Hamid Reza Yousefi/Klaus Fischer/Ina Braun/Wolfgang Gantke (Hrsg.)
— Wege zur Religionswissenschaft
Wege zur Religionswissenschaft
Eine interkulturelle Orientierung
Aspekte, Grundprobleme, ergänzende Perspektiven
herausgegeben und eingeleitet von
Hamid Reza Yousefi, Klaus Fischer Ina Braun und Wolfgang Gantke
unter Mitwirkung von Katja Thelen, Corinna Jenal, René Jaquett und Christoph Mauch
Traugott Bautz Nordhausen 2007
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in Der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Umschlagsentwurf von Birgit Hill Verlag Traugott Bautz GmbH
99734 Nordhausen 2007 Alle Rechte vorbehalten
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Printed in Germany ISBN 978-3-88309-375-8
www.bautz.de
Inhaltsübersicht
Einleitung der Herausgeber .................................................................................9
Hamid Reza Yousefi Interkulturelle Religionswissenschaft...............................................................21
Wolfgang Gantke Hat die Religionsphänomenologie angesichts des veränderten interkulturellen Kontextes noch eine Zukunft?...............................................49
Richard Friedli Angewandte Religionswissenschaft..................................................................79
Udo Tworuschka Aufgaben Praktischer Religionswissenschaft ..................................................95
Gunther Stephenson Von der Gratwanderung des Religionswissenschaftlers .............................119
Peter Antes Religionswissenschaft – Wozu?.......................................................................135
Břetislav Horyna Söldner der Argumentation .............................................................................145
Adelheid Herrmann-Pfandt Beispiel Menschenopfer: Religionswissenschaftliche Forschung zwischen Wahrheitsanspruch und interkultureller Verleumdung ............169
Olaf Schumann Anmerkungen zur gesellschaftlichen Verantwortung der Religionswissenschaft ................................................................................187
Inhaltsübersicht 6
Peter Kaiser Religiosität im interkulturellen Kontext .........................................................207
Katharina Ceming Menschenrechte und interkulturelle Religionswissenschaft .......................233
Michael von Brück ›Toleranz‹ in den Weltreligionen.....................................................................245
Wassilios Klein Interreligiöse Toleranz und Intoleranz als Arbeitsfeld der Religionswissenschaft......................................................265
Wolfram Reiss Anwendungsorientierte Religionswissenschaft. ...........................................289
Michael A. Schmiedel Der interreligiöse Dialog als Aufgabe einer angewandten Religionswissenschaft ....................................................307
Ram Adhar Mall Interkulturelle Religionsphilosophie und die Ansätze von William James und Max Scheler ................................319 Herausgeber, Autorinnen und Autoren .........................................................339
Peter Gerdsen zum 70. Geburtstag
Einleitung der Herausgeber
Der gewählte Titel ›Wege zur Religionswissenschaft‹ weist, wie die bereits erschienenen Bände ›Wege zur Philosophie‹1 und ›Wege zur Kommunika‐tion‹2 darauf hin, daß es verschiedene methodische Möglichkeiten gibt, Religionswissenschaft zu betrachten und zu betreiben – Wege, die sich be‐gegnen oder begleiten, befruchten oder bekämpfen, ergänzen oder igno‐rieren können. Der hier unternommene Versuch, Perspektiven aufzuzeigen, zu kontra‐
stieren und zu öffnen, versteht sich als ein möglicher Weg, zivilisations‐theoretische bzw. praktische Dimensionen der Religionswissenschaft im 21. Jahrhundert neu zu vermessen und zu bestimmen. Der Sache nach geht es auch um die Frage nach der Praxis der Religionswissenschaft, um ihre so‐ziale, interkulturelle und interreligiöse Funktion und um die Legitimation einer Religionswissenschaft als solcher. Ferner gilt es die Frage zu beant‐worten, ob die Aufgabe der wissenschaftlichen Erforschung von Religionen darin bestehen kann, wissenschaftliche Erkenntnisse im Sinne eines ver‐bindlichen Kanons zu formulieren und zu deuten. Zum anderen ist eine Beantwortung der Frage notwendig, in welchem Verhältnis die deskripti‐ven zu den normativen Anteilen in der religionswissenschaftlichen Me‐thode zu sehen sind, wenn sie mit Erfolg angewandt werden soll. Die Beiträge des vorliegenden Bandes setzen sich in der einen oder ande‐
ren Weise mit den eben skizzierten Fragestellungen auseinander. Dabei soll es nicht lediglich darum gehen, Vertreter diverser und oft antagonistisch argumentierender Richtungen zusammenzuführen, sondern vielmehr da‐rum, eine Arbeitsbasis zu finden, von der aus eine sachliche und problem‐orientierte Debatte möglich wird. Darin liegt auch der wesentliche Impuls
1 Vgl. Yousefi, Hamid Reza, Klaus Fischer und Ina Braun (Hrsg.): Wege zur Philo‐sophie. Grundlagen der Interkulturalität, Nordhausen 2006.
2 Vgl. Yousefi, Hamid Reza, Klaus Fischer und Ina Braun (Hrsg.): Wege zur Kom‐munikation. Theorie und Praxis interkultureller Toleranz, Nordhausen 2006.
Einleitung der Herausgeber 10
dieses interdisziplinär‐pluralistisch orientierten Bandes, dessen Beiträge hier kurz resümiert werden sollen. Der interkulturelle Philosoph, Toleranz‐ und Kommunikationsforscher
Hamid Reza Yousefi stellt das Konzept der interkulturellen Religionswis‐senschaft dar. Er versteht seinen Beitrag als eine Einführung in Struktur, Gegenstand und Aufgabe dieser neuen Ausrichtung. Ausgehend von ei‐nem flexiblen, Verbindungen suchenden Kulturbegriff stellt er verschie‐dene interkulturelle Zugänge dar. Es geht Yousefi in der Hauptsache um die Aufgaben der Religionswissenschaft im postkolonialen Zeitalter sowie um die Darstellung der Problem‐ und Themenfelder dieser Disziplin, die sich als eine humanwissenschaftliche versteht. Er zählt die interreligiöse Kompetenz, interreligiöse Semantik, angewandte Toleranz, analogische Hermeneutik und schließlich den Dialog der Kulturen zu den wichtigen Themenfeldern der interkulturellen Religionswissenschaft. Der Verfasser plädiert für eine Synthese von normativer und deskriptiv‐
empirischen Methode als einen möglichen Weg, um religionswissenschaft‐liche Inhalte besser in handlungsrelevantes Wissen transformieren zu kön‐nen. Mit diesem neuen praxisorientierten Denkansatz verfolgt Yousefi das Ziel, einen verstehens‐ und faktenorientierten Dialog zwischen den Reli‐gionen auf gleicher Augenhöhe zu realisieren. Der Religionswissenschaftler Wolfgang Gantke stellt in seinem enga‐
gierten Beitrag die grundlegende Frage, ob die Religionsphänomenologie angesichts des veränderten interkulturellen Kontextes noch eine Zukunft hat. Dabei geht er auf die traditionelle Diskussion um die Religionsphä‐nomenologie, auf die immer wieder gegen diese Richtung vorgebrachten zentralen Argumente und natürlich auch auf die entsprechenden Gegenar‐gumente ein. Diese traditionelle Diskussion scheint ihm insbesondere durch die neuen interkulturellen Herausforderungen überholt. Gantke weist auf die zumeist nicht wahrgenommene Vielfalt neuerer re‐
ligionsphänomenologischer Betrachtungsweisen hin. Er schreibt, daß die Kritik eigentlich nur eine traditionelle Richtung trifft, die von den meisten Religionsphänomenologen heute in dieser Form gar nicht mehr vertreten wird. Angesichts der völlig veränderten Verhältnisse in der interdiszi‐plinären und interkulturellen Diskussionslandschaft scheint ihm eine pro‐blemorientiert‐engagierte Lebensphänomenologie gute Zukunftschancen zu haben.
