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TÜBINGEN Samstag, 29. Februar 2020

m 11 Uhr riecht es in der of-fenen Küche der Wohnge-meinschaft (WG) intensivnach Zwiebeln. NicoleFrenzen schnippelt Gemü-se und Obst fürs Mittages-

sen. Weil das TAGBLATT zu Besuch ist,bekommt sie an diesem Vormittag keineHilfe von einem der sechs WG-Bewohner.Lise Strayle zeigt lieber ihr 14 Quadratme-ter großes Zimmer. An die Türe hat siezwei bunte Drachen ihres Enkels geklebt.An der Wand hängt ein Fotokalender mitBildern von der Familie. Ein Kleider-schrank, eine selbst gemachte Patch-work-Decke auf dem Bett, auf dem Tischein großer Fernseher vervollständigendie Einrichtung.

Lange hat Lise Strayle, die ihr Alter mit82 Jahren angibt, mit ihrem Mann und derFamilie in Betzingen gelebt, hat „dies unddas gearbeitet“ in ihrem Leben. Nach demTod ihres Mannes ist sie nach Tübingengezogen, weil hier ihr Sohn mit Familiewohnt. Seit Herbst 2019 lebt sie in der ers-ten „selbstverantworteten“ Pflege-WGTübingens im Güterbahnhof-Areal. „Dasist ein gutes Miteinander hier“, sagt sie,„und wir gucken aufeinander“.

Unter den sechs Bewohnern ist HerradSchlotz „die gute Seele“. Sie nimmt DorisTraub in den Arm, wenn diese traurig ist,und lässt sich das zärtliche Berühren vonPhilippo Badami gefallen, der gerne ne-ben ihr sitzt. Sie gab nach dem Tod ihresMannes ihre 5-Zimmer-Wohnung in BadMergentheim auf und zog zu den beidenTöchtern nach Tübingen. Die Entschei-dung, in die WG zu ziehen, „ist mir nichtschwergefallen“, sagt die 83-Jährige. Her-rad Schlotz ist in einer Familie mit siebenGeschwistern aufgewachsen, hat selbervier Kinder und zwei Pflegekinder groß-gezogen und fühlt sich wohl in der WG.„Wir sind sehr verschieden“, sagt HerradSchlotz. „Aber ich mag alle, und meinZimmerle liebe ich, da kann ich mich ein-fach zurückziehen.“

Rückzugsecken gibt es auch in demgroßzügigen Gemeinschaftswohnbe-reich. Am Fenster mit Blick auf die Ter-rasse und den Innenhof steht nicht nurder lange Eichentisch, den der Vermieter– die Nestbau AG – der WG zur Verfü-

Ugung gestellt hat, sondern auch ein Sofa.Hier hat es sich am Spätvormittag Irm-traud Buttler mit einem Buch bequem ge-macht. Sie zog um die Weihnachtszeit ein.Zwei Töchter von ihr leben in Tübingen.Sie selbst kommt aus Hildesheim, hat dortReligion und Deutsch unterrichtet undmit ihrem Mann gelebt. „Er fehlt mirsehr“, sagt sie und zeigt in ihrem Zimmerauf ein Erinnerungsstück, an dem sie sehrhängt: Es ist eine polnische Holzschnitze-rei, die sie mit ihrem Mann auf einer Reisein Polen erstanden hat.

Was die Wohnform anbetrifft, „bin ichnoch am Ausprobieren“, sagt die 83-Jähri-ge. Wenn es ihr nicht gefalle, könne sie je-derzeit wieder ausziehen. Schön findetsie am WG-Leben, dass alle mittags undabends gemeinsam essen. Und NicoleFrenzen freut sich, dass niemand mit demEssen anfängt, bevor nicht alle am Tischsitzen. Frenzen ist Alltagsbegleiterin inder WG. Sie macht derzeit nebenher dieAusbildung dazu. Obwohl sie von der Be-zahlung „nicht leben kann“, freut sie sichüber ihren neuen Job in der WG. Nach 26Jahren als Physiotherapeutin „habe ich

jetzt endlich Zeit“, sagt sie. Zeit, um mitden Bewohnern zu kochen und zu backen,um mit ihnen zu spielen oder auch mal ei-ne Dekoration zu basteln. Sie freut sichüber das „schöne Umfeld“ und sagt: „Ichwünsche mir, im Alter so leben zu dür-fen.“

