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BerWissGesch 5,17-23 (1982) Matthias Gatzemeier Zweck und Zweckmäßigkeit in der Wissenschaft* !Berichte zur WISSENSCHAFTS- GESCHICHTE © Akademische Verlagsgesellschaft llJH2 Summary: The following considerations are not of a historical but of a systematic kind, i.e., without mentioning other historical theories, I would like to contribute my ideas on the problems of purposein scientific thought. The first part concerns itself with the definition of science/knowledge. This will not involve a complete definition but only parts thereof, namely science/knowledge is a sort of theoretical acting which satisfies certain criteria and is therefore consciously or un- consciously always directed by aims and purposes. On the basis of this minimal definition, the relationship between aims and methods is described in the second part as a relationship between purpose and means: methods are more or less effective means for the realisation of certain aims. The third part contains some distinctions of the problems of purpose, which entail in particular the difference between aims intrinsic and extrinsic to science/knowledge and aims of action and nature. Schlüsselwörter: Gesellschaft und Wissenschaft, Ideologie, Methodologie (der Wissen- schaft), Teleologie, Wissenschaftsdefinition, Wissenschaftstheorie, Wissenschaft als Hand- lung, Zwecke (interne, externe), ZweckfreiheiL * Vortrag auf dem XIX. Symposium der ,Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte', "Die Idee der Zweckmäßigkeit in der Geschichte der Wissenschaften", 28.-30. Mai 1981 in Bamberg.- Weitere Schriften des Verfassers zu einigen in diesem Vortrag angesprochenen Problemen: (1) Zur Zweck-Mittel-Relation in bezug auf wissenschaftliche Methoden und zur neueren Diskussion des Zweckbegriffs in der Wissenschaftstheorie: M. Gatzemeier: Die Abhängigkeit der Methoden von den Zielen der Wissenschaft. Überlegungen zum Problem der "Letztbegründung". Perspektiven der Philosophie 6 (1980), 91-117. (2) Zu den (einzelnen) Kriterien der Wissenschaftlichkeit: M. Gatzemeier: Theologie als Wissenschaft? Bd. 2: Wissenschafts- und lnstitutionenkritik. Stuttgart 1975, bes. S. 96-114. (3) Zur Theorie historischen Forschens: M. Gatzemeier: Systematische und kritische Bemerkungen zur Theorie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: K. Lorenz (Hrsg.): Konstruktionen versus Posi- tionen. Bd. 2: Allgemeine Wissenschaftstheorie. Berlin/New York 1979, S. 278-314.

Zweck und Zweckmäßigkeit in der Wissenschaft

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Page 1: Zweck und Zweckmäßigkeit in der Wissenschaft

BerWissGesch 5,17-23 (1982)

Matthias Gatzemeier

Zweck und Zweckmäßigkeit in der Wissenschaft*

!Berichte zur WISSENSCHAFTS­GESCHICHTE © Akademische Verlagsgesellschaft llJH2

Summary: The following considerations are not of a historical but of a systematic kind, i.e., without mentioning other historical theories, I would like to contribute my ideas on the problems of purposein scientific thought.

The first part concerns itself with the definition of science/knowledge. This will not involve a complete definition but only parts thereof, namely science/knowledge is a sort of theoretical acting which satisfies certain criteria and is therefore consciously or un­consciously always directed by aims and purposes.

On the basis of this minimal definition, the relationship between aims and methods is described in the second part as a relationship between purpose and means: methods are more or less effective means for the realisation of certain aims. The third part contains some distinctions of the problems of purpose, which entail in particular the difference between aims intrinsic and extrinsic to science/knowledge and aims of action and nature.

Schlüsselwörter: Gesellschaft und Wissenschaft, Ideologie, Methodologie (der Wissen­schaft), Teleologie, Wissenschaftsdefinition, Wissenschaftstheorie, Wissenschaft als Hand­lung, Zwecke (interne, externe), ZweckfreiheiL

* Vortrag auf dem XIX. Symposium der ,Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte', "Die Idee der Zweckmäßigkeit in der Geschichte der Wissenschaften", 28.-30. Mai 1981 in Bamberg.- Weitere Schriften des Verfassers zu einigen in diesem Vortrag angesprochenen Problemen:

(1) Zur Zweck-Mittel-Relation in bezug auf wissenschaftliche Methoden und zur neueren Diskussion des Zweckbegriffs in der Wissenschaftstheorie: M. Gatzemeier: Die Abhängigkeit der Methoden von den Zielen der Wissenschaft. Überlegungen zum Problem der "Letztbegründung". Perspektiven der Philosophie 6 (1980), 91-117.