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In der Religionswissenschaft scheint es heute geboten, mit der neueren Lebensphänomenologie die Programmatik einer umfassenden Entzaube‐rung der Wirklichkeit im Kontext eines objektivierenden, in nuce tech‐nisch‐rechnenden Denkmodells und der diesem entsprechenden kapitali‐stischen Wirtschaftsordnung grundsätzlich in Frage zu stellen. Gerade eine interkulturell erweiterte Frageperspektive verdeutlicht, daß es durchaus Alternativen zu dem Entzauberungsmodell gibt, das heute die auf den Begriff des Heiligen verzichtende, kulturwissenschaftliche Religionswis‐senschaft unausdrücklich dominiert. Gantke versucht zu zeigen, daß es im Streit um die Religionsphänomenologie im Kern um die nunmehr inter‐kulturell erweiterte Diskussion um das Heilige und damit um die Grenzen einer rein kulturwissenschaftlich‐rationalistischen Betrachtungsweise von Religion geht. Der Religionswissenschaftler Richard Friedli behandelt in seinem Beitrag
›Angewandte Religionswissenschaft‹ methodische Grundzüge sowie An‐wendungsfelder dieser Disziplin. Die religionsgeschichtliche Grundlagen‐forschung, wie sie von der ›reinen‹ Religionswissenschaft seit Jahrzehnten geleistet worden ist, wird nach Friedli im Kontext der sich globalisierenden Welt einem neuen gesellschaftlichen Mehrwert zugeführt. Es sind nicht mehr die Forscherin oder der Forscher, welche das Objekt des wissen‐schaftlichen Engagements bestimmen, sondern – ähnlich wie Chemie, Phy‐sik und Mathematik zur Werkstoff‐Wissenschaft führen – die Herausforde‐rungen der Gegenwart, die zu ihrer Lösung einer interdisziplinären Ko‐operation bedürfen. Zur Lösung der aktuellen sozio‐politischen Probleme sind nämlich die Kompetenzen von verschiedenen Zubringerwissenschaf‐ten wie z.B. Politologie, Soziologie, Demographie oder eben Religionswis‐senschaft notwendig. Um diesen Sachverhalt zu dokumentieren, behandelt Friedli exempla‐
risch drei gesellschaftliche Situationen zu Beginn des 21. Jahrhunderts: die internationalen Migrationsbewegungen, die Präsenz von Muslim‐Gemein‐schaften in der politischen Weltagenda und die Rückfragen an die Akteure der Entwicklungszusammenarbeit. Die methodologischen und universi‐täts‐curricularen Folgerungen für das Studium der angewandten Religi‐onswissenschaft sind eine Herausforderung, denn in der angewandten Religionswissenschaft ist ein vielfältiges, religionsgeschichtliches und reli‐gionssoziologisches Fachwissen mit interdisziplinären und kommunikati‐
Einleitung der Herausgeber 12
ven Kompetenzen zu kombinieren. Um diese Zusammenhänge zu doku‐mentieren, werden einige Anwendungsfelder wie etwa die Schule, die Frie‐dens‐ und Konfliktforschung, der kirchliche Kontext, das internationale Management‐Umfeld, das Spitalmilieu oder das politische Umfeld erwä‐hnt. Entscheidend ist es aber für die angewandte Religionswissenschaft, daß wissenschaftliche Persönlichkeiten gefördert werden, die zum einen religionsgeschichtlich und religionssoziologisch kompetent ausgebildet sind und zum anderen risikobereit und interdisziplinär vernetzt arbeiten können. Der Religionswissenschaftler Udo Tworuschka thematisiert in seinem
Beitrag das Wesen der praktischen Religionswissenschaft. Nach ihm stellt der religiöse Pluralismus für die gesellschaftliche und politologische Ana‐lyse der Wirklichkeit seit längerem kein marginales Phänomen mehr dar. Der Autor lebte, forschte und lehrte zwei Jahrzehnte lang im Schnittfeld von Religions‐ und Erziehungswissenschaft. Aufgrund seiner Erfahrungen plädiert er für die Etablierung einer ›Praktischen Religionswissenschaft‹, deren Aufgabe auch darin besteht, bei problematischen gesellschaftlichen Sachfragen ihren ›Beitrag zur Entschlüsselung, Entscheidungsfindung, Pla‐nung und Umsetzung‹ zu leisten. In Ergänzung zur traditionell eher text‐ und vergangenheitsorientierten Religionswissenschaft richtet sich die neue Disziplin an der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit aus, ohne deswegen auf historische Tiefenschärfung zu verzichten. Im Anschluß an eine Posi‐tionsbestimmung wichtiger Vordenker der neuen Disziplin wie Gustav Mensching, Mircea Eliade und Wilfred Cantwell Smith werden drei Auf‐gabenfelder Praktischer Religionswissenschaft skizziert: Mediation, Reli‐gionskritik und Religionsdialog. Der Religionswissenschaftler Gunther Stephenson setzt sich mit dem
Thema Gratwanderung des Religionswissenschaftlers auseinander. Dabei handelt es sich um den Erkenntnisakt des Religionswissenschaftlers und seinen ›Gegenstand‹, den religiösen Menschen in seinem kulturellen Um‐feld. Die unlösbare Frage, was Religion ist, wird dabei ausgeklammert. Die Ausgangslage des Forschers ist eine anthropologische; er ist aufgerufen, die fünf bekannten Methoden (historisch, philologisch, psychologisch, so‐ziologisch, phänomenologisch) seines ›Gegenstandes‹ integrativ zu benut‐zen, damit die Einheit der Religionswissenschaft gewahrt bleibt. Um sei‐nem ›Gegenstand‹ vollends gerecht werden zu können, bleibt für den Au‐
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tor eine revidierte Phänomenologie unverzichtbar, freilich unter Anerken‐nung des subjektiven Elements seines Erkenntnisbemühens. Ein Plädoyer wird auch gehalten für ein komplementäres, sowohl empirisches als auch hermeneutisches Vorgehen. Die Gratwanderung des Religionswissenschaf‐tlers besteht eben im vorsichtigen Balancieren zwischen diesen beiden Ar‐beitsweisen, da sonst kein zureichender Erkenntniswert zustande kommt. Der Religionswissenschaftler Peter Antes stellt die Frage: Wozu überhaupt
Religionswissenschaft? Sein Beitrag zeigt, daß gerade angesichts einer zu‐nehmenden Spezialisierung in den Einzeldisziplinen wie Altorientalistik, Ägyptologie, Judaistik, Theologie, Islamwissenschaft, Hinduismusforschung oder Buddhismuskunde eine Art Dachdisziplin notwendig ist, die all das erarbeitete Wissen in eine Gesamtschau einordnet. Dementsprechend plädiert der Beitrag für die Strukturierung von Material als eine Hauptaufgabe der Religionswissenschaft. Dies kann durch Überblicke, Deutungszusammen‐hänge und Vergleiche geschehen. Im Bereich der systematischen Religions‐wissenschaft sieht der Beitrag die Aufgabe der Religionswissenschaft vor allem in Anfragen an die Theoriebildung. Als Beispiele dafür werden mit Blick auf die kognitionswissenschaftlichen Modelle die Wahrnehmungskate‐gorien thematisiert und mit Blick auf den politischen Kontext konkret Deu‐tungskonzepte wie religiöser Fundamentalismus und ›Clash of Civilizations‹ angesprochen. Der Philosoph und Religionswissenschaftler Břetislav Horyna themati‐
