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Zur Diskussion über das Leistungsfähigkeitsprinzip Author(s): Heinz Haller Source: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 31, H. 3 (1973), pp. 461-494 Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KG Stable URL: http://www.jstor.org/stable/40911001 . Accessed: 15/06/2014 07:10 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Mohr Siebeck GmbH & Co. KG is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to FinanzArchiv / Public Finance Analysis. http://www.jstor.org This content downloaded from 195.34.79.174 on Sun, 15 Jun 2014 07:10:05 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Zur Diskussion über das Leistungsfähigkeitsprinzip

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Zur Diskussion über das LeistungsfähigkeitsprinzipAuthor(s): Heinz HallerSource: FinanzArchiv / Public Finance Analysis, New Series, Bd. 31, H. 3 (1973), pp. 461-494Published by: Mohr Siebeck GmbH & Co. KGStable URL: http://www.jstor.org/stable/40911001 .

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Zur Diskussion über das Leistungsfähigkeitsprinzip

von

Heinz Haller

Seit einigen Jahren steht das Leistungsfähigkeitsprinzip, das ich als Fundamentalprinzip für die Erhebung (individuelle Zumessung) der Steuern, also der allgemeinen öffentlichen Abgaben im Gegensatz zu den besonderen Abgaben, denen ein spezieller Leistungs- oder Vorteilsempfang zugrunde liegt, bezeichnet habe1, unter schwerem Beschüß.

Der Reigen der Attacken wurde eröffnet von K. Schmidt, der sich 1967 im „Finanzarchiv" unmittelbar und ausschließlich mit meinen Auffassungen über das Leistungsfähigkeitsprinzip und seine Anwendung auseinandersetzte2, und zwar, wie noch zu zeigen sein wird, insofern in gemäßigter Weise, als er das Prinzip als solches nicht ablehnt, sich vielmehr nur, allerdings sehr ent- schieden, gegen seine Interpretation durch mich wendet, die Interpretation nämlich, bei der Steuerlastverteilung sei ein gleiches relatives (proportionales) Opfer anzustreben. Sehr viel schärfer gingen Littmann und Pahlke mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip ins Gericht, Littmann 1968 anläßlich einer Aus- einandersetzung mit der Haushaltsbesteuerung3 und 1970 in direktem Zu- griff4, Pahlke 1968 im Eahmen einer Auseinandersetzung mit dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen zur Reform der direkten Steuern5. Beide Autoren vertreten den Standpunkt, das

1 S. H. Haller: Die Steuern, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Abgaben, 2.AufL, Tübingen 1971, S. 14ff.

2 K.Schmidt: Das Leistungsfähigkeitsprinzip und die Theorie vom proportio- nalen Opfer, in: „Finanzarchiv", N.F., Bd. 26 (1967), S. 385 ff. (künftig als „Lei- stungsfähigkeitsprinzip" zitiert) mit der Anmerkung zur Überschrift: „Kritisches zum ersten Kapitel des neuen Buches von H. Haller : Die Steuern, Grundlinien eines rationalen Systems öffentlicher Absraben, Tübingen 1964"). 3 K. Littmann: Kritische Marginalien zur Kontroverse „Individuelle Veranla- gung oder Haushaltsbesteuerung", in: „Finanzarchiv", N.F., Bd. 27 (1968), S. 174ff. 4 K. Littmann: Ein Valet dem Leistungsfähigkeitsprinzip, in: „Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus", Fritz Neumark zum 70. Geburts- tag, herausgegeben von H. Haller, L.Kullmer, C.S.Shoup u. H.Timm, Tübingen 1970, S. 113 ff. 5 J. Pahlke: Steuerpolitische Grundsatzfragen. Kritische Bemerkungen zum Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen zur Reform der direkten Steuern, in: „Finanzarchiv", N.F., Bd. 28 (1969), S. 42ff.

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Leistungsfähigkeitsprinzip sei überholt und es entbehre jeglichen Sinnes, es als Norm für die Zumessung von Steuerlasten zu verwenden. Schließlich hat kürzlich K.Schmidt noch einmal seine kritische Stimme verlauten lassen in einer Auseinandersetzung mit mir1 und F ohmer, ohne seiner früheren Kritik Wesentliches hinzuzufügen2, weshalb es auch nicht erforderlich ist, auf diesen Beitrag näher einzugehen.

Verteidigt wurde das Leistungsfähigkeitsprinzip in dieser Zeit in einer Arbeit von Bea und Fischer und in einem Beitrag von Pohmer* , wobei sich Bea und Fischer mit Pahlke auseinandersetzten und Pohmer nicht nur das Leistungsfähigkeitsprinzip verteidigte, sondern auch seine Anwendung mit dem Ziel der Opferminimierung darlegte.

Es wird sicherlich auf Verständnis stoßen, wenn ich mich als nicht un- wesentlich Betroffener nach langem Schweigen auch zu Wort melde und mich mit den Angriffen auf das Leistungsfähigkeitsprinzip und seine „opfertheore- tische" Interpretation auseinandersetze. Im folgenden sollen zuerst die vor- gebrachten kritischen Argumente geprüft, und sodann soll der Frage nach- gegangen werden, ob die Kritiker Vorschläge machen konnten, wie das unaus- weichliche Problem der Steuerlast Verteilung (der individuellen Steuerzumes- sung) besser gelöst werden kann als mit Hilfe des Leistungsfähigkeitsprinzips. Es sei jetzt schon bemerkt, daß die in der Kritik vorgebrachten Argumente mir nicht neu sind und daß ich mich trotz ihrer Kenntnis für das Leistungs- fähigkeitsprinzip in der Konkretisierung in Gestalt des gleichen relativen Opfers einsetzte, weil ich keine Möglichkeit erkennen konnte, für das Problem als Finanz Wissenschaftler eine Lösung anderer Art anzugeben, die praktikabel und nicht völlig „politischer Willkür" unterworfen ist. Diese Meinung hat sich auch nach der Lektüre der genannten Diskussionsbeiträge nicht geändert. Die Begründung hierfür wird sich aus den nachstehenden Ausführungen ergeben.

I

1. K.Schmidt, um mit seiner behutsamen, nicht gleich alles in Grund und Boden verdammenden Kritik zu beginnen, geht zunächst einmal davon aus, daß man auf Grund eines Werturteils die Besteuerung nach dem Leistungsfä- higkeitsprinzip im Sinne des Anstrebens eines proportionalen Opfers interpre- tieren könne, und fragt dann: ,,was diese Theorie leistet: ob die Annahmen, die ihr zugrunde liegen, mit der Wirklichkeit übereinstimmen, und ob ihre Ergeb- nisse als Eichtschnur für die Steuerbemessung dienen können"4. Zunächst

1 Er legt hier die Gedanken zugrunde, die ich in meiner Schrift: Probleme der progressiven Besteuerung, Tübingen 1970, vorgetragen habe.

2 K.Schmidt: Renaissance der Opfertheorien? Zur ökonomischen Sinngebung politischer Entscheidungen, in: „Finanzarchiv", N.F., Bd. 30 (1971), S. 193ff. (künf- tig zitiert als „Renaissance"). 3 F. X. Bea und K. Fischer : Steuerpolitische Grundsatzfragen. Kritische Be- merkungen zu einem Aufsatz von Jürgen Pahlke, in: ,, Finanzarchiv", N.F., Bd. 29 (1970), S. 17 ff.; D. Pohmer: Leistungsfähigkeitsprinzip und Einkommensumvertei- lung, in: „Theorie und Praxis des finanzpolitischen Interventionismus", aaO., S. 135 ff.

4 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 392.

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stellt er die fundamentale Annahme in Frage, daß der Grenznutzen des Ein- kommens mit der Einkommenshöhe abnimmt, sofern man - so zitiert er mich- die Zusammenhänge ,, objektiv" betrachtet und von „normalen" Wertungen ausgeht. Er meint, man dürfe das erste Gossemche Gesetz nicht unbesehen auf das Einkommen übertragen ; es sei doch wohl nach Zeit und Raum und auch von Individuum zu Individuum verschieden zu beurteilen, ob für alle Ein- kommensverwendungen einschließlich der Ersparnis ein ,, Sättigungsprozeß" unterstellt werden könne. Die These von der sinkenden Grenznutzenkurve des Einkommens hätte von mir überzeugender begründet werden müssen, insbesondere auch unter Berücksichtigung der ,, Nutzenkurve des gesparten Einkommens", als es geschehen sei1. Schmidt kommt dann nach Darlegung einiger weiterer Einwände auf meine Auffassung zu sprechen, man müsse an- gesichts der nicht zu bezweifelnden Unterschiede zwischen den individuellen Einkommensnutzenkurven der politischen Tarifentscheidung eine Nutzen- kurve zugrundelegen, die als ,, Normalkurve" akzeptabel und generell an- wendbar erscheine. Er fragt, was hier noch von der Besteuerung nach der Opferfähigkeit übrig bleibe. Es könne doch keine Rede mehr davon sein, daß sich alle Steuerzahler nach der Abgabenerhebung, wie ich es formuliere, ,,in der gleichen relativen Bedürfnisbefriedigungsposition befinden wie vorher". Ich würde damit meinen Ausgangspunkt aufgeben und all denjenigen, deren Nutzenkurve von der der politischen Entscheidung zugrundeliegenden norma- tiven Nutzenschätzung abweiche, indirekt attestieren, sie „empfänden nicht , normal'". Er zieht daraus den Schluß, daß eine „Besteuerung nach der indi- viduellen Opferfähigkeit nicht möglich und dieser Ausgangspunkt deshalb un- fruchtbar" sei2.

Wenden wir uns zunächst dem ersten Kritikpunkt zu, ich habe die An- nahme einer fallenden Grenznutzenkurve des Einkommens nicht ausreichend begründet. Ich habe dazu ausgeführt: „Die Tatsache, daß - objektiv betrach- tet - zusätzliche Einkommensteile für die Bedürfnisbefriedigung immer un- wichtiger werden, daß also der aus ihnen resultierende Bedürfnisbefriedi- gungszuwachs, der Grenznutzen, immer kleiner wird, kann nicht bezweifelt werden", und habe anschließend den Prozeß zunehmender Sättigung, der mit wachsendem Einkommen generell eintritt, beschrieben3. Ich kann mir im Ernst nicht vorstellen, daß ein Ökonom sich zu der Behauptung versteigen kann, zusätzliche Einkommensteile würden für die Bedürfnisbefriedigung immer wichtiger (wiesen einen ständig zunehmenden Grenznutzen auf), je mehr das Einkommen wächst. Ich vermag mir auch nicht vorzustellen, daß es ein Ökonom für ausgemacht hält, zusätzliche Einkommensteile hätten bei jeder Einkommenshöhe die gleiche Bedeutung für die Bedürfnisbefriedigung, ihr Grenznutzen sei also konstant. Wenn ich vom Urteil eines Ökonomen spreche, so meine ich damit, daß ich eine objektive Betrachtung der Zusam- menhänge unterstelle. Sieht man vom Existenzminimumeinkommen mit sei- ner unmessbaren Bedeutung für die Bedürfnisbefriedigung ab, so verringern

1 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 392 f. 2 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 394 f. 3 Die Steuern, S. 72 ff., in der 2. Auflage (1971) unverändert S. 74ff.

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sich die Beiträge zusätzlicher Einkommensteile zur Gesamtbedürfnisbefriedi- gung kontinuierlich, mögen sie auch zu Anfang noch so groß sein. Mit dem Einkommen werden doch zuerst die dringlichsten Bedürfnisse befriedigt und danach erst die weniger dringlichen. Die Befriedigung der dringlichen Bedürf- nisse trägt aber zur Gesamtbedürfnisbefriedigung mehr bei als diejenige der weniger dringlichen. Das erste Gossensche Gesetz impliziert dies, denn es gilt ja in jeder Verwendungsrichtung des Einkommens. Wäre dem nicht so, so würde man bei der Beschreibung der rationellen Einkommensverwendung mit Hilfe des zweiten Gossenschen Gesetzes auch nicht davon sprechen, daß der Grenznutzen der Einkommenseinheiten in jeder Verwendungsrichtung gleich groß sein solle. Es gäbe dann nur ein für allemal festgelegte Güterkörbe, die bei Einkommenserhöhungen proportional vergrößert würden. Hinter dem zweiten Gossenschen Gesetz steht die Vorstellung, daß die Grenznutzen bei den verschiedenen Gütern sinken, aber nicht parallel, sondern unterschied- lich, sodaß Anpassungen beim Güterkorb notwendig werden. Schon die Gül- tigkeit des ersten Gosstnschen Gesetzes bei einem unentbehrlichen Gut impli- ziert einen abnehmenden Grenznutzen des Einkommens, sofern man bei zu- nehmendem Einkommen von diesem Gut (trotz abnehmenden Grenznutzens) mehr kauft und nicht bei der Ausgangsmenge stehen bleibt. Die inferioren Güter, für die es bessere Ersatzgüter gibt und die die Ausnahme darstellen, entkräften die vorstehenden Darlegungen nicht.

Auch die Einkommensverwendung in Form der Ersparnisbildung fügt sich ohne jede Schwierigkeit in die Annahme einer fallenden Grenznutzen- kurve des Einkommens ein. Bei jeder Entscheidung über die Einkommens- verwendung muß auch erwogen werden, inwieweit Sparen angebracht ist, wenn die Bedürfnisbefriedigung maximiert werden soll. Obwohl das Vor- sorgesparen gerade bei einem kleinen Einkommen sehr dringlich sein dürfte, wird es zurückgedrängt, weil der Konsum in der Einkommensperiode als noch dringlicher betrachtet wird. Die Entscheidung hängt allerdings von den Präferenzen ab. Es wird ja auch von Einkommen gespart, die so klein sind, daß man keine Sparfähigkeit unterstellen möchte. Mit zunehmender Ein- kommenshöhe wird in der Regel die Bedeutung des Sparens größer werden. Die Dringlichkeit des mit zusätzlichen Einkommensteilen realisierbaren Gegenwartskonsums geht mehr und mehr zurück, und die Ersparnis kommt zum Zuge. Nun muß aber wiederum angenommen werden, daß mit zuneh- mender Höhe der Ersparnisbildung der Grenznutzen der gesparten Ein- kommenseinheit abnimmt. Die Ersparnisbildung verliert doch auch an Dringlichkeit, wenn schon kräftig gespart wird. Die ersten 1000 Mark der ge- bildeten Ersparnis werden hinsichtlich der Befriedigung des Vorsorgebedürf- nisses höher eingeschätzt als die zweiten 1000 Mark: der ,, Notgroschen" ist wichtiger als die weiterhin angesammelte „Reserve". Welcher objektive Be- trachter möchte das bestreiten? Wenn Schmidt u.a. von mir den Satz zitiert: ,,Der Befriedigung dieser (hinter dem Sparen stehenden, H.H.) Bedürfnisse sind keine Grenzen gesetzt durch eintretende Sättigung"1, so hätte er aus dem Zusammenhang erkennen müssen, daß ich damit sagen wollte, auch bei einer

1 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 393.

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Einkommensverwendung zugunsten der Ersparnis falle der Grenznutzen nicht auf Null ab. Es findet sich bei mir keinerlei Hinweis in der Richtung, daß durch das Sparen die Annahme vom fallenden Grenznutzen des Einkommens durchlöchert werde.

