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1 RAAbits Ethik/Philosophie Wo war Gott? S II D Religion · Beitrag 3 Wo war Gott? – das Problem der Theodizee Pit Kapetanovic, Heidelberg Bild: Eine junge Mutter trauert um ihr verstorbenes Kind, Dezember 2004. Picture-alliance/dpa. Klasse: 12 Dauer: 12 Stunden Arbeitsbereich: Religion / Religion und Vernunft Naturkatastrophen wie im Indischen Ozean oder in Japan zeigen uns die Grenzen der Be- herrschbarkeit der Natur auf. Terroranschläge und Kriege scheinen zu verdeutlichen, dass es mit der moralischen Besserung der Menschheit nicht allzu weit her ist. „Wo ist Gott?Wie kann er das zulassen?“, fragen sich deshalb viele Menschen. Dieser Frage haben monotheistisch geprägte Weltanschauungen schon immer gegenübergestanden. Philo- sophisch wurde sie vor allem im Zeitalter der Aufklärung zum Thema. Heute wird die Theodi- zee-Debatte vor allem im Zusammenhang mit der in den Neurowissenschaften und dem Feuil- leton aufgeworfenen Frage nach dem freien Willen geführt. In dieser Unterrichtsreihe sollen die Schülerinnen und Schüler, ausgehend von Reaktionen auf aktuelle Naturkatastrophen, die der „klassischen“ Theodizeedebatte des achtzehnten Jahrhun- derts gegenübergestellt werden, für das Problem einer philosophischen Theodizee sensibili- siert werden. zur Vollversion

Wo war Gott? das Problem der Theodizee - …...Letztere Debatte ist unter anderem von Richard Swinburne und John Leslie Mackie geführt worden. Didaktisch-methodische Überlegungen

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RAAbits Ethik/Philosophie

Wo war Gott?S II D Religion · Beitrag 3

Wo war Gott? – das Problem der Theodizee

Pit Kapetanovic, Heidelberg

Bild: Eine junge Mutter trauert um ihr verstorbenes Kind, Dezember 2004. Picture-alliance/dpa.

Klasse: 12Dauer: 12 StundenArbeitsbereich: Religion / Religion und Vernunft

Naturkatastrophen wie im Indischen Ozean oder in Japan zeigen uns die Grenzen der Be -herrsch bar keit der Natur auf. Terroranschläge und Kriege scheinen zu verdeutlichen, dass esmit der moralischen Besserung der Menschheit nicht allzu weit her ist.„Wo ist Gott? Wie kann er das zulassen?“, fragen sich deshalb viele Menschen. Dieser Fragehaben monotheistisch geprägte Weltanschauungen schon immer gegenübergestanden. Philo-sophisch wurde sie vor allem im Zeitalter der Aufklärung zum Thema. Heute wird die Theodi-zee-Debatte vor allem im Zusammenhang mit der in den Neurowissenschaften und dem Feuil-leton aufgeworfenen Frage nach dem freien Willen geführt.In dieser Unterrichtsreihe sollen die Schülerinnen und Schüler, ausgehend von Reaktionen aufaktuelle Naturkatastrophen, die der „klassischen“ Theodizeedebatte des achtzehnten Jahrhun-derts gegenübergestellt werden, für das Problem einer philosophischen Theodizee sensibili-siert werden.

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Fachwissenschaftliche Orientierung

I Das Problem der Theodizee – ein logischer Widerspruch

Die Berichte von Leid und Gewalt, sei es in New Orleans, Südostasien oder in Japan, werfendie Frage nach der Existenz und dem Nichteingreifen Gottes auf. Sie widersprechen der Vor-stellung eines allgütigen und allmächtigen Schöpfergottes.

Auf die logische Unvereinbarkeit eines solchen Wesens mit dem Leid in der Welt hat bereits Epi-kur hingewiesen. Aus Gottes Güte und seiner Allmacht folge sein Interesse und seine Fähigkeitzur Vermeidung allen Übels. Die Welt müsste frei sein von Leid, ist es aber offensichtlich nicht.

II Von Leibnitz bis Jonas – Lösungsansätze im Wandel der Zeit

Versuche, diesen Widerspruch aufzulösen, nennt man nach Gottfried Wilhelm Leibniz Theodizee(abgeleitet von griechisch Theos = Gott und dike = Recht).