siert Tatsachen, Evidenz und Objektivität in der Religionswissenschaft. Der Schwerpunkt seines Aufsatzes liegt im Bereich der Theorie und Methodo‐logie der Religionswissenschaft. Verschiedene Versuche, aus der heutigen wissenschaftstheoretisch komplizierten Lage der Religionswissenschaft einen Ausweg zu finden (engagierte, angewandte, praktische, hermeneuti‐sche Religionswissenschaft, usw.) haben etwas Gemeinsames: sie möchten größere Anerkennung durch breitere gesellschaftliche Nützlichkeit der Religionswissenschaft erreichen, lassen dabei aber die wesentlichsten Fra‐gen ihrer Wissenschaftlichkeit unbeantwortet. Eine der wichtigsten wird vom Problem der Argumentation dargestellt: wie läßt sich in der Religi‐onswissenschaft begründet argumentieren, was ist eine Beweisführung, was wird von einer religionswissenschaftlichen Aussage verlangt, was heißt Tatsache, Evidenz, Begriffsexplikation, wie ist Religionswissenschaft
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als argumentative Struktur von Sätzen, die den wissenschaftlichen Regeln entsprechen, überhaupt möglich. Der Verfasser vertritt die Einsicht, daß diese Problematik vernachlässigt
wird. Die Auffassung, daß es sich um keine religionswissenschaftlichen, sondern philosophische Fragen handelt, welche die Religionswissenschaft ihrer Substanz berauben könnten, weist er zurück. Immerhin muß man sich dessen bewußt sein, daß all diese fremdartig wirkenden Abstraktionen sich in ganz konkrete Formen des Denkens und des Argumentierens, folg‐lich auch Wissens und Handelns transformieren. Die religionswissen‐schaftliche Argumentation, ihre Glaubwürdigkeit, Wirkung und Möglich‐keiten an der Entwicklung von gesellschaftlichen Einsichten, Einstellungen, Werten und Verhaltensnormen Anteil zu nehmen, hängt nicht von dieser oder jener Auffassung der ›Religion‹, sondern davon ab, wie sie mit diesen Komponenten der Wissenschaftstheorie, die generell die Bedingungen religionswissenschaftlicher Sprache darstellen, zurecht kommt. Die Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann‐Pfandt setzt sich in
ihrem Beitrag mit der religionswissenschaftlichen Forschung zwischen Wahrheitsanspruch und interkultureller Verleumdung auseinander. Am Beispiel des Menschenopfers werden verschiedene mehr oder weniger bewußte Vorurteile und Vorentscheidungen untersucht, mit denen sich Erforscher religiöser Gewalttätigkeit auseinandersetzen müssen. Der Aus‐gangspunkt der Betrachtung ist die in der älteren Forschung verbreitete Tendenz zur Abwertung des Fremden, die dazu geführt hat, problematisch Rituale wie das Menschenopfer manchmal auch dort zu sehen, wo sie gar nicht existieren. Jedoch kann auch das Gegenteil der Abwertung, nämlich die Idealisierung einer fremden Kultur und die darauf basierende Leug‐nung von deren gewalttätigen Seiten, eine Gefahr für ausgewogene For‐schung sein. Gerade im europäischen Kulturkontext gilt, basierend auf der Tabuisierung des Menschenopfers im Christentum, die Zuschreibung einer solchen Praktik häufig als Beleidigung einer Kultur, unabhängig davon, welche religiösen Praktiken es dort nun wirklich gegeben hat oder gibt. Eine weitere Gefahr für sachgemäße Forschung ist schließlich die Romanti‐sierung von Gewaltaspekten einer Religion, die umso besser ›funktioniert‹, je ferner uns die betreffende Religion steht, und gegen die auch Fachleute nicht gefeit sind, sobald sie sich bei ihrer Forschung wirklich intensiv auf die Weltanschauungen einlassen, die religiösen Gewaltkulturen zugrunde‐
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liegen. Der Artikel endet mit der Feststellung, daß angesichts religiöser Gewaltpraktiken, die den Menschenrechten fundamental widersprechen, interkulturelle Toleranz an ihre Grenzen stößt und auch Religionswissen‐schaftler/innen gefordert sein können, Position zu beziehen. Der Religionswissenschaftler Olaf Schumann setzt sich in seinem Beitrag
mit der Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der Religionswis‐senschaft auseinander. Die europäische Religionswissenschaft ist im 19. Jahrhundert als akademische Wissenschaft entstanden. Damit war sie be‐sonders in ihren Anfängen sehr stark philologisch, historisch und exege‐tisch und insbesondere an den ›klassischen‹ Entfaltungen der großen Reli‐gionssysteme orientiert. Die zeitgenössischen Entwicklungen fanden dage‐gen weniger Interesse, wurden oft auch als Dekadenzerscheinungen oder politisch motivierte Perversionen des Religiösen interpretiert. Diese Ten‐denz hat besonders in der politisch oder ideologisch motivierten und inter‐essierten ›Populärwissenschaft‹ großen Widerhall erfahren, die nicht von Erkenntnisdrang getrieben, sondern von der Abwertung des ›Anderen‹ und der damit parallel gehenden Aufwertung der eigenen Identität moti‐viert wurde und wird. Die dadurch entstandenen Klischees dienen im po‐litischen und gesellschaftlichen Diskurs in erschreckend zunehmendem Maße als ideologische Keule, um andere zu diffamieren, zu marginalisieren oder auch zu eliminieren. Hier hat die moderne Religionswissenschaft auch eine gegenwartsbezo‐
gene Verantwortung zu übernehmen, um auf Grund ihrer Einsichten in das Entstehen und Werden der Religionen bis hin zu in ihnen entstandenen Bemühungen um Erneuerung und Sinngebung in einer neuen Welt Kennt‐nisse, Verständnis und Verstehen gegenwärtiger religiöser Ausdrucksfor‐men zu vermitteln. Diese Bemühung zielt auf zwei Richtungen: zum einen in die Richtung der behandelten Religion und ihrer Anhänger/‐innen selbst, indem in der Geschichte verschüttete oder pervertierte, in der Ge‐genwart jedoch relevante Elemente wieder ins Bewusstsein gerückt wer‐den, zum anderen in die Richtung moderner (pluraler) Gesellschaft, in der die Religionsgemeinschaften nun miteinander in einer gemeinsamen Ge‐sellschaft und in einem gemeinsamen Staat wohnen, zu dessen Wohlerge‐hen sie alle gemeinsam Verantwortung tragen. In dem hier notwendigen gesellschaftlichen Dialog können die Religionswissenschaftler eine herme‐neutische Rolle übernehmen.