Von einer objektiven Betrachtung des Einkommen-Nutzen-Zusammen- hangs habe ich die subjektive streng unterschieden. Hier habe ich zwei ,, extreme" Typen von Einkommensempfängern nebeneinandergestellt, um die Skala der möglichen subjektiven Wertungen ins Blickfeld zu rücken, den ,, genügsamen" und den „begehrlichen" Typ1. Beim Genügsamen wird die Einkommens-Nutzen-Kurve von einem bestimmten Punkt ab relativ flach ansteigend verlaufen, weil er den Einkommenszuwächsen nur noch eine be- scheidene Bedeutung beimißt. Der Begehrliche dagegen wird auch bei hohem Einkommen den Zuwächsen noch große Bedeutung beimessen und vielleicht sogar der Meinung sein, für ihn gebe es einen gleichbleibenden oder gar einen steigenden Grenznutzen zusätzlicher Einkommensteile, sodaß seine Ein- kommens-Nutzen-Kurve eine gleichbleibende oder gar zunehmende Steigung aufweisen würde. Während nun gegen die bescheidene Bewertung (meinet- wegen auch Unterbewertung) zusätzlicher Einkommensteile durch den Ge- nügsamen, die ihn vielleicht sogar dazu veranlaßt, sich einen zusätzlichen Nutzen durch Schenkungen zu verschaffen, nichts vorgebracht werden kann, scheint mir der Fall eines Begehrlichen, der behauptet, sein Grenznutzen bleibe gleich oder er steige, anders zu beurteilen zu sein. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie jemand ständig hinter zusätzlichem Einkommenserwerb her ist, weil er neue Möglichkeiten der Bedürfnisbefrie- digung durch Ausweitung seines ,, Begehrkreises" vor sich sieht, die ihm bis- her verwehrt waren, weil sein Einkommen sie nicht hergab, und die er nun so betrachtet, als hinge seine Seligkeit von ihrer Realisierung ab. Ein solcher Mann mag der Meinung sein, für ihn seien zusätzliche Einkommensteile wich- tiger als solche, über die er schon verfügt. Auch wenn er spart, mag der Appe- tit beim Essen kommen, sodaß er, je mehr er schon gespart hat, desto begieri- ger wird, sein Vermögen zu vergrößern. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß hier eine leidenschaftsbedingte, illusionäre Sicht der Dinge vorliegt, die zu hypertrophen Wertungen führt. Ein kühler Betrachter kann über solche Wertungen nur den Kopf schütteln. Würde der von seinem Begehrlichkeits- motor Angetriebene im Zustand der Ernüchterung sich einmal nach rück- wärts überlegen, ob ihm sein Zweitwagen so viel Nutzengewinn verschafft hat wie der erste, sein Ferienheim so viel wie sein Wohnhaus, seine Safari- Reise so viel wie seine erste bescheidene Italienfahrt usw., so würde er zu an- deren Wertungen kommen. Zwangsweise würde er auf die neuen Wertungen stoßen, wenn sein Einkommen schrumpfen würde und er der Reihe nach auf seine Luxusobjekte und -ausgaben verzichten müßte, Bei jeder Einbuße würde er das Gefühl haben: die trifft mich noch schlimmer, und damit wäre er zur angemessenen Wertung zurückgekehrt. Der Grund für die „Begehrlich- keits-Illusion" liegt darin, daß der Betreffende bei seiner punktuellen Wertung ,,an der Grenze" vergißt, was er schon hat und welche Bedeutung diesem

1 Steuern, S. 73f., 2. Aufl. unverändert S. 75f.

30 Finanzarchiv Ν. Γ. 31 Heft 3

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schon im Begehrskreis Enthaltenen und durch das vorhandene Einkommen Abgesicherten für die Bedürfnisbefriedigung zukommt. Damit wird bei dem Starren auf die Ausweitungsobjekte gar nicht mehr verglichen. Zum Bewußt- sein könnte unserem Begehrlichkeitsfanatiker der angemessene Bewertungs- zusammenhang auch kommen, wenn ihm plötzlich eine Million in den Schoß fallen würde. Dann würde er auch überlegen müssen, wie er diese Million am besten verwenden soll, und dabei würde er die Reihenfolge einhalten: zuerst das heißest Begehrte und dann das weniger Begehrte, das Leben aber auch noch Verschönernde.

Was akzeptiert werden kann von den Wertungen des Begehrlichen, ist die hohe Einschätzung zusätzlicher Einkommensteile, im Gegensatz zu der niedri- gen Einschätzung des Genügsamen. Nicht abnehmen kann man ihm die Be- hauptung, bei ihm bliebe der Grenznutzen gleich oder steige sogar. Diese Be- hauptung ist das Ergebnis der ,,punktuellen Grenzbetrachtung" im euphori- schen ,, Begehrlichkeitszustand". Wir können also sagen: Die Einkommens- nutzenkurven verlaufen bei den verschiedenen Einkommensempfängern unterschiedlich; beim Typ des Genügsamen ist die Steigung von einem be- stimmten Punkt an relativ gering, beim Typ des Begehrlichen ist sie durch- weg relativ groß, und dazwischen liegt ein Feld von Kurven mit unterschied- lichen Steigungsgraden, von denen eine Kurve als ,, Durchschnitts- oder Normalkurve" bezeichnet werden kann. Allen Einkommenskurven ist ge- meinsam, daß ihre Steigung abnimmt, ohne jemals Null zu werden.

Ist also der Einwand von Schmidt berechtigt - um nun zu diesem Punkt zu kommen -, bei einer Tarifgestaltung unter Zugrundelegen einer „Normal- nutzenkurve" komme kein proportionales Opfer für alle zustande, dergestalt daß ihre relativen Bedürfnisbefriedigungspositionen, soweit sie sich aus dem über dem Existenzminimumbetrag liegenden Einkommen ergeben, unver- ändert bleiben? Er ist berechtigt, wenn man das Ergebnis an den individuel- len Nutzenkurven und den ihnen zugrundeliegenden Wertungen mißt1. Er ist nicht berechtigt, wenn man die ÖTpferfähigkeit nicht nach subjektiven Vor- stellungen mißt, sondern nach objektivierten, vom Standpunkt einer „Nor- malwertung" sich ergebenden. Selbstverständlich kann man nicht jedem einen individuellen, seinen subjektiven Wertungen entsprechenden Steuer- tarif einräumen. Der Genügsame würde dabei bei gleichem, für seine Person zur Verfügung stehendem Einkommen relativ hoch, der Begehrliche relativ niedrig belastet, in Entsprechung zu den Wertungen der beiden (wobei „über- bordende" Wertungen des Begehrlichen nicht akzeptiert werden könnten), dazwischen gäbe es je nach Verlauf der Nutzenkurve im Rahmen des „Wer- tungsspektrums" unterschiedliche Belastungen. Die Opferfähigkeit würde bei gleichem Einkommen von jedem anders bemessen. Damit käme man jedoch in die Nähe der Opferwilligkeit. Beim Ausgehen von der Opferfähigkeit muß für alle der gleiche Maßstab angewendet werden, anders geht es nicht. Ver- wendet man eine ,,Normal"-Einkommens-Nutzen -Kurve, um gleichen Ein-

1 Diese Kurven unterscheiden sich natürlich nicht nur durch einen (positiven) Koeffizienten, was, wie Schmidt (Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 394) richtig bemerkt, unschädlich wäre.

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kommen eine gleiche Opferfähigkeit zumessen zu können und verschieden hohen Einkommen eine durch die Einkommens-Nutzen-Kurve bestimmte unterschiedliche Opferfähigkeit, so hat man einen einheitlichen Maßstab, und niemand kann sagen, die Besteuerung sei willkürlich. Legt man ,, normale" Wertungen zugrunde, die in der politischen Entscheidung mehrheitlich ak- zeptiert werden, so ist nach der Besteuerung unter Heranziehung dieses ,, ob- jektivierten" Maßstabs jeder in der gleichen relativen Bedürfnisbefriedigungs- position wie vorher, weil er die gleiche Quote seines Gesamtnutzens eingebüßt hat. Die individuelle Opferfähigkeit ist Maßstab, sie ist nur nicht aus der indi- viduellen (subjektiven) Sicht ermittelt. Es entbehrt m.E. der Berechtigung, deswegen zu sagen, die ganze Methode sei unfruchtbar. Sie geht nicht auf jede individuelle Wertung ein, richtig, aber das tut keine Besteuerung. Sollte sich jemand vergewaltigt fühlen, weil ihm indirekt attestiert wird, er empfinde nicht „normal", so muß dies eben hingenommen werden. Niemand kann jedenfalls sagen, das System habe keinen ,, roten Faden". Das aber ist das Entscheidende.

Von den weiteren Einwendungen, die Schmidt vorbringt, beziehen sich die massivsten auf den politischen Entscheidungsprozeß, der zu einem der Opferfähigkeit entsprechenden Tarif führen soll. Bevor wir auf diese Einwen- dungen zu sprechen kommen, sollen kurz einige Kritikpunkte erörtert werden, die immanente Schwächen der Leistungsfähigkeitsbesteuerung im Sinne des proportionalen Opfers aufdecken sollen, denen aber, so scheint es mir, in den Augen Schmidts keine so große Bedeutung zukommt, daß er ihretwegen das System als zum Scheitern verurteilt betrachten würde. Es handelt sich um das Existenzminimum, die Meßbarkeit des Einkommensnutzens und den Zu- sammenhang zwischen fallenden Grenznutzen und Tarifverlauf. Schmidt sagt vom Existenzminimum1: ,,es sollte ... nicht vergessen werden, daß der vom Ergebnis her motivierte Ausschluß des Minimaleinkommens eine konstitutio- nelle Schwäche der Proportionalopfertheorie darstellt", und vertritt die Mei- nung, bei einer Besteuerung mit dem Ziel des gleichen absoluten Opfers und des Opferminimums (gleichen Grenzopfers) komme man mit einer Besteue- rungsgrenze (Gewährung eines sog. Grenzminimums) aus. Hierzu sei in aller Kürze bemerkt, daß eine das Opferminimum anstrebende Besteuerung ohne Berücksichtigung eines Existenzminimums auskommt, weil das Existenz- minimumeinkommen automatisch abgeschirmt ist (das gleiche Grenzopfer, das das Opferminimum herbeiführen soll, liegt bei Einkommen oberhalb des Exi- stenzminimums), daß aber bei einer Besteuerung, die das gleiche absolute Opfer herbeiführen soll, ein Grenzminimum nicht ausreicht, weil sonst bei Ein- kommen, die knapp über der Grenze liegen, das Existenzminimum ange- griffen würde. Ein Vorteil ist also nur bei einer Besteuerung mit dem Ziel des Opferminimums gegeben, auf die wir im Zusammenhang mit dem Pohmer- schen Beitrag unten zurückkommen werden. Zum Problem der Nutzen- messung bemerkt Schmidt2, ich ,, hätte zeigen müssen (und nicht einfach an- nehmen dürfen), daß man ,eine ausreichend dichte Skala der Gesamtnutzen-

1 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 394. 2 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 394.

30*

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werte* erhalten kann und daß diese Nutzenkurven im Zeitablauf unverändert bleiben". Hierzu ist zu sagen, daß durch eine Tarif entscheidung, mit der das Ziel des gleichen relativen Opfers angestrebt wird, implizit über eine Nutzenskala des Einkommens entschieden wird. Dies sei an einem ganz ein- fachen Beispiel gezeigt.

Nehmen wir an, 1000 DM werden mit 10% besteuert, 2000 DM mit 20% und 3000 DM mit 30%. Die entsprechenden Steuerbeträge sind dann 100 DM, 400 DM und 900 DM. Sollen dadurch die Gesamtnutzengrößen der verschiede- nen Einkommen um die gleiche Quote gekürzt werden, so müssen diese Grö- ßen (Indexwerte) in einer bestimmten Kelation zueinander stehen. Eine ein- heitliche Kürzung der Gesamtnutzen um 10% würde z.B. durch die ange- gebenen Steuersätze herbeigeführt, wenn folgende Zuordnung von Ein- kommensgrößen und Nutzen werten gelten würde:

Einkommen (DM) 900 1000 1600 2000 2100 3000

Nutzenindex 90 100 157,5 175 180 200

Das Beispiel darf natürlich nicht wörtlich genommen werden, es dient nur Demonstrationszwecken. Je feiner die Tarif Staffelung, desto differen- ziertere Annahmen stecken in ihr bezüglich der Einkommensnutzenkurve. Die Dichte der Skala ergibt sich also aus der Tarifstruktur und ist somit Er- gebnis der Entscheidung über den Tarif. Die Nutzenkurve, die der Tarif im- pliziert, gilt selbstverständlich solange, wie der Tarif existiert. Ich würde mich nie anheischig machen, eine Nutzenkurve ,,mit ausreichend dichter Skala der Gesamtnutzenwerte" zu ermitteln und dann auch noch zu behaupten, sie bleibe im Zeitablauf unverändert. Die Politiker, die über eine Tarif skala ent- scheiden und dabei ein proportionales Opfer im Auge haben, legen indirekt ,,nach ihrem Gefühl" eine Nutzenskala fest und machen sie für den Zeitraum verbindlich, in dem der Tarif gilt.

Um nun zum dritten Punkt zu kommen, der „Kalamität", wie Schmidt sagt1, die sich daraus ergibt, daß fallende Grenznutzen an sich durchaus noch keine progressive Tarifgestaltung zur Erreichung eines proportionalen Opfers fordern, so ist zu sagen, daß jede Entscheidung zugunsten eines progressiven Tarifs eine Nutzenkurve impliziert, die einen solchen Tarif fordert. Hierzu meint nun Schmidt: ,,Die Frage, ob bei den Politikern auch dann, wenn sie über die Steuersätze beschließen, Klarheit darüber besteht, daß sie damit gleichzeitig zugunsten einer bestimmten Nutzenkurve entscheiden, läßt Haller . . . offen. Sie brauchten sich dessen, so führt er aus, nicht bewußt zu sein . . . Dieses Zugeständnis ist schwer verständlich, steht es doch im Gegensatz zu dem bestimmten Verlauf einer generell anzuwendenden Nutzenkurve des Ein- kommens, über die nach Haller politisch beschlossen wird." Hier liegt ein Mißverständnis vor. Ich habe zwar dargelegt, daß über die ,,Normal"-Nutzen- kurve politisch entschieden werde, aber nirgends ausgeführt, dies geschehe unmittelbar, indem ein Beschluß über die der Besteuerung zugrundezulegende Nutzenfunktion gefaßt wird. Dieser Beschluß ist im Tarifbeschluß enthalten.

1 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 396.

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Dessen brauchen sich aber die Politiker nicht bewußt zu sein. Sie entscheiden gefühlsmäßig, immer im Hinblick auf das Ziel des proportionalen Opfers, wie die Steuersätze ansteigen müssen, damit gleiche relative Lasten Zustande- kommen. Dies tun sie auch dann, wenn sie noch nie etwas von einer Ein- kommen snutzenkurve gehört haben. Vielleicht sind sie, wenn man sie darauf aufmerksam macht, daß sie damit über den Verlauf einer Einkommensnutzen- kurve entscheiden, ebenso überrascht wie Monsieur Jourdain darüber, daß er Prosa spricht. Dies hat nichts zu tun mit politischer Tiefenpsychologie, son- dern liegt in der Natur der Dinge. Wenn Schmidt meint, mein Zugeständnis eröffne ,,die Möglichkeit, daß nun auch solche steuerpolitischen Beschlüsse, die die Politiker , nutzentheoretisch unbewußt4 fassen, als opfertheoretisch sinnvolle Entscheidungen interpretiert werden können"1, so ist diese Fest- stellung durchaus zutreffend, sofern ,, opfertheoretisch sinnvoll" bedeutet: auf das Ziel „gleiche relative Lasten (proportionale Opfer)" gerichtet. Es kann also nicht jede beliebige ,, nutzentheoretisch unbewußt" getroffene Entschei- dung als ,, opfertheoretisch sinnvoll" interpretiert werden.

Hinsichtlich der Möglichkeit einer politischen Willensbildung und Ent- scheidung im Sinne des proportionalen Opfers hat nun Schmidt allergrößte Bedenken. Er führt drei Bedingungen auf, die erfüllt sein müssen, wenn ein entsprechender Entscheidungsprozeß zustande kommen soll, und deren Vorlie- liegen ich anscheinend stillschweigend voraussetze. Erstens müsse es verant- wortungsbewußt handelnde Politiker geben, zweitens müßten diese sich nach meiner Lehre vom proportionalen Opfer richten und drittens schließlich mit dieser Konzeption auch durchsetzen2. Bezüglich der ersten Voraussetzung un- terstellt Schmidt y daß sie erfüllt sei. Was die zweite Voraussetzung betrifft, so bezweifelt Schmidt entschieden, daß verantwortungsbewußte Politiker meine Interpretation des Leistungsfähigkeitsprinzips einfach übernähmen. Es gebe doch konkurrierende Konzeptionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, ,,die nicht weniger akzeptabel sind als die Lehre vom proportionalen Opfer". „Außerdem", so meint er weiter, ,, steht es auch (und vielleicht gerade) ver- antwortungsbewußt handelnden Politikern frei, diese Theorien (z.B. wegen ihrer immanenten Schwächen) zu verwerfen und sich eigene Gedanken dar- über zu machen, was unter Leistungsfähigkeit zu verstehen ist. Und schließ- lich ist es sogar denkbar, daß diese Politiker die Leistungsfähigkeit als Richt- schnur für die fiskalisch motivierte Besteuerung aufgeben und es vorziehen, sich an anderen Merkmalen (z.B. Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit) zu orien- tieren"3.