Von einer Theodizee im engeren Sinne spricht man bei all jenen Argumentationen, die sich imAnschluss an Leibniz auf reine Vernunftargumente berufen. Ihr Ziel ist es, mit den Mitteln derVernunft zu beweisen, dass der Widerspruch nicht existent ist. Von einer Theodizee im weiterenSinne spricht man, wenn auch dogmatische oder emotionale Gründe für eine RechtfertigungGottes herangezogen werden.

Virulent wird das Theodizeeproblem vor allem im Spannungsfeld von traditioneller Religionund beginnender Aufklärung. Leibniz nimmt an, dass der Schöpfer sein Werk nicht besser habeverrichten können. Voltaire wendet sich angesichts der beobachtbaren Leiden und Übel der Weltgegen den Zynismus der Leibniz'schen Rechtfertigungsversuche. Wenn Gott die beste allermöglichen Welten geschaffen habe, so will Candide, der Held in Voltaires berühmtestemRoman, sich Gottes Alternativen lieber gar nicht erst vorstellen.

Vor allem Kants Analyse der Beschränktheit der menschlichen Vernunft hat die rationalen The-odizee-Versuche hinfällig erscheinen lassen. In einer kleinen Schrift mit dem Titel „Über dasMisslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ stellt er die These auf, dass manniemals aus der erfahrbaren Welt über den Umweg der Vernunft den letzten Willen Gotteserkennen kann („doktrinale Theodizee“). Deshalb kann die Vernunft als „Anklägerin“ auch nichtfeststellen, welche Übel in der Welt für Gottes Plan wirklich „zweckwidrig“ sind. Dazu wäre sieauf unmittelbare Willensbekundungen Gottes angewiesen („authentische Theodizee“). Diesesind jedoch nicht durch die Vernunft erkenn- und erklärbar. Die Vernunft mutet sich als Anklä-ger, Richter und Verteidiger Gottes deshalb zu viel zu.

Auch im neunzehnten Jahrhundert spielt die Theodizeefrage im deutschen Idealismus eine ent-scheidende Rolle. So hat Hegel seinen Versuch, die Entfremdung des absoluten Geistes in derWelt und den dialektischen Prozess seiner Selbstbewusstwerdung darzustellen, explizit als The-odizee verstanden.

Brachte das verheerende Erdbeben von Lissabon 1755 das von Leibniz' Theodizee geprägteWeltbild zum Einsturz, so sah sich das zwanzigste Jahrhundert mit der vom Menschen verant-worteten humanitären Katastrophe zweier Weltkriege und dem staatlich organisierten Massen-mord konfrontiert. Fortschrittsutopien und die Idee einer bestmöglichen Welt wirken anhanddieses von Menschen verursachten Leids Einzelner und ganzer Völker zynisch.

Die Versöhnung von Gott und Vernunft in der Theodizeefrage gelingt in der Gegenwart offen-sichtlich weniger denn je. Bertrand Russell hat diese Situation so formuliert: „Glauben Sie,wenn Ihnen Allmacht und Allwissenheit, und dazu Jahrmillionen gegeben werden, um die Welt

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zu vervollkommnen, dass Sie dann nichts Besseres als den Ku-Klux-Klan oder die Faschistenhervorbringen können?“1

Nach Hans Jonas muss man im Angesicht von Auschwitz die Idee von der Allmacht Gottes fal-len lassen. In der aktuellen Debatte hat Odo Marquard darauf hingewiesen, dass sich auf dieTheodizeefrage zwar keine Antwort finden lasse, sie aber eine bewahrenswerte Frage sei, mitder jede Generation sich aufs Neue beschäftigen müsse.

III Argumentationen für die Theodizee

Wie sehen nun die Argumentationen für die Theodizee aus, die sich auf Vernunftargumenteberufen? Welche Strategien gibt es, den dargestellten Widerspruch aufzulösen?

Denkbar ist eine Relativierung des Übels. Was von uns als Übel empfunden wird, erscheint nuraus menschlicher, vielleicht egoistischer oder kurzsichtiger Sicht als ein solches. In Wirklichkeitdient es einem übergeordneten Plan, einem in der Zukunft liegenden, uns uneinsichtigen Ziel. Das Leid kann ebenso als Appell an unser Mitleid oder unsere Hilfsbereitschaft verstanden wer-den. Es bietet uns die Chance, diese Eigenschaften zu zeigen und zu erproben.

