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Publikation: tbhb Pagina: 29 Ist-Farben: cmyk0Ressort: tb-sk Erscheinungstag: 28. 10. 2014 MPS-Planfarben: cmyk

Dienstag, 28. Oktober 2014 OstschweizerKultur 29

Bild: Timo Ullmann

Wieder auf Tour: Das Trio Noisy Minority und Roy Anderson.

Böhmische Visitenkartenin der Tonhalle St. GallenBETTINA KUGLER

ST. GALLEN. Sonntags um Fünf:diesen Termin bespielt das Sin-fonieorchester St. Gallen schonseit geraumer Zeit – bislang mitKammermusik-Formationen ausden eigenen Reihen. Neu hin-gegen ist jetzt das Sonntags-Aboin grosser Orchesterbesetzung.Das Angebot entspricht ganzoffensichtlich einem Bedürfnis:den für Familie und Freundereservierten freien Tag mit Mu-sik, einem Konzertbesuch abzu-runden. Ohne die werktäglicheHektik, die abends oft schwerabzustreifen ist. So staute sichalso am vergangenen Sonntagum Fünf noch die Schlange derSpontanen vor der Abendkasse,bis die Tonhalle ausverkauft war.

Herbstlich warmes Timbre

Dabei lockte wohl auch derProgrammschwerpunkt Böh-men, mit Smetanas «Moldau»prominent plakatiert: ein Reper-toire, welches das Sinfonieor-chester St. Gallen in den Jahrenunter Chefdirigent Jiri Kout zuschätzen und farblich höchst nu-anciert zu spielen gelernt hat.Der Pole Michal Dworzynskials Gast am Pult traf daher aufeinen gut präparierten, mit derslawischen Musiksprache des

19. Jahrhunderts bestens ver-trauten Klangkörper – was auchdem «modernsten» Werk, Marti-nus «Rhapsody Concerto» fürViola und Orchester, zugute kam.

Moldau-Magie

Den Auftakt machte Smetanas«Vltava», die viel gespielte «Mol-dau» aus dem Zyklus «Mein Va-terland»: präzis im Zusammen-spiel, mit teils etwas voreiligengrossen Crescendi und insge-samt frischem, aufmerksamemBlick auf «Böhmens Hain undFlur». Die markanten Szenenund Stationen brachte das Or-chester effektvoll zum Leuchten– etwa den magischen Momentder tanzenden Nymphen.

Mit Martinus «Rhapsody»setzte sich die lyrische Spielartdes böhmischen Nationalstolzesfort. Geradezu sehnsüchtigklingt sie im herbstlich warmenTimbre der Bratsche von Law-rence Power; virtuose Passagenbaut er organisch in das sang-liche Werk ein – den dritten Satzvon Dvoraks 6. Sinfonie vorweg-nehmend. Hier zeigte das Sinfo-nieorchester St. Gallen ein weite-res Mal so mitreissend wie zarteinnehmend die musikalischeVisitenkarte Böhmens: im tänze-risch gaukelnden «Furiant» an-stelle des klassischen Scherzo.

Aufmüpfig und humorvollDas freigeistige Jazz-Trio Noisy Minority hat bald zwanzig Jahre auf dem Buckel, will aber von Routinenichts wissen. Nun geht die tollkühne Truppe zum drittenmal mit dem Tausendsassa Ray Anderson auf Tour.

TOM GSTEIGER

Das Zürcher Trio Noisy Minorityhat es wahrlich nicht nötig, sichmit fremden Federn zu schmü-cken: Altsaxophonist Omri Zie-gele, Elektrobassist Jan Schlegelund Schlagzeuger Dieter Ulrichsind selber bunte, schräge Vögel.So steckt hinter der Zusammen-arbeit mit US-Posaunist RayAnderson kein kommerziellesKalkül, sondern das gegenseitigeInteresse an freudvollen musika-lischen Duellen, aus denen alleals Sieger hervorgehen.

