Kompetenzen und exzessive Nutzung beiComputerspielern:
gefordert, gefördert, gefährdet
Prof. Dr. Jürgen Fritz (FH Köln)Prof. Dr. Uwe Hasebrink (Hans-Bredow-Institut)
16.2.2011
Vielfalt digitaler Spiele
1. Aufbau der Studie
2. Welche Bedeutung strukturelle Koppelungen haben
3. Was Computerspieler motiviert
4. Welchen Nutzen Computerspiele haben könnten
5. Wann Computerspiele schaden können
6. Welche Kompetenzen Computerspieler haben sollten
7. Empfehlungen für Eltern, Pädagogen und Institutionen
Gliederung des Vortrags
1. Erfassung und Bewertung des Forschungsstands zu Nutzung,Potentialen und Risiken von Computerspielen
2. Entwicklung einer modularen Theorie
3. Analyse der „Forderungsstruktur“ von ausgewähltenComputerspielen (WOW, Counter-Strike, Sims3, FIFA, FarmVille)
4. Repräsentative Befragung der Computerspieler in Deutschland(ab 14 Jahren, n=600)
5. Leitfadengestützte Interviews mit Computerspielern (n=40) unddaraus abgeleitete Fallanalysen
6. Leitfadengespräche mit fünf Experten aus der Beratungspraxis
Aufbau der Studie
1. Modulare Theorie
Die verschiedenen Aspekte in der Forschungskonzeption sind gleichrangig. Essind „Module“, die nur im Zusammenhang mit den anderen Modulen ihre
Bedeutung für ein Forschungskonzept besitzen.
Das für die LfM-Forschung entwickelte Konzept wurde aus Bausteinen gebildet,die miteinander verzahnt sind. Und zwar in dieser Weise ...
ComputerspielStruktur,
Entgegenkommen,Nutzungsversprechen
SpielerErwartungen,
Interessen,Fähigkeiten,
soziales Umfeld
Und so haben sich die verschiedenen Moduleals Bausteine
für das LfM-Forschungskonzeptineinander gefügt ...
ComputerspielStruktur,
Entgegenkommen,Nutzungsversprechen
SpielerErwartungen,
Interessen,Fähigkeiten,
soziales Umfeld
Eltern undPädagogen
Interessen,Spielerfahrungen,
Fähigkeiten,soziales Umfeld
Schemata undRahmen
Rahmungskonflikte,Verständnisbrücken
StrukturelleKoppelung
Zwischen Spielund Spieler
TransfersMöglicher
Nutzen undSchaden
Empfehlungenfür
pädagogischesHandeln
1. Modulare Theorie
Die Ergebnisse der Forschung lassen sich folgendenBereichen zuordnen:
Strukturelle Koppelungen zwischen Spiel und Spieler
Motivationsstrukturen der Spieler
Möglicher Nutzen der Computerspiele
Mögliche Gefahren von Computerspielen
Anforderungen an die Kompetenzen der Spieler
Empfehlungen für Eltern, Pädagogen und Institutionen
2. Welche Bedeutung strukturelle Koppelungen haben
Um die Wirkungen der Spiele beurteilen zu können, muss manihre Funktionsweise verstehen.
Die Spiele sind so aufgebaut, dass die Spieler sich zu ihnen inBeziehung setzen können.
Spiel und Spieler koppeln sich miteinander. Dies bezieht sichsowohl auf die Inhalte als auch auf die Spielforderungen undden individuellen Nutzen.
Im Spielprozess koppelt sich der Spieler mit dem Spiel,motivationale Prozesse bewirken die Bindungskraft, die bis zurSogwirkung führen kann.
Strukturelle Koppelungzwischen der „Angebotspalette“ des Computerspiels und den „Präferenzen“ des Spielers
Regeln
Regeln
Inhalt
Inhalt
Präsentation
„Angebotspalette“ desComputerspiels
„Präferenzen“ des Spielers
Strukturelle Koppelung zwischenAngebot und Präferenzen
DYNAMIKals die dem Spiel eigenenAntriebskräfte
DYNAMIKals die dem Spieler eigenenMotivationen
3. Was Computerspieler motiviert
Es entsteht die Frage, warum sich Menschen auf diese virtuelleSpielwelt einlassen. Bei „WoW“ sind es mehrere Millioneneuropaweit.
