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Zur Theorie der Organischen „Gestalt“

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Page 1: Zur Theorie der Organischen „Gestalt“

K U R Z E ] ) I I T T E I L U N G .

ZUR T H E O R I E DEI~ O R G A N I S C H E N ,,GESTALT". Von

Dr. LUDWIG VON BERTALANFFY, Wien.

(Eingeganffen am 14. Jul i 1926.)

Nachdem die s~rikte, mechanistische Auffassung, welehe den Organis- mus als eine Maschine betraehtet , sowohl hinsichtlieh der selbstregu- latorischen Funkt ion des OL'ganismus, als auch hinsichtlieh dessen Ents tehung, ffir die nach dem Zusammenbruehe der Selektionslehre keine rein mechanische Deu tung mehr besteht, sich als unmSglich herausgestellt hat, erneuern sich heute die Versuehe, das Leben auf einem andern Wege der Sonderstellung zu entkleiden, die es fiir die naive Auffassung gegen- fiber dem Geschehen in der ~norganischen Na tu r besitzt. Der wiehtigste Versueh in dieser Richtung ist die Gestalttheorie WOLFGANG KOHLERS 1). Wenn aueh KiiHI~ER das speziell biologische Problem nu t im VorSber- gehen behandelt, so haben doch eiue Reihe meehanistisch denkender Au- toren - - wir nennen den Biologen MAX HSRTMANN "2) und den Erkenntnis- theoret iker MoRrrz SCt~I, TCK 3) __ die Hoffnung ausgesproehen, dal3 gerade diese Gestalt theorie eine die Eigenar t des Organischen wiirdigende, neue Form der mechanistischen Grundauffassung ermSglichen werde. Aus diesem Grunde scheint es nicht iiberflfissig, zu erwSgen, ob die Gestalttheorie wirklich in der Lage ist, den Monismns der physikalisch- ehemisehen Gesetzlichkeit aufreeht z u erh~lten. Allerdings hat m~n KOHLER 3~ueh 3~]s einen Panvital is ten bezeichnet, fiir den die ganze Natur von , ,Form" durchtr~nkt ist4), wie ebenso seine GedankengSnge von den Meehanisten adoptier~ wurden; gerade diese vermit telnde Stel- lung maeht die K5HLERsehe Theorie besonders wichtig, da es sieh heute immer klarer herausstellt, dal] der extreme Mechanismus undurchffihr- bar, der metaphysisebe Vitalismus aber unfruehtbar istS).

1) KOI-ILER, W.: Die physischen Gestalten in l:tuhe und im station~ren Zu- stand. 1919. - - Gestaltprobleme und Anf'~inge einer Gestalttheorie. Jahresber. fib. d. ges. Physiol. 1922, S. 512ff.

~) HA~TM,t~, M.: Biologie und Philosophie. 1925. S. 13. a) SCHLICK, M.; Allgemeine Erkenntnislehre. 1925. 4) DRI~SCH, I-I.: Organismen und physische Gestalten. Ann. d. Phil. u. phil.

Kr. 1925. S. lff. ~ ~brigens hat DR:EESCH sehon in der ersten Auflage der Philosophie des Organisehen, Bd. I, S. 357, Anmerkung, auf die Vergleiehbar- keit der ,,Ganzheiten" mit den psychologisehen Gestalten hingewiesen.