Hier muß nun etwas weiter ausgeholt und auch noch auf einige Ausfüh- rungen eingegangen werden, die Schmidt zu den „konkurrierenden Konzep- tionen" macht. Bei ihm ist, dies sei zunächst festgestellt, nur von einer solchen Konzeption die Rede, nämlich von der des gleichen absoluten Opfers4. Schmidt hält sie für gleichwertig und meint, so leicht könne man die Lehre vom gleichen Opfer nicht eliminieren, wie ich es getan habe, nämlich durch

1 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 396. 2 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 399 ff. 8 Leistungsfähigkeitsprinzip« aaO., S. 400. 4 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 397 ff.

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Hinweis darauf, daß hinter ihm ein Äquivalenzdenken stehe. Ich berufe mich zu Unrecht auf Sax, dieser habe nur Gleichheit der Steuer in ihrem Nutzen- wert im Auge gehabt und keine Entsprechung von Steuerzahlung und Staats- leistung1. Nun, ich habe mich natürlich gefragt, welchen Sinn man darin sehen kann, die Steuer so zu bemessen, daß jedem Steuerzahler ein gleich großer Nutzenverlust entsteht, und sah keine andere mögliche Antwort als die, daß jeder gleichen Anteil an den über Steuern zu finanzierenden Staats- leistungen hat und deswegen jeder eine gleich große Nutzeneinbuße hinneh- men soll. Die Steuer mit gleich großem Nutzenentgang für alle stellt doch wohl nichts anderes dar als eine Preisdifferenzierung nach dem Einkommen zur Ausschaltung der sog. Konsumentenrente unter Zugrundelegen gleicher Präferenzen für und daher gleichen Nutzens aus Staatsleistungen, die real für alle gleich sind. Der Entzug einer gleichen absoluten Nutzengröße für alle kann doch wohl nicht als eine Belastung nach der Opferfähigkeit oder Be- lastungsfähigkeit bezeichnet werden, wenn derjenige mit einem großen Ge- samtnutzen den gleichen absoluten Nutzenbetrag verliert wie derjenige mit einem kleinen Gesamtnutzen. Der erste befindet sich nach der Besteuerung in einer besseren relativen Bedürfnisbefriedigungsposition als der zweite, weil er eine kleinere Quote seines Gesamtnutzens eingebüßt hat. Ich vermag nicht zu ersehen, wie hier von einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit oder Belastungsfähigkeit gesprochen werden kann. Hier muß doch das Prinzip sein: breite Schultern, breite Lasten (höherer absoluter Nutzenentzug), schmale Schultern, schmale Lasten (geringerer Nutzenentzug). Nur dann sind die Lasten gleich gewichtig oder angemessen. Das Äquivalenzdenken ist einfach nicht aus der Lehre vom gleichen absoluten Opfer herauszudividieren.

Der These vom gleichen relativen Opfer liegt - insofern enthält sie eine Wertung - die Vorstellung zu Grunde, der Staat sei nichts anderes als die Ge- meinschaft der Staatsbürger, und nach dem Gemeinschaftsprinzip habe jeder nach seinen Kräften beizutragen zur Finanzierung der Leistungen für die Ge- meinschaft. Es wird gar nicht danach gefragt, welchen Anteil der einzelne an den Staatsleistungen hat. Die Gleichheit des absoluten Opfers impliziert, um es so auszudrücken, eine individualistische Abrechnung mit dem Staat. M.E. kommt man nicht darum herum, mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip (Opfer- fähigkeitsprinzip) die oben gekennzeichnete Staatsauffassung zu verbinden, wenn man es sinnvoll interpretieren will. .Strebt man gleiches Opfer in Form eines gleichen absoluten Nutzenentgangs an, so legt man ein Prinzip zugrunde, das man besser als Prinzip gleicher Leistung bezeichnet, wobei Leistung mit Nutzenabgabe identisch ist. Zu diesem Prinzip gehört ein „utilitaristisches" Staatsdenken. Ich bin der Meinung, daß nicht ich die obige Wertung persön- lich vornehme, sondern daß sie mit der Anerkennung des Leistungsfähigkeits- prinzips vorgegeben ist. Man mag einwenden, auch das gleiche absolute Opfer entspreche dem Leistungsfähigkeitsprinzip, denn die Steuer, die zum für alle gleichen Nutzenentzug führen soll, sei ja nach dem Einkommen gestaffelt, richte sich also nach der Leistungsfähigkeit, und diese Interpretation des

1 Schmidt stellt dem von mit gebrachten /Stez-Zitat ein anderes gegenüber, um dies zu belegen (Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 398 f.).

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Leistungsfähigkeitsprinzips habe nichts zu tun mit einer Rechnung, die man zwischen Leistungsempfang und Gegenleistung an den Staat aufmacht, sie sei ebenso mit der Vorstellung vom Staat als einer Gemeinschaft der Staatsbür- ger vereinbar. Wenn man die Dinge anders sehe, sei dies eben doch eine ganz persönliche Wertung.

Holen wir nun noch einmal etwas aus, um den nicht wegzudiskutierenden Unterschied fundamentaler Art, der zwischen dem gleichen relativen und dem gleichen absoluten Opfer besteht, klarzustellen. Wenn das gleiche relative Opfer angestrebt wird, um die Lasten, die sich aus der Finanzierung öffent- licher Leistungen ergeben, nach der Belastungsfähigkeit (Opferfähigkeit) auf die einzelnen Staatsbürger zu verteilen, so ist dies eine Zielsetzung im Sinne der justitia distributiva, bei der es darum geht, die Lasten und Pflichten auf die Glieder einer Gemeinschaft den Fähigkeiten und Kräften dieser Glieder gemäß zu verteilen. Wird ein gleiches absolutes Nutzenopfer postuliert, so ist ebenfalls eine Gerechtigkeitsvorstellung im Spiel, doch gehört diese dem Be- reich der justitia commutativa, der ausgleichenden Gerechtigkeit, an. Hier geht es darum, daß niemand besser wegkommt als die anderen. Dies wäre der Fall, wenn jeder den gleichen Steuerbetrag zu zahlen hätte (Kopfsteuer). Ver- langt wird ein gleicher Nutzenentzug, um ,, reale" Gleichheit zu erreichen. Das Gleichmachenwollen der Leistungen an den Staat im Sinne des gleichen Nut- zenentzugs ist Ausfluß eines Äquivalenzdenkens, eines marktwirtschaftlichen Denkens ; daher ist die Interpretation der Äaxschen Lehre durch v. Wieser, die Schmidt unter Berufung auf Sax abtut1, gar nicht so falsch. Warum sollen die realen (nutzenmäßigen) Lasten gleich gemacht werden? Doch offensichtlich, wie schon oben ausgeführt, deswegen, weil gleicher Anteil an den staatlichen Leistungen vorausgesetzt wird. Man kann den Zusammenhang mit v. Wieser auch so interpretieren, daß man sagt: deswegen nutzenmäßig gleiche Abgaben aller, weil die real für alle gleichen Staatsleistungen nutzenmäßig für sie von verschiedener Bedeutung sind je nach ihrer Einkommenshöhe und dem ent- sprechenden Versorgungsniveau. Durch gleiche nutzwertbezogene Bemessung der Steuer wird, wie wir schon sagten, die Konsumentenrente abgeschöpft; das ist der Sinn der gleichen Besteuerung in der Bedeutung des gleichen Nutz- wertes des Steuerbetrages.

Also hie marktwirtschaftliches Denken, Betrachtung der Dinge im Sinne der justitia commutativa, dort,, Gemeinschaftsdenken" , Bemühung der justitia distributiva. Beidemal werden Gerechtigkeitsnormen verwendet, doch stam- men diese aus verschiedenen Wurzeln. Für mich kann kein Zweifel darüber bestehen, daß eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit oder Opferfähig- keit eine den Kräften des einzelnen Staatsbürgers angemessene Besteuerung, also eine solche mit dem Ziel des gleichen relativen Opfers bedeutet.

Nun kommt aber ein weiteres hinzu. Wenn ein gleiches relatives Opfer angestrebt wird, so muß von denjenigen, die über den Tarif entscheiden, ge- fühlsmäßig - anders geht es nicht - abgewogen werden, welche Steuerlast man

1 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 399. Die Stelle von v. Wieser lautet: „daß Jedermann als Steuer das volle Geldäquivalent zu bezahlen habe, in welchem sich nach seinem individuellen Werthstande der Werth der Staatsleistungen ausdrückt".

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den verschiedenen Einkommenshöhen zumessen soll, um die Bedürfnisbefrie- digung einheitlich um die gleiche Quote zu beschneiden, ob man also beispiels- weise 1000 DM Monatseinkommen mit 10% belasten soll und solche von 2000 DM mit 15% usw. Dafür kann man m.E. ein Gefühl entwickeln. Dage- gen halte ich es für völlig unmöglich, angemessen erscheinende Steuersätze zu schätzen, mit deren Hilfe für jedes Einkommensniveau ein gleiches absolutes Opfer erzielt werden soll. Welche Anhaltspunkte soll es hierfür geben? Ich vermag keine zu erkennen. Bei dieser Methode wären die Politiker, die über einen Tarif entscheiden sollen, einfach überfordert, was nichts anderes bedeu tet, als daß die Methode nicht praktikabel ist. Nun wird eingewendet werden, auch bei einer Besteuerung mit dem Ziel des gleichen relativen Opfers seien die Schwierigkeiten in dieser Hinsicht enorm, sodaß kein großer Unterschied zum gleichen absoluten Opfer gegeben sei. Vielleicht wird sogar bestritten, daß überhaupt ein Unterschied bestehe. Ich bin der Meinung, daß ein gravie- render Unterschied vorliegt. Die relative Nutzenbelastung läßt sich gefühls- mäßig in ihrem Gewicht abschätzen, nicht dagegen die absolute. Zugegeben, die Abschätzung der einzelnen Steuersätze für eine gleiche relative Belastung ist alles andere als einfach, doch man hat dafür ein Organ. Das Ziel vor Augen, wird man gefühlsmäßig abschätzen können, ob ein bestimmter Tarif akzepta- bel erscheint. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, daß jemand ein Organ besitzt, das es ihm möglich macht, Tarife mit gleichen absoluten Opfergrößen in Verbindung zu bringen. Vielleicht gibt es Besitzer eines solchen Organs, wie es ja Menschen mit absolutem Gehör gibt. Ich gehöre jedenfalls nicht zu ihnen, und ob unter den über den Tarif entscheidenden Politikern welche zu finden sind, ist sehr fraglich. Die Beurteilung von Tarifen im Hinblick auf die Er- reichung relativ gleicher Lasten scheint mir jedoch gefühlsmäßig möglich zu sein, und zwar für alle Menschen, die sich mit der Materie eingehend befassen, und die Politiker müssen dies ja tun. Es muß allerdings noch eine weitere Schwierigkeit erwähnt werden: Mit einer progressiven Tarif gestaltung ist in der Eegel auch noch die Absicht verbunden, eine gewisse Einkommensnivel- lierung in dem Sinne zu erreichen, daß die relativen Opfer mit der Einkom- menshöhe etwas ansteigen, sodaß die relativen Bedürfnisbefriedigungspositio- nen nicht unverändert bleiben, sondern einander etwas angenähert werden. Wenn es nicht zwei getrennte Tarife gibt, einen zur Herbeiführung eines glei- chen relativen Opfers und einen zweiten zur Nivellierung (Umverteilung durch weitere Einkommensbeschneidungen), so muß in einer Tarif entscheidung so- wohl die Erreichung des einen wie des anderen Ziels berücksichtigt werden. Das heißt praktisch, daß sich die Politiker klar machen müssen, in welchem Grade bei einem bestimmten Tarif die relativen Belastungen mit steigenden Einkommen zunehmen und ob sie den entsprechenden Grad der Zunahme für akzeptabel halten. M.E. ist eine entsprechende Beurteilung eines Tarifs zwar schwierig, aber mit Hilfe gefühlsmäßiger Abwägungen möglich. Die Beurtei- lung würde natürlich zweckmäßigerweise zweistufig vorzunehmen sein. Im ersten Gang müßte man gefühlsmäßig abschätzen, wie ein ,, Leistungsfähig- keitstarif " verlaufen müßte, und im zweiten Gang dann durch Vergleich mit einem vorgeschlagenen schärferen Tarif abwägen, ob die in diesem enthal- tene NivelHerung akzeptabel erscheint. Tatsächlich wird allerdings kaum je-

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mand so verfahren, vielmehr wird man den Tarif im ganzen beurteilen und sich fragen, ob er akzeptabel oder als zu gemäßigt bzw. zu scharf erscheint, und dabei davon ausgehen, daß die relativen Opfer in einem gewissen Grad an- steigen sollen. Entscheidend ist aber dabei, daß man sich der relativen Opfer gefühlsmäßig bewußt wird. Für die Beurteilung der Frage, ob der Tarif eine akzeptable Kombination einer Besteuerung mit gleichem absoluten Opfer und einer Umverteilungsbesteuerung darstellt, fehlt eben, wie ausgeführt, das Organ. Nun mag gesagt werden, das sei doch einerlei, es sei der Tarif eben im ganzen daraufhin zu beurteilen, ob er akzeptabel sei oder nicht. Ich meine, so einfach darf man die Dinge nicht sehen. Die Politiker müssen doch irgendeine Richtschnur für die Beurteilung haben. Das relative Opfer, gefühlsmäßig ab- geschätzt, stellt eine solche Richtschnur dar. Das Gefühl kann einem sagen, ob das relative Opfer bei einem gegebenen Tarif (bis zum Plafond) zunimmt und ob man die konstatierte Zunahme akzeptieren kann oder ob sie einem als zu groß bzw. zu klein erscheint. Es wäre natürlich schön, wenn man das Ge- fühl aus dem Spiel lassen und die Beurteilung mit Hilfe fester Maßstäbe vor- nehmen könnte. Da dies aber bei dieser Materie nun einmal nicht möglich ist, muß man wenigstens für die gefühlsmäßige Schätzung irgendwelche Richt- werte haben. M.E. stellt das gleiche relative Opfer (die gleichmäßige prozen- tuale Beschneidung der Bedürfnisbefriedigung oder des Nutzens) einen sol- chen Richtwert dar, der es auch möglich macht, das Maß der Umverteilung, das ein Tarif impliziert, zu beurteilen.

Bei dieser Gelegenheit soll nun auch gleich noch die „konkurrierende Methode" des gleichen Grenzopfers (minimalen Gesamtopfers), mit der sich Schmidt nicht weiter befaßt, die jedoch von Ρ ohmer1 auf den Schild gehoben wird, einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Ich habe in den „Steu- ern"2 diese Methode mit einer Fußnote abgetan, was vielleicht nicht ganz angemessen ist, habe mich jedoch an anderer Stelle etwas näher mit ihr be- faßt3. Ρ ohmer sagt klar und eindeutig, warum er das Ziel der Gesamtopfer- minimierung oder des Gleichmachens der Grenzopfer für besser geeignet hält, um ,,die Besteuerungspraxis opfertheoretisch zu fundieren", als das Ziel des gleichen absoluten Opfers und dasjenige des gleichen relativen Opfers. ,, . . . das Konzept des minimalen Opfers", so führt er aus, „erlaubt es, das Verteilungs- problem als eine ökonomische Aufgabe zu begreifen, bei der es - wie bei allem Wirtschaften - um die optimale Allokation der Güter geht"4. Konsequent leitet er dann das bekannte Ergebnis ab: Wegsteuern aller Einkommensteile jenseits eines bestimmten Einkommens (Gleichmachen der Einkommen von oben) bzw. bei Vollumverteilung vollständige Nivellierung aller Einkommen (von unten und oben)5. Er erwähnt den unbestrittenen Vorteil dieser Methode, nämlich den, daß man sich keine Gedanken zu machen braucht über den kon- kreten Verlauf der Einkommensnutzenkurve, sondern mit der Annahme aus- kommt, daß die Grenznutzen fallen, und diskutiert die beiden Einwände ge- gen das Minimalopfer, die nach ihm stichhaltig sind: die Unterschiedlichkeit

1 AaO.,S. 151 ff. 2 l.Aufl., S. 81, 2.Aufl. unverändert S. 83. 3 S. H. Haller: Zur Problematik eines rationalen Steuersystems, ,, Kieler Vor- träge", N.F. 14, Kiel 1965, S. 19f. 4 AaO., S. 152 (Hervorhebung im Original). 6 AaO., S. 154 ff.