Welchen Nutzen haben die Spieler davon, wenn sie sichStunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre in virtuelleSpielwelten einweben?
Zahlreiche empirische Untersuchungen haben sich dieserzentralen Frage angenommen . Die Ergebnisse der LfM-Studiezeigen ein vielschichtiges Bild.
Die Spieler erwarten für sich einen unmittelbaren Nutzenwährend des Spielprozesses. Doch wie sieht dieser Nutzen aus?
Was Computerspieler motiviert, virtuelle Spielwelten aufzusuchen
Frei sein, Freizeit habenund genießen
Freiräume nutzen,selbst etwas
gestalten
Kreativ sein,Einfälle
verwirklichen
Gefühlsregulation,Rauslassen von
Wut undunangenehmen
Gedanken
Mood-Management,sich in eine gute
Stimmung versetzen
Leistung zeigen, diszipliniertsein;
Wettbewerbsorientierung
Selbstwirksamkeiterfahren,
Selbstaktualisierung
Erfolge erringen,sich anstrengen,
Macht undKontrolle ausüben
Zuwendung,Wertschätzung,
Zuneigung,Kontakt
3. Was Computerspieler motiviert
„Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschlicheAnerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zufinden und zu geben“ (Joachim Bauer).
„Nichts aktiviert die Motivationssysteme so sehr wie derWunsch, von anderen gesehen zu werden, die Aussicht aufsoziale Anerkennung, das Erleben positiver Zuwendung“(Joachim Bauer).
Der Computerspieler „verwandelt“ sich in Spielfiguren undAvatare, in Siedlungen und Weltraumkolonien, um Brücken zumDu bauen zu können.
Spiele fördern, indem sie fordern. Die Spielforderungen bietendie Chance, die Spieler genau in diesen Bereichen zu fördern,also für die Spieler einen Nutzen zu haben.
Die Frage stellt sich, ob dieser Nutzen nur für die anderenComputerspiele wirksam oder auch auf die reale WeltAuswirkungen hat.
Dies ist eine Frage des Transfers.
4. Welchen Nutzen Computerspiele haben könnten (2)
Die Lernprozesse beim Spielen wirken über das Spiel hinaus undkönnen Transfers auslösen.
Diese Transfers ermöglichen es den Spielern, mit Spielenähnlicher Struktur besser klar zu kommen, weil die dazunotwendigen Schemata bereits gelernt sind (intramondialerTransfer).
Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass die Lernprozesseauch außerhalb der virtuellen Spielwelt Auswirkungen haben: inder mentalen wie in der realen Welt (intermondiale Transfers).
4. Welchen Nutzen Computerspiele haben können (3)
Die LfM-Forschungen erbrachten Nachweise des intramondialenTransfers: Erfahrene Spieler hatten weniger Schwierigkeitenmit neuen Spielen oder neuen spielerischen Herausforderungenals „Neulinge“.
Das war zu erwarten, weil die zur Lösung derHerausforderungen erforderlichen Schemata vorhanden warenoder nur geringfügig modifiziert werden mussten.
Möglich ist auch, dass durch intensives und längeres Spielen einTrainingseffekt erzielt wird, der sich auf ähnliche Spiele mitähnlichen Anforderungen begünstigend auswirkt.
Die intramondialen Transfereffekte erklären auch, warum vieleSpieler bei „ihrem“ Genre bleiben: Die Erfolgszuversicht istgrößer, die spielerischen Herausforderungen werden ehergemeistert, der emotionale Belohnungswert ist relativ sicher.
4. Welchen Nutzen Computerspiele haben können (4)
Die Frage nach dem intermodialen Transfer, also derÜbertragung in die reale Welt, ist wesentlich schwierigerzu beantworten.
In den Interviews geben viele Spieler an, dass man etwasfür die reale Welt in den Spielen gelernt haben könnte.Wenn es dann aber um konkrete eigene Erfahrungengeht, sind die Aussagen wesentlich weniger eindeutig underweisen sich vielfach als Legitimation.
Die Spieler trennen sehr genau zwischen der virtuellenSpielwelt und der realen Welt, so dass in der Regelallenfalls recht abstrakte Fähigkeiten Transferchancenbesitzen.
In der LfM-Studie wurden von den Spielern vielfachsoziale Kompetenzen benannt.