:~) Gegeniiber einem brieflichen Einwand Herrn Prof. K61tLEnS zu der vor- liegenden Kritik, dab diese sich nur mit den allgemeinen Fragen besehSftige und auf seine speziellen, psychologischen Theorien nicht eingehe, m5ehte ich erwidern, dab das letztere nieht in unscrem Programm liegt. Wir haben uns hier nicht mit der psychologischen Gestalttheorie zu besch/iftigen, .welcher groBe Bedeutung zukommt, sondern wir wenden uns gegen die meehanistische Konsequenz, welehe aus K6HLERS Theorie gezogen werden kann und tatss

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414 L.v. Bertalanffy:

KSHLER geht aus yon dem Begriffe der psychologischen Gestalt. W~hrend die ~ltere, atomistisch denkende Assoziationspsychologie den vergeblichen Versuch machte, die Gegenst~nde der Wahrnehmung aus den Einzelempfindungen aufzubauen, ringt sich seit den Forschungen EHRE:NFELS', WERTI-IEII~IERS und KOFFKAs die Erkenntnis durch, dab etwa die Sehgestalten unm/Sglich aus einem Mosaik yon Einzelempfin- dungen und -assoziationen konstruiert werden kSnnen; der Sehgegen- stand ist vielmehr psychologisch unmittelbar gegeben. K6H•ER stellt sich nun die Frage: welches physische Korrelat entspricht der psychologischen ,,Gestalt"? Bei Beantwortung dieses psyehologischen Problems, mit wel- chore wir uns nicht weiter zu besch~iftigen haben, kommt er nun zu aul~erordentlich weitgreifenden Folgerungen. ,,Relativ selbst~ndig ge- formte Einheiten, die sich aus einem Gesamtfelde aussondern, werden Gestalten genannt" ~), Solehe Gestalten finder er nicht nur im Psycho- logischen, sondern in der Gesamtnatur. Das Charakteristikon der ,,Ge- stalten" ist ihre Ganzheit, welche ihre Teile dutch das Ganze bestimmt, und die gegeniiber den atomistisch zusammengefiigten Einzelteilen etwas Neues ist; eine Ganzheit, ,,aus der kein Glied entfernt werden kann, ohne die spezifische Eigentiimlichkeit und Struktur der betreffenden Systeme zu zerstSrerd'e). Diesen Charakter tragen erstens die psychi- schen Gestalten, zweitens die Organismen, deren ,,Ganzheit" von DRIESCtt zur Grundlage des Vitalismus gemacht wurde, drittens abet auch gewisse anorganische Systeme. Z .B. bleibt die ~nderung eines Teiles eines eIektrisehen Feldes nicht auf diesen beschrgnkt, sondern das ganze Fold wird daduroh ver~ndert. Also - - argumentiert K6HLER - - ist auch sehon das elektrische Fold eine Ganzheit, die wie der Organismus eine wechselseitige Best, immtheit der Teile aufweist 3). Auf diese Weise wird das Leben seiner Eigengesetzlichkeit entkleidet, indem es als ein Spezial- fall der auch im Anorganischen wirksamen Gest~ltbildung erscheint.

Sicher hat K/~IILER in seinen anorganisehen ,,Gestulten" ein interes- santes und fruchtbares Problem anfgezeigt; t rotzdem kSnnen wir die Hoffnung, durch Analogie mit den ,,Gestalten" den Organismus zu be- greifen, nicht teilen. Das Leben des 0rganismus ist mit der angegebenen Definition der Gestalt keineswegs erschSpft, so dal~ diese noch keine

lich gezogen wurde: da[~ unter dem Gesiehtspunkte der ,,Gestalt" kein Gegen- satz zwisehen dem Anorganischen und dem Organischen bestehe. I)iese meeha- nistische Konsequenz, die viel mehr yon den KOr~L~R folgenden Autoren, als in dessen eigenen, gelegentliehen biologischen Bemerkungen ausgesprochen ist, seheint uns wegen der Selbstregulation und des historischen Charakters des Lebendigen undurchflihrbar. Unser Ziel ist nieht, speziell KO~L]~RS Theorien anzu- greifen, als vielmehr die weitere Frage zu beantworten, ob eine ~ heute modern werdende - Betraehtungsweise der 0rganismen als ,,Gestalten" mSglieh sei?

x) K6rILEa: Gestaltprobleme, a. a. O. S. 52"2. 2) I-IARTMANN: a. a. O. S. 13. a) Dieser Gestaltcharakter des elektrisehen Feldes ermSglieht aber KOnL~.R

die Beaptwortung seiner ersten Frage, der naeh dem physisehen Korrelate der psychologisehen Gestalt: wenn etwa aueh das elektrisehe Feld eine Gestalt ge- nannt werden dad, so vermag ein derartiges Fold das gesuehte Korrelat zu bilden.