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der individuellen Nutzenkurven und die Lähmung der Leistungsbereitschaft1. Er führt dann im wesentlichen weiter aus, ein bestimmtes angestrebtes Volks- einkommen lasse nur einen beschränkten Spielraum für die Umverteilung2.

Es soll hier nicht im einzelnen auf die interessanten Ausführungen Poh- mers zu dem zuletzt erwähnten Problemkomplex eingegangen werden, viel- mehr soll uns die Grundthese beschäftigen, die Steuerverteilung sei als eine ökonomische Aufgabe zu begreifen. Wenn man die Problematik der Steuer- lastverteilung so sieht, so sind die Pohmerschen Deduktionen völlig in Ord- nung, die Frage aber ist: darf man sie so sehen, handelt es sich wirklich um eine ökonomische Problematik, hat die Steuerlastverteilung gar nichts mit Gerechtigkeitsvorstellungen zu tun? Nun kann man sagen, es sei doch gerecht, wenn diejenigen die Steuern zahlen, denen es am leichtesten fällt, und wenn die anderen verschont werden ; die ökonomische Lösung falle mit der gerech- ten Lösung zusammen. Es sei doch ökonomisch und gleichzeitig gerecht, wenn das Gesamtopfer der Bevölkerung so gering wie möglich gemacht wird bei vor- gegebener Höhe des Steueraufkommens (bei Pohmer ist nicht die Eede von dem, was gerecht ist, sondern nur von dem, was ökonomisch ist ; wir greifen hier also nicht auf seine Ausführungen zurück). Kann man Gerechtigkeit im Sinne der justitia distributiva so sehen? M.E. geht dies nicht an. Man muß sich vergegenwärtigen, was es bedeutet, wenn diesseits des ,, Grenzeinkom- mens" keine Steuern gezahlt werden und jenseits alles abgeschöpft wird bis zum ,, Grenzeinkommen". Abgesehen davon, daß hier natürlich die Unterstel- lung einer einheitlichen „Normal" -Einkommensnutzenkurve sehr viel härtere Konsequenzen hat als bei einer Besteuerung mit dem Ziel des gleichen rela- tiven Opfers und daher auch in ganz anderem Ausmaß attackiert werden würde, abgesehen ferner von der Lähmung des Erwerbsstrebens, die bisher alle Verfechter des minimalen Opfers zu Konzessionen bewogen hat, ist doch zu sagen, daß es kaum als gerecht betrachtet werden kann, wenn ,,in der Ge- meinschaft der Staatsbürger" eine große Zahl von ihnen, obwohl sie als lei- stungsfähig (da mit ihrem Einkommen über dem Existenzminimum liegend) betrachtet werden müssen, nichts zu den öffentlichen Lasten beizutragen hat, nur weil ihr Einkommen unter dem ,, Grenzeinkommen" liegt, wähernd ein Teil der Staatsbürger alles an Einkommen verliert, was über das „Grenzein- kommen" hinausgeht. Eine solche Verteilung der Lasten kann doch im Ernst nicht als „Leitlinie für die Konkretisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips" dienen, wie Pohmer meint3. Ich hätte nichts dagegen, wenn man von einem ökonomischen Prinzip der Lastenverteilung sprechen würde, darum handelt es sich hier nämlich, und nicht um eine berechtigte Interpretation des Lei- stungsfähigkeitsprinzips. Eine Leistungsfähigkeit gleich Opferfähigkeit liegt, wie gesagt, auch bei einem großen Teil jener Staatsbürger vor, die hier ver- schont werden ; bei den anderen, die die Steuer zahlen, ist selbstverständlich eine größere Leistungsfähigkeit gegeben, doch ist sie nicht so groß, daß man ihnen die ganzen Steuern aufbürden kann.

1 AaO., S. 158f. 2 AaO., S. 162 ff. 8 AaO., S. 151.

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Wir müssen noch einmal auf die verteilende Gerechtigkeit zurückkom- men, die von allen Staatsbürgern, die eine Opferfähigkeit aufweisen, dieser Opferfähigkeit angemessene Beiträge fordert. Jeder ist Glied der Gemein- schaft und hat als solches seinen Beitrag zu leisten, sofern er dazu in der Lage ist. Es ist unter den von der Theorie des minimalen Opfers gemachten Annah- men richtig, daß das Gesamtopfer minimiert wird, doch muß gefragt werden, ob das Gesamtopfer überhaupt eine bedeutsame Größe darstellt. Das Gesamt- opfer wird für die Gesamtzahl der Staatsbürger festgestellt, durch Auf sum- mierung. Man kann auch sagen, es wird für ein Kollektiv ermittelt; für den einzelnen hat es keine Bedeutung, es kann nicht auf ihn bezogen werden. Bei der Verteilungsgerechtigkeit kommt es aber auf die Lastzumessung für den einzelnen an, nicht auf irgendeine Gesamtgröße. Entsteht durch eine Be- steuerung mit dem Ziel des gleichen relativen Opfers ein größeres ,, Gesamt- opfer" als bei einer Besteuerung, die zum gleichen Grenzopfer führen soll, was höchstwahrscheinlich der Fall ist, so muß dies hingenommen werden im Interesse einer gerecht erscheinenden und als gerecht empfundenen Lasten- verteilung. M.E. wird das Problem von den Verfechtern des Opferminimums ,, ökonomistisch" gesehen und nicht als Gerechtigkeitsproblem, das es tatsäch- lich ist. Man mag mir entgegnen, die von mir vertretene Auffassung sei „etati- stisch", doch würde ich das nicht als spitze Kennzeichnung eines einseitigen Standpunktes werten, handelt es sich doch um die Verteilung von Lasten des Staates auf die Schultern seiner Staatsbürger. Jeder Staatsbürger, der dazu in der Lage ist, hat ein Opfer (eine Last) zugunsten der Gemeinschaft der Staats- bürger auf sich zu nehmen, Nach dem Opferminimum des Kollektivs zu fra- gen, erscheint dabei einfach nicht sinnvoll. Gelingt eine angemessene Vertei- lung nach der Leistungsfähigkeit, so wird dies auch als gerecht empfunden werden, die einseitige Verteilung der Lasten auf die Schultern der jenseits des ,, Grenzeinkommens" liegenden Einkommensempfänger dagegen nicht.

Kehren wir nun nach dieser zur Verteidigung meiner Auffassung notwendi- gen Auseinandersetzung mit den „konkurrierenden Konzeptionen" wieder zurück zu Schmidt. Er meint, wie wir oben sahen, die Politiker würden sich doch wohl auch eigene Gedanken darüber machen, was unter Leistungsfähig- keit zu verstehen sei, und die Opfertheorien (wegen ihrer immanenten Schwä- chen) vielleicht verwerfen. Hierzu ist zu sagen, daß verantwortungsbewußte Politiker gar nicht darum herum kommen, sich eine Vorstellung davon zu verschaffen, was das Leistungsfähigkeitsprinzip bedeutet und welche Steuer- lastverteilung es erfordert. Dabei soll ihnen aber gerade eine wissenschaftliche Interpretation diejenige Hilfe geben, die sie dringend benötigen. Man kann von einem Politiker nicht verlangen, daß er all die nicht gerade einfachen Überlegungen, die Finanz Wissenschaftler seit vielen Jahrzehnten angestellt haben, um das Leistungsfähigkeitsprinzip angemessen zu interpretieren und seinen Inhalt so zu konkretisieren, daß sich eine Eichtschnur für die prakti- sche politische Entscheidung ergibt, selbst vornimmt. Dazu wäre er bei seiner Beanspruchung gar nicht in der Lage. Man muß ihm ein Rezept liefern, das ihm plausibel erscheint und aus dem er entnehmen kann, worauf er zu achten hat. Es soll ja beileibe kein Politiker überredet werden; die Argumente sind doch nachprüfbar und können akzeptiert oder verworfen werden. Ich meine

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aber, daß das Rezept vom gleichen relativen Opfer plausibel ist und eine Richtschnur für die im Rahmen der praktischen Entscheidung erforderlichen gefühlsmäßigen Abwägungen abgibt.

Wenn Schmidt schließlich meint, die Politiker könnten ja auch die Lei- stungsfähigkeit ganz beiseite schieben und sich an Merkmalen wie Gerechtig- keit und Zweckmäßigkeit orientieren, so kann ich mich darüber nur wundern. Erstens würde, was ich unten noch eingehend darlegen werde, die Besteue- rung völlig ins Schwimmen geraten und jeglichen roten Fadens entbehren, wenn die Leistungsfähigkeit als Maßgröße über Bord geworfen würde - Schmidt will sie selbst ja auch nicht aufgeben -, zweitens aber ist es völlig un- verständlich, wenn Schmidt die Gerechtigkeit als ein eigenständiges „Merk- mal" für die Orientierung bei den Entscheidungen über die Steuerlastvertei- lung neben das Leistungsfähigkeitsprinzip stellt. Ich habe oben eingehend dargelegt, daß die Leistungsfähigkeitsbesteuerung Ausfluß des Strebens nach distributiver Gerechtigkeit ist. Daß ein solcher Zusammenhang besteht, kann ja auch Schmidt nicht unbekannt sein. Man könnte allenfalls sagen, daß das Problem der Steuerlastverteilung im Rahmen der breiteren Problematik einer gerechten Einkommensverteilung gesehen wird. Die Steuerlastverteilung ist aber für sich schon ein Gerechtigkeitsproblem und hat eine eigenständige Be- deutung. Dieses Gerechtigkeitsproblem stellt sich auch, wenn man gar keine Umverteilung wiU. Neuerdings wird nun allerdings gesagt - hierauf wird un- ten bei der Auseinandersetzung mit Littmann (und Pahlke) einzugehen sein -, es gebe gar kein besonderes Problem der Steuerlastverteilung, sondern nur ein generelles Verteilungsproblem; Gerechtigkeitsmaßstäbe müßten an die ge- samte Einkommensverteilung angelegt werden, und die politischen Konse- quenzen seien Umverteilungsmaßnahmen, in deren Rahmen die Steuern nur ein zu integrierendes Element seien. Vielleicht ist die Bemerkung Schmidts in diesem Sinne zu verstehen. Doch auch wenn man die eben gekennzeichnete Auffassung vertritt, kann man nicht in Abrede stellen, daß eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit mit Gerechtigkeit zu tun hat. Die Erwähnung der Zweckmäßigkeit durch Schmidt finde ich an dieser Stelle deplaziert. Zweck- mäßigkeit der Besteuerung im Sinne der Praktikabilität wird natürlich im- mer eine Rolle spielen, aber doch nicht als Alternative zu einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Die Praktikabilität ist nur eine zusätzliche Be- dingung, die bei der Gestaltung der Besteuerung beachtet werden muß.

Die dritte Bedingung Schmidts, deren Erfülltsein er in Zweifel zieht, war die, daß die Politiker, wenn sie ein gleiches relatives Opfer anstreben, sich auch durchsetzen. Schmidt verweist mit Recht darauf, daß erfahrungsgemäß „persönliche und partikulare Interessen" nicht hinter den allgemeinen Zielen zurücktreten, daß vielmehr privilégier ende und diskriminierende Praktiken eher zunehmen1. Die relativ gleiches Opfer anstrebenden, also die allgemeine Steuerlastverteilungsnorm im Auge behaltenden Politiker scheinen also von denen überstimmt zu werden, die „persönliche und partikulare Interessen" verfolgen. Die Frage ist, ob dies für alle Zeiten so bleiben muß. Es könnte ja sein, daß die „interessen-egoistischen" Politiker bisher deswegen erfolgreich

1 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 401.

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operieren konnten, weil sich noch keine Konzeption der Leistungsfähigkeits- besteuerung so durchsetzen konnte, daß sie bei der Mehrzahl der Politiker hätte zur Richtschnur der Entscheidung werden können. Wenn jeder nur die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit im Munde führt, ohne bestimmte, sich aus ihr ergebende Konsequenzen als verbindlich zu betrachten, so kom- men natürlich politische Entscheidungen zustande, die mehr oder weniger willkürlich erscheinen und in die auch alle möglichen Sonderinteressen ein- fließen können. Das Bestreben, das ich mit meinen Ausführungen über die Leistungsfähigkeitsbesteuerung verfolgte, ging dahin, den Politikern eine ein- leuchtende Konzeption vor Augen zu führen, die auch Richtwerte für die im Rahmen von Tarif entscheidungen erforderlichen „Abwägungen" vermittelt. Ich ging dabei von der Annahme aus, daß sich eine plausible Konzeption die- ser Art im Laufe der Zeit vielleicht doch so allgemein durchsetzen könnte, daß eine wirklich „systematische" Leistungsfähigkeitsbesteuerung zustande- kommt, in die Sonderinteressen nicht mehr so leicht Eingang finden. Deshalb habe ich auch ausgeführt1, ich verließe mich darauf, daß die ,, Lehre, wenn sie richtig ist, langsam auf die praktische Politik ausstrahlt". Schmidt zitiert diese Stelle und meint, ich gäbe diesen Standpunkt im Laufe meiner Darlegungen auf und suchte nun nach „Realisatoren" meiner Konzeption und fände diese in den „verantwortungsbewußt handelnden" Politikern2. Diese Politiker spie- len bei mir nicht, wie Schmidt an anderer Stelle ausführt, „die Rolle eines deus ex machina"3. Der einfache Sachverhalt ist so: Die Politiker entscheiden über die Steuergesetze und damit über den Tarif. Nun macht es aber einen gewal- tigen Unterschied, ob sie nach Gutdünken oder nach einer allgemeinen Norm entscheiden. Mein Bestreben ist es, ihnen eine Norm an die Hand zu geben durch eine einleuchtende Ausdeutung des Leistungsfähigkeitsprinzips. Die Politiker wären dann der „deus ex machina", wenn ich sagen würde, die Poli- tiker haben zu entscheiden, und was dabei herauskommt, muß hingenommen werden; es ist immer richtig, die Wissenschaft hat zu schweigen. Die Politiker sind zwar die „Realisatoren" - wie sollte es anders sein ? -, aber mit einer An- weisung in der Hand. Mehr als die Anweisung geben kann der Wissenschaft- ler nicht. Ist diese einleuchtend, lassen sich die Politiker von ihrer „Ange- messenheit" (der Ausdruck Richtigkeit geht hier etwas zu weit) überzeugen, so besteht die Aussicht, daß diejenigen Politiker, die sie akzeptieren, langsam die Mehrheit bilden, und dann besteht die Chance, daß ein Element eines „ra- tionalen Steuersystems" realisiert wird. Je allgemeiner eine solche Norm ein- leuchtet, desto weniger wird es auf die jeweilige Parteienkonstellation an- kommen; die Norm kann überparteilich befolgt werden.

Verlassen wir nun Schmidt und wenden wir uns der sehr viel schärferen Kritik des Leistungsfähigkeitsprinzips durch Littmann zu. {Schmidt wird noch einmal zum Zuge kommen bei der Erörterung der Frage, welche Vorschläge die Kritiker zu machen haben hinsichtlich besserer Konzeptionen und wie diese zu beurteilen sind.)

1 Steuern, Einleitung S. 5, 2. Aufl. unverändert. 2 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 399. 3 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 402.