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Der Religionswissenschaftler Peter Kaiser thematisiert in seinem Beitrag die Religiösität im interkulturellen Kontext. Neben der Aufgabe, mit loka‐len Mitarbeitern die medizinische Versorgung in Flüchtlingslagern an der Thai‐burmesischen Grenze sicherzustellen, wurde vom Autor zwischen Dezember 2002 und März 2003 sowie Anfang 2006 eine Feldstudie mit dem Ziel durchgeführt, mehr über die lokalen Coping‐Strategien der unter‐suchten Ethnie zu erfahren. Die medizinische und psychologische Betreu‐ung betraf neu eintreffende Flüchtlingen, welche in den vorangegangenen Tagen und Wochen meist aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen gezwungen waren, ihr Heimatdorf zu verlassen, sowie Menschen, die sich schon seit Monaten bis Jahren in den Lagern aufhalten, ohne daß sich die Möglichkeit zur baldigen Rückkehr in die Herkunftsgegend abzeichnet. Im vorliegenden Artikel soll vor dem Hintergrund der internationalen For‐schung ›Psychische Gesundheit‹ (mental health) unter den Bedingungen eines Flüchtlingslagers thematisiert werden. Am konkreten Beispiel der Population einer asiatischen Ethnie (der Ka‐
ren) werden Vor‐ und Nachteile einer spezifischen Coping‐Strategie, näm‐lich die Adaptation des religiösen Glaubenssystems an sich wandelnde soziale Umweltbedingungen, beschrieben und diskutiert. Im Fall der Ka‐ren‐Ethnie scheint der christliche Glauben (wie auch andere Glaubenssy‐steme oder Formen der individuellen und kollektiven Identifikation) den Betroffenen zu helfen, die gegenwärtig schwierigen Lebensbedingungen zu transzendieren und ihnen eine Bedeutung zu geben. Bei den Karen ist die Vorstellung von der Wiederkunft eines himmlischen Retters sehr verbreitet und wahrscheinlich imstande, die Bedeutung der Ressource ›Religion‹ für die psychische Gesundheit noch zu erhöhen. Hilfsorganisationen sollten sich über die Bedeutung dieser Ressource im Rahmen des Umgangs mit der spezifischen Situation eines Flüchtlingslagers im Klaren sein und ihr bei der Implementierung von sog. Entwicklungs‐ und Hilfsprogrammen entsprechend Beachtung schenken. Von Menschenrechten im Kontext der interkulturellen Religionswissen‐
schaft zu reden, bedeutet für Katharina Ceming, sich auf andere Kulturen existentiell einzulassen, da ein wesentlicher Aspekt das Verstehen und nicht das Bewerten des Fremden ist. Es gilt nach Ceming zunächst heraus‐zufinden, weswegen bestimmte Bräuche, Riten, Traditionen als sakrosankt gelten, was Menschen damit verbinden und von der Respektierung dieser
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erhoffen. Dies bedeutet aber gerade nicht, selbst standpunktlos zu sein und es impliziert auch nicht, alles kritiklos zu akzeptieren. Ein Verstehen muß nicht zwangsläufig ein Billigen implizieren. In einem zweiten Schritt geht es dann darum, in einem Dialog zu klären, was kulturell bestimmte Nor‐men sind. Dieser Dialog setzt jedoch voraus, daß beide Seiten daran Inter‐esse haben. Wo eine Seite keines zeigt, ist zu eruieren, woran dies liegt. Ist es die Angst, von den anderen vereinnahmt zu werden, ist es die Angst vor dem Verlust liebgewordener Gewohnheiten, die geholfen haben, das Leben zu organisieren, etc.? In einem dritten Schritt sollen universelle Normen bestimmt werden, die ein gemeinsames Zusammenleben verschiedener Kulturen ermöglichen. Wo die Rechte aller Menschen im Mittelpunkt ste‐hen, ist die Enthaltung der Bewertung kultureller Normen nicht Ausdruck von Toleranz, sondern ein implizites Billigen des herrschenden status quo. Um universelle Normen zu begründen, bedarf es letztlich eines verbindli‐chen Wertemaßstabs. Hier ist die Logik ein wichtiges Hilfsmittel, wobei universell logische Strukturen nicht mit systemimmanenten logischen Kon‐sequenzen verwechselt werden dürfen. Der Religionswissenschaftler Michael von Brück thematisiert Toleranz als
Signum interkultureller Normativität in den Weltreligionen und ihre Kon‐sequenzen für das Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie bzw. Religionsphilosophie. Für den interreligiösen und interkulturellen Dialog sieht er nur den Toleranzbegriff als tragfähig an, der Toleranz als respektvolle Zuwendung und Wertschätzung des Anderen in seiner An‐dersartigkeit definiert. Für den Verfasser resultiert Toleranz aus der Ein‐sicht in die Einheit allen Lebens. Nach einer Darstellung des Toleranzverständnisses in den Weltreligio‐
nen arbeitet er Grundlagen für den Horizont der christlich‐theologischen Wahrheitsfrage heraus. Seit der griechischen Philosophie, in der Wahrheit als Teilhabe an ewigen Strukturen verstanden wurde, hat sich die Absolut‐heit von Auffassungen relativiert. Im Nominalismus und Skeptizismus verblieb nur noch eine Selbstgewißheit des Subjektes, in der neueren Er‐kenntnistheorie wurde die Sprache als Horizont der Wahrheit wahrge‐nommen. Die Betrachtung eines Ereignisses war damit zur Sache der Per‐spektive geworden, deren relativer Wahrheitsgehalt vom jeweiligen Be‐zugssystem abhing. Die Kohärenz einer Aussage wird dann angenommen,
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wenn sie sich widerspruchsfrei in das Gesamtgefüge eines bestimmten, ebenfalls relativen Verstehenssystems einfügt. Eine solche Denkart ordnet die religiös bestimmte Wahrheitsfrage der
Tugend der Toleranz zu. In einem Diskurs um Kohärenz ist das Ringen um Wahrheit beim Ziel der Wahrheitssuche ein maßgeblicher Bestandteil. Un‐ter Verzicht auf den Besitz der absoluten Wahrheit muß sie dialogisch die jeweiligen Wertenormen des Gegenübers bewußt machen. Für eine Religi‐onswissenschaft, Theologie und Religionsphilosophie interkultureller Aus‐richtung bedeutet dies, daß Wahrheit nur ein Resultat von Diskursen sein kann. Der Religionswissenschaftler Wassilios Klein thematisiert in seinem Bei‐
trag interreligiöse Toleranz und Intoleranz als Arbeitsfeld der Religions‐wissenschaft. Er hält fest, daß Toleranz in der Religionswissenschaft ange‐sichts der Bedeutung des Themas, zu wenig behandelt wird. Kleins These ist deshalb, daß Toleranz unbedingt ein Thema der Religionswissenschaft sein sollte. Die Relevanz dieser Thematik zeigt sich unter anderem im Stre‐ben nach einer angemessenen Beschreibung von Erscheinungsformen von interreligiöser Toleranz und in der neuerdings verstärkten Toleranzfor‐schung im Umfeld des interreligiösen Dialogs. Es zeigt sich, daß Toleranz sowohl für rein empirisch arbeitende Religionswissenschaftler wie auch für solche, die für eine Angewandte Religionswissenschaft plädieren, ein wei‐tes Arbeitsfeld ist, daß das Fach auch in der Zukunft noch beschäftigen dürfte. Wenn hier von anwendungsorientierter Religionswissenschaft die Rede