(2) Zu den (einzelnen) Kriterien der Wissenschaftlichkeit: M. Gatzemeier: Theologie als Wissenschaft? Bd. 2: Wissenschafts- und lnstitutionenkritik. Stuttgart 1975, bes. S. 96-114.

(3) Zur Theorie historischen Forschens: M. Gatzemeier: Systematische und kritische Bemerkungen zur Theorie der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, in: K. Lorenz (Hrsg.): Konstruktionen versus Posi­tionen. Bd. 2: Allgemeine Wissenschaftstheorie. Berlin/New York 1979, S. 278-314.

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Vorbemerkung zum Anliegen und zum Gegenstandsbereich der folgenden lÜberlegungen

Die Frage nach dem Zweck der Wissenschaft und dem Zweck in der Wissenschaft ist von der Antike (mindestens seit Platon) bis heute von zahlreichen Autoren (Wissenschaftlern und Philosophen) erörtert worden, und zwar mit recht unterschiedlichen Ergebnissen. Vor allem folgende zwei Positionen lassen sich in dieser Diskussion ausmachen: die Posi­tion der Zweckfreiheit und die These von der (politisch-gesellschaftlichen) Zweckgebun­denheit der Wissenschaft. Diese Alternative bestimmt auch heute noch weitgehend die kontroverse Diskussion der verschiedenen Schulen und Richtungen in der Wissenschafts­theorie. Der Grund für diese Kontroverse liegt in der Unterschiedlichkeit des Wissen­schaftsverständnisses. Deshalb werde ich im 1. Teil das Problem der Definition der Wis­senschaft behandeln. Im 2. Teil wird das (wechselseitige) Verhältnis von Zwecken und Methoden in der Wissenschaft erörtert, und im 3. Teil erfolgt eine Differenzierung und Konkretisierung der Zweckproblematik in der Wissenschaft.

Im Rahmen dieses Kurzvortrages kann ich weder auf die Erörterung der Zweckpro­blematik in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte noch auf die neuere Diskus­sion in der Wissenschaftstheorie eingehen. Das Anliegen meines Vortrages ist nicht ein historisches, sondern ein systematisches. Hierzu eine kurze Erläuterung: historisches Vor­gehen bezieht sich auf das Denken, das Forschen, die Wissenschaft, die Theoriebildung anderer, indem es deren wissenschaftliche Tätigkeit beziehungsweise deren Ergebnisse analysiert, rekonstruiert, in real- und geistesgeschichtliche Zusammenhänge stellt - und damit (mindestens implizit) auch wertet. Ich werde im folgenden nicht historisch argu­mentieren, sondern systematische Überlegungen zur ZwAckproblematik in der Wissen­schaft anstellen; das heißt: olme Hinweis auf das, was andere zu diesem Thema schon ge­sagt haben, werde ich meine Vorstellungen vortragen. Damit übernehme ich selbst die Verantwortung und die Rechenschaftspflicht ftir die Adäquatheit und Richtigkeit meiner Ausführungen (ohne jedoch hiermit die Behauptung zu verbinden, daß meine Ausftih­rungen grundlegend und in allen Details neu wären).

Eine weitere Vorbemerkung betrifft den Gegenstandsbereich meines Vortrages: Ich werde nicht über bestimmte Wissenschaften oder Wissenschaftsgruppen (etwa die Natur­oder die Geisteswissenschaften) sprechen, sondern generell über die Wissenschaft (und das Problem ihrer Zwecke) - und insofern natürlich zugleich über alle Wissenschaften, das heißt über das allen Wissenschaften Gemeinsame.

