1
Kirche heute 1/2 2016 3 BIBEL Zwei Hannas als Prophetinnen der Heilsgeschichte Die eine nimmt das Magnifikat vorweg, die andere erkennt als eine der ersten den Messias Die erste Hanna der Bibel – ihr Name be- deutet «die Begnadete» – singt ein Loblied, das mehr als ein Entwurf für das Magnifi- kat, den Lobgesang Mariens, ist. Die zweite wirkt als Prophetin im Tempel und preist Gott, als der Säugling Jesus in den Tempel gebracht wird. Das erste Samuelbuch berichtet im ersten Ka- pitel von Hanna, der Mutter Samuels, der später Richter in Israel war und als prophe- tisch-priesterliche Gestalt Saul, den ersten König Israels, und später auch David zum Kö- nig salbte. Samuels Geburt wurde von Hanna lange herbeigesehnt, denn sie war zunächst unfruchtbar, während die andere Frau ihres Mannes, Elkana, viele Kinder hatte. So wurde sie wegen ihrer Kinderlosigkeit ständig gede- mütigt. Nie aber hörte sie auf, für einen Sohn zu beten und darum zum Heiligtum von Silo zu wallfahren. Sie legte im Tempel das Gelüb- de ab, den Sohn – so er ihr denn gegeben würde – dem Heiligtum zu weihen und zu übergeben. Weil sie nur still ihre Lippen be- wegte, meinte der Priester Eli, sie sei betrun- ken und wollte sie wegschicken. Doch als sie sich erklärt hatte, segnete Eli sie. Nach einem Jahr bekam Hanna den ersehnten Sohn. Sa- muel heisst übersetzt «Gott hat gehört». Vorbild für den Lobgesang Marias In 1 Sam 2 bringt Hanna ihren kleinen Sohn Samuel wie versprochen zum Tempel. Dabei singt sie ein Loblied, in dem Gott gepriesen wird, der für eine Umkehrung der bestehen- den Verhältnisse sorgt: Hungrige werden satt, Mächtige erniedrigt, Niedrige erhöht: Mein Herz ist voll Freude über JHWH ... ... Der Bogen der Helden wird zerbrochen, die Wankenden aber gürten sich mit Kraft. Satte müssen sich für Brot verdingen, Hungrige aber werden satt. Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder, doch die Kinderreiche welkt dahin. JHWH tötet und macht lebendig, er führt hinab ins Totenreich und wieder hinauf. JHWH macht arm und macht reich, er erniedrigt und er erhöht. Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub, und erhebt den Armen, der im Schmutz liegt. Er gibt ihm einen Sitz bei den Edlen, einen Ehrenplatz weist er ihm zu. Dieser Hymnus hat das Muster gebildet für das Loblied Marias, das Magnifikat (Lk 1,46– 55), das heute noch täglich in der Vesper, im Stundengebet der Kirche, rezitiert wird. Hanna und Simeon Über die neutestamentliche Hanna wissen wir wesentlich weniger. In Lukas 2 wird nur berichtet, dass sie bei der Darstellung Jesu im Tempel von Jerusalem zusammen mit einem Mann namens Simeon anwesend war. Von diesem ist ein Psalm überliefert, der im Stun- dengebet der Kirche in der abendlichen Komplet seinen festen Platz hat. Anders als Simeon wird jedoch Hanna ausdrücklich Prophetin genannt. Auch hat sie ein Loblied auf das neugeborene Kind angestimmt, des- sen Text jedoch nicht aufgeschrieben ist. Es heisst von ihr lediglich: «Und da war auch eine Prophetin, Hanna, eine Tochter Penuels, aus dem Stamm Ascher. Sie war schon hochbetagt. Nach ihrer Zeit als Jungfrau war sie sieben Jahre verheiratet und danach Witwe gewesen bis zum Alter von 84 Jahren. Sie verliess den Tempel nie, weil sie Tag und Nacht Gott diente mit Fasten und Be- ten. Und zur selben Stunde trat auch sie auf und pries Gott und sprach von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten» (Lk 2,36–38). Offizielle Rolle als Prophetin Während von Simeon nur gesagt wird, er sei gottesfürchtig und warte auf das Heil Israels, wird Hanna explizit mit dem Titel Prophetin vorgestellt. Aus dem Alten Testament sind sieben Prophetinnen bekannt, im Neuen Tes- tament werden ebenfalls mehrere Prophetin- nen erwähnt. Eine Prophetin oder ein Pro- phet hat die Aufgabe, die Zeichen der Zeit im Lichte Gottes zu deuten und damit bei wich- tigen Ereignissen dem Volk Klarheit zu ver- schaffen. Genau dies tat Hanna, indem sie zu allen sprach, «die auf die Erlösung Jerusalems warteten». Was sie genau sagte, wüssten wir gern, aber der Text führt das nicht aus. Dem Evangelisten Lukas scheint der Mann Simeon wichtiger gewesen zu sein als die Prophetin, die offiziell ihr Leben im Tempel von Jerusalem verbrachte und dort öffentlich reden konnte. Sie tritt in einer wichtigen Si- tuation im Leben Jesu auf. Ihre Stellung im Text lässt jedoch eine Entwicklung sichtbar werden, die bereits in den späteren Schriften des Neuen Testaments – Lukas schreibt um das Jahr 90 – Frauen den Männern nachstellt. In der Liturgie des Festes «Darstellung des Herrn» ist die Lesung des Lobgesangs Sime- ons Pflicht, während der Absatz über Hanna wahlweise angehängt werden kann. Das ent- spricht nicht der biblisch bezeugten Bedeu- tung von Frauen in Prophetie und Verkündi- gung. Helen Schüngel-Straumann FRAUEN IN DER BIBEL Mit diesem Beitrag schliesst die Bibelwissen- schaftlerin Helen Schüngel-Straumann die Reihe mit biblischen Frauengestalten ab. Alle Beiträge der Reihe finden sich als Sammlung unter www.kirche-heute.ch. The Yorck Project/Hamburger Kunsthalle «Sie pries Gott und sprach von ihm zu al- len, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.» Simeon trägt das Kind auf seinen Armen, aber Hanna (stehend) hat ihren Platz im Bild von Rembrandt.