Die Anfänge in der Pflege-WG warennicht einfach. Zwischen Frühjahr und Ok-tober 2019 „haben wir uns bestimmt 44mal getroffen“, berichtet Barbara Paß.„Wir“ – das ist das Bewohnergremium,das sich aus Angehörigen zusammen-setzt. Es hat mit Hilfe des Vereins „Mittenim Leben“ das WG-Projekt gestartet. Da-bei war lange unklar: Soll die WG von ei-nem festen Träger betrieben werden –wie beispielsweise die beiden Pflege-WGs von Vinzenz von Paul an der Am-mer? Oder soll es eine selbst verwalteteWG nach dem Vorbild von Kiebingensein? Zwischen dem ersten Treffen im No-vember 2018 und dem Start im Herbst2019 gab es „Zitterpartien“, sagt die Spre-cherin Barbara Paß. Als das Bewohner-gremium die ersten vier von acht Mietin-teressenten beieinander hatte, starb einerdavon, ein anderer zog weg. Auch jetztsind noch zwei Zimmer unbelegt. „In derersten Phase startet keine WG mit Vollbe-setzung“, sagt Ralf Deininger vom Verein„Mitten im Leben“. Um so ein Projektzum Laufen zu bringen, müsse man mitmindestens fünf Monaten rechnen. Ge-holfen hat den Betreibern dabei die Un-terstützung von Landkreis und Stadt. DerKreis fördert die WG mit 20 000 Euro, dieStadt bisher mit knapp 5000 Euro.

Als ambulanten Pflegedienst für alleBewohner hat das Gremium den Sozial-dienst Vinzenz von Paul ins Boot geholt.Die monatlichen Kosten für jedes einzel-ne WG-Mitglied setzen sich zusammenaus der Miete von 410 Euro plus 90 EuroNebenkosten, aus dem Haushaltsgeld(zirka 250 Euro), der Bezahlung der All-tagsbegleiter, die in Schichten 24 Stundenin der WG präsent sind, und den Pflege-leistungen (zirka 1580 Euro) nebst Reini-gungskosten für die Gemeinschaftsflä-chen und Kehrwoche. In der Regel mussjeder Bewohner zirka 2500 Euro im Mo-nat bezahlen, sagt Wolfgang Löffler,Schwiegersohn von Philippo Badami.

Um dies alles, auch um die Belegung,kümmern sich die Angehörigen zusammenmit dem Pflegedienst selbst. Ein Angehöri-ger „ist unser Finanzminister“, sagt Löfflerund lacht, ein anderer kümmert sich umReparaturen in der Wohnung. „Dieses Be-wohnergremium ist besonders engagiert“,lobt Monika Rohlfs von der SozialstationVinzenz von Paul.

Zwei Grenzen, so Rohlfs, gibt es aber fürdas Wohnen in der Pflege-WG. Für Men-schen mit einer Demenz und starker Weg-lauf-Tendenz oder für Personen, die eineBehandlungspflege von Fachkräften in derNacht benötigen, sei die Pflege-WG in derEisenbahnstraße 47 nicht geeignet. Grund-sätzlich aber sei die WG „keine Vorstufe,sondern eine Alternative zum Pflegeheim“.

Um 12 Uhr sitzen fast alle WG-Bewoh-ner am langen Tisch. Nach einem gemein-samen Tischgebet lassen sich HerradSchlotz und ihr Tischnachbar Philippo Ba-dami den Salat und den Gemüseauflaufschmecken. Barbara Paß, die Tochter vonSchlotz, lacht und erzählt: „Wenn ich dannzu Besuch komme und frage: Was hat esdenn heute zum Essen gegeben, schaue ichoft in fragende Gesichter“. Ein Besuch beiihrer Mutter, sagt sie, bedeute: „Ich kommealle besuchen.“

Ein gutes Miteinanderim neuen QuartierSeniorenwohnen Wie lebt es sich in einer selbst verwaltetenPflege-Wohngemeinschaft? Im neuen Güterbahnhof-Viertelgewährten Bewohner und Angehörige Einblicke. Von Christiane Hoyer

Info Für Spaziergänge undUnternehmungen mit denPflege-WG-Bewohnern suchtder Verein „Mitten im Leben“noch Ehrenamtliche.Kontakt: 0 70 71/ 549 4194;[email protected]

Ich wünschemir, im Alter so

leben zu dürfen.Nicole Frenzen, Alltagsbegleiterin

Ein Besuch beimeiner Mutter

bedeutet: Ich kommealle besuchen.Barbara Paß, WG-Sprecherin

Das täglicheMittagessen um12 Uhr ist inder WG einkommunikativerTreffpunkt amlangenEichentisch. DieAlltagsbegleiterinNicole Frenzen(rechts mitSchürze) bereitetes mit zeitweiligerBewohner-Hilfezu.

Bild oben:Wolfgang Löfflermit seinemSchwiegervaterPhilippo Badami.Links: HerradSchlotz in ihremZimmer .Bilder: Klaus Franke

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SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 29.2.2020

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