Zusammenfassend lassen sich hiernach Anliegen und Gegenstandsbereich meiner Über­legungen folgendermaßen skizzieren: Es geht um eine generelle (nicht auf ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis eingeschränkte) systematische (nicht historische) Darlegung der Zweckproblematilc (in) der Wissenschaft.

1. Teil: Die Defmition der Wissenschaft

Das Problem der Definition des Wissenschaftsbegriffes ist so alt wie die Wissenschaft selbst. Ich kann hier weder die unterschiedlichen Positionen der Philosophie- und Wis­senschaftsgeschichte noch die gegenwärtige Diskussion der Wissenschaftstheoretiker dar­stellen. Der Theoretiker (wie übrigens auch der Historiker, der sich mit Wissenschaft be­faßt) steht hier vor einem unlösbar erscheinenden komplexen Dilemma (besser gesagt Multilemma), dessen wichtigste Alternativen sich etwa in folgenden Fragen ausdrücken lassen: 1. Soll er alles, was je unter Wissenschaft verstanden wurde, berücksichtigen? -Dies wäre

ein auswegloses Unterfangen, nicht nur wegen der kaum überschaubaren Quantität der Wissenschaftsverständnisse und -kriterien, vor allem deswegen, weil er dann nicht nur

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unterschiedliche, sondern auch einander ausschließende Merkmale von Wissenschaft akzeptieren müßte; zum Beispiel werden Gesetz und Prognose von einigen Wissenschaf­ten als konstitutiv angesehen, von anderen als inadäquat abgelehnt.

2. Soll man einen bestimmten Wissenschaftsbegriff (etwa den der Naturwissenschaften) herausgreifen und zum Vorbild für alle Wissenschaften erklären? - Wer so (olme nähere Begründung) verfährt, zieht sich, meines Erachtens zu recht, den Vorwurf des Dogmatismus beziehungsweise der Beliebigkeit und Willkür zu.

3. Soll man angesichts dieser Situation auf eine Definition (oder Erläuterung) des Wissen­schaftsbegriffes verzichten? - Dieser Weg (besser Ausweg) ist deshalb nicht gangbar, weil auf diese Weise das Problem nicht gelöst, sondern nur verschleiert wird. Denn (ob als Wissenschaftstheoretiker, als Wissenschaftshistoriker oder als Fachwissenschaftler einer Einzeldisziplin): jeder hat eine bestimmte (wenn auch nicht immer genau defi­nierte) Vorstellung von Wissenschaft, ihren Problemen und Methoden; ohne diese Vor­aussetzung ist wissenschaftliches Arbeiten und Forschen (ganz gleich, auf welchem Ge­biet, ob historisch oder systematisch) nicht möglich und nicht begreifbar. Damit will ich nicht behaupten, daß jedem Wissenschaftler sein Wissenschaftsverständnis stets in allen Einzelheiten bewußt, sozusagen dauernd clare et distincte präsent ist oder sein sollte. Aber es gibt bestimmte Situationen, in denen man nicht umhin kann, sein Wis­senschaftsverständnis zu reflektieren, zu explizieren und (wenn auch nur vorläufig) von anderen Wissenschaften und von nicht-wissenschaftlichem Denken abzugrenzen.- In einer derartigen Situation befinde ich mich jetzt, wenn ich über die Zweckproblematik der Wissenschaft reden will.

Angesichts des eben geschilderten Definitionsdilemmas empfiehlt es sich, nicht mehr zu behaupten, als unbedingt erforderlich ist. Aus dem oben skizzierten Anliegen meines Vor­trages lassen sich folgende zwei Maximen für die Erläuterung meines Wissenschaftsbegrif­fes als unbedingt erforderlich ableiten: 1. der Wissenschaftsbegriff soll möglichst generell, das heißt möglichst auf alle Wissenschaften anwendbar sein, 2. er soll so gefaßt werden, daß er die Möglichkeit bietet, die Zweckproblematik der Wissenschaft zu erörtern (übri­gens wird schon an dieser frühen Stelle metatheoretischer Vorüberlegungen die Bedeutung des Zweckes sichtbar, denn diese beiden Maximen sind ja nichts anderes als in Solleus­sätze gekleidete Zweckfonnulierungen). Von diesen Maximen (oder Zwecken) ausgehend, will ich jetzt einen rudimentären Wissenschaftsbegriff umschreiben, nicht (im strengen Sinne) definieren; es geht mir darum, einige notwendige Bedingungen (nicht eo ipso auch hinreichende Bedingungen) für Wissenschaft darzulegen.