Zwei Hannas als Prophetinnen der Heilsgeschichte · 2019. 3. 25. · Stundengebet der Kirche, rezitiert wird. Hanna und Simeon Über die neutestamentliche Hanna wissen wir wesentlich

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • K i r c h e h e u t e 1/ 2 2 0 1 6 3

    B I B E L

    Zwei Hannas als Prophetinnen der HeilsgeschichteDie eine nimmt das Magnifikat vorweg, die andere erkennt als eine der ersten den Messias

    Die erste Hanna der Bibel – ihr Name be-deutet «die Begnadete» – singt ein Loblied, das mehr als ein Entwurf für das Magnifi-kat, den Lobgesang Mariens, ist. Die zweite wirkt als Prophetin im Tempel und preist Gott, als der Säugling Jesus in den Tempel gebracht wird.

    Das erste Samuelbuch berichtet im ersten Ka-pitel von Hanna, der Mutter Samuels, der später Richter in Israel war und als prophe-tisch-priesterliche Gestalt Saul, den ersten König Israels, und später auch David zum Kö-nig salbte. Samuels Geburt wurde von Hanna lange herbeigesehnt, denn sie war zunächst unfruchtbar, während die andere Frau ihres Mannes, Elkana, viele Kinder hatte. So wurde sie wegen ihrer Kinderlosigkeit ständig gede-mütigt. Nie aber hörte sie auf, für einen Sohn zu beten und darum zum Heiligtum von Silo zu wallfahren. Sie legte im Tempel das Gelüb-de ab, den Sohn – so er ihr denn gegeben würde – dem Heiligtum zu weihen und zu übergeben. Weil sie nur still ihre Lippen be-wegte, meinte der Priester Eli, sie sei betrun-ken und wollte sie wegschicken. Doch als sie sich erklärt hatte, segnete Eli sie. Nach einem Jahr bekam Hanna den ersehnten Sohn. Sa-muel heisst übersetzt «Gott hat gehört».