Ein anderes Argument bedient sich ästhetischer Kategorien. Eine Welt ohne Widersprüche isteine langweilige Welt ohne Spannungsbogen. Vielleicht gehört zur Perfektion auch die schlich-te Fülle aller Schattierungen. Eine perfekte Welt muss vollständig sein. Dass heißt, sie muss alleAbstufungen von Gut und Böse enthalten.

Betrachtet man diese Argumente genauer und berücksichtigt dabei den philosophischen Kon-text, in den sie eingebunden sind, wirken sie nicht so plump wie hier in der bloßen Aufzählung.Angesichts der Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts können sie jedoch nicht überzeu-gen.

Vielleicht ist eine bessere Welt aber gar nicht denkbar. Vielleicht sind alle menschlichen Zweifelan der Perfektion der Welt nur Folge unserer mangelhaften Einsicht in die Logik der Schöpfung.Wenn z. B. die Willensfreiheit des Menschen ein Gut ist, das Leid und Terror aufwiegt, so kannauf sie nicht verzichtet werden, selbst wenn sie Instabilität und Leid bringt.

Von Neurowissenschaftlern vehement verneint, ist die Willensfreiheit des Menschen doch einwesentlicher Bestandteil fast aller wichtigen Theodizeeversuche. Die Fragen lauten: Hat Gottden Menschen frei geschaffen? Wenn ja, hat dies nicht direkte Auswirkungen auf seine All-macht? Ist die Freiheit des Menschen wirklich ein so hohes Gut, dass sie den Preis der Auslö-schung der Menschheit in einem zumindest denkbaren nuklearen Krieg aufwiegt? Hätte Gottdie Menschen, wenn schon mit völliger Freiheit ausgestattet, nicht von Geburt an gut schaffenkönnen? Können die Menschen der Versuchung, ihre Freiheit zu missbrauchen, widerstehen?Oder würde das den Freiheitsbegriff aufheben? Letztere Debatte ist unter anderem von RichardSwinburne und John Leslie Mackie geführt worden.

Didaktisch-methodische Überlegungen

Die Frage „Wie konnte Gott das zulassen?“ ist in unserer Gesellschaft, in der Naturkatastro-phen, Kriege und private Tragödien noch aus den entlegendsten Regionen in den Medien prä-sent sind, von ungebrochener Aktualität. Auch im unmittelbaren Alltag der Schülerinnen undSchüler (gleich welcher Glaubensrichtung) wird sich diese Frage z. B. bei vermeintlich unge-rechter persönlicher Behandlung stellen.

Diese Unterrichtseinheit soll Orientierung bieten. Dabei wird bewusst ein breites Spektrum anAspekten abgedeckt. Ausgangspunkt sind die größten Naturkatastrophen der jüngeren Vergan-

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genheit – der Tsunami im Indischen Ozean und das Erdbeben in Japan. Anschließend werdentheologische und philosophische Positionen in den Blick genommen, bis hin zu den obskuren„Argumenten“ einiger einflussreicher, sektiererischer Gruppen in den USA.

Der Schwerpunkt wird dabei auf einen christlich-monotheistischen Gottesbegriff gelegt. DieseTradition hat wohl die meisten Probleme mit der Theodizee und deshalb auch die größte philo-sophische Tradition in der Beantwortung dieser Frage.

Bei der Textauswahl ergab sich das Problem, dass Leibniz und Kant nur sehr schwer aus ihremsystematischen Kontext zu lösen sind. Die Erläuterungen helfen, eine Einordnung der Texte zuermöglichen und Hinweise auf eine mögliche Ausweitung der Beschäftigung mit diesen Den-kern zu geben. Viele der abgedruckten Texte werfen eine Vielzahl von Fragen auf. Auf zu erör-ternde Aspekte wird in den Erläuterungen hingewiesen.

Die philosophische Theodizeedebatte ist auch für Schülerinnen und Schüler, die keinen religiö-sen Bezug haben, relevant, denn es geht um den Sinn von Leiden, die Rolle, die der Mensch inder Welt spielt und die Frage nach der Willensfreiheit.