Ich gehe davon aus, das Wissenschaft nicht etwas ist, das der Mensch- sei es im plato­nischen Ideenkosmos, sei es in der Natur -- vorfindet, sondern etwas, das er durch sein Handeln herstellt. Die Art, das Specificum dieses Handeins läßt sich näherhin als sprach­lich-theoretisch bestimmtes Handeln kennzeichnen und damit von anderen Handlungen abgrenzen. -- Für den weiteren Gang meiner Überlegungen ist es unnötig (und es würde in diesem Rahmen auch zu weit führen), die besonderen Kriterien und Qualitäten dieses sprachlich-theoretischen Handeins im einzelnen zu diskutieren (übrigens ergeben sich die besonderen Kriterien der Wissenschaft ebenfalls aus Zwecken, zum Beispiel folgen aus dem Zweck der Verständlichkeit der Kommunikation und der Sicherheit der Erkenntnis die Kriterien der korrekten und genauen Worteinftihrung und -Verwendung, der durch­gängigen Begründung aller Aussagen usw.; vgl. hierzu Nr. 1 und 2 der Literaturhinweise am Anfang). Nur eine zusätzliche Unterscheidung möchte ich noch, um Mißverständnis­sen vorzubeugeq, anfügen: Unter Wissenschaft kann man einerseits dies sprachlich-theo­retische Handeln selbst, andererseits auch die Ergebnisse dieses Handeins verstehen. In der Regel haben wir es, wenn wir uns wissenschaftshistorisch betätigen,mit den Ergebnissen wissenschaftlichen Handeins zu tun: mit Theorien, Texten, Aussagen, Berechnungen,

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Zeichnungen, Instrumenten, Maschinen (usw.). Worauf es mir ankommt, ist, diese "Gegenstände" nicht als Naturprodukte, sondern als Ergebnis menschlichen Handeins (bestimmter Art) zu verstehen.

Diese Deutung der Wissenschaft als theoretisches Handeln bietet - trotz ihrer unver­meidlichen Vagheit - mehrere V orteile: Zum einen genügt sie dem (oben genannten) An­spruch, generell, das heißt auf alle Wissenschaften anwendbar zu sein; sie kann als "con­ditio sine qua non" für die unterschiedlichsten, oft sogar einander ausschließenden Wis­senschaftsdefinitionen und -konzeptionen angesehen werden; denn: was auch immer man im einzelnen unter Wissenschaft versteht (Wissenschaft als Nachvollzug göttlicher Ideen, als Abbild naturgegebener Strukturen, als Denken oder Erkenntnis, als Prognose oder Ex­periment), stets ist sie nur als von Menschen vollziehbar zu denken und damit als mensch­liche Handlung charakterisiert (zum Beispiel ist auch das Auffinden göttlicher Ideen und naturgegebener Strukturen eine Handlung). -- Zum anderen impliziert diese Deutung von Wissenschaft zugleich ihre Zweckproblematik; denn Handlungen (als actus humanus, nicht lediglich als actus hominis) können qua Handlungen nur als zweckorientiert verstan­den werden.