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2. Littmann äußert sich, dies sei einleitend bemerkt, von hoher Warte aus, nämlich von der Warte des großen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitikers, der des Glaubens ist, man könne die Wirtschaft und die Gesellschaft nach quantitativ festgelegten Zielen gestalten, indem man alle verfügbaren Varia- blen (Gestaltungsparameter) richtig einsetzt. Die Steuern sind für ihn ein solcher Parameter der politischen Steuerung und nichts weiter. Von einer solchen Warte aus nimmt sich natürlich das Problem der angemessen erschei- nenden individuellen Verteilung der Steuerlasten im Kahmen der ,, fiskali- schen" Besteuerung, der Besteuerung also, die zur Finanzierung der Staats- ausgaben vorgenommen wird, recht bescheiden aus.

Dem Leistungsfähigkeitsprinzip räumt Litimanny nicht ohne Großzügig- keit, einen Ehrenplatz unter den Ideen ein, ,,die in die Annalen der Finanz- wissenschaft eingegangen sind". Jetzt sei es Zeit, Abschied zu nehmen. „Ver- dienste der Vergangenheit zählen nicht, wenn es darum geht, die steuerpoliti- schen Aufgaben der Zukunft in Angriff zu nehmen"1. Zwei Gründe sind es, die Littmann dazu bewegen, das Leistungsfähigkeitsprinzip in das finanz- wissenschaftliche „Walhall" zu entsenden. Der erste: Das Leistungsfähig- keitsprinzip ist zu einer formalen Norm degeneriert und damit inhaltslos ge- worden2. Der zweite: Es stützt sich, sofern ihm „überhaupt ein streng formu- liertes ökonomisches Konzept zugrunde liegt", ... „nahezu ausnahmslos" auf ,,eine der Hypothesen des Opferprinzips", die sämtlich „wiederum seit lan- gem in dem Verdacht" stehen, „untaugliche Erklärungsinstrumente und mit- hin auch unbrauchbare Entscheidungshilfen zu sein"3. Die beiden Gründe scheinen mir in einem gewissen Widerspruch zueinander zu stehen. Entweder es ist etwas inhaltsleer oder es hat Inhalt ; allerdings kann der Inhalt falsch oder unbrauchbar sein. Da ein Leistungsfähigkeitsprinzip ohne Inhalt tat- sächlich sinnlos ist, Littmann aber bei der Formulierung des zweiten Grundes einräumt, es habe teilweise einen Inhalt, nur eben einen unbrauchbaren, brauchen wir uns mit dem ersten Grund nicht weiter zu befassen4. Littmann baut seine weitere Kritik auch auf dem zweiten Grund auf. Er nennt sieben Annahmen, auf denen die brüchigen Opfertheorien im wesentlichen basieren5. Diese Annahmen wurden weitgehend schon oben erörtert, teilweise kommen sie noch zur Sprache, sodaß wir hier auf eine Diskussion verzichten können. Littmann entnimmt dem Annahmenkatalog „prinzipielle", unheilbare Män- gel, die er im einzelnen erläutert6. Zu den diesbezüglichen Ausführungen muß nun allerdings einiges gesagt werden.

1 Ein Valet dem Leistungsfähigkeitsprinzip (künftig zitiert mit „Valet"), aaO., S. 113.

2 Valet, aaO., S. 113ff. 8 Valet, aaO., S. 115 (Hervorhebung im Original). 4 Littmann meint natürlich, wenn er bei der Erläuterung des ersten Grundes vom „kleinsten gemeinsamen Nenner" und vom „Mörtel" spricht, „dei die immer größer werdenden Fugen des berstenden Mauerwerkes in unserem Fache überdeckt" (Valet, aaO., S. 114f.), es werde nur noch ein gemeinsamer Begriff verwendet, dem jeder einen anderen Inhalt gibt, und damit hat er weitgehend recht, doch irgendein Inhalt ist in der Regel vorhanden.

6 Valet, aaO., S. 116f. β Valet, aaO., S. 117 ff.

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Der Kritikpunkt eins von Littmann lautet: „Die mit den Opferhypothe- sen verfolgten Ziele sind weder ökonomisch noch gesellschaftlich plausibel"1. Er führt hier des näheren aus, das Ziel der Opferhypothesen sei „bestenfalls mit der Bestimmung des Minimums der Nutzeneinbuße durch die Besteue- rung zu umschreiben", die beiden anderen Opferkonzepte genügten „noch nicht einmal der Aufgabe, die durch Steuern verursachten Nutzeneinbußen zu minimieren"2. Das Ziel des Opferminimums, so sagt Littmann weiter, sei auch nicht plausibel, denn das eigentliche Ziel sei die Nutzenmaximierung, auch wenn sie nur beschränkt (wegen einengender Nebenbedingungen) erreicht werden könne. Er kommt zu dem Ergebnis: „Die Opferhypothesen führen . . . zu suboptimalen Lösungen, sofern ihre Voraussetzungen akzeptiert und öko- nomische Kriterien zur Beurteilung herangezogen werden"3. Littmann schwebt also wie Ρ ohmer eine rein ökonomische Zielsetzung vor. Hierzu braucht nichts mehr ausgeführt zu werden; wir haben uns mit diesem Punkt schon ausein- andergesetzt. Nun geht es aber bei Littmann folgendermaßen weiter: „Gegen diese Feststellung ist höchstens einzuwenden, daß die ökonomische Interpre- tation verfehlt sei, die Opferhypothesen also mit irgendeinem anderen Maß- stab bewertet werden müßten. Die Ausflucht taugt aber nichts, da in allen Opferkonzepten per definitionem die ökonomische Einheit , Nutzen* als Wert- messer festgelegt wurde"4. Diese beiden Sätze sind sehr aufschlußreich. Litt- mann vertritt die Meinung, wenn eine Opfertheorie mit Nutzenwerten ope- riere, stecke hinter ihr zwangsläufig eine ökonomische Zielsetzung. Davon kann, wie wir gesehen haben, keine Rede sein. Ökonomische Zielsetzung (Nutzenmaximierung, (Nutzen-) Opferminimierung) und Verwendung des Nutzenbegriffs und von Nutzenwerten im Rahmen einer Opfertheorie sind zweierlei Stiefel. Wie oben dargelegt, geht es bei der Besteuerung mit dem Ziel des gleichen relativen Opfers weder um Minimierung noch um Maximie- rung, sondern um eine im Sinne der verteilenden Gerechtigkeit angemessene Verteilung der Steuerlasten, wobei allerdings der relative Nutzenentzug als Maßgröße verwendet wird. (Es werden nicht Opferhypothesen mit einem an- deren Maßstab bewertet, wie Littmann sagt, sondern der „Opferhypo these" liegt eine meta-ökonomische Zielsetzung zu Grunde, nämlich eine Gerechtig- keitszielsetzung. Zur Fixierung des Ziels benötigt man allerdings eine in die- sem Zusammenhang relevante ökonomische Größe, eben den Nutzenwert.)

Littmann zitiert nun ziemlich unvermittelt mich5 mit einer Stelle6, in der ich mich im Anschluß an Musgrave mit der Konzeption „Generelle Umvertei- lung, erst danach Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit"7 auseinander- setze. Ich habe diese Konzeption ausgeführt, aber gezeigt, daß sie technisch undurchführbar ist8. Hierüber wird unten noch einiges zu sagen sein. Littmann geht auf solche Probleme überhaupt nicht ein. Ich befasse mich nun aber an- schließend9, worauf Littmann mit keinem Wort zu sprechen kommt, mit der

1 Valet, aaO., S. 117. 2 Ebenda. 8 Valet, aaO., S. 118 (Hervorhebung von mir; H.H.). 4 Valet, aaü., S. 1181. 6 Valet, aaO., S. 119. 6 Steuern, l.Aufl., S. 91, 2.Aufl. unverändert S. 93f. 7 Jetzt als Abschnittsüberschrift eingesetzt, s. Steuern, 2. Aufl., S. 93. 8 Steuern, l.Aufl., S. 93f., 2.Aufl. unverändert S. 95 ff. 9 Steuern, l.Aufl., S. 94ff, 2.Aufl. unverändert S. 97 ff.

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realisierbaren Konzeption „ Umverteilung und Besteuerung nach der Leistungs- fähigkeit in einem"; es kann also, mindestens was mich betrifft, keine Rede davon sein, daß die Opferhypothese ,, redistributive Zielsetzungen der Steuer- politik ausschließt", wie Littmann behauptet1. Ich habe oben schon kurz aus- geführt, wie eine Einkommensnivellierung zusätzlich zu einer Leistungs- fähigkeitsbesteuerung in einer Tarif entscheidung stecken kann. Ich bin der letzte, der Umverteilungsmaßnahmen über die Besteuerung ausschließen möchte, nur bin ich für Trennung der Zielsetzungen, damit überhaupt noch klar erkannt werden kann, was angestrebt wird. Die ,, Logik" braucht nicht ,, Purzelbaumschlagen lernen", wie Littmann an anderer Stelle meint. Ich bin mit Littmann der Meinung, daß Unverteilung nötig ist, und gehe auch mit ihm einig, wenn er sagt, mit den Maßen der Ökonomie lasse sich eine optimale Verteilungsstruktur kaum festlegen. Ich folge ihm jedoch nicht, wenn er be- hauptet: „Das Opferprinzip wird . . . vollständig durch das Verteilungsprinzip ... ersetzt"2. Das Opferprinzip hat seine eigenständige Bedeutung, und zwar in der .L^mimnschen Terminologie eine „gesellschaftliche", die verfolgten Ziele sind „gesellschaftlich" (ich sage lieber: gerechtigkeitspolitisch) plausibel.

Der zweite Kritikpunkt Littmanns lautet: „Die Annahmen der Opfer- hypothesen verfehlen notwendige Konsistenzbedingungen"3. Zur Demonstra- tion führt Littmann an, eine Besteuerung nach der Opferhypothese impliziere, daß die Steuern nur einen Einkommens-(nutzen-)entzug bewirken und keine Substitutionseffekte auslösen, und daß ferner zwischen der Steuerlastvertei- lung und der Struktur der Staatsausgaben und damit auch der Teilhabe der einzelnen Staatsbürger an den staatlichen Leistungen kein Zusammenhang bestehen dürfe4. Beide Bedingungen seien aber nicht erfüllt. Bezüglich der ersten Bedingung bin ich der Meinung, daß es schön wäre, wenn sie erfüllt wäre, daß aber das Auftreten von Substitutionseffekten, von denen man, nebenbei gesagt, einige ausschließen oder weitgehend einengen kann durch entsprechende Vorkehrungen, eine Besteuerung nach Opfervorstellungen nicht grundsätzlich in Frage stellt. Sofern Substitutionseffekte auftreten, wird auch eine rein „redistributive" Besteuerung im Sinne Littmanns durch sie gestört. Es ist nicht einzusehen, warum in diesem Punkt an eine „opfer- orientierte" Besteuerung schärfere Anforderungen gestellt werden müssen. So viel in Kürze. Es ist natürlich hier nicht möglich, die ganze Theorie der Steuerwirkungen aufzurollen. Zur zweiten Bedingung ist zu sagen, daß die opferorientierte Besteuerung davon ausgeht, es sei über einen speziellen Vor- teilsempfang aus öffentlichen Leistungen nichts bekannt. Überall dort, wo ein solcher eindeutig erkennbar ist, soll ja das Äquivalenzprinzip zum Zuge kom- men. Es ist eine völlig überspannte Forderung, unterschiedliche Nutzenvor- teile aus staatlichen Leistungen in Rechnung zu stellen, um den durch die Be- steuerung zu bewirkenden angemessenen Nutzenentgang bestimmen zu kön- nen. Es wird auch einer „redistributiven" Besteuerung nie gelingen, die Ver- teilung unter Berücksichtigung der Vorteile aus öffentlichen Leistungen nach einer vorgegebenen Verteilungsnorm zu korrigieren. Dafür weiß man zu wenig

1 Valet, aaO., S. 119. 2 Valet, aaO., S. 120. 3 Valet, aaO., S. 117. 4 Valet, aaO., S. 121 ff.

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über den anteiligen Vorteilsempfang einzelner Staatsbürger oder Angehöriger bestimmter Einkommensschichten. Ich bin der Meinung, daß die Opferhypo- thesen nicht zu „theoretischen Karikaturen" werden, wie Littmann sagt, wenn man davon ausgeht, daß über einen speziellen Leistungsempfang nichts bekannt ist. Ebensowenig kann ich mich mit folgenden Sätzen einverstanden erklären: „Ich ziehe daraus die generelle Moral, daß der Versuch, ohne Be- rücksichtigung der öffentlichen Ausgaben und der staatlichen Leistungser- stellung die anzustrebende Steuerlastverteilung bestimmen zu wollen, zwangsläufig zu Widersprüchen führt, die das System selbst aufheben. Der Mythos des Opfers mag mit den Erkenntnissen des 19. Jahrhunderts noch ver- einbar gewesen sein, er wird jetzt aber von der rationalen Einsicht in den breiten Wirkungszusammenhang verdrängt"1. Das sind zwar große Worte, aber Littmann dürfte mit seiner rationalen Einsicht auch nicht weiter kom- men.

Kommen wir nun zum dritten Kritikpunkt Littmanns, der da lautet: „Die aus den Opferhypothesen resultierenden Vorschriften für die Steuerlast- verteilung sind materiell indeterminiert und willkürlich, da die grundlegenden Prämissen empirisch nicht überprüft, geschweige denn numerisch bestimmt werden können"2. Er führt dazu u.a. aus3, der Verlauf der Nutzenfunktionen in Abhängigkeit vom Einkommen sei nicht bekannt, daher hätten alle „ent- sprechenden Aussagen keinen empirischen Gehalt", das Fundament der Opferhypothesen sei „aus willkürlichen, ungeprüften Prämissen zusammen- gesetzt". Und weiter: „Mit Hilfe solcher Argumente ist dann freilich jede Art des steuerlichen Zugriffs zu postulieren, da entsprechend der unprüfbaren Annahmen, die beliebig gesetzt werden dürfen, auch alle denkmöglichen Aus- sagen abzuleiten sind. Eine normative Theorie, die materielle Anweisungen liefern will, aber keine spezifischen Aussagen hervorbringt, ist weniger als einen Pfifferling wert". Nachdem dieser Todesstoß versetzt ist, heißt es noch: „Die weitere Verwendung der Opferhypothesen ist noch nicht einmal als ein Akt intellektueller Verlegenheit zu exkulpieren, weil dieser Ansatz erlaubt, subjektive Urteile und Interessen verschleiert in die Prämissen einzuführen, auf daß sie sich in der Lösung zu , objektiven wissenschaftlichen Beweisen* wan- deln"4.