ist, so geht es um die Konzeption einer Religionswissenschaft, die ›bera‐tend und informierend‹ auf die ›aktuellen‹ Entwicklungen in Politik und Gesellschaft Bezug nimmt, die mit interreligiösen und interkulturellen Fragen zu tun haben. Die klassische Unterteilung der Religionswissen‐schaft in historische und systematische Religionswissenschaft muß um diese weitere Disziplin konstitutiv ergänzt werden. Reiss ist davon über‐zeugt, daß dieses Feld, bei dem es um andere Religionen, um interkultu‐relle und interreligiöse Beziehungen geht, nicht Soziologen und Politologen oder gar selbsternannten Medienexperten überlassen werden darf. Religi‐onswissenschaft hat eine gesellschaftliche und politische Verantwortung. Diese müssen Religionswissenschaftler auch wahrnehmen. Udo Two‐ruschka, Wolfgang Gantke und Hamid Reza Yousefi haben nach Reiss we‐
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sentliche Beiträge hierzu geliefert und versucht, eigenständige Konzeptio‐nen zu entwickeln. Allerdings müssen dabei gefährliche Klippen umschifft werden. Ob es gelungen ist, mit den obigen Unterscheidungen auf diesem Weg ein Stück weiter zu kommen, möge der Leser kritisch beurteilen. Der Religionswissenschaftler Michael A. Schmiedel setzt sich in seinem
Beitrag mit dem interreligiösem Dialog als Aufgabe einer angewandten Religionswissenschaft auseinander. In religionswissenschaftlichen Kreisen wird der interreligiöse Dialog meistens als eine Angelegenheit der Theolo‐gie und ein religionswissenschaftliches Engagement darin als dem wert‐neutralen Selbstverständnis des Faches abträglich betrachtet. Die Religi‐onswissenschaft könne und dürfe sich dem interreligiösen Dialog nur widmen, indem sie ihn zu einem Forschungsobjekt mache, aber keinesfalls dürfe sie sich aktiv und normativ daran beteiligen, heißt es oft. Schmiedel vertritt hingegen in seinem Beitrag eine andere Auffassung und versucht sinnvolle Argumente für eine Beteiligung der Religionswissenschaft am interreligiösen Dialog zusammenzutragen. Dabei betont er die Eingebun‐denheit der Religionswissenschaft in gesellschaftliche Zusammenhänge, die auf Wertefundamenten ruhen, denen sich keine Wissenschaft entziehen darf, und vertritt die Auffassung, daß auch Religionswissenschaftler, wenn auch anders als Theologen, sich in den interreligiösen Dialog einbringen können, ohne damit den Maximen ihres Faches untreu zu werden. Der Autor nennt namhafte Vertreter des Faches, die dies auf unterschiedliche Weise getan haben und weiterhin tun. Der interkulturelle Philosoph Ram Adhar Mall macht das Thema der in‐
terkulturellen Religionsphilosophie und die Ansätze von William James und Max Scheler zum Gegenstand. Sein zentrales Anliegen versteht sich dabei als ein Plädoyer für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer plura‐listischen Religionsphilosophie. Diesem Konzept entsprechend erkennt die Vielfalt der Religionen und Philosophien die Universalität einer ›religio perennis‹ bzw. ›philosophia perennis‹ an, ohne dabei irgendeine bestimmte Religion in einen exklusivistisch‐absolutistischen Stand zu setzen. Jenseits aller phänomenologischen, theologischen und religionswissenschaftlichen Kategorisierungen unterscheidet Mall zwischen religiöser und spiritueller Erfahrung. Während eine religiöse Erfahrung einen notwendigen Bezug zum Göttlichen zu ihrem konstitutiven Element macht, scheint eine spiri‐tuelle Erfahrung auch ohne einen solchen Bezug zu existieren. Eine solche
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phänomenologische Unterscheidung hätte den Vorteil, daß wir dadurch nicht nur eine Phänomenologie der Religion hätten, die eine theistische Verankerung kennt, sondern eine Phänomenologie der Religionen, die keine solche Verankerung kennt und annimmt. Eine spirituelle Erfahrung kann eine religiöse sein, muß es aber nicht. Eine religiöse Erfahrung ist jedoch spirituell, aber mit dem Zusatz eines Gottesbezugs. Der Autor schlußfolgert, wenn es eine philosophia perennis oder eine religio perennis gibt, so ist sie Niemandes Besitz allein.
Redaktionelle Anmerkung Auf Einheitlichkeit beim Zitieren, bei Literaturangaben und in Einzelfragen der Textgestaltung wurde bewußt zugunsten der jeweiligen individuellen Präferenzen unserer Autoren und Autorinnen verzichtet. Auf vielfältige Weise zeigen die verschiedenen Beiträge, die natürlich nicht immer mit der Meinung der Herausgeber übereinstimmen müssen, wie facettenreich die Perspektiven der Religionswissenschaft heute sind.
Die Herausgeber Trier und Frankfurt/Main
im Dezember 2006
Interkulturelle Religionswissenschaft
Struktur – Gegenstand – Aufgabe
von Hamid Reza Yousefi
Einleitende Gedanken Mit der Frage ›Was ist Religionswissenschaft‹, beginnt jedes Seminar und jede Vorlesung zur Einführung in die Religionswissenschaft. Dabei geht es auch um die Frage nach Ursprung, Struktur, Gegenstand und Aufgaben dieser Disziplin. Angesichts der Tatsache, daß auch unsere Gesellschaft hinsichtlich ihrer öffentlichen Institutionen zwar säkular erscheint, ist die Präsenz der Religionen unübersehbar. Diese Tatsache wirft die Frage auf: ›Wozu überhaupt Religionswissenschaft?‹ Die Antworten sind erwar‐tungsgemäß sehr unterschiedlich; sie reichen von theologisch geprägten Erklärungsversuchen bis zu sogenannten rein rationalistischen und bloß analytischen Denkweisen. Die Verwundbarkeit und Krisenanfälligkeit einer kulturwissenschaftlichen Disziplin wie der Religionswissenschaft hängt nicht nur von der Auswahl ihrer Methode und Selbstwahrnehmung bzw. Selbsteinschätzung ab, sondern auch von ihren Antworten auf die gesamtkulturelle Weltsituation, in der sie tätig ist. Im Allgemeinen lassen sich zwei Traditionslinien innerhalb der beste‐
henden Religionswissenschaft ausmachen, die zwei grundsätzlich ver‐schiedene Antworten auf die Frage geben, was religionswissenschaftliche Tätigkeitsformen voneinander unterscheidet. Es geht um eine phänome‐nologische und eine philologisch ausgerichtete Verfahrensweise. Während Religionsphänomenologen die Kategorie des Heiligen nicht preisgeben und faktisch eine Religionswissenschaft des Verstehens betreiben, distan‐zieren sich philologisch ausgerichtete Religionswissenschaftler von dieser methodischen Tätigkeitsform und halten an der Religionswissenschaft als einer ›reinen‹ Wissenschaft fest.