2. Teil: Das Verhältnis von Zweck und Methode in der Wissenschaft

Die angegebene Minimalbestimmung von Wissenschaft läßt die Frage nach den Zwecken nicht nur als angemessen, sondern ftir das Verständnis von Wissenschaft auch als erforder­lich und für die wissenschaftliche Methodenbildung sogar als notwendig erscheinen. Denn wenn Wissenschaft als Handlung verstanden wird, ist die irage nach den Zwecken, Zielen und Absichten auch hier (wie bei jeder Art von Handlung) durchaus angemessen und so­gar erforderlich; denn ein Verständnis von Handlungen (und ihren Ergebnissen) kann nur partiell und unzureichend gelingen, wenn man die Ziele, Absichten und Motive nicht kennt; außerdem - und darauf kommt es mir in diesem 2. Teil an - lassen sich die Methoden der Wissenschaft ohne Bezugnahme auf Zwecke gar nicht sinnvoll diskutieren. Denn Methoden sind - und dies trifft aufjegliches Handeln zu - Mittel und Wege zur Er­reichung eines bestimmten Zieles oder Zweckes. Das gilt auch für das wissenschaftliche Handeln: In der Wissenschaft sind die Mittel des spezifischen theoretischen Handeins Ver­fahrensregeln oder Verfahrensweisen, eben die sogenannten wissenschaftlichen Methoden (daß es in der Wissenschaft auch andere Mittel- zum Beispiel Geräte -gibt, will ich hier nur erwähnen, ohne näher darauf eingehen zu können); hier geht es mir vor allem um die theoretischen Mittel, die Methoden. Nur in bezug auf Zwecke kann entschieden werden, welche methodischen Alternativen gewählt oder verworfen werden sollen. Methoden sind nämlich nicht wahr oder falsch, sondern adäquat oder inadäquat, tauglich oder untaug­lich, zweckmäßig oder unzweckmäßig. Tauglichkeit, Adäquatheit und Zweckmäßigkeit gibt es niemals "an sich", sondern immer nur in bezugauf etwas. Das heißt: nur in bezug auf Ziele und Zwecke läßt sich die Tauglichkeit von Methoden beurteilen. Zwecke sind daher die notwendige Voraussetzung ftir die Erarbeitung von Methoden. Zwecke haben vor den Methoden eine systematische und logische Priorität. Die Methoden der Wissen­schaft sind von ihren Zwecken und Zielen abhängig.

3. Teil: Differenzierung und Konkretisierung der Zweckproblematik in der Wissenschaft

Ich habe bisher nur allgemein und undifferenziert von Zielen, Zwecken und Absichten der Wissenschaft (das heißt des wissenschaftlichen Handelns) gesprochen. Bei näherem Hin­sehen zeigt sich jedoch bald, daß hier einige Unterscheidungen erforderlich sind, um das Problem der Zweckabhängigkeit der Wissenschaft genauer zu umschreiben und konkret anzugeben, wo es in welcher Weise relevant ist.

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Dabei gehe ich von der heute allgemein üblichen Unterscheidung von wissenschafts­externen und wissenschaftsinternen Zwecken aus. Wissenschaftsexterne Zwecke sind sol­che, die von außen an die Wissenschaft herangetragen werden, zum Beispiel von "der Ge­sellschaft", von privaten oder institutionellen Geldgebern (ich verweise nur auf die Wis­senschafts- und Forschungsförderung); ich möchte diese Einflußnahme von außen hier nicht bewerten, sondern nur auf folgendes -in diesem Zusammenhang -hinweisen: daß weite Bereiche der wissenschaftlichen Forschung heutzutage ohne externe Förderung gar nicht möglich wären und daß damit die Wissenschaftsentwicklung nicht allein von der "scientific community" abhängt; und dies gilt nicht nur ftir die Ziele, sondern auch ftir die Entwicklung von Methoden (dazu unten noch mehr).- Wissenschaftsinterne Zwecke sind solche, die sich 1. immanent, aus einem gewissen "inneren Sachzwang", quasi notwendi­gerweise, ergeben (zum Beispiel führt die Bearbeitung bestimmter Probleme in der Regel zu material-logisch implizierten weiteren Problemen, woraus sich eine sachimmanente notwendige Hierarchie von Problemen -und damit zugleich von Zwecken- ergibt); eine 2. Art interner Zwecke ergibt sich (weder aus immanenten Notwendigkeiten, noch aus externen Einflußnahmen, sondern) aus den Absichten der Wissenschaftler (der "scienti­fic community" oder eines einzelnen Wissenschaftlers); Beispiele hierfür wären das Stre­ben nach Einfachheit der Erklärungsmodelle, das Anliegen, Naturprozesse in mathema­tischen Formeln zu beschreiben (und ähnliches).