    Vorbild für den Lobgesang MariasIn 1 Sam 2 bringt Hanna ihren kleinen Sohn Samuel wie versprochen zum Tempel. Dabei singt sie ein Loblied, in dem Gott gepriesen wird, der für eine Umkehrung der bestehen-den Verhältnisse sorgt: Hungrige werden satt, Mächtige erniedrigt, Niedrige erhöht:Mein Herz ist voll Freude über JHWH ...... Der Bogen der Helden wird zerbrochen,die Wankenden aber gürten sich mit Kraft.Satte müssen sich für Brot verdingen,Hungrige aber werden satt. Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder,doch die Kinderreiche welkt dahin. JHWH tötet und macht lebendig,er führt hinab ins Totenreich und wieder hinauf.JHWH macht arm und macht reich,er erniedrigt und er erhöht.Den Schwachen hebt er empor aus dem Staub,und erhebt den Armen, der im Schmutz liegt.Er gibt ihm einen Sitz bei den Edlen,einen Ehrenplatz weist er ihm zu.

    Dieser Hymnus hat das Muster gebildet für das Loblied Marias, das Magnifikat (Lk 1,46–55), das heute noch täglich in der Vesper, im Stundengebet der Kirche, rezitiert wird.

    Hanna und SimeonÜber die neutestamentliche Hanna wissen wir wesentlich weniger. In Lukas 2 wird nur berichtet, dass sie bei der Darstellung Jesu im

    Tempel von Jerusalem zusammen mit einem Mann namens Simeon anwesend war. Von diesem ist ein Psalm überliefert, der im Stun-dengebet der Kirche in der abendlichen Komplet seinen festen Platz hat. Anders als Simeon wird jedoch Hanna ausdrücklich Prophetin genannt. Auch hat sie ein Loblied auf das neugeborene Kind angestimmt, des-sen Text jedoch nicht aufgeschrieben ist. Es heisst von ihr lediglich:

    «Und da war auch eine Prophetin, Hanna, eine Tochter Penuels, aus dem Stamm Ascher. Sie war schon hochbetagt. Nach ihrer Zeit als Jungfrau war sie sieben Jahre verheiratet und danach Witwe gewesen bis zum Alter von 84 Jahren. Sie verliess den Tempel nie, weil sie Tag und Nacht Gott diente mit Fasten und Be-ten. Und zur selben Stunde trat auch sie auf und pries Gott und sprach von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten» (Lk 2,36–38).

    Offizielle Rolle als ProphetinWährend von Simeon nur gesagt wird, er sei gottesfürchtig und warte auf das Heil Israels, wird Hanna explizit mit dem Titel Prophetin vorgestellt. Aus dem Alten Testament sind sieben Prophetinnen bekannt, im Neuen Tes-tament werden ebenfalls mehrere Prophetin-nen erwähnt. Eine Prophetin oder ein Pro-phet hat die Aufgabe, die Zeichen der Zeit im Lichte Gottes zu deuten und damit bei wich-

    tigen Ereignissen dem Volk Klarheit zu ver-schaffen. Genau dies tat Hanna, indem sie zu allen sprach, «die auf die Erlösung Jerusalems warteten». Was sie genau sagte, wüssten wir gern, aber der Text führt das nicht aus.

    Dem Evangelisten Lukas scheint der Mann Simeon wichtiger gewesen zu sein als die Prophetin, die offiziell ihr Leben im Tempel von Jerusalem verbrachte und dort öffentlich reden konnte. Sie tritt in einer wichtigen Si-tuation im Leben Jesu auf. Ihre Stellung im Text lässt jedoch eine Entwicklung sichtbar werden, die bereits in den späteren Schriften des Neuen Testaments – Lukas schreibt um das Jahr 90 – Frauen den Männern nachstellt. In der Liturgie des Festes «Darstellung des Herrn» ist die Lesung des Lobgesangs Sime-ons Pflicht, während der Absatz über Hanna wahlweise angehängt werden kann. Das ent-spricht nicht der biblisch bezeugten Bedeu-tung von Frauen in Prophetie und Verkündi-gung. Helen Schüngel-Straumann

    F R A U E N I N D E R B I B E L

    Mit diesem Beitrag schliesst die Bibelwissen-schaftlerin Helen Schüngel-Straumann die Reihe mit biblischen Frauengestalten ab. Alle Beiträge der Reihe finden sich als Sammlung unter www.kirche-heute.ch.

    The

    Yorc

    k Pr

    oje

    ct/H

    amb

    urg

    er K

    un

    sth

    alle

    «Sie pries Gott und sprach von ihm zu al-len, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.» Simeon trägt das Kind auf seinen Armen, aber Hanna (stehend) hat ihren Platz im Bild von Rembrandt.