Hamid Reza Yousefi 22
Die interkulturelle Religionswissenschaft setzt als eine interdisziplinäre Ausrichtung gerade hier an. Dabei vernachlässigt sie weder die Kategorie des Heiligen, die in allen Religionen je nach Form und Inhalt das konstitu‐tive Element bildet noch die philologisch ausgerichtete Orientierung, die unerläßlich ist. Sie fügt beide Traditionslinien zusammen und umfaßt drei Tätigkeitsformen, die sich in vielerlei Hinsicht überlappen: Engagierte, Praktische und Angewandte.1 Interkulturelle Orientierung schafft verschiedene Zugänge, auf die im
Zeitalter der Globalisierung, in der alles interdependenter wird, nicht ver‐zichtet werden kann. Diese Zugänge ermöglichen die Entfaltung von Fra‐gen auf variierenden methodischen Wegen und bieten Lösungsansätze an. Streng wissenschaftlich oder an praktischen Problemen orientiert, distan‐ziert oder engagiert, prinzipientreu oder skeptisch, vermitteln sie Orientie‐rungsmuster mannigfacher Art. Hierbei handelt es sich um: 1. einen philosophischen Zugang, der die Einsicht kultiviert, daß die philosophia perennis
etwas von allen zu Suchendes und nie endgültig Gefundenes ist; 2. einen intertextuellen Zugang, der eine kulturenübergreifende weltliterarische Haltung
bezeichnet, welche die Ausprägungen kultureller Vielfalt in unterschiedlichen Sprachen ohne Scheuklappen würdigt;
3. einen kulturellen Zugang, der keine Tradition privilegiert, aber eine wechselseitige Be-fruchtung und Bereicherung durch Kommunikation und Interaktion intendiert;
4. einen religiösen Zugang, der aufzeigt, daß die religio perennis in unterschiedlichen Ersch-einungsformen auftritt;
5. einen politischen Zugang, verbunden mit einer ästhetischen Kultur, die deutlich macht, daß interkulturelle Orientierung eine grundsätzlich-pluralistische und demokratische Überzeugung darstellt;
6. einen wirtschaftlichen Zugang mit dem Ziel, Grundproblemen der Globalisierung und Wirtschaftsethik sowie Verteilungskonflikte im Kontext der Weltwirtschaft herauszuar-beiten;
1 Dieser Themenkomplex wurde an anderer Stelle ausführlich diskutiert. Vgl.
Yousefi, H. R.: Grundlagen der interkulturellen Religionswissenschaft (Interkulturelle Bibliothek Bd. 10), Nordhausen 2006. Unter dem Dach der interkulturellen Reli‐gionswissenschaft können Einzeldisziplinen zusammen operieren, von denen vor allem Kulturphilosophie, Anthropologie, Ethnologie, Sozialpsychologie, Re‐ligionspsychologie, Religionssoziologie, Religionspolitik, Pädagogik mit ihren Unterfeldern Kultur‐ und Medienpädagogik, Friedens‐ und Konfliktforschung und humanistische Staatenlehren zu nennen sind. Vgl. Ebenda.
Interkulturelle Religionswissenschaft 23
7. einen pädagogisch-erzieherischen Zugang mit dem Ziel, vom Kindergarten bis zu den Institutionen der Erwachsenenbildung eine interkulturelle Einstellung wechselseitiger Toleranz zu fördern und den Aufbau des Faches ›Toleranzkunde‹ zu ermöglichen;
8. einen psychologischen Zugang, der darauf bedacht ist, die Grundzüge des seelischen Verhaltens der Menschen auf der Ebene der Einstellung ernst zu nehmen;
9. einen soziologischen Zugang, der die Auswirkungen intra- und interkulturellen Verhal-tens auf gesellschaftliche Strukturen hin untersucht.
Ein weiterer Zugang ist ein religionswissenschaftlicher, der die Säule des vorliegenden Beitrags bildet. Er beinhaltet, daß Religionen und Kulturen in einer über weite Strecken gemeinsamen ›Lebenswelt‹ verwurzelt sind, die sie miteinander verbindet: Nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch er‐hellende Differenzen gibt es zwischen ihnen.
Das Konzept der interkulturellen Religionswissenschaft
Was heißt Kultur im Kontext des Interkulturellen? Mit der Entstehung und Entwicklung der Kultur ›domestizierte‹ sich der Mensch selbst und schuf durch diesen immerwährenden Prozeß eine Reihe neuer Welten, die äußerst heterogen sind. Man denke hier etwa an eine Haltung, die Gewalt auslöst und innerhalb eines bestimmten Kulturbe‐reichs Widerstand erzeugt, bei einem anderen hingegen aber wirkungslos bleibt. Die Thematisierung der Religionswissenschaft im Kontext des Interkul‐
turellen setzt die Bestimmung eines flexiblen, jedoch überlappend ver‐bindlichen Kulturbegriffs voraus, weil es eine Vielzahl von Kulturdefini‐tionen gibt2, die von unterschiedlichen Konzeptionen ausgehen. Es ist eine berechtigte Frage, ob mit einem traditionellen engen Kulturbegriff den gegenwärtigen Herausforderungen noch Rechnung getragen werden kann. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde die Mensch‐Kultur‐
beziehung zunehmend zum zentralen Thema der ethnologischen und an‐thropologischen Forschung erhoben. Dabei war es maßgeblich, daß der
2 Die systematische Entwicklung des Kulturbegriffs ist mit Ethnologen wie Gustav
Klemm, Edward Tylor, Bronislaw Malinowski und Franz Boas verbunden. Al‐fred Louis Kroeber und Clyde Kluckhohn stellen mehr als 160 Definitionen von Kultur zusammen, die sich in vielerlei Hinsichten ähneln. Vgl. Kroeber, Alfred Louis und Clyde Kluckhohn: Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, New York 1963.
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Mensch zwar einerseits Kulturen bildet und Gesellschaften prägt, anderer‐seits aber auch selbst von beiden so stark geprägt und bestimmt wird, daß selbst die Befriedigung elementarster Bedürfnisse, die als biologisch be‐zeichnet werden könnten, außer unter ungewöhnlichen Umständen immer im Bann der Regeln bleibt, die von Gebräuchen und Gewohnheiten diktiert werden. Die Ethnologen dieser Zeit untersuchten traditionell Stammesge‐sellschaften bzw. außereuropäische schriftlose Völker. Dabei hegte man im wesentlichen einen Kulturbegriff, der dem Johann Gottfried Herders (1744‐1803) ähnlich ist. Herder ging von der Kugelförmigkeit der Kulturen aus, die sich in abgeschlossenen Sphären bilden. Für ihn bedeutete eine Mi‐schung von Kulturen Verlust an »Eindrang, Tiefe und Bestimmtheit.«3 Nach Herder »bringt eine Kultur nur so weit Verständnis für fremde Kul‐turleistungen auf, als diese assimilierbar sind. Eine Übernahme wird zu einer Integration und nicht zu einer eigentlichen Innovation der eigenen Weltanschauung. Sie folgt den Verständnisgesichtspunkten der eigenen, nicht der fremden Kultur.«4 Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts galten Kulturen als statische Ge‐
bilde und homogene Gefüge. Dieser enge Kulturbegriff ist in einer globali‐sierten Welt nicht mehr haltbar und bedarf einer gründlichen Erweiterung. Es gibt faktisch »eine reine eigene Kultur [...] ebensowenig, wie es eine reine andere Kultur gibt.«5 Kulturen sind wie die Fäden eines Gewebes, die auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind.6 Sarvepalli Radhakrishnan (1888‐1975) bezeichnet die verschiedenen Kulturen als »Dialekte einer ein‐
3 Herder, Johann Gottfried: Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völ‐ker in alten und neuen Zeiten, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 8, Hildesheim 1967 (334‐346), S. 423.