Anmerkung1 Russell, Bertrand: „Warum ich kein Christ bin. Über Religion, Moral und Humanität.“ Rowohlt Verlag, Hamburg

1968, S. 23.

Materialübersicht

Stunde 1/2 Wo war Gott?

M 11 (Bd/Tx) Kann man angesichts des Leids der Welt an einen gütigen Gott glauben?M 12 (Tx) Wolfgang Huber: Gottes Allmacht zeigt sich in der Liebe, mit der er sich uns

Menschen zuwendet

Stunde 3/4 Das Jahrhundert der Theodizee – das Erdbeben von Lissabon und die Folgen

M 13 (Tx) Gottfried Wilhelm Leibniz: Die beste aller möglichen WeltenM 14 (Tx) Voltaire: Gedicht über die Katastrophe von Lissabon oder Prüfung jenes

Grundsatzes: „Alles ist gut“

Stunde 5/6 Die Grenzen der Vernunft

M 15 (Tx) Immanuel Kant: Über das Misslingen aller philosophischen Versuchein der Theodizee

M 16 (Bd) Robert Gernhardt: Warum ist die Welt so, wie sie ist?

Stunde 7/8 Aspekte des Theodizeeproblems im zwanzigsten Jahrhundert

M 17 (Tx) Hans Jonas: Nach Auschwitz ist kein allmächtiger Gott mehr denkbarM 18 (Tx) Spiegel online: Gott gießt seinen Zorn über Amerika

Stunde 9/10 Theodizee und Willensfreiheit – unvereinbar?

M 19 (Tx) Richard Swinburne: Willensfreiheit – das höchste GutM 10 (Tx) John Mackie: Mit freiem Willen stets das Richtige tun

Stunde 11/12 Klausur

M 11 (Tx) Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin

Minimalplan: Bei Zeitmangel können die Materialien 6 und 7 entfallen.

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M 1 Kann man angesichts des Leids der Welt an einen

gütigen Gott glauben?

Bild: Eine junge Mutter trauert nachdem Tsunami in Südostasien um ihrverstorbenes Kind (Dezember 2004). Picture-alliance/dpa.

Bild: Viele Menschen in Japan habenalles verloren, ihre Angehörigen undihr Hab und Gut. Picture-alliance/dpa.

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„Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht,oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es.

Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kannund nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls auf Gott nicht zutrifft. Wenn er nichtwill und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig als auch schwach, und dann auch nichtGott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann dieÜbel und warum nimmt er sie nicht weg?“

Aus: Epikur: „Von der Überwindung der Furcht.“ Deutscher Taschenbuch Verlag, Hamburg 1983, S. 136.

Aufgaben (M 1)

1. Beschreiben Sie die beiden Bilder. 2. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Tsunami-Katastrophe in Japan?3. Ist es möglich, angesichts von Leid und Ungerechtigkeit in der Welt von einem gütigen und

allmächtigen Gott auszugehen? 4. Welche Arten von Leid kennen Sie? Versuchen Sie, diese einzuordnen, indem sie vor allem

nach Betroffenen und Verursachern unterscheiden. zur Vollversion

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M 3 Gottfried Wilhelm Leibniz:

Die beste aller möglichen Welten

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hat den Begriff der „Theodizee“ (Rechtfertigung Gottes

angesichts der Leiden in der Welt) geprägt, auch wenn es ähnliche Versuche schon lange vor

seiner Zeit gegeben hat. Er gilt als einer der letzten Universalgelehrten, der sich gleicherma-

ßen mit Fragen der Natur, des Geistes, mit Theologie und Philosophie, mit den Sprachen und

den Künsten befasst hat.

„Da alles miteinander in Verbindung steht, so lässt sich auch nicht mehr als eine Ursache an -nehmen. Ihrem Verstand entquillt jede Wesensbeschaffenheit, ihr Wille ist Ursprung jeder Exis -tenz. Dies ist in wenigen Worten der Beweis für einen einzigen Gott, für seine Vollkommenheitund für die Entstehung der Dinge aus ihm.