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Parallele zwischen anorganischen Gestalten und Organismen zustande bringt. Die anorganischen Systeme, elektrisehe Felder z. B., vermSgen sich nicht selbst wiederherzustellen, sondern unterliegen ganz und gar den ~ul~eren Bedingungen; die 0rganismen hingegen biegen diese Bedingungen zu ihrer Selbsterhaltung urn: damit sind die yon K6HLER angezogenen anorganischen ,,Gestalten" als Parallele der Organismen erledigt. Regula- tion oder Selbstwiederherstellung nach StSrungen kommt aul3er den Orga- nismen nur einer Klasse anorganischer ,,Ganzheiten" zu, den Kristallen.

Die bekannten Versuehe P~ZrBRAMs fiber Kristallregeneration (Kri- stalle mit abgeSchlagenen Spitzen regulieren ihre Gestalt) besitzen manche Analogie zu den Erseheinungen der Regeneration und der Umdifferenzierung, wie diese das Riickgrat der vitalistischen Lehre bilden. Man hat darum gesagt, dal~ die naeh experimenteller Teilung sich zu kleineren, ganzen Embryonen umdifferenzierenden Seeigel- Furchungszellen in dem bekannten Versuche yon DI~IESCH als Vita- lismus-Beweis hinf~ltig seienl indem analoge Erscheinungen sich auch im Bereiche des Anorganischen vorfindenl).

Aber aueh die Parallele zwischen Kristallen und 0rganismen ist undurchfiihrbar. 1. Die Organismen machen den Eindruck, da~ die ihre Leistungen ,,aus sich selbst heraus" vollbringen; sic unterscheiden sich grundlegend dadurch von den Kristallen, dal~ dig wirkenden Kri~fte bei ihnen innerhalb, bei den letzteren aber auI]erhalb liegen. Gegen- fiber den tr~gen physikalischen KSrpern gew~hren die Organismen einen Anbliek der Aktivit~t.

DRIESCH formuliert dieses Problem hinsichtlich der morphogene- tischen Entwicklung in vorzfiglicher Weise, indem er dem Organismus ,,Ganzheitskausalit~t", im Gegensatz zu der in physikalischen Systemen allein wirksamen ,,Einzelkausalit~t" zuschreibt: W~hrend die Vorg~inge in physikalischen Systemen durch einfache Summation der ~u/~eren Einzelkomponenten begriffen werden k~innen, tr i t t bei den sich regene- rierenden, sich fortpflanzenden, sich mndifferenzierenden Organismen eine ErhShung des Grades der Mannigfaltigkeit des Systems durch in ibm selbst liegende Ursachen auf. Der entwickelte Organismus ist unendlie]a differenzierter als das El, aus einem inneren Entwicklungs- impulse heraus; der Kristall bleibt immer derselbe, ob er klein oder grol~ ist; sein Wachstum h~ngt nur yon ~uBeren Faktoren ab. Die Annahme eines kolloidalen Mechanismus im Sinne LOESS, der, sich entmischend, die steigende Differenzierung bewirke, hebt die Eigen- gesetzlichkeit des Lebens nieht auf: Denn solehe Mechanismen kennen wir im Bereiche des Anorganisehen eben nicht, wozu noch die Schwierig- keit der Entstehung eines solchen Mechanismus kommt.

2. Diese M6glichkeit der Selbstdifferenzierung beruht abet auf einer flmdamentalsten Eigenschaft des Lebens, welche selbst yon den

~) PRZIBRAM: Arch. f. Entwicklungsmech. d. Organismen 22. 1906; D~IESCH: Phil d. Org., Bd. II, S. 146 ff.