Nachhaltige Hurra-Stimmung

2012 trafen Schlegel und Ul-rich im Rahmen eines vom LabelIntakt organisierten Festivals inJohn Zorns Club Stone in NewYork auf Ray Anderson, um freizu improvisieren. Dieses Konzertlöste eine nachhaltige Hurra-Stimmung aus: Anderson fliegtnun zum drittenmal über denAtlantik, um mit Noisy Minorityauf Tour zu gehen. Ziegele kom-mentiert: «Es war von Anfang anwunderbar – musikalisch, aberauch menschlich. Ray hat eineArt von Humor, die mir sehr ent-gegenkommt.» Für Ziegele ist diePosaune die ideale instrumen-

tale Ergänzung: «Sie klingt nichtso grell wie eine Trompete undkommt dem Altsax vom Ton-umfang her nicht in den Weg.Und sie bildet ein Verbindungs-glied zum Bass.» Zuvor hatte Zie-gele das Potenzial von Altsax undPosaune bereits in einem Projektmit dem deutschen PosaunistenChristof Thewes ausgelotet: AmUnerhört-Festival in der RotenFabrik in Zürich trafen 2008 dieTrios Noisy Minority und Squakkaufeinander.

Unglaubliche Dialogfähigkeit

Der 1952 in Chicago geboreneAnderson kam trotz seiner weis-

sen Hautfarbe relativ jung inKontakt mit der afro-amerikani-schen Avantgarde-BewegungAACM; Ende der 70er-Jahremachte er bei Auftritten mit demQuartett des damals viel beach-teten Visionärs Anthony BraxtonFurore, um schliesslich mit denSlickaphonics und dem TrioBass-Drum-Bone durchzustar-ten. Ziegele über Anderson: «Erist sehr schnell und agil und ver-fügt über eine unglaubliche Dia-logfähigkeit, sein Spiel ist offenangelegt. Er motiviert uns zuneuen Spielarten.» Für das hel-vetische Jazzorakel Peter Rüediist Anderson der «vielseitigste,

lustigste und nachhaltigste Po-saunist seiner Generation».

Das Trio wird sich mit Ander-son weder total frei improvisie-ren noch sich gemütlich im Jam-Session-Modus einrichten. Viel-mehr wird es darum gehen, dasabenteuerlustige Noisy-Mino-rity-Prinzip auf die erweiterteFormation zu übertragen. Ziege-le erklärt: «Ich habe für die Grup-pe sehr viel Material geschrieben– das reicht von elegischen Balla-den bis zu ziemlich abstraktenSachen. Wenn wir proben, gehtes darum, die Stücke zu nageln,wobei es auch vorkommen kann,dass ich gewisse Sachen streicheoder auswechsle. Vor dem Kon-zert wird abgemacht, welchesMaterial in Frage kommt. Damitspielen wir dann. Wenn jemandetwas anzieht, können die ande-ren mitziehen, aber sie müssennicht. So passieren immer wie-der Dinge, die man sich zuvorgar nicht vorstellen konnte. Dasist sehr stimulierend und führtzu höchster Expressivität.»

Noisy Minority & Ray Anderson:So, 2.11., 17 Uhr, Centrum DKMS,St. Gallen; Ziegele & Anderson &Hemingway: So, 9.11., 17 Uhr,Schloss Wartegg, Rorschacherberg

«Explosive, geniale Mischung»Am Samstag rocken Crazy Diamond St.Gallen. Bandleader Üse Junger über Gegenwart und Zukunft der bekanntestenSchweizer Pink-Floyd-Coverband, seine Velotour quer durch Amerika und das bevorstehende neue Album seiner Idole.THOMAS GRIESSER KYM

Herr Junger, im August habenCrazy Diamond zwei ausverkaufteKonzerte in Augusta Raurica ge-spielt, als Reverenz an Pink FloydsAuftritt 1972 in Pompei. Was wardas Besondere an diesen Shows?Üse Junger: Die Ambiance indiesem historischen römischenTheater mit seinem Halbrund.Es war eine einmalige, phantas-tische Kulisse für die je 1850 Zu-schauer, aber auch für die Bandmit diesem Blick ins Publikum.

