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im aktuellen Heft bieten wir Ihnen ei-nen bunten Strauss von Beiträgen ausdem Bereich der systemischen Thera-pie und Beratung, nachdem die letztenbeiden Hefte themengebunden waren.Sie erinnern sich: In Heft 4/99 stelltenwir unterschiedliche Konzepte syste-mischer Selbsterfahrung vor, und im 1.Heft, das die Zahl 2000 trägt, fandenSie Beiträge zur systemischen Bera-tung und Therapie in unterschiedlichenkulturellen Kontexten.

Wir beginnen mit einem Beitragvon H. Willenberg, U. Porsch, H. Kraut-hauser und S. O. Hoffmann zur Fragedes Zusammenhangs zwischen sexuel-len Grenzverletzungen und psychoge-nen Essstörungen. Sowohl anhand vonEinzelfallstudien als auch an größe-ren Fallzahlen können die Autoren zei-gen, dass, entgegen landläufiger An-nahmen, zu denen das Alltagsdenkenimmer wieder verführt, keine mono-kausale Ursache-Wirkungs-Beziehunganzunehmen ist, sondern dass die je-weiligen Symptome im Kontext einerals problematisch beschriebenen („pa-thogenen“) Familiensituation zu be-trachten sind. Daraus folgern die Auto-ren für die Praxis, dass ein familienori-entierter Therapieansatz einem indivi-dualtherapeutischen Setting vorzuzie-hen sei.

Auch im darauf folgenden Beitragwird die Tendenz kritisiert, „pathoge-ne“ Einflussfaktoren zu isolieren undals maßgeblich für problematischeEntwicklungen anzusehen – was viel-fach dazu führt, dass nur Problemati-ken und nicht auch Möglichkeiten, die-se zu bewältigen, gesehen werden. Da-zu eine Testfrage: Was würden Sie auf

die Frage antworten, ob die „Wende“von der alten DDR zu den „neuen Bun-desländern“ die Suizidrate hat steigenoder sinken lassen? Wenn man be-denkt, dass mit der Wende vielfach dieSicherheit überschaubarer Lebensab-läufe geschwunden ist und neue Si-cherheiten teils (noch) nicht in Sichtsind, dann liegt die Annahme nahe,dass die Suizidrate gestiegen ist. Dassagt einem nicht nur der Alltagsver-stand, sondern auch der Altmeister derSuizidforschung, Emile Durkheim. Erverwendet dafür den Begriff des „ano-mischen Selbstmords“.

Wie die Verhältnisse – epidemiolo-gisch betrachtet – tatsächlich sind undwelche Erklärungen für das überra-schende Ergebnis einer Studie zumSuizid vor und nach der Wende inThüringen, einem Land, das traditio-nell Spitzenwerte in den Suizidratenaufweist, gefunden werden können, er-fahren Sie in dem Beitrag von S.Straub.

Gewissermaßen als Nachtrag zu un-serem Themenheft über systemischeTherapie und Beratung in unterschied-lichen kulturellen Kontexten bringenwir einen Fallbericht von L. Lunin.Hier geht es nicht nur um Migrationvon Afrika nach Europa, genauer: ineine Schweizer Großstadt. Der Fall istzusätzlich interessant durch spezifischgelagerte religiöse Vorstellungen, diedas Alltagshandeln der Rat suchendenFamilie teilweise blockieren und dieden Berater auf eine harte Probe stel-len. Es soll hier schon verraten werden,wie der Berater seine schwierige Auf-gabe – vorerst jedenfalls – bewältigt:indem er auf rasche Lösungen verzich-

System Familie (2000) 13 :49–50 © Springer-Verlag 2000

Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser,

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System Familie

Bruno Hildenbrand

Tom Levold

tet und mit langem Atem die Familiebegleitet, sich an die Familie dort an-schließend, wo es ihm geboten er-scheint.

Eine Lektüre, die wir dringend allenans Herz legen wollen, ist die Doku-mentation der Ablehnung der Systemi-schen Therapie als wissenschaftlichbegründetes Therapieverfahren durchden wissenschaftlichen Beirat sowiedes Minderheitsvotums aus dem Bei-rat und die Stellungnahme der AGST(SG, DAF und DFS), die wir jeweilsim Wortlaut abdrucken. Diese Ableh-nung ist von eminenter politischer undjuristischer Bedeutung für die Syste-mische Therapie, die Stellungnahmeder Verbände sollte unbedingt die nöti-ge Verbreitung unter allen systemischarbeitenden und denkenden Kollegin-nen und Kollegen finden. WeitereMaßnahmen werden von der AGST in

die Wege geleitet, die Kontaktadresseist: Frau Anni Michelmann, Richard-Wagner-Straße 44, 53115 Bonn.

Eher als vergnüglicher Beitrag istdie Bücher-Umfrage unter Kollegin-nen und Kollegen gemeint, von denenbekannt ist, dass sie viel lesen und In-teresse an der konzeptuellen Entwick-lung von Beratung und Therapie ha-ben. T. Levold wollte wissen, welche10 Bücher (nicht mehr) sie auf jedenFall in das nächste Jahrtausend mit-nehmen würden. Den Antworten kön-nen Sie nun mancherlei entnehmen.Dazu einige Vorschläge: Sie könnendie Quersumme aus allen der genann-ten Bücher bilden und sich daraus einekleine, das Feld gut repräsentierendeBibliothek zusammenstellen. Sie kön-nen auch die jeweils genannten Titelmit dem Inhalt Ihres eigenen Bücher-schranks vergleichen und sich überle-

gen, ob Sie von den Zuordnungen, diesich daraus ergeben, überrascht seinsollen oder nicht. Sie können die ge-nannten Bücher als Hinweis auf dieFarben nehmen, die die jeweilige Kol-legin oder der Kollege auf der Palettehat und die ihre bzw. seine Kunst alsfür sie oder ihn typisch ausweisen.Oder aber Sie halten es mit E. Goff-man: Er würde diese Listen lesen alsdas in einem gegebenen Moment ge-zeichnete Bild, von dem der Autorbzw. die Autorin zu diesem Zeitpunktwünscht, dass die Fachöffentlichkeit essich von ihm bzw. ihr sich machen mö-ge.

Im letzten Beitrag vor der Rubrik„Für Sie notiert“ lassen wir Sie einenBlick in das Giftschränkchen der Re-daktion werfen – auch wenn es nichtdie feinsten Gerüche sind, die Ihnen daentgegenschlagen.

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Bruno HildenbrandJena und Meilen/Zürich

Tom LevoldKöln