Diese Unterscheidung von wissenschaftsinternen und -externen Zwecken mag auf den ersten Blick plausibel und unproblematisch erscheinen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß es sich nur um theoretisch zu differenzierende Aspekte eines komplexen Zu­sammenhanges handelt, in dem Externes und Internes keineswegs säuberlich getrennt vor­liegt, sondern sich wechselseitig beeinflußt: Einerseits beeinflussen externe Zwecke den inneren Entwicklungsgang der Wissenschaften, und dies nicht nur zufällig-faktisch, son­dern theoretisch-notwendig; denn wenn die Methoden von den Zielen abhängig sind, dann müssen sich alle Ziele, auch die externen, notwendigerweise auf die Erarbeitung und Wei­terentwicklung von Methoden auswirken; andererseits beeinflussen Wissenschaftsinterna die externe Indienstnahme insofern, als nur solche (externen) Zwecke der Wissenschaft zugemutet werden können, deren Realisierbarkeit abzusehen ist; das heißt: für die jewei­ligen (externen) Zwecksetzungen muß ein Minimum an wissenschaftsinternen Kenntnis­sen (inhaltlicher und methodischer Art) schon verfügbar sein. - Es zeigt sich also, daß eine wechselseitige, oft sehr komplexe und schwer durchschaubare Beeinflussung externer und interner Faktoren unausweichlich ist.

Neben der Unterscheidung externer und interner Zwecke sind weitere Differenzierun­gen angebracht, die ich im folgenden nur kurz aufführen will, ohne sie im einzelnen dis­kutieren zu können:

Von Zwecken wird einerseits in bezug auf die Natur, andererseits in bezug auf das menschliche Handeln gesprochen. Für die Interpretation des Begriffs ,Naturzweck' (,Naturteleologie') gibt es zwei Alternativen, die aristotelische und die kantische: Aristo­teles (oder vielmehr: eine lange, einflußreiche, auf Aristoteles sich berufende Tradition) hatte angenommen, daß die Naturprozesse- und damit die Natur- von sich aus Zwecke verfolgen (erinnert sei hier nur an die Konzeption der Entelechie und an den bekannten Ausspruch: "Gott und die Natur tun nichts umsonst", das heißt zweckfrei). Kant dage­gen entwarf die sogenannte "Als-ob-Teleologie" mit der Begründung, daß die Natur (als "Ding an sich") nicht erkennbar sei und daß man sie schwerlich als selbständig handeln­des Subjekt verstehen könne; das heißt,er schlug vor, die Zweckmäßigkeit der Natur nicht als gegebenes Faktum, sondern als ein regulatives Prinzip der Erkenntnis anzusehen. Nach Kant darf also nicht behauptet werden, daß die Natur zweckmäßig ist, sondern sie darf nur so interpretiert werden, als ob sie zweckmäßig sei, und zwar nicht im Sinne einer

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dem Menschen vorgegebenen, sondern allererst vom Menschen entworfenen Zweck­mäßigkeit. - Für das von mir behandelte Thema ist nicht die aristotelische, sondern (allenfalls) die Karrtische Natur-Teleologie relevant. Die Aristotelische Naturteleologie kann mit der kantischen Argumentation als widerlegt angesehen werden.

In bezug auf das menschliche Handeln kann ebenfalls in mehrerlei Hinsicht von Zwek­ken die Rede sein (wobei ich mich im folgenden nicht auf das Handeln allgemein, sondern nur auf das wissenschaftliche Handeln beziehe). -Die wichtigste Unterscheidung, auf die es mir hier ankommt, ist die zwischen bewußten, überlegten, absichtsvollen Zwecken einerseits und unbewußten (besser vielleicht, um nicht beabsichtigte Assoziationen an die Terminologie Freuds zu vermeiden: ungewußten), nicht absichtlich und nicht überlegt übernommenen Zwecken. Diese Unterscheidung ist wichtig sowohl für das (historisch re­konstruierende) Verständnis als auch für das Problem der (moralisch-praktischen) Be­wertung wissenschaftlichen Handelns. Auf das komplexe und kontrovers diskutierte Pro­blem der Bewertung und der Verantwortung von Wissenschaft möchte ich hier nicht ein­gehen (was übrigens nicht bedeutet, daß ich es nicht für interessant und wichtig halten würde). Aber auch schon für das Verständnis von Wissenschaft (hier nicht allein bezo­gen auf die Ebene der Theorie und der Methodologie, sondern vor allem auf den prak­tisch-pragmatischen Kontext) ist es unerläßlich, nicht nur die "Oberfläche", die greif­baren Daten, Fakten und Ergebnisse zu berücksichtigen, sondern auch die Hintergründe, die Ziele, Zwecke und Motive des wissenschaftlichen Handeins zu eruieren, zu analysie­ren und in historische Kontexte einzuordnen. Und hierfür ist es wichtig zu wissen, ob (interne oder externe) Zwecke bewußt übernommen werden oder nicht.