Nächsten Frühling veröffentlichenCrazy Diamond eine Doppel-CDsamt Bonus-DVD von diesen Kon-zerten. Zur Finanzierung habenSie sich auch des Crowdfundingsbedient. Warum?Junger: Wir haben gewusst, dassdiese Produktion mit 40 000Franken sehr teuer wird und wirdas unmöglich allein stemmenkönnen. Wir geben zwar relativgrosse Konzerte, aber die gesam-ten Einnahmen werden reinves-tiert. So entstand die Idee desCrowdfundings.

Mit diesem Spendenaufruf wolltedie Band 10000 Franken einsam-meln, herausgekommen ist aber gutdreimal so viel. Überwältigt?Junger: Wir hatten schon aufetwas mehr als 10 000 Frankengehofft, aber dass es dann so vielwurde, ist schlicht sensationell.Die Produktion ist von Anfang ansehr aufwendig und ausgefeiltgeplant gewesen, aber nun ha-ben wir auch die Gewissheit,dass wir alle, die daran mitarbei-ten, fair bezahlen können.

Ende 2013 haben Sie unter demNamen Younger ein Soloalbumnamens «Heaven Calls» veröffent-licht. Was gab den Anstoss dazu?Junger: Als Crazy Diamond ko-pieren wir Pink Floyd, und auchwenn wir das noch so gut tun – esbleibt eine Kopie. Das hat michangefangen zu wurmen, und ichhabe mich gefragt, ob ich auchselber Songs komponieren kann.

Um die CD zu promoten, sind Sieim Frühling mit dem Velo während47 Tagen 5218 Kilometer von LosAngeles nach New York geradeltund haben unterwegs bei Radio-stationen angeklopft. Wie lief es?Junger: Vor meiner Abreise ha-ben mir ein paar Leute gesagt:Vergiss es, ohne Plattenvertragwird dich dort keine Radiosta-tion spielen. Ein paar haben esaber doch getan, und ich habeauch live ein paar Interviews ge-geben. Aber klar, der ganz grossePaukenschlag ist ausgeblieben.

Und welche Erfahrung haben Sievon der Reise an sich mitgebracht?Junger: Ich konnte zwei meinerLeidenschaften verbinden: Mu-sik und Velofahren. Was michbeschäftigt hat, waren die vielenObdachlosen. Selber war ich ex-trem fit, weil ich auch viel trai-niert hatte. Und ich war auchziemlich schnell, weil ich jedenTag von Hunden verfolgt wurde.

In Kürze erscheint mit «The EndlessRiver» ein neues Pink-Floyd-Album,das vor allem aus instrumentalenÜberbleibseln der 1993er-Sessionsfür die Platte «The Division Bell»besteht. Was erwarten Sie davon?Junger: Ich bin gespannt-skep-tisch. Zum einen freue ich michsehr, dass es noch einmal neuesPink-Floyd-Material gibt. Zumanderen ist es sehr schade, dasses die drei noch lebenden Band-mitglieder nicht geschafft ha-ben, sich noch einmal zusam-menzuraufen, denn Roger Wa-ters ist ja nicht involviert. Mitihm hätte es eine explosive, abergeniale Mischung ergeben. Unddann enthält das neue Album jaleider nur einen einzigen gesun-genen Song, und mir sind Stim-men halt schon extrem wichtig.

Roger Waters ist von 2010 bis2013 mit «The Wall» um die Weltgetourt. Sie haben 15 dieser Showsgesehen. Ihr Fazit?Junger: Es war schlicht sensatio-nell. Ich konnte nicht genug be-kommen und habe jedesmal wie-

der etwas Neues entdeckt. DieBand und die Techniker sind mitder Zeit gewachsen und habensich entwickelt, und «The Wall»ist ja auch ein grosses Werk.