Hier geht es in der Tat um den zentralen Einwand gegen eine „opferorien- tierte" Besteuerung, hinter dem alle anderen verblassen. Von der Beurteilung der Frage, ob eine solche Besteuerung angesichts der Unmöglichkeit, auf ob- jektivem Wege eine Einkommensnutzenkurve zu bestimmen und daraus einen konkreten Tarif abzuleiten, der Willkür und den Interesseneinflüssen Tür und Tor öffnet, oder ob sie trotz dieser Unmöglichkeit eine Norm liefern kann, die gerade dazu geeignet ist, Willkür und Interesseneinflüsse einzudämmen, hängt die Stellungnahme zur „opferorientierten" Besteuerung ab. Die crux ist, daß Nutzen und Nutzeneinbußen nur gefühlsmäßig erfaßt werden können, und darauf stützt sich das Verdammungsurteil von Littmann und anderen. In die gefühlsmäßige Beurteilung kann sich alles einschleichen, so sagen sie, auch

1 Valet, aaO., S. 123. 2 Valet, aaO., S. 117. 3 Valet, aaO., S. 124. 4 Valet, aaO., S. 124 (Hervorhebung von mir; H.H.).

31 Finanzarchiv N. F. 31 Heft 3

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jeder beliebige Interesseneinfluß. Ich habe meine Auffassung oben dargelegt und möchte nur noch einmal betonen, daß ich es für möglich halte, daß die Politiker, die ohnehin über die Tarife zu entscheiden haben, gefühlsmäßig darüber urteilen können, ob ein Tarif für die verschiedenen Einkommens- höhen einen gleichen relativen Nutzenentzug bewirkt oder eventuell einen abnehmenden oder zunehmenden (in der Realität wird der zunehmende rele- vant sein). Entscheidend ist, daß man ihnen den Maßstab vor Augen stellt, der für die gefühlsmäßige Abwägung relevant ist. Da die Mehrheit über den Tarif entscheidet, fließen die durchschnittlichen Wertungen in die Entschei- dung ein, und dabei dürften Sonderinteressen kein so leichtes Spiel haben. Wird das ganze Steuerverteilungsproblem auf Redistribution abgestellt, so wird alles noch unbestimmter. Einmal hat man keine Richtschnur mehr für die Abgrenzung des der Besteuerung zu unterwerfenden Einkommens, der ,, Bemessungsgrundlage" (siehe unten), zum anderen gibt es keinerlei Maß- stab für die Festlegung der Verteilungsnormen. Hier ist wirklich alles der „politischen Willkür" unterworfen, d.h. das Ergebnis richtet sich nach der jeweiligen Interessenkonstellation. Könnten Littmann und die anderen „Re- distributionstheoretiker" nachweisen, daß bei ihrer Konzeption eine bessere Absicherung gegen Sonderinteressen gegeben ist und damit ein ,, sinnvolleres" Ergebnis zustande kommt, vor allem aber auch, daß ihre Konzeption prakti- kabel ist, dann könnte man sich zu ihrer Meinung bekehren. Wie es hinsicht- lich dieser Punkte bei einer reinen ,,Redistributivbesteuerung" aussieht, wird unten darzulegen sein. Es ist also kein Anlaß gegeben, jetzt die weiße Fahne zu hissen.

Um nun neben der opfertheoretischen Interpretation auch noch das Lei- stungsfähigkeitsprinzip als solches abzutun, greift Littmann zu Behauptun- gen, die einfach nicht haltbar sind. So stimmt es nicht, wenn er sagt: „Die herrschenden Steuerrechtfertigungslehren zeichnen sich übereinstimmend dadurch aus, daß sie die charakteristische instrumentale Eigenschaft der staatlichen Abgaben, Mittel der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu sein, einengen oder gar leugnen"1, oder „das Leistungsfähigkeitspostulat" übe „strikte politische Abstinenz gegenüber Zielen der Gesellschaft"2. Littmann wird sogar noch massiver: „Die Leistungsfähigkeitsdoktrin verweist die Steuer nachdrücklich in das Getto fiskalischer Zwecksetzungen, d.h. sie läßt a priori nicht zu, daß Steuern als Instrument der Politik verstanden werden, die bewußt zu Veränderungen bestehender Verhältnisse einzusetzen sind. Diese fundamentale Position, die ein Glaubensbekenntnis, aber keine wissen- schaftliche Erkenntnis ausdrückt, verleiht erst dem Opferprinzip seine volle Bedeutung. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, muß eine theoretische Konstruktion künstlich am Leben erhalten werden, die eine partielle, aber definitive Lösung der - von sozialen und gesamtwirtschaftlichen Bezügen peinlich isolierten - Steuerfrage vorgaukelt"3. Littmann stellt geradezu die Tatsachen auf den Kopf, wenn er im weiteren die Einnahmenbeschaffung als einen unter vielen anderen Steuerzwecken bezeichnet, die alle im Rahmen des Zielsystems als gleichwertig zu betrachten sind. Man muß hier die Kirche im

1 Valet, aaO., S. 125. 2 Ebenda. 3 Valet, aaO.,S. 125 f.

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Dorf lassen. Ich möchte den Staat sehen, der nicht in erster Linie Steuern er- hebt, um seine Ausgaben finanzieren zu können, zum einen die Ausgaben für Güter und Dienste, zum anderen die Transferausgaben, die Umverteilung durch Einkommensauffüllung bewirken sollen! Umverteilung ist heute in jedem Staat praktisch mit der Besteuerung verbunden, wobei sowohl die Steuerlastverteilung wie die Steuerverwendung daran beteiligt sind. Das Gros der Steuereinnahmen benötigt aber jeder Staat für die Staatsausgaben im engeren Sinne. Daß die Steuern sehr geeignet sind für eine konjunkturpoliti- sche Steuerung und daß man sie zur Erreichung Wachstums- und struktur- politischer Zwecke heranziehen kann, wird heute doch niemand ernsthaft be- streiten. Hier wird nicht der fiskalische Zweck mit Nebenzwecken verziert, wie Littmann ausführt1, vielmehr wird den ,, nichtfiskalischen" Zwecken bei der Gestaltung der Besteuerung Rechnung getragen, soweit die Zielerreichung mit steuerlichen Mitteln als günstiger beurteilt werden kann als eine solche mit anderen Mitteln. Daß die Steuern primär der Ausgabenfinanzierung dienen, kann aber deswegen doch nicht in Frage gestellt werden2. Die Gleichsetzung der Anerkennung dieses Faktums mit Konservatismus, die aus den Ausfüh- rungen Littmanns (der den Fortschritt allein auf seiner Seite zu sehen glaubt) zu entnehmen ist, ist geradezu an den Haaren herbeigezogen. Doch verlassen wir nun Littmann und wenden wir uns wieder Schmidt zu, um zu sehen, welche Vorschläge er zu machen hat für eine Interpretation des Leistungsfähigkeits- prinzips, die den zweifelhaften Rückgriff auf opfertheoretische Konzeptionen vermeidet. Auch Littmann wird später mit seinen Vorschlägen wieder zum Zuge kommen.

II

1. Schmidt beantovortet zu Beginn seiner diesbezüglichen Ausführungen die Frage ,,Wie aber soll die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit aus- sehen?", indem er in anerkennenswerter Selbstbescheidung schreibt: ,,Auf diese Fragen wissen wir m.E. keine überzeugende Antwort"3. Man müsse, so führt er weiter aus, auf die Suche gehen, und er wolle einen, ihm aussichts- reich erscheinenden Weg von den verschiedenen möglichen aufzeigen. Auf seiner Wegerkundung stellt Schmidt zunächst fest: ,,Das, was man unter Lei- stungsfähigkeit versteht, wandelt sich ... mit der sozio-ökonomischen Be- wußtseinslage"4, bei der Leistungsfähigkeit handle es sich „um etwas zeitlich und örtlich Relatives". Daraus ergibt sich: ,,Wenn man nach einer ,gültigen4 Erklärung der Leistungsfähigkeit sucht, ist dieses Verfahren nur zulässig, so- lange die betreffende Theorie dem , Zeitgeist' entspricht"5. Die weitere Frage aus dieser relativistischen, sich am ,, Zeitgeist" orientierenden Position heraus ist also die, ,,was dem , Geist der Zeit' gemäß ist". Der sich wandelnde Zeit- geist läßt sich aber nun nicht so genau bestimmen, ,,daß man eine eindeutig

1 Valet, aaO., S. 128. 2 Vgl. hierzu F. Neumark: Grundsätze gerechter und ökonomisch rationaler Steuerpolitik, Tübingen 1970, S. 24f. 3 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 402. 4 Ebenda. 5 Ebenda.

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umschriebene Bezugsgröße gewinnen könnte"1. Die Folge ist: es ,, besteht für die Interpretation geltender Konventionen ein erheblicher Unbestimmtheits- bereich", was natürlich auch gilt, ,,wenn es darum geht, die Leistungsfähig- keit inhaltlich zu bestimmen"2. Schmidt fragt nun als vorsichtiger und „rea- listischer" Mann, welche Vorstellungen in bezug auf den Inhalt der Leistungs- fähigkeit wohl von einer großen Mehrheit anerkannt werden. Viel kann es nicht sein, denn sobald es um die konkrete Tarifgestaltung geht, prallen die Interessengegensätze aufeinander. Schmidt schlägt daher vor, die Leistungs- fähigkeit „sehr allgemein, am besten nur negativ zu umschreiben"3. Konkret sagt er dazu beispielhaft, man könnte „festlegen, daß dirigistische Praktiken ausgemerzt werden sollen, daß eine regressive Gesamtsteuerbelastung der Einkommen vermieden werden muß und daß die Familienverhältnisse nicht unbeachtet bleiben dürfen"4. Schmidt erklärt klar und deutlich: „Natürlich gewinnen wir mit Hilfe solcher Normen kein Programm für die Steuer- bemessung im einzelnen, aber das ist ja auch nicht das Ziel unserer Bemühun- gen. Wir müssen vielmehr den Rahmen finden, über den weitgehender Kon- sens zu erreichen ist"5. Auf die sich zwangsläufig ergebende Frage, womit der verbleibende Spielraum, der umfassende „Unbestimmtheitsbereich" ausge- füllt werden soll, antwortet Schmidt, er stehe zur Verfügung für die „Orien- tierung der Besteuerung an den Globalzielen der Wirtschaftspolitik", und das sei ein erfreulicher Gewinn, ergebe sich doch „auf diese Weise Manövrierfeld für nicht fiskalisch begründete steuerfolitische Aktionen"*. Zum Schluß bemerkt Schmidt, das Fehlen einer „scharf konturierten Definition" der Leistungs- fähigkeit könne vielleicht als Nachteil angesehen werden, aber er zweifle, „ob mehr gewonnen wird, wenn wir das Leistungsfähigkeitsprinzip in das Pro- krustesbett einer zeitlosen Theorie pressen". Seine Unbestimmtheit werde dadurch „material nicht behoben", und die Vielzahl der angebotenen Lehren relativiere deren Wert7.

Viel ist es nicht, was Schmidt zu bieten vermag aus seiner vorsichtigen, alles „Doktrinäre" vermeidenden Haltung heraus. Leistungsfähigkeit im Sinne von Schmidt ist nun wirklich eine „Leerformel". Nimmt man die drei von ihm genannten Elemente des verbleibenden „Rahmens" unter die Lupe, so bleibt eigentlich nur der Ausschluß eines regressiven Tarifs übrig. Das „Verbot" dirigistischer Praktiken dürfte daran scheitern, daß man sich nicht über eine Definition dessen, was „dirigistisch" ist, wird einigen können, und die Berücksichtigung der Familienverhältnisse kann, zumindest was die Kinderlasten angeht, über Geldleistungen des Staates erfolgen (also aus der Besteuerung eliminiert werden), was ja manche Länder praktizieren. Man muß sich fragen, warum Schmidt den Leistungsfähigkeitsbegriff noch beibe- hält, wenn er nichts mehr hergibt. Ein kleinster gemeinsamer Nenner, aus dem „Zeitgeist" gefiltert, nützt doch eigentlich kaum mehr etwas. Wenn man dem „Zeitgeist" in dem Maße Reverenz erweist, wie Schmidt dies tut, dann

1 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 403. 2 Ebenda. 8 Ebenda (Hervorhebungen im Original). 4 Ebenda. 6 Ebenda (Hervorhebung im Original). ö L·elstungstanlgkeltspnnzlp, aau., ö. 4tm. (JiervorneDung im unginaij. 7 Leistungsfähigkeitsprinzip, aaO., S. 404.

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hat man als Wissenschaftler in manchen Dingen allerdings nichts anderes mehr zu tun, als kleinste Nenner zu ermitteln. Ich bin der Meinung, daß die Wissenschaft zwar den „Zeitgeist" nicht außer acht lassen darf, daß sie aber auch in der Lage ist, auf ihn Einfluß zu nehmen. Warum sollte es nicht mög- lich sein, das Denken über Steuertarife zu beeinflussen, wenn den Politikern ein plausibles Konzept der Leistungsfähigkeitsbesteuerung angeboten wird, das ihnen eine Norm gibt, an die sie sich bei ihren gefühlsmäßigen Abwägun- gen halten können? Von einer Vielzahl der Lehren kann ja wohl kaum die Kede sein, und von Unbestimmtheit nur in dem Sinne, daß Nutzenwerte eben abgeschätzt werden müssen und nicht exakt gemessen werden können. Dies braucht nicht alles nochmals dargelegt zu werden. Ich bin jedenfalls nicht der Meinung, daß die eigentlichen Tarifprobleme, als in die Unbestimmtheitszone des „Zeitgeistes" fallend, wissenschaftlich nicht weiter zu diskutieren sind.

Kommen wir aber nun zu dem Punkt in Schmidts Ausführungen, der mich am meisten überrascht und der die Brücke bildet zu den Littmannschen Vorschlägen, die wir anschließend zu erörtern haben werden. Schmidt freut sich darüber, daß sein Leistungsfähigkeitsbegriff so unbestimmt ist, bietet sich doch so ein weites ,, Manövrierfeld für nicht fiskalisch begründete steuer- politische Aktionen". Sieht Schmidt nicht, so muß hier gefragt werden, wel- ches gefährliche Tor er hier aufstößt? Dirigistische Steuerpraktiken will er ausschließen, aber die „Globalziele der Wirtschaftspolitik" sollen zum Zuge kommen, an ihnen soll sich auch die Tarifgestaltung zu orientieren haben. Praktisch läuft Schmidts „Öffnung" weitgehend darauf hinaus, daß die Tarif- gestaltung nach irgendwelchen verteilungspolitischen Normen allgemeiner Art erfolgt, denn die anderen wirtschaftspolitischen Globalziele sind für die Tarifgestaltung von untergeordneter Bedeutung. Schmidt wird dadurch zum „Kedistributionstheoretiker" der Besteuerung. Glaubt er im Ernst, daß ,,re- distributionstheore tisch", ohne Bezugnahme auf das Leistungsfähigkeits- prinzip in etwas inhaltsreicherer Form das Tarifproblem praktikabel und einigermaßen ohne Rücksichtnahme auf Sonderinteressen - diese Bedingung ist ja doch wohl auch wichtig - gelöst werden kann? Die folgenden Ausfüh- rungen, die sich wieder mit Littmann befassen, werden ihn vielleicht skeptisch machen.

2. Es wurde bereits früher ausgeführt, daß Littmann die Steuern als Hebel auf dem großen wirtschafte- und gesellschaftspolitischen Schaltbrett sieht. Ein besonderes, aus der fiskalischen Besteuerung resultierendes Steuer- lastverteilungsproblem gibt es für ihn nicht. Alle steuerpolitischen Entschei- dungen, also auch diejenigen über die Tarifgestaltung, müssen wie alle ande- ren wirtschaftspolitischen Entscheidungen auf das Zielsystem, in dem alle relevanten Ziele enthalten und nach Möglichkeit quantitativ fixiert sind, abgestellt werden. Doch lassen wir ihn wieder selbst zu Wort kommen. Er spricht von „dem unabdingbaren Erfordernis, eine konsistente ökonomisch- soziale Zielfunktion zu formulieren, deren Werte mit den Instrumentenvaria- blen der Besteuerung erreicht werden sollen"1. Weiter führt er aus: „. . . ratio- nale Steuerpolitik beruht auf einem Verhalten der öffentlichen Planträger

1 Valet, aaO., S. 128.

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i. w. S., namentlich der Legislative, der Exekutive und der Parteien, das von der zentralen Überlegung ausgeht, welche gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Ziele erreicht werden sollen"1. Lassen wir noch einige Sätze folgen: ,,... ein Ausweg aus der Lage kann nur gefunden werden, wenn endlich begriffen wird, daß es weder ein gutes noch ein rationales Steuersystem an sich gibt, sondern nur ein Steuersystem, das bestimmten historischen Zielen optimal nachkommt. Freilich, solche Ziele heißen niemals staatliche Einnahmebe- schaffung oder Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, sondern die Zweck- setzungen sind stets gesellschaftlich oder/und wirtschaftlich determiniert, sie können nur als Resultante des politischen Prozesses der Willensbildung und nicht als Apriori- Argumente der Finanzwissenschaft verstanden werden"2. „Fiskalische Parameter sind ... grundsätzlich als Instrumente der Wirt- schaftspolitik zur Korrektur von Fehlentwicklungen (Abweichungen von ge- sellschaftlichen und/oder ökonomischen Optima) zu behandeln, unter Beach- tung der Bedingung, daß das gewünschte Volumen und die gewünschte Struk- tur reiner kollektiver Güter hervorgebracht werden"3. „Steuerliche Aktions- parameter sind als Instrumentenvariable zu verstehen, die bestimmten Ziel- variablen zugeordnet werden. Die Zielvariablen leiten sich aus den Optima ab, die nicht durch Selbstregulierungsmechanismen automatisch erfüllt werden." „Eine rationale Fixierung der Steuerparameter ist davon abhängig, welche Zielvariablen aktuell von den steuerlichen Instrumentenvariablen verfolgt werden"4. „Die Axiomatik ist von formaler Art, sie dient allein dazu, Steuern eindeutig als Instrumente der Politik auszuweisen und somit zugleich me- thodisch einen Weg für parametrische Lösungen in ökonomischen Systemen anzugeben"5. Und schließlich: „Der Ansatz überwindet ... die Dichotomie, also die teils gesamtwirtschaftliche, teil staatsfmanzwirtschaftliche Betrach- tung, die die Fiscal Theory hinterlassen hat: Die Probleme der Stabilität, der Distribution und der Allokation sind nunmehr einheitlich im Rahmen ge- samtwirtschaftlicher Systeme zu beantworten. Dieser Wandel verdrängt so- mit die konventionellen Fixpunkte der Finanzwissenschaft; er verlangt öko- nomische Entscheidungsmodelle zur Grundlage der Aussagen"6.

