanische Fachkräfte. Mit einem Pilotprojekt hat die Region

Stuttgart junge Ingenieurinnen und Ingenieure aus Spanienangeworben und mittelständische Unternehmen aus der Region mit arbeitssuchenden Spaniern zusammengebracht. Die »Aktion Nikolaus«, wie das Projekt heißt, soll dem Land jede Menge kluge Köpfe bescheren. Die Fachkräfte aus Spa-nien haben sich in Stuttgart mit den Unternehmern zu Vorstellungsgesprächen getroffen.

SWR International vom 5. Dezember 2011 (Rosa Omenaca)

Abwanderung (auch »brain drain« genannt) für Griechen-land, Spanien und Portugal haben kann. Könnt ihr euch vorstellen, später auch einmal im europäischen Ausland zu arbeiten und zu leben?

◗ In Spanien ist die Jugendarbeitslosigkeit sehr hoch (C 12 und C 13). Das zwingt viele junge, gut ausgebildete Menschen aus dem Süden Europas in den Norden zu ziehen und dort Arbeit zu suchen. Überlegt, welche Folgen diese

Arbeitsaufträge C 12 – C 13

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C • Baustelle Europa – wohin geht die EU?

C 14 Joschka Fischer fordert einen radikalen Umbau der Europäischen Union

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Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) war von 1998 bis 2005 Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und im ersten Halbjahr 1999 Präsident des Rats der Euro-päischen Union.

Joschka Fischer fordert in einem Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT einen radikalen Umbau der EU:

Erleben wir derzeit eine Bankenkrise oder eine Staatsschuldenkrise?Es begann als Bankenkrise, wurde dann zur Staatsschul-denkrise, geht aber noch tiefer. Die Finanzkrise trifft alle Staaten. Aber in Europa ist sie eskaliert, weil wir nur über schwache Entscheidungsstrukturen verfügen. Es fehlt eine politische Union. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder Europa zerfällt. Oder wir machen den Schritt in die politische Union. Und zwar nicht irgendwann, sondern innerhalb der nächsten zwei oder drei Jahre.

Wie soll das künftige Europa aussehen, das Ihnen vorschwebt?Vergessen wir die EU der 27! Leider. Aber ich sehe einfach nicht, dass diese 27 Staaten gemeinsam irgendeine bedeut-same Reform hinbekommen. Also wird man eine Avantgarde bilden müssen. Diese Vorhut ist defi niert durch das gemein-same Interesse am Erhalt des Euro.

Das ist dann Kerneuropa.Es ist die faktische Realität. Wir sehen doch schon, wie die künftige Regierung entsteht: Die Staats- und Regierungs-chefs der 17 Euro-Staaten tagen fast permanent. Sie sind heute die Entscheidungsinstanz in Europa.

Und wer nicht dabei ist, ist draußen?Es gibt Unterschiede. Dänemark etwa ist mit der Krone fest an den Euro gebunden, möchte aber nicht zur Euro-Zone ge-hören, das ist durch Volksentscheid so festgehalten. Selbst in England ist man sich einig, dass es eine Fiskalunion geben

muss. Das kleine schmutzige Geheimnis in London ist, dass die Zukunft des Finanzplatzes London sehr viel mehr vom Schicksal des Euro abhängt als vom Pfund.

Sie wollen ein Europa ohne Brüssel.Nein, aber wir müssen jetzt einen Umweg machen, wenn Europa nicht scheitern soll. Ich empfehle das Schengen-Abkommen als Vorbild. Damals haben einige europäische Staaten in einem Vertrag beschlossen, auf gegenseitige Grenzkontrollen zu verzichten. Inzwischen ist das Teil der Europäischen Verträge. (…)

Sie wollen die EU opfern, um den Euro zu retten.Umgekehrt. Indem ich den Euro rette, erhalte ich die EU. Zu einer Vorhut gehört auch eine Nachhut. Die anderen Länder werden nachziehen. Das ist die Erfahrung, die wir in Schen-gen gemacht haben. (…)

Sehen Sie die Chance, in den nächsten zwei bis drei Jahren eine Mehrheit für Ihr Modell zu bekommen?Ich sehe vor allem, dass die Krise uns nicht loslassen wird. Ohne Mut werden wir da nicht rauskommen. Da wird es auf Merkel und Sarkozy, auf Merkozy ankommen. Mein Eindruck ist: Wenn es ernst wird mit Europa, werden die Bürger trotz diverser dauerredender Quatschköpfe mit zwei Dritteln für Europa stimmen.

Sie haben einen gewissen Ruf als Apokalyptiker …Ja, und ich lag bislang leider nicht schlecht. Ich habe gerade die Lebenserinnerungen von Stefan Zweig gelesen. Er be-schreibt, wie im Ersten Weltkrieg eine ganze Welt verloren gegangen ist, eine Welt, die vollkommen sicher schien, die habsburgische Monarchie. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir Europa nicht verlieren. Das Risiko ist gegenwärtig sehr groß. Den Kontinent Europa wird es auch ohne den Euro geben, aber als politisch-kulturelles Projekt ist es dann tot.