Nach welchen Kriterien nehmenCrazy Diamond Pink-Floyd-Songsin ihr Repertoire auf?Junger: Das ist oft ein demokrati-scher Prozess. Wir hören uns einpaar Songs an und entscheiden,was uns gefällt. Dann müssenwir noch beurteilen, ob das wohlauch beim Publikum ankommt.

Nach vier Jahren spielen CrazyDiamond wieder in der Graben-halle in St.Gallen. Welche Lecker-bissen werden den Fans serviert?Junger: Wir haben einige neueSongs im Repertoire. Zum Bei-

spiel vom «Animals»-Album«Pigs», ein Geheimfavorit vielereingefleischter Floyd-Fans. Dannhaben wir auch bei unsererLicht- und Videoshow noch ei-nen rechten Zacken zugelegt.

Crazy Diamond gibt es nun seit13 Jahren. Wohin geht die Reise?Junger: Gefühlsmässig würde ichsagen, wir haben vielleicht dieerste Halbzeit gespielt. Wir wol-len schon noch ein paar Dingeerreichen: Wir möchten grössereOpen-Airs spielen, mehr Präsenzin der lateinischen Schweiz, undlängst überfällig ist der erste Auf-tritt im Ausland. Für alle Band-mitglieder ist Crazy Diamondnicht der Beruf, sondern einHobby. Und das Feuer brenntnoch immer.

Crazy Diamond live: GrabenhalleSt.Gallen, 1. November, 21 Uhr.Tickets (30 Franken) unterwww.starticket.ch

Das Beste aus FumettoWEINFELDEN. Die prämiertenWerke des Internationalen Co-mix-Festivals Fumetto zum The-ma «Genuss oder Sucht» sindjetzt am Hauptsitz der Perspek-tive Thurgau zu sehen.Vernissage: Heute Di, 17–19 Uhr,Schützenstrasse 15

Autor im Thurgauund in der WeltGOTTLIEBEN. Jochen Kelter istdurch Gedichte, Essays und ei-nen Roman hervorgetreten. Vorallem als Lyriker zählt er seit lan-gem zu den wichtigen Stimmenim deutschsprachigen Raum.«Hier nicht wo alles herrscht»,der neue Gedichtband des ehe-maligen Bodmanhaus-Leiters,wird selbstverständlich im Bod-manhaus vorgestellt. Der 1946 inKöln geborene Kelter hat Litera-tur- und Sprachwissenschaftstudiert und lebt in Ermatingen.Er engagiert sich auch auf politi-scher Ebene für den Schriftstel-lerberuf. Seine Lyrik und Prosasind vielfach mit Preisen be-dacht worden. (red.)

Do, 30.10., 20 Uhr, Bodmanhaus

Bild: pd

«Wir haben einige neue Songs im Repertoire»: Der 44jährige ÜseJunger, Gründungsmitglied und Bandleader von Crazy Diamond.

Gefühlsmässig würdeich sagen, wir haben

vielleicht die ersteHalbzeit gespielt.

Anders reagieren– aber wie?WEINFELDEN. Leonie und Rahelsind gute Freundinnen – bisRahel von Leonie schwer ent-täuscht wird. Sie rächt sich imNetz, löst eine Lawine von Ereig-nissen mit tragischen Folgenaus. Rückblickend wünschtensich Freunde, Eltern, Mitschüle-rinnen, Lehrer, sie hätten sichanders verhalten – nur wie? ImForumtheater kann das Publi-kum das Verhalten der Figurenunter die Lupe nehmen undandere Handlungsweisen aus-probieren. Das Theater Bilitz willmit «zOFF!net» für die Schwie-rigkeiten und Gefahren im Um-gang mit dem Internet sensibili-sieren – mit Anstössen und Anre-gungen statt Rezepten. (red.)

Do, 30.10., 20.15 Uhr, Theaterhaus

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