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Mechanistcn nicht geleugnet werden kann: Auf dem hi~torischen Charak- ter des Lebendigen. Selbst ffir WEIS~ANN enthalten schon die nieder- sten Infusorien eine ,,Anlagensubstanz, die nut historisehen Ursprungs sein kann, und die niemals plStzlich, naeh Art einer chemischen Ver- bindung, entstanden sein kann"l). Dieses ,,Historische" mag kausal erkl~rbar sein - - aber meehanistisch (d. h. physikaliseh.ehemisch) ist es nieht erkliirbar, weft eben des I-Iistorische allem physikalisch-chemischen Geschehen gerade entgegengesetzt ist. Stillschweigend ist so im De- szendenzbegriff von den Mechanisten bereits die physikalisch-chemische Erkl~rung des Organisehen aufgegeben.

Wit kommen zum letzten Punkt unserer Kritik. Selbst ange- nommen, dab KOHLER recht hat, und dal] keine Wesensverschiedenheit zwisehen anorganischen und organischen Gestalten besteht, so ist den- noch mit aller Entschiedenheit zu betonen, dal~ jedenfalls die Methode~ der physik und der Biologie nieht gleich sein kSnnen. Der Physiker geht immer aus yon den Einzelkomponenten, um die ,,Gestalt" (das elektrische Feld, die chemische Verbindung, den Kristall) zu beschreiben und zu begreifen; im Gegensatz dazu kann der Biolog nur yore Orga- nismus als ,,teleologischer Einheit" ausgehene). Wir sagen lieber ,,teleo- logische Einheit" als ,,Ganzheit", weft wir diesen Begriff nicht mit Metaphysik beschwert wissen wollen. Es gibt keinen besseren Beweis des Vitalismus - - als die Schriften der Mechanisten. Auch der ein- gefleisehteste Mechanist kann nicht anders, als fortw~hrend teleologische ]3egriffe, wie Organismus, Organ, Anpassung, Regulation, Entwieklung usw. gebrauchen; es hat keinen Sinn, mit diesen Begriffen zu operieren und dennoch zu behaupten, man erkl~re des Leben physikaliseh- ehemisch, bzw. in einer grauen Zukunft eine physikalisch-chemische Biologio zu erhoffen und damit die gegenwi~rtige zu einem blo13 vor- wissenschaftliehen Stadium zu entwerten. Nur als eine yon den mathe- matischen, physikaliseh-ehemischen Wissenschaften verschicdene ist die Biologie gegenw/~rtig m6glich, und wir glauben angesiehts der Funda- mentaleigenschaften des Lebens, der Selbstregulation und des histo- rischen Charakters, welehe dureh keinen ~[echanisten aus der Welt geschafft werden kSnnen, da[3 sie auch in Zukunft nicht in der Physiko- Chemie aufgehen werde. Wie die Biologie eine positivistische, gegen- fiber dem Meehanismus die Eigengesetzlichkeit und Teleologie des Lebens anerkennende, gegenfiber dem Vitalismus die Zuflucht zu meta- physischen qualitates occultae ablehnende Mitte]stellung einnehmen mfisse, haben wir an anderem Orte zu zeigen versucht3).

1) Wwlsl~A~, A.: Vortr~ge fiber Deszendenztheorie. 3. Aufl. 1912. Bd. II, S. 317; vgl. H~,RTMANN, a. a. O. S. 17.

") Vgl. die vorzfiglichen Ausffihrungen fiber die Individualit~t im Biologischen bei J. SertAX]~L: Grundziige der Theorienbildung in der Biologie. 1922, S. 9~-q ft.

a) Vgl. meine Abhandlungen: ~ber die neue Lebensauffassung. Ann. t lil. u. phil. Kr. 1926, und Des Problem des Lebens. Seientia 1926.