Kehren wir nach Vorstellung dieser kühnen Pläne, die als theoretisches Ideal einer konsistenten Wirtschaftspolitik richtig konzipiert sind, wieder in die Niederungen der Steuerpolitik zurück, wie sie sich in der Realität darbie- tet. Da gibt es nur Stückwerk und keine Politik, die 50 aus einem Guß ist, wie es Littmann vorschwebt. Und das ist nicht einmal so schlimm. Eine Politik muß vor allem praktikabel sein, und das kann sie unter den heute gegebenen Bedingungen nur sein, wenn die Gesamtaufgabe in Teilaufgaben zerlegt wird, wobei natürlich darauf zu achten ist, daß die Teilaufgaben sich zusammen- fügen zu einem sinnvollen und möglichst widerspruchsfreien Ganzen. Ich be- zweifle, daß wir jemals über die Reaktionen der „Wirtschaftssubjekte" soviel wissen werden, wie es notwendig wäre, um die Wirtschftspolitik (bei voller Integrierung der „Finanzpolitik") mit Hilfe von Computern vom „Schalt-

1 Valet, aaO., S. 129 (Hervorhebungen im Original). 2 Valet, aaO., S. 129. 8 Valet, aaO., S. 131. 4 Valet, aaO., S. 132. 6 Valet, aaO., S. 132f. β Valet, aaO., S. 133.

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werk" aus zu betreiben. Ich bezweifle aber noch mehr, daß man sich über eine „Zielfunktion", wie sie für eine solche Politik erforderlich ist, jemals wird einigen können. Wohl kann man sich vorstellen, daß man sich einig wird über einige globale Kriterien, wie etwa eine maximal zulässige Arbeitslosenquote oder Preissteigerungsrate oder eine minimale Wachstumsrate. In dieser all- umfassenden und in einem Brennpunkt konzentrierten 'Virtschaftspolitik steckt aber auch das Verteilungsproblem - mit dem wir es ja hier in einer be- sonderen Spielart zu tun haben -, und dessen Einbau macht einen Konsensus über detaillierte Verteilungsnormen erforderlich. Da genügt es nicht, wie Litt- mann meint1, wenn ein Minimal- und ein Maximaleinkommen festgelegt oder bestimmte „Streuungen der Einkommens- und Vermögensverteilung an- gestrebt" werden, wie er an anderer Stelle2 sagt. Wollte man das Distributions- problem integral, also unter Einschluß der Steuerverteilung, politisch lösen, so müßte man eine gewaltige Tafel von Normeinkommen aufstellen, in der eine ganze Reihe von Bestimmungsmerkmalen, wie Familiengröße, Arbeitsanstren- gung, Maß der Freizeit usw. zu berücksichtigen wäre, und außerdem dürfte es nur eine Einkommensteuer geben. Nach diesem Schema müßten dann die „Verfügungseinkommen" für jeden Einzelfall berechnet werden. Hätte man nur ein Einkommensminimum, bis zu dem „aufzufüllen" wäre, und ein Maxi- mum, bis zu dem die Markteinkommen zu kürzen wären, was würde dann da- zwischen gelten?

Ich muß hier zurückkommen auf meine Ausführungen zur M usgraveschen Konzeption, aus denen Littmann, wie wir gesehen haben, einige Sätze zitiert hat. Dort geht es um eine Umverteilung der Markteinkommen zur Erreichung einer für „gerecht" gehaltenen Einkommensverteilung mit anschließender Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, die die erreichten Bedürfnisbefrie- digungspositionen unverändert läßt, da sie nur zu einer einheitlichen quotalen Kürzung führt3. Ich habe dargelegt, daß man ein detailliertes Verteilungs- muster entwerfen müßte, mit dem man die Markteinkommen, die ihrerseits einigermaßen exakt bestimmbar sein müßten, vergleichen könnte, um festzu- stellen, ob Transferzahlungen zu empfangen oder (Um verteilungs1) Steuern zu zahlen wären im einzelnen Fall. Sowohl die Festlegung des Verteilungsmusters als auch die Ausrechnung von „Soll" und „Haben" in jedem einzelnen Fall, so habe ich ausgeführt, würden an den praktischen Schwierigkeiten scheitern. Man könne lediglich gewisse globale Korrekturen der Markteinkommensver- teilung vornehmen durch Zuzahlungen bis zu einer gewissen Einkommens- höhe (unter Berücksichtigung der „Versorgungspersonen") und Erhebung einer progressiven „Redistributionsteuer" (wobei man, dies habe ich dort nicht ausgeführt, selbstverständlich bei einem bestimmten (Mindest-)Ein- kommen beginnen könnte). Will man nun bei der Steuererhebung die Umver- teilung und die Gewinnung von Steuereinnahmen für die Finanzierung der Staatsausgaben im engeren Sinne uno actu erreichen, so braucht man zwar keine zwei Steuern, aber das Problem wird dadurch noch komplizierter, daß man ein detailliertes Schema für eine „gerechte" Einkommensverteilung nicht

1 Valet, aaO., S. 130. 2 Valet, aaO., S. 129. 8 Steuern, 1. Aufl., S. 90ff., 2. Aufl. unverändert S. 93ff.

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für eine Verteilung der Einkommen „vor (fiskalischer) Steuer", sondern für die „nach Steuer" verfügbaren, also für private Zwecke verwendbaren Einkom- men zu bestimmen hat. Unser Problem der Steuerlast Verteilung ist dann ein- geschmolzen in das generelle Verteilungsproblem. Ich möchte die Politiker sehen, die es sich zutrauen, ein normatives Verteilungsschema für die Ein- kommen zu entwerfen, die die Staatsbürger „übrig behalten dürfen". Greift man wegen der einfach nicht zu bewältigenden Schwierigkeiten, die eine de- taillierte Normierung der Verfügungseinkommen bereitet, zu einer schemati- schen Lösung, so kann man nur noch festlegen: Auffüllen bis zu einem be- stimmten Minimaleinkommen, danach progressive Besteuerung, für die es keine anderen Richtpunkte gibt als ein ausreichendes Steueraufkommen und das Ziel, mit zunehmender Einkommenshöhe „irgendwie" den Steuersatz (bis zu einem Plafond) ansteigen zu lassen. Da man an die durch die Steuerbela- stung bewirkte Bedürfnisbefriedigungseinbuße nicht zu denken hat (das wäre ja ein Rückfall in die „Opfertheorie") und auch kein Schema der gerechten Verteilung der Verfügungseinkommen vorhanden ist, bestimmt man den Pro- gressionsverlauf „nach freiem Ermessen", und wenn sich dabei Interessen- einflüsse niederschlagen, kann man daran eben nichts ändern: die Mehrheit hat ja die Berücksichtigung der betreffenden Interessen akzeptiert. Sehr befrie- digend ist das doch wohl nicht, aber so sieht eine das Leistungsfähigkeitsden- ken beiseite schiebende, rein „redistributiv" verstandene Besteuerung in der Praxis aus. Man kann auch nicht Streuungen der Einkommensverteilung fest- legen, wie Littmann meint, denn woran sollen sich solche Streuungsmuster orientieren - etwa am Verfügungseinkommen je Kopf? Würde das Anstreben einer Streuung bedeuten, daß Streuungsgrenzen von einem „Normaleinkom- men" in beiden Richtungen fixiert würden? Auf diese Fragen gibt es keine be- friedigende Antwort.

Bevor ich nun, auf frühere Ausführungen zurückgreifend, den Unter- schied zwischen einer rein „redistributiv" gemeinten Besteuerung und einer die Leistungsfähigkeit berücksichtigenden Besteuerung noch einmal klar kennzeichne, sei folgende Bemerkung gemacht zu den anderen „Bezü- gen", die in Littmanns Gesamtmodell, in dessen „Zielfunktion" sich ja alle Ziele niederschlagen, für die Gestaltung der Besteuerung mitbestimmend sind. Ich habe schon angedeutet, daß das konjunkturpolitische Ziel für die Tarifgestaltung keine entscheidende Bedeutung hat. Das einzige Element, das hier hereinspielt, ist die sog. „built-in flexibility", deren Ausmaß vom Progressionsgrad der Besteuerung abhängt. Obwohl die „built-in flexibility* * ihre Vorzüge hat, ist es m.E. unangebracht, das Progressionsmaß an ihr zu orientieren, denn bei Parallelpolitik verpufft ihre Wirkung, und bei größeren Konjunktur ausschlagen ist man sowieso auf andere Mittel angewiesen. Die Verteilungsgerechtigkeit, wie immer man sie auch definieren mag, scheint mir so dominierend zu sein, daß dahinter konjunkturpolitische Bezüge dieser Art zurücktreten müssen. Für das Vorhandensein einer „built-in flexibility" ge- nügt es schon, daß überhaupt progressiv besteuert wird. Dem Anliegen der „automatischen" Konjunkturstabilisierung ist damit Genüge getan. Richten wir den Blick auf Wachstums- und Strukturbeeinflussung der Wirtschaft, die miteinander verbunden sind, so ist kein wesentlicher Zusammenhang mit der

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Tarif gestaltung zu erkennen. Dort kommt es auf andere Dinge an; so kann man z.B. Abschreibungsfreiheiten oder steuerliche Prämien gewähren, die beide die Tarifgestaltung nicht berühren. Generell kann man sagen, daß man jenen anderen Zielen durch Sondermaßnahmen Rechnung tragen kann, ohne daß daraus eine unsystematische ,, Stückwerkspolitik" entsteht. Nicht alles ist mit allem so verknüpft, daß man in einzelnen Zielbereichen nicht getrennt operieren kann, deswegen habe ich oben von einer sinnvollen Zerlegung in Teilaufgaben gesprochen. Nicht trennen läßt sich allerdings das Problem der Steuerlastverteilung von den Verteilungszielen.

Nun aber zum Vergleich einer die Leistungsfähigkeit berücksichtigenden Besteuerung mit einer rein ,, redistributiven" Besteuerung. Bei der Leistungs- fähigkeitsbesteuerung wird, um es noch einmal zu sagen, unterstellt, daß die über den Tarifverlauf entscheidenden Politiker den durch die differenzierte Belastung der einzelnen Einkommensschichten bewirkten relativen Nutzen- entgang abschätzen. Wenn sie Umverteilung wollen, müssen sie den Tarif so festlegen, daß (zumindest von einem bestimmten Punkt ab) die relativen Opfer zunehmen, wobei sie den Grad der Zunahme (unter Berücksichtigung der ,, incentive" -Wirkungen) bestimmen müssen. Es kommt so zu einer „nivel- lierenden" Besteuerung in dem System „Umverteilung und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit in einem"1. Mit diesem System kann man eine Auf- füllung von niedrigen Einkommen bis zu einer bestimmten, als erforderlich betrachteten Höhe ohne Schwierigkeiten verbinden. Die mit einem stärkeren relativen Opfer belasteten Reicheren finanzieren dann die entsprechenden Transferzahlungen. Ich meine, daß in dieser Art der Besteuerung mehr System steckt als in der rein „redistributiven", weil den Politikern die Richtschnur gegeben wird, sie sollen die relativen Nutzeneinbußen abschätzen, die sie den verschiedenen Einkommensschichten zumuten. Wenn immer wieder auf den „ungenauen" Maßstab hingewiesen wird, der in Wirklichkeit gar keiner sei, so muß ich dem entgegenhalten: er ist besser als gar kein Maßstab, er ist ein Maßstab, bei dessen Verwendung nur die Schwierigkeit besteht, daß man auf das Gefühl rekurrieren muß, aber Nutzengrößen lassen sich eben nun einmal nur „gefühlsmäßig" erfassen. Ich wollte mit der „Wiederbelebung" der Opfer- theorie selbstverständlich keinen Popanz aufbauen, um damit den Kollegen die Freude zu machen, ihn voller Lust niederzureißen. Ich meine, daß die Nutzenabwägung, wenn sie von den Politikern durchgeführt wird - selbstver- ständlich können sie dazu nur gebracht werden, wenn ihnen das Konzept plausibel erscheint - zu besseren Ergebnissen führt und mehr vor der Durch- setzung von Sonderinteressen schützt als eine Tarif-(Redistributions-)ent- scheidung ohne jeden Maßstab, bei der jeder mitentscheidende Politiker mehr oder weniger hilflos ist und nur auf seine „innere Stimme" hören kann. Sieht man nur darauf, wie die Geldeinkommen gekürzt werden, so bewegt man sich an der Oberfläche. Die Geldeinkommen sagen ja auch zu wenig aus über das „ökonomische Potential", das der Staat in Anspruch nehmen bzw. in eine gerecht erscheinende Proportion rücken will. Sobald man die Zahl der aus

1 S. Steuern, 2. Aufl., § 6, Abschnitt 3, S. 97 ff. Vgl. hierzu auch Neumark, aaO., S. 195, und Schema für „Fall III" auf S. 175.

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einem Einkommen zu versorgenden Personen mit berücksichtigt oder gewisse Einkommensteile von der Belastung ausnimmt, weil sie nicht frei disponibel sind und damit für die Bedürfnisbefriedigung, zumindest für die Bedürfnis- befriedigung nach individueller Entscheidung, nicht zur Verfügung stehen, bewegt man sich im Bedürfnisbefriedigungs- oder Nutzen-Denken.

Damit kommen wir nun zu einem anderen Punkt, der unsere Auffassung, daß Tarifentscheidungen ohne Nutzenabwägungen ,,im Dunkeln tappen", entscheidend stützt. Die Vorschriften in den Einkommensteuergesetzen, die maßgebend sind für die Ermittlung der Bemessungsgrundlage, des „steuer- baren Einkommens", sind ganz auf den Tatbestand abgestellt, welche Teile des Markteinkommens für die persönliche Bedürfnisbefriedigung zur Verfü- gung stehen und welche nicht, und ob zum Geldeinkommen noch reale Güter- bezüge und Nutzungen hinzukommen, die für die Bedürfnisbefriedigung rele- vant sind. Reale Einkommenselemente mag man allerdings auch in Geld be- werten und zum Geldeinkommen hinzuzählen, wenn im übrigen die Bedürfnis- befriedigung mit dem „steuerbaren" Einkommen nicht in Beziehung gebracht wird ; sehr bedeutsam ist aber die Tatsache, daß die Frage der Verwendungs- möglichkeit des Einkommens für die persönliche Bedürfnisbefriedigung eine Rolle spielt bei der Gewährung von Abzügen. Diese Abzüge werden bekannt- lich gewährt für die Berücksichtigung von Werbungskosten, von sog. Sonder- ausgaben, von außergewöhnlichen Belastungen und, je nach dem System, für mitzuversorgende Personen. Die Gewährung dieser Abzüge beruht generell auf dem Gedanken, die betreffenden Einkommensteile stünden nicht zur Ver- fügung für die persönliche Bedürfnisbefriedigung des steuerpflichtigen Ein- kommensempfängers. Auf die nähere Begründung für die Annahme, daß diese Einkommensteile für die persönliche Bedürfnisbefriedigung ausfallen, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Bis zu welcher Höhe solche Abzüge zuge- lassen werden, ist selbstverständlich der politischen Entscheidung unter- worfen - als Beispiel seien die Kraftfahrzeugkosten für Fahrten zum Arbeits- platz genannt -, daß sie jedoch deswegen gewährt werden, weil entsprechende Ausfälle für die persönliche Bedürfnisbefriedigung unterstellt werden, ist un- bestritten. Die Markteinkommen werden also immer erst in ,, Bedürfnisbefrie- digungseinkommen" umgerechnet, bevor der Steuersatz angewendet wird1.