Diese überlegene Weisheit konnte in Verbindung mit einer nicht weniger unendlichen Güte ein-zig und allein das Beste erwählen. [...] Gäbe es nicht die beste aller möglichen Welten, dannhätte Gott überhaupt keine erschaffen.

„Welt“ nenne ich hier die ganze Folge und das ganze Beieinander aller bestehenden Dinge, da -mit man nicht sagen kann, mehrere Welten könnten zu verschiedenen Zeiten und an verschie-denen Orten bestehen. [...] Erfüllte man jede Zeit und jeden Ort; es bleibt dennoch wahr, dassman sie auf unendlich viele Arten hätte erfüllen können und dass es unendlich viel möglicheWelten gibt, von denen Gott mit Notwendigkeit die beste erwählt hat, da er nichts ohne höch-s te Vernunft tut.

Kann ein Gegner diesem Argument nicht beikommen, so wird er vielleicht auf unsere Schluss-folgerung mit einem entgegengesetzten Argument antworten: er wird sagen, die Welt hätte jasündlos und ohne Leiden sein können. Aber was ich bestreite ist, dass sie dann besser wäre.

Wissen muss man, dass in jeder möglichen Welt alles miteinander in Verbindung steht: jedwe-des Universum ist ein Ganzes aus einem Stück, gleich dem Ozean; die geringste Bewegungbreitet sich in beliebige Entfernung aus [...]. So hat Gott ein für allemal alles im Voraus geregelt,er, der die Gebete, die guten und schlechten Handlungen und alles andere voraussah; undjedes Ding hat vor seiner Existenz idealiter1 zu dem Entschlusse beigetragen, der über dasDasein aller Dinge gefasst wurde.

Darum kann in der Welt nichts ohne Schaden [...] verändert werden. Wenn somit das geringsteÜbel, das in der Welt eintrifft, fehlte, es wäre nicht mehr diese Welt, die alles in allem, von demsie auswählenden Schöpfer als die beste befunden worden ist. Zwar kann man sich Weltenohne Sünde und ohne Unglück vorstellen, [...] aber diese Welten würden der unseren erheblichnachstehen. [...] Wir wissen außerdem, dass oft ein Übel ein Gut bewirkt, das ohne dieses Übelnicht eingetreten wäre.

Aus: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodicee. (Philosophische Werke. Vierter Band) Felix Meiner Verlag, Leip-zig 1925, S. 101 ff.

Anmerkung1 „idealiter“ meint hier: in der Vorstellung Gottes

Aufgaben (M 3)

1. Was lässt Leibniz von der „besten aller möglichen Welten“ sprechen?

2. Welche Rolle kann der einzelne Mensch in diesem Zusammenhang spielen?

3. Versuchen Sie, Leibniz' Entwurf zu beurteilen. Ist es erstrebenswert, Teil einer solchen best-

möglichen Welt zu sein?

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Das Erdbeben von Lissabon 1755

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M 5 Immanuel Kant: Über das Misslingen allerphilosophischen Versuche in der Theodizee

Immanuel Kant (1724–1804), deutscher Philosoph, der in seinem berühmten Buch „Kritik derreinen Vernunft“ die Grenzen der menschlichen Vernunft aufzuzeigen versucht hat.

Unter einer Theodizee versteht man die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebersgegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt.Man nennt dies, die Sache Gottes verfechten. [...]

[Die drei Arten der Zweckwidrigkeit]:

– Das erste ist das moralisch Zweckwidrige, als das eigentliche Böse (die Sünde),

– das zweite das physische Zweckwidrige, das Übel (der Schmerz).

– Nun gibt es aber noch eine Zweckwidrigkeit in dem Verhältnis der Übel zu dem moralischenBösen, wenn das Letztere einmal da ist und nicht verhindert werden konnte oder sollte: näm-lich in der Verbindung der Übel und Schmerzen, als Strafen, mit dem Bösen, als Verbrechen.Und von dieser Zweckmäßigkeit fragt es sich, ob jedem in der Welt hierin sein Recht widerfährt.

Die Eigenschaften der höchsten Weisheit des Welturhebers, wogegen jene Zweckwidrigkeitenals Einwürfe auftreten, sind also auch drei:

– Erstlich die Heiligkeit desselben, als Gesetzgebers (Schöpfers) im Gegensatze zu dem mora-lisch Bösen in der Welt.