Unter diesem Aspekt müßte (zum Beispiel) die These von der "naturwüchsigen" Ent­wick.lung der Wissenschaft diskutiert werden, die davon ausgeht, daß faktisch geltende Ziele und Normen durch einen unbewußten Tradierungsprozeß von der Wissenschaft über­nommen werden, ja sogar übernommen werden müssen. Auch bei der (oft ideologisch vor­eingenommen und pauschal diskutierten) Frage nach der "systemstabilisierenden Funk­tion" von Wissenschaft ist dieser Aspekt von Bedeutung: Wenn gezeigt werden kann, daß Wissenschaft nicht zwangsläufig unbewußt und ungerechtfertigt gesellschaftlich vermit­telte Zwecke (etwa ideologischer Art) übernehmen muß, läßt sich die generelle Behaup­tung über die "systemstabilisierende Funktion" aller Wissenschaften nicht halten. Aller­dings kann die Vermutung, daß eine bestimmte Wissenschaft zu bestimmten Zeiten systemstabilisierend gewirkt hat, durchaus ihren gerechtfertigten kritischen Sinn haben, nämlich dann, wenn nachgewiesen werden kann, daß sie (bewußt oder unbewußt) in der Tat ideologische Dienste leistete; in diesem Zusammenhang ist vor allem die Frage interes­sant, ob Wissenschaft wegen des Mangels an bewußter Zielreflexion, etwa gerade dadurch, daß sie Zweckprobleme bewußt ausklammert, politische und ideologische Zwecke und Systeme (gewollt oder ungewollt) favorisiert.

Ich kann diese Fragen und Probleme hier nicht ausdiskutieren, ebensowenig kann ich die Relevanz der Unterscheidung von Einzel- und Globalzwecken oder das Problem des Verbotes oder der Verhinderung bestimmter (externer oder interner) Zwecksetzungen durch wissenschaftsinterne beziehungsweise -externe Institutionen und Machtkonstella­tionen oder noch weitere hierhergehörende Problembereiche erörtern. Lediglich das oft diskutierte Problem der Zweckfreiheit der Wissenschaft soll noch kurz angeschnitten werden: Diese Zweckfreiheit kann nicht als totale Unabhängigkeit der Wissenschaft von jeglichen Zwecken, sondern nur als Freistellung von bestimmten Zwecken verstanden wer­den; denn wenn Wissenschaft als Handeln anzusehen ist, so zählt die Zweckgerichtetheit zu ihren unverzichtbaren internen Konstituentien, und das bedeutet, daß sie zwar partiell Zwecke ablehnen kann, nie aber generell jeglichen Zweck.

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Mit diesem skizzenhaften Abriß wollte und konnte ich nur einen globalen Eindruck da­von vermitteln, wie komplex und mehrschichtig die Zweckproblematik der Wissenschaft ist (wobei ich sicherlich bei weitem nicht alle wichtigen Aspekte ansprechen k01mte ). Ich habe versucht, mit Hilfe einiger Kategorien und Unterscheidungen diese Komplexität ein wenig zu strukturieren. Abschließend möchte ich noch einmal betonen, daß meine Dar­legung im wesentlichen von der Bestimmung der Wissenschaft als (theoretisches) Handeln abhängt und auf dieser Bestimmung aufbaut. Alle weiteren Ausführungen ergeben sich sozusagen als "Corollaria" aus dieser Bestimmung.

Prof. Dr. Mattbias Gatzemeier Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Philosophisches Institut Eilfschornsteinstraße 16 D-5100 Achen