Wird nun die Bemessungsgrundlage so bestimmt, so entsteht selbstver- ständlich ein Bruch, wenn bei der Tarifentscheidung Erwägungen über die Bedeutung der Steuerbelastung für die Bedürfnisbefriedigung (den Nutzen) auszuscheiden haben und nur noch auf die Beschneidung der steuerbaren Einkommen unter „Umverteilungsaspekten" gesehen werden soll. Einer sol- chen Ermittlung der Bemessungsgrundlage entspricht doch bei der Tarifent- scheidung die Überlegung, welche Einschränkung der Bedürfnisbefriedigung den Steuerpflichtigen mit verschieden hohen „steuerbaren" Einkommen zu-

1 Wenn also, wie Littmann sagt (Valet, aaO., S. 132), „ein allgemeiner Gleich- heitssatz" gelten muß, der lautet: „Befinden sich zwei oder mehr Wirtschaftssubjekte in denselben wirtschaftlichen Verhältnissen, so sind sie unterschiedslos steuerlich zu belasten", so können „wirtschaftliche Verhältnisse" nur bedeuten, auf das „Bedürf- nisbefriedigungspotential", d.h. auf das für die persönliche Bedürfnisbefriedigung verfügbare Einkommen bezogene Verhältnisse.

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zumuten ist, und nicht die, in welchem Umfang die steuerbaren Einkommen zu kürzen sind nach irgendwelchen vagen Vorstellungen von Verteilungs- gerechtigkeit. Die Einkommensteuerprogression hat man seinerzeit - im we- sentlichen jedenfalls - durchgesetzt mit Hilfe von Nutzenerwägungen; jetzt sollen diese plötzlich fallen gelassen werden zugunsten einer rein auf geld- mäßige Einkommensrelationen gerichteten Tarifentscheidung, wobei aber die steuerbaren Einkommen, die durch den Tarif beschnitten werden, nach wie vor durch Umrechnung der Geldeinkommen in ,, Bedürfnisbefriedigungs- einkommen" ermittelt werden. Das „Abschütteln" jeglicher Nutzenerwägung bei der Tarifentscheidung bedeutet sowohl einen historischen wie einen logi- schen Bruch, der m. E. nicht zu akzeptieren ist. So schwer die Aufgabe sein mag, die Tarifentscheidung auf Grund der Abschätzung der relativen Opfer vorzunehmen, so ist dieser Methode doch der Vorzug zu geben. Littmann bietet nichts an, was als überlegen anerkannt werden müßte und die Leistungs- fähigkeitsbesteuerung aus dem Feld schlagen würde.

Steckt in der Steuerlastverteilung (nivellierende) Umverteilung mit drin, was in der Regel der Fall sein wird, so wird ebenfalls von den in ,, Bedürfnis- befriedigungseinkommen" umgerechneten Markteinkommen ausgegangen, das zu korrigierende Einkommen wird also nicht ohne Bezugnahme auf die Bedürfnisbefriedigung gekürzt. Man kann aber noch weiter gehen und sagen: Wenn die nivellierenden Maßnahmen nicht völlig aus der Luft gegriffen sein sollen, so müssen irgendwelche Nutzenerwägungen hinter ihnen stehen. Ein- kommen wird ja ,, um ver teilt", weil man die Bedürfnisbefriedigungspotentiale aus hohen Einkommen für übertrieben groß hält. Bea und Fischer weisen1 mit Recht darauf hin, daß die Vorstellung, eine Verminderung der Einkom- mensunterschiede führe insgesamt zu einer Verbesserung der Bedürfnisbefrie- digung, die Hypothese vom abnehmenden Grenznutzen des Einkommens impliziere. Wenn sie weiter sagen, in der Umverteilungszielsetzung stecke un- ausgesprochen die Voraussetzung einer standardisierten Nutzenfunktion2, so haben sie ebenfalls recht. Dies ist der Fall, weil für alle Einkommensempfän- ger der gleiche Tarif gilt, d.h. weil auf individuelle Nutzenkurven keine Rück- sicht genommen wird. Warum, so muß gefragt werden, sollen bei der kon- kreten Tarif entscheidung, bei der auch Einkommensnivellierung angestrebt wird, Nutzenabwägungen eliminiert werden, nur weil den Abwägenden keine festen Maßstäbe in die Hand gedrückt werden können? Haben sie denn solche Maßstäbe bei rein ,, redistributiven" Entscheidungen über relative Einkom- menskürzungen ohne jeden Bezug auf deren Bedeutung für die Bedürfnis- befriedigung?3

Es ist nicht einzusehen, welchen Vorteil eine Tarif entscheidung ohne jede Nutzenabwägung bieten soll. Ohne Nutzenüberlegungen kommt man nicht

1 Steuerpolitische Grundsatzfragen, aaO., S. 24. 2 Ebenda. 3 Sehr plastisch und treffend sagt Pohmer (aaO., S. 145) über die rein „re-

distributive" Besteuerung: „Tatsächlich haben wir es mit einer Pseudoobjektivie- rung zu tun, die an den Versuch erinnert, den künstlerischen Wert einer Skulptur in Ermangelung exakter Maßstäbe der »Genauigkeit' halber nach dem Gewicht zu be- stimmen".

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aus bei der Festlegung des Existenzminimums und bei den Bestimmungen, nach denen die oben genannten Abzüge zugelassen werden ; bei der Tarifent- scheidung jedoch sollen sie zu verschwinden haben zugunsten vager „vertei- lungspolitischer Normen"! Ich meine, den zur Genüge zitierten „verantwor- tungsbewußten Politikern" ist mehr gedient, wenn man ihnen sagt: Wägt bei der Tarif entscheidung ab, welche relativen Bedürfnisbefriedigungseinbußen sich auf Grund der Tarifskala bei den einzelnen Einkommensklassen eurem Gefühl nach ergeben, und überlegt dann, ob ihr die eurem Gefühl nach resul- tierende Zunahme der relativen Bedürfnisbefriedigungseinbußen (relativen Opfer) für angemessen haltet1. Das ist m.E. eine bessere Anweisung als die: Legt einen Tarif mit zunehmenden Kürzungssätzen der steuerbaren Einkom- men fest, den ihr, insbesondere auch unter redistributionspolitischen Ge- sichtspunkten, für angemessen haltet. Es wurde ja schon oben gesagt, daß die Festlegung einer detaillierten Tafel der als gerecht betrachteten Einkommen nach Steuer (Verfügungseinkommen) eine exakte verteilungspolitische Nor- mierung wäre, die eine Tarif entscheidung überflüssig machen würde. Da es aber eine solche Normierung nicht gibt und in der Demokratie sicher nie ge- ben wird, sind nur schematische Redistributionsmaßnahmen möglich. Bei dem hierbei entscheidenden Element, der Festlegung der Tarifstruktur, sollen die Politiker urteilen, ohne daß ihnen zuvor irgendwelche Richtpunkte zur Verfügung gestellt werden. Sie wissen nur, daß mit der Steuer umverteilt werden soll und daher ein progressiver Tarif festzulegen ist. Alles weitere bleibt ihrem Ermessen überlassen. Littmann würde vermutlich noch die An- weisung geben: Stellt ja keine Nutzenerwägungen an, denn die basieren auf un- haltbaren Annahmen. Also nochmals: die reine ,, redistributive" Besteuerung bietet keinen Vorteil, sie läßt alles offen und stellt damit alles ins Ermessen der Politiker, die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit mit zusätzlicher re- distributiver Zielsetzung fügt sich in die bei der Besteuerung ohnehin erfor- derliche Nutzenbetrachtung ein und verlangt, daß bei der Tarif entscheidung das relative Bedürfnisbefriedigungsopfer abgeschätzt und damit auch das Ausmaß der realen (bedürfnisbefriedigungsmäßigen) Umverteilung bewußt gemacht wird2. Die in der Einkommensnivellierung latent steckenden nutzen-

1 Wenn Schmidt neuerdings wieder behauptet (Renaissance, aaO., S. 200): „Indigniert wird er (der Politiker; H.H.) sicher darauf reagieren, daß man ihm zu- mutet, mit Hilfe eines Progressionstarifs über die Redistribution von Nutzen zu ent- scheiden, deren tatsächliche Verteilung er nicht kennt und über die seine normative Nutzenschätzung selbstverständlich nichts aussagen kann", so kann man dies ein- fach nicht akzeptieren. Ob eine steigende relative Nutzeneinbuße mit einem Tarif verbunden ist, kann man gefühlsmäßig ermessen, ebenso kann man sich über deren Ausmaß und die Frage der Zumutbarkeit klar werden. (Schmidt befaßt sich hier zwar mit einer reinen „Umverteilungsteuer", wie ich sie als Ergänzung einer proportiona- len Leistungsfähigkeitsteuer zur Diskussion gestellt habe und bei der eine steigende relative Nutzeneinbuße von vornherein zu unterstellen ist, doch das Nutzenschät- zungsproblem ist immer von gleicher Art.) 2 Hat man das gleiche relative Opfer, wie es die Leistungsfähigkeitsbesteuerung verlangt, nicht als Vergleichsmaßstab, so wird das Maß der Umverteilung nicht er- kennbar. Es ist gar nicht absurd, wie Pahlke meint (aaO., S. 50), wenn ein besonderes Postulat der steuerlichen Verteilungsgerechtigkeit aufgestellt wird. Dies wider- spricht auch nicht der von Pahlke mit Recht konstatierten Unteilbarkeit der justitia distributiva.

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mäßigen Annahmen und Absichten werden damit so deutlich gemacht, wie dies möglich ist. So ist also meiner Meinung nach die Entscheidung zwischen diesen beiden Methoden nicht schwer zu treffen.

Nachdem nun die Kritik von Schmidt und Littmann (und damit auch die von Pahlke, der die gleichen Auffassungen vertritt wie Littmann) an der ,, op- ferorientierten" Besteuerung und am Leistungsfähigkeitsprinzip mit, wie ich meine, brauchbaren Argumenten zurückgewiesen ist, kann man natürlich fra- gen: Was soll das Ganze, ist es nicht ein Streit um des Kaisers Bart? Werden nicht nach wie vor die Politiker über Einkommensteuertarife entscheiden, ohne vorher die Finanzwissenschaftler zu fragen, die ihnen ja doch keine kon- kreten Tarifvorschläge unterbreiten können, die nach objektiven Kriterien ermittelt worden sind, weil es keine generell gültige Einkommensnutzenkurve mit meßbaren Nutzenwerten gibt? Sicher werden dies die Politiker in der Zu- kunft genauso tun, wie sie es in der Vergangenheit getan haben. Irgendein pro- gressiver Tarif kommt zustande, und niemand sieht diesem Tarif an, ob rein ,, redistributive" Erwägungen hinter ihm stehen oder ob im Sinne des ,, opfer- theoretisch" interpretierten Leistungsfähigkeitsprinzips die relativen Nutzen- einbußen abgeschätzt wurden und der Tarif dann so festgelegt wurde, daß sich in gewissem Ausmaß ein Ansteigen der relativen Nutzeneinbuße ergibt. Wenn bisher geltende Tarife geändert werden, so werden in der Regel auch nicht fundamentale Neugestaltungen vorgenommen, sondern nur Korrektu- ren angebracht, die den Tarifverlauf innerhalb bestimmter Grenzen verändern. Dabei werden sog. „soziale" Erwägungen angestellt: Welche Einkommens- schichten sollte man entlasten, welchen kann man eine gewisse Zusatzbela- stung zumuten? Ferner wird an die „incentive- Wirkungen" gedacht: Wird eine Erhöhung der Spitzenbelastung die großen unternehmerischen Einkom- men so treffen, daß das Gewinnstreben und das wirtschaftliche Wachstum be- einträchtigt werden? Wird eine erhöhte Belastung der mittleren Einkommen das Erwerbsstreben der kleineren Unternehmer treffen, sodaß der „mittel- ständische" Unternehmensbereich gefährdet sein könnte? Selbstverständlich werden jede Regierungspartei und jede Partei innerhalb einer Regierungs- koalition auch an die Wähler denken und abzuschätzen suchen, wie beabsich- tigte Änderungen von diesen aufgenommen werden.

Was soll also der Streit darüber, ob bei einer Tarif änderung „nutzen- theoretische" oder „redistributionspolitische" Erwägungen in die politische Entscheidung eingehen sollen? Nun, es geht darum, daß die genannten „so- zialen" Erwägungen so gut wie möglich fundiert werden und daß zwischen der Tarifentscheidung und den Entscheidungen, die für die Festlegung der Be- messungsgrundlage maßgebend sind, möglichst kein Bruch auftritt. Wird der relative Nutzenentzug zum Maß gemacht, so ist m. E. eine bessere Fundie- rung gegeben als im Fall einer Orientierung an „angemessenen" Kürzungen der „steuerlichen" Geldeinkommen. Erst die nutzenmäßige Abwägung macht deutlich, was die Einkommenskürzung real bedeutet. Durch Rückgriff auf den Nutzen wird - trotz der Schwierigkeit, daß das Gefühl herangezogen werden muß - eine bessere Vergleichs- und Wertungsebene erreicht. Und ferner ist der Zusammenhang gewahrt zu dem auf die Bedürfnisbefriedigung bezogenen Denken, das den Bestimmungen zugrundeliegt, die für die Abgrenzung des

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„steuerbaren" Einkommens maßgebend sind. Obwohl, wie soeben kurz dar- gelegt wurde, der Gesichtspunkt der (Lasten-)Verteilungsgerechtigkeit bei den Tarif entscheidungen nicht der einzig relevante ist - der Bück wird immer auch auf die ,,incentiveCi-Wirkungen gerichtet sein, nicht nur beim Spitzentarif-, sollte er so zum Zuge kommen, daß die Entscheidungen möglichst gut fun- diert sind. Hier kann und soll die Finanzwissenschaft m. E. den Rat geben, die Entscheidungen mit Hilfe von Nutzenerwägungen zu treffen. Ob die Poli- tiker sich diesen Rat zu eigen machen, ist eine andere Frage. Interessant ist aber in diesem Zusammenhang, daß die Steuerreformkommission, die ja den Politikern in einem Gutachten Experten- Vorschläge für eine Große Steuer- reform zu machen hatte, in diesem Gutachten die Leistungsfähigkeitsbesteue- rung mit dem Ziel des relativ gleichen Opfers als diejenige Konzeption be- zeichnet, die zur Erreichung der Steuergerechtigkeit führt1, gleichwohl aber dem Umverteilungsziel im Rahmen der Progressionsgestaltung seinen Platz zuweist2. Wenn eine Kommission von Experten den Politikern die Leistungs- fähigkeitsbesteuerung mit dem Ziel des gleichen relativen Opfers empfiehlt, so wird ein solcher Rat, der die Nutzenabwägung ja impliziert, vielleicht doch nicht überhört werden.

1 Gutachten der Steuerreformkommission 1971, „Schriftenreihe des Bundes- ministeriums der Finanzen", Heft 17, Bonn 1971, Textziffer 39 des Allgemeinen Teils, S. 30. 2 S. Gutachten, Textziffer 71, S. 36, und Textziffer 638, S. 211. In Tz. 638 steht bei der Formulierung der Leitlinien zur Neugestaltung des Tarifs untereinander: „Der Einkommensteuertarif hat sich am Leistungsfähigkeitsprinzip zu orientieren" - „Der Umverteilungsfunktion des Einkommensteuertarifs kommt im modernen Steuerrecht eine besondere Bedeutung zu".

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