DIE ZEIT vom 10. November 2011 (Interview: Tina Hildebrandt und Heinrich Wefi ng)

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C • Baustelle Europa – wohin geht die EU?

C 15 Europaminister Friedrich zur europäischen Integration

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Peter Friedrich, Minister für Bundesrat, Europa und in-ternationale Angelegenheiten in der baden-württember-gischen Regierung.

Das europäische Projekt steht angesichts umgreifender EU-feindlicher Tendenzen an einem Scheidepunkt. (…) Tatsäch-lich besteht aktuell ein enormes Gefahrenpotenzial aus der Verbindung von Islamophobie, Nationalismus und Europa-feindlichkeit, das sich auch im Erfolg von Parteien wie den »Wahren Finnen«, den »Schwedendemokraten«, der österrei-chischen FPÖ oder Wilders’ PVV in den Niederlanden prägt. Die anhaltende Krise bei der Rettung von »Euroschulden-staaten« droht den Konsens für das Gemeinschaftsprojekt Europa aufzubrechen. Die Grundfreiheiten im Binnenmarkt wie etwa die Reisefreiheit werden derzeit in einzelnen Mit-gliedsstaaten infrage gestellt.

Diese Tendenzen treffen auf eine weitverbreitete Europa-müdigkeit, weil vieles, was uns erst das europäische Projekt ermöglicht hat, inzwischen Gott sei Dank selbstverständlich geworden ist. Aber was uns wie Selbstverständlichkeiten erscheint, muss immer wieder neu erarbeitet werden. Wir müssen uns zurückbesinnen. Europa hat immer die Politik der kleinen Schritte gemacht. Das zieht sich durch die ge-samte Entwicklung der Europäischen Union. Aber jede Krise hat Europa auch wieder ein Stück nach vorn gebracht.

So ist es auch jetzt. Ich bin fest davon überzeugt, dass Europa diese Krise überstehen wird. Aber wir werden sie nur überstehen, wenn wir bereit sind, mehr Europa zu wagen. Dann wird die EU gestärkt aus dieser Krise hervorgehen. Aber eines ist auch klar: Das wird uns nur gelingen, wenn wir gemeinsam an die Kraft der europäischen Idee glauben. (…) Ohne die Einbindung in die Europäische Union hätten Baden-Württemberg und Deutschland ihren Wohlstand nicht erarbeiten können. Wir müssen auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass wir ohne EU und Euro unseren Wohlstand nicht erhalten können. (…) Ich sage ganz klar: Wir – Deutsch-land – sind Zahlmeister der EU; das stimmt. Wir sind aber auch der größte Profi teur der EU. Es ist daher in unserem ureigensten Interesse, dass notleidende Staaten nicht fallen gelassen werden. (…)

Gerade die baden-württembergische Wirtschaft mit ihrer mittelständisch geprägten Unternehmensstruktur lebt vom ungehinderten grenzüberschreitenden Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Ideen. So exportierten die Unternehmen in unserem Land allein im Jahr 2010 Waren im Wert von gut 103 Milliarden Euro nach Europa. Das sind zwei Drittel des gesamten baden-württembergischen Außenhan-dels. 60 Milliarden Euro entfi elen auf Exporte in die Euro-zone. Das heißt, 40 Prozent aller baden-württembergischen Exporte fi nden innerhalb der Eurozone statt. Was wäre aus der baden-württembergischen Wirtschaft in der jüngsten Finanz- und Staatsschuldenkrise ohne den Euro geworden? (…) Ohne den Euro hätte es eine deutliche Aufwertung der nationalen Währung mit negativen Effekten für unsere Exportwirtschaft gegeben.

Aus der Regierungserklärung »Euro dauerhaft stabilisieren –Mitwirkung der Länder wahrnehmen« des Ministers für Bun-desrat, Europa und internationale Angelegenheiten Peter Friedrich am 28. September 2011 im Landtag von Baden-Württemberg

bedeutet. Diskutiert anhand von Beispielen, was sich in der EU verändern würde, wenn sie sich in Richtung einer Fiskalunion entwickeln würde.◗ Sammelt die wichtigsten Aussagen und Argumente aus der Regierungserklärung von Minister Friedrich (C 15) und gestaltet daraus eine Mindmap.

◗ Joschka Fischer fordert dazu auf (C 14), die EU zu einer »politischen Union« weiterzuentwickeln. Wie soll diese Stufe der engen politischen und wirtschaftlichen Zusam-menarbeit der europäischen Staaten seiner Meinung nach erreicht werden? Ist dieser Vorschlag aus eurer Sicht rea-listisch? Begründet eure Meinung.◗ In dem Interview mit Joschka Fischer taucht der Be-griff »Fiskalunion« auf. Recherchiert, was dieser Begriff

Arbeitsaufträge C 14 – C 15

Politik & Unterricht • 1-2012

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