4 Holenstein, Elmar: Kulturphilosophische Perspektiven. Schulbeispiel Schweiz – Europäische Identität auf dem Prüfstein – Globale Verständigungsmöglichkei‐ten, Frankfurt/Main 1998 S. 272.
5 Mall, Ram Adhar: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philoso‐phie – Eine neue Orientierung, Darmstadt 1995 S. 1.
6 Vgl. Holzbrecher, Alfred: ›Vielfalt als Herausforderung‹, in: Holzbrecher, Alfred (Hrsg.): Dem Fremden auf der Spur. Interkulturelles Lernen im Pädagogikunter‐richt, (Didactica nova) Bd. 7, Hohengehren 1999 S. 9.
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zigen Sprache der Seele. Die Unterschiede sind solche des Akzents, der geschichtlichen Umstände und der Entwicklungsstufen.«7 Es gibt seit Menschengedenken faktisch keine homogenen und unverän‐
derlichen Kulturgebilde. Kulturen sind dynamisch und veränderbar. Ihre Grenzen sind fließend, und sie haben nie hermetisch voneinander abge‐trennt existiert. Kulturelle Wechselwirkung und Entwicklung hat es immer gegeben. Selbst das Studium der Religionsgeschichte belegt dies. Hier ist zu beobachten, wie Macht, Glaube, Autorität, Gewalt und Liebe in ver‐schiedenen Kulturräumen und Gesellschaften auf unterschiedliche Weise interpretiert und praktiziert werden. Der Mensch ist ein kulturbildendes und bildungsorientiertes Wesen. Bil‐
dung entwickelt und schafft Kultur als einen offenen Raum, in dem und aus dem heraus gehandelt wird. Kultur umfaßt die Gesamtheit der Lebens‐ und Organisationsformen sowie den Inhalt und die Ausdrucksformen der vorherrschenden Wert‐ und Geisteshaltung. Sowohl regionale als auch globalisierte Kulturen sind von einer offenen Systematik geleitet, die Zwi‐schenräume für Kommunikation zwischen diesen Trägern schafft. Der Dialog der Kulturen und Religionen ist ein gutes Beispiel hierfür. Kommu‐nikation macht somit den Kern der Kultur und das menschliche Leben selbst aus. Es sind allerdings nicht die Kulturen, die miteinander reden, sondern es sind immer die Träger dieser Kulturen und Traditionen. Kom‐munikationen scheitern, wenn die Beteiligten sich darüber nicht im klaren sind, daß jeder in einer eigenen Wahrnehmungswelt verharrt.8 Das Konzept der Interkulturalität geht nicht von der Herausbildung der
Idee einer künftigen ›einheitlichen Menschheits‐ bzw. Weltkultur‹ aus, die den Prämissen einer übergeordneten Leitkultur unterliegt. Unter dieser Voraussetzung wird zwangsläufig die Assimilation und damit die Einheit‐lichkeit aller Kulturen zugunsten einer einzigen ›Einheitskultur‹ vorausge‐
7 Radhakrishnan, Sarvepalli: Die Gemeinschaft des Geistes. Östliche Religionen und
westliches Denken, Darmstadt 1952 S. 366. 8 Im Hinblick auf Probleme, Störungen und Bedingungen der interkulturellen
Kommunikation sei grundsätzlich verwiesen auf: Yousefi, H. R.: Toleranz als Weg zur interkulturellen Kommunikation und Verständigung, in: Wege zur Kommunika‐tion. Theorie und Praxis interkultureller Toleranz, hrsg. v. Hamid H. R. Yousefi u.a., Nordhausen 2006 (19‐48).
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setzt. Die Unifizierung der Kulturen ist sowohl theoretisch als auch prak‐tisch eine Fehlleistung, eine Fehltat, weil Differenzen ausgeblendet werden. Interkulturalität ist und bleibt von einer offenen Systematik der Kulturfor‐men geleitet. Der Interkulturalität liegt eine Pluralität zugrunde, die einer geistigen Einheit – keiner Einheitlichkeit – aus der Vielheit der Kulturen den Weg ebnet. Das Eigene und das Fremde suchen zwar das Gemeinsame und ergänzen sich, ohne Differenzen werden sie aber farblos. An dieser Stelle soll folgender Arbeitsbegriff von Kultur gelten: Kulturen sind im Kontext der interkulturellen Religionswissenschaft in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Ausmaß in Partialkulturen differenzierte Netzwerke mit lokal unterschiedlichen Dichtegraden.
Struktur und Aufgaben der interkulturellen Religionswissenschaft Auf der Basis eines so verstandenen Kulturbegriffs ist die interkulturelle Religionswissenschaft dem Dialog zwischen den Religionen verpflichtet und hat stets eine Aufklärungsfunktion zu erfüllen. Es geht um die theore‐tische und praktische Anerkennung, daß auch andere Völker Vernunft und Rationalität besitzen. Hier wird die oft gestellte Frage beantwortet, wozu diese Art von Religionswissenschaft überhaupt notwendig ist. Dement‐sprechend liegt eine Aufgabe der interkulturell‐religionswissenschaftlichen Aufklärung darin, den selbsterhobenen Universalitätsanspruch der Religi‐onsgeschichte im Abendland nicht nur ideengeschichtlich, sondern auch entwicklungsgeschichtlich zu hinterfragen und zu relativieren, damit ein Dialog zwischen den Denktraditionen auf gleicher Augenhöhe stattfinden kann. Religionswissenschaft essentialistisch aufzufassen oder sie nur unter bestimmten Bedingungen als relevant erklären zu wollen, widerspricht dem Kern religionswissenschaftlicher Reflexion selbst. Interkulturelle Religionswissenschaft umfaßt als ein human‐ und kul‐
turwissenschaftliches Programm sowohl Praktische und Engagierte als auch Angewandte Religionswissenschaft. Sie ist zum einen bemüht, gei‐steswissenschaftliche Begriffe zu entkolonialisieren, die geschichtlich stu‐fentheoretisch gebildet worden sind, und zum anderen die europäisch‐westliche Religionswissenschaft zu säkularisieren, die in vielerlei Hinsicht intern dialogisch und extern konservativ und monologisch agiert. Damit verfolgt die interkulturelle Religionswissenschaft das Ziel, ein neues Selbstverständnis des Menschen zu entwickeln.