– Zweitens die Gültigkeit desselben, als Regierers (Erhalters), im Kontraste mit den zahllosenÜbeln und Schmerzen der vernünftigen Weltwesen.

– Drittens die Gerechtigkeit desselben, als Richters, in Vergleichung mit dem Übelstande, dendas Missverhältnis zwischen der Straflosigkeit der Lasterhaften und ihren Verbrechen in derWelt zu zeigen scheint.

Alle Theodizee soll eigentlich Auslegung der Natur sein, sofern Gott durch dieselbe die Absichtseines Willens kundmacht. Nun ist jede Auslegung des deklarierten Willens eines Gesetzgebersentweder doktrinal oder authentisch.

Die erste ist jene, welche jenen Willen aus den Ausdrücken, deren sich dieser bedient hat, [...]herausvernünftelt. Die zweite macht der Gesetzgeber selber. Die Welt, als ein Werk Gottes, kannvon uns auch als eine göttliche Bekanntmachung der Absichten seines Willens betrachtet wer-den.

Allein hierin ist sie für uns ein verschlossenes Buch, [...] wenn es darauf abgesehen ist, sogardie Endabsicht Gottes [...] aus ihr [...] abzunehmen. Die philosophischen Versuche dieser ArtAuslegung sind doktrinal und machen die eigentliche Theodizee aus. [...]

Doch kann man auch der bloßen Abfertigung aller Einwürfe wider die göttliche Weisheit denNamen einer Theodizee nicht versagen, wenn sie [...] ein Ausspruch derselben Vernunft ist,wodurch wir uns den Begriff von Gott als einem moralischen und weisen Wesen vor aller Erfah-rung machen. Denn da wird Gott durch unsere Vernunft selbst der Ausleger seines durch dieSchöpfung verkündigten Willens. Und diese Auslegung können wir eine authentische Theodi-zee nennen.

Das ist aber alsdann nicht Auslegung einer vernünftelnden (spekulativen), sondern einermachthabenden praktischen Vernunft, die [...] als die unmittelbare Erklärung und Stimme Got-tes angesehen werden kann.Aus: Kant, Immanuel: „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“. In: Ders.: Schrif-ten zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Werke in 6 Bänden. Insel Verlag Wiesba-den 1964, S. 105, S. 107, S. 116 f.

Aufgaben (M 5)

1. Was versteht Kant unter doktrinaler und authentischer Theodizee?2. Überlegen Sie, wie man Gott gegen die drei von Kant genannten Formen des Übels vertei-

digen könnte.

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c) Die Ungerechtigkeit: Kant bringt drei Gegenargumente:

1.) Ungerechtigkeit gibt es auf Erden nicht, denn auch den straflosen Verbrecher plagt das

Gewissen. Drauf antwortet Kant: Stimmt nicht, die bösesten Menschen sind ja gerade die

Gewissenlosesten.

2.) Ungerechtigkeiten dienen dazu, den Gerechtigkeitssinn zu schärfen und Gerechtigkeit

umso höher strahlen zu lassen. Kants Gegenargument: Dies hilft dem Einzelnen nicht.

Aus einem ungerechten Tod z. B. kann man keine Lehren mehr ziehen.

3.) Den Hinweis auf eine gerechtere Welt nach dem Tode verwirft Kant. Für ihn ist dies durch

die spekulative Vernunft nicht feststellbar. Hier hilft also einzig und allein die authentische

Theodizee. Diese ist keine philosophische Aufgabe.

M 6 Warum ist die Welt so wie sie ist?

Aus: Gernhardt, Robert: Frage und Antwort. Aus: „Vom Schönen, Guten, Wahren“, Haffmans Verlag Zürich 1997,

S. 24. © Nachlass Robert Gernhardt, durch Agentur Schlück. Alle Rechte vorbehalten.

Aufgaben (M 6)

1. Welche Frage steht hier im Mittelpunkt und welches Problem der Gottesvorstellung wird hier

karikiert?

2. Haben Sie auch schon einmal aus ähnlichen Anlässen Fragen an Gott gerichtet?

3. Finden Sie es legitim, Gott in Karikaturen darzustellen? Was lässt sich dafür, was dagegen

sagen?

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