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Interkulturelle Religionswissenschaft beschränkt sich als offene Systema‐tik nicht auf die Analyse der religiösen Quellen unter literarischen Ge‐sichtspunkten; sie hat auch ein undogmatisch, rein historisch erforschter Bezug zu Religionen der Menschheit. Interkulturelle Religionswissenschaft distanziert sich von jeglicher Art
von Absolutheitsansprüchen und kulturegoistischen Handlungsweisen. Interkulturelle bzw. interreligiöse Kompetenz spielt im Rahmen dieses Konzepts eine Schlüsselrolle, die noch zu behandeln sein wird. In der interkulturellen Religionswissenschaft gilt eine ›orthafte Ortlosig‐
keit‹ wie auch eine ›ortlose Orthaftigkeit‹.9 Ihre Notwendigkeit ist im Pro‐zeß der Globalisierung eine zukunftsgerichtete Neugestaltung der interre‐ligiösen Gegenwartskultur. Interkulturelle Religionswissenschaft wirft eine Reihe von Problemen
auf, die eine neue Historiographie erfordern. Zu ihren wesentlichen Auf‐gaben gehört vor allem die Überwindung einer Denkart, die einen konti‐nentzentrischen Ausgangspunkt a priori festlegt. Dieses unverkennbare Erbe der kolonialistischen Phase der westlichen Geschichte, die mit ande‐ren Kulturen, Religionen und Philosophien selektiv verfährt, ist durch eine interkulturelle Sichtweise zu ersetzen. Interkulturelle Religionswissenschaft nimmt nationale Identitäten wahr,
hält die interkulturelle Weltbürgerlichkeit für wichtig und ist ihrer welt‐bürgerlichen Bedeutung nach dem Weltbegriff verpflichtet. Sie räumt dem sensus numinis, der für Milliarden von Menschen zentral ist, den ihm ge‐bührenden Platz ein. Interkulturelle Religionswissenschaft nimmt an der Gestaltung des Welt‐
friedens teil und stellt keine Gebote und Verbote auf. Sie untersucht die Erscheinungsformen, vergleicht sie, klärt die Ursachen von Diskrepanzen und zeigt Wege zur Lösung der Probleme auf. In ihrem Zentrum steht ein rationales und ethisches Bewußtsein, welches dem generellen und essenti‐ellen Religionsverständnis vorausgeht. Wahrheits‐ und Wesensfrage dür‐fen nicht miteinander vermengt werden. Sonst »treten tatsächlich religiöse Denkurteile auf mit erschlichenen Prämissen gegen echte Denkurteile des
9 Mall, R. A.: Philosophie im Vergleich der Kulturen, 1995 S. 20.
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wissenschaftlichen Denkens.«10 Religion wird hier gesehen als »erlebnis‐hafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen.«11 Dieser doppelte Aspekt verbindet alle Religionen. »Von daher kann die Religion des anderen im Kern verstanden werden und sollte das Verstehen des anderen das Zusammenleben und Zusammenwirken der Religionen stimulieren.«12 Für die interkulturelle Religionswissenschaft ist die Kategorie des Heili‐
gen konstitutiv13: »Es ist die Frage«, stellt Hans Jonas (1903‐1993) fest, »ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die am gründ‐lichsten durch die wissenschaftliche Aufklärung zerstört wurde, eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen und dauernd hinzuerwerben und auszuüben beinahe gezwungen sind.«14 William James (1842‐1910) argumentiert in dieselbe Richtung und kritisiert darüber hinaus eine reine philologisch ausgerichtete Religionswissenschaft. Wir müssen uns nach James mit der Tatsache abfinden, »daß der Versuch, auf dem Wege der reinen Vernunft die Echtheit religiöser Befreiungserleb‐nisse zu demonstrieren, absolut hoffnungslos ist.«15 Die Kategorie des Heiligen läßt sich im interkulturellen bzw. interreligiösen Kontext verdeut‐lichen: Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam und die Zande (dar‐über später) können als Beispiel angeführt werden. »Das Heilige in diesen Religionen bildet in verschiedener Weise ihren Kern. Während der Budd‐hismus vom Nirvana ausgeht und das Judentum von Jahwe, ist Jesus als
10 Mensching, Gustav: Das religiöse Urteil. Ein Beitrag zur Wesensfrage, in:
Sozialistische Monatshefte, 28. Jg., Bd. 58, Berlin 1922 (520‐521), S. 521. 11 Mensching, Gustav: Die Religionen und die Welt. Typen religiöser Weltdeutung,
Bonn 1947 S. 17. 12 Tröger, Karl‐Wolfgang: Das Heilige als interreligiöse Kategorie, Mit Rudolf Otto im
Gespräch, in: RIG, Bd. 7, Neue Herausforderungen für den Interreligiösen Dia‐log, 2002 (92‐101), S. 98.
13 Zur Kategorie des Heiligen in der Religion, Philosophie und Religionswissen‐schaft vgl. Yousefi, H. R.: Der Toleranzbegriff im Denken Gustav Menschings. Eine interkulturelle philosophische Orientierung, Nordhausen 2004 S. 27‐41.
14 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Kritik für die technologi‐sche Zivilisation, Frankfurt/Main 1989 S. 57.
15 James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrungen. Eine Studie über die menschli‐che Natur, Frankfurt/Main 1997 S. 447.
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Gottesgestalt für das Christentum, Allah für den Islam und Orakel, Magie und Hexerei für die sogenannten primitiven Kulturen wesentlich. Dies verhält sich mit allen anderen Religionen, Weisheitsreligionen oder religiö‐sen Vorstellungen nicht anders, die an ›Etwas‹ glauben, was für sie ›heilig‹ ist. Das Heilige kann neben magischen Vorstellungen auch auf Gegen‐stände bezogen sein. Deshalb kann von der ›unbestimmten Bestimmung des Heiligen‹ gesprochen werden, die je nach Vorstellung anders ausfallen wird.«16 Religionsverstehen kommt im Symbolverstehen zum Ausdruck, welches das Wesen der Religionen erfaßt. Eine interreligiöse und interkulturelle Orientierung sieht in dem Heiligen
das verbindende Glied unter den Religionen, das für den Dialog unerläß‐lich ist. Damit trägt sie dazu bei, durch den Dialog zu besseren Einsichten über das Eigene und das Fremde zu verhelfen und ein besseres Miteinan‐der in Gang zu bringen. Überlieferte Unterscheidungen, voreilige Identifi‐zierungen und Unterscheidungen, die häufig zu Polarisierungen führen, werden nicht mehr kritiklos akzeptiert. Im Kontext des Interkulturellen gilt es die Frage zu beantworten, ob wir
berechtigt sind, eine ›Superkultur‹ bzw. ›Superreligion‹ zu fördern, die den Anspruch erhebt, bestehende kulturelle bzw. religiöse Vorstellungen und Handlungsweisen zu ersetzen? Diese Frage ist kurz und deutlich mit nein zu beantworten. Interkulturelle Religionswissenschaft schafft einen integrativen Rahmen
zur Zusammenstellung der Ursachen von Vorurteilen und praktiziert eine parallele Heranziehung der kulturspezifischen und kulturübergreifenden Themen. Um Religionen zu verstehen, genügt es nicht, eine reine textuelle und philologische Orientierung zu pflegen. Das war die traditionelle Form der Religionswissenschaft. Im Kontext des Interkulturellen bzw. Interreli‐giösen geht es vielmehr darum, die religionsgeschichtliche Entstehung, die Gesamtheit der Lehre samt ihrer Soziologie und verbunden mit ihrer so‐
16 Yousefi, H. R.: Der Toleranzbegriff im Denken Gustav Menschings. Eine interkultu‐
relle philosophische Orientierung, Nordhausen 2004 S. 225. Diese unbestimmte Bestimmung läßt zu, daß die Lehre Buddhas nicht als ein onto‐theologischer Be‐griff aufgefaßt wird. Auch wenn Mensching trotz aller Differenzen das Überlap‐pende unter den Religionen hervorhebt und es als das Heilige bezeichnet, darf es nach buddhistischem Verständnis nicht ontologisiert werden.