Die Spieler lernen im Spiel für das Spiel und für das Spielen.Sie steigern im Spiel und durch das Spiel ihre Fähigkeit,
virtuelle Spielwelten zu beherrschen.
Das schließt nicht aus, dass basale Kompetenzen angeregtwerden und auf Inhalte neugierig gemacht wird, die eine
Relevanz für die reale Welt haben können.
Virtuelle Spielwelt
Reale Welt
Computerspieler selbst rahmen digitale Spiele nur sehrselten als „Lernraum“ und vermuten, dass erworbeneFähigkeiten auf die digitalen Spiele begrenzt bleiben.
Sie vermuten aber, dass einige der basalen Fähigkeitennützlich im Alltag sein können (z.B. Reaktionsschnelligkeit).
Dies gilt auch und besonders für soziale Kompetenzen.
Virtuelle Spielwelt
Reale Welt
5. Wann Computerspiele schaden können:Zeitlich ausgedehntes Spielen und
„Computerspielabhängigkeit“
,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
1 3 5 7 9 11 13 15 17 19 21 23 25 28 33 36 40 43 51 54 66 89
Stunden pro Woche
Pro
zen
t
Extensives Spielen (>90 Min/Tag = 10,5 Std/Woche) 17 Prozent aller Computerspieler
Median: 3 Std
Mittelwert:6,25 Std
5. Wann Computerspiele schaden können (1)
Repräsentativbefragung zeigt, dass Computerspieler unterschiedlich viel
Zeit aufwenden
n= 600 ExtensiveSpieler
Nicht-extensive Spieler Gesamt
Männlich 70,6% 54,3% 57,1%
Weiblich 29,4% 45,7% 42,9%
14-19 Jahre 24,5% 17,8% 19,0%
20-29 Jahre 42,2% 20,4% 24,1%
30-39 Jahre 15,7% 21,8% 20,8%
40-49 Jahre 5,9% 25,1% 21,8%
50-59 Jahre 8,8% 10,8% 10,5%
60 Jahre+ 2,9% 4,0% 3,8%
Extensive Spieler weisen überproportional hohe Präferenzen für Sport-
und Rennspiel, Strategie-/Management-/Simulationsspiele,
Actionspiele/Shooter und Abenteuer-/Rollenspiele auf
Die Gruppe der extensiven Spieler (> 10,5 Std/Woche)
5. Wann Computerspiele schaden können (2)
Existenz und Erfassung von Computerspielabhängigkeit im Sinne eines
eigenständigen klinischen Störungsbildes derzeit umstritten
Kriterien für abhängiges Verhalten u.a. (nach Grüsser/Thalemann):
Exzessives Spielverhalten über mindestens 12 Monate,
Kontrollverlust über exzessives Spielverhalten,
Unwiderstehliches Verlangen nach dem Spiel,
Steigerung: es wird häufiger und länger gespielt,
Ständige gedankliche Beschäftigung mit dem Spiel,
Entzugserscheinungen und Leidensdruck,
Inkaufnehmen schädlicher Folgen, Vernachlässigen von Pflichten
5. Wann Computerspiele schaden können (3)
Sichtung des Stands der Forschung ergab ~35 Studien, die„Computerspielabhängigkeit“ operationalisieren; 20 Studien machenAngaben zur Prävalenz, die zwischen 1,2% und 15% schwanken
Aber: Deutliche Grenzen der Vergleichbarkeit undAussagenreichweite der Studien, u.a. aufgrund…
Abgrenzung des Gegenstandsbereichs: Grenzen zwischenComputerspiel und Internetnutzung unterschiedlich gezogen;seltener Computerspiele vs. Glücksspiele
Repräsentativität: Daten meist nur für eingeschränktverallgemeinerbar
Operationalisierung: keine etabliere Skala; Einzelitems oftproblematisch
5. Wann Computerspiele schaden können (4)
26
Vorliegende Studie griff auf Skala „KFN-CSAS-II“ zurück
14 Items in Anlehnung an ICD-Kriterien
Anwendung in Stichprobe von Neuntklässlern: 1,7% (3% der Jungenund 0,3% der Mädchen) seien computerspielabhängig
Ergebnisse unserer repräsentativen Befragung (in %):
Männlich Weiblich 14-19 20-29 30-39 Über 40 Gesamt
Unauffällig 98,8 98,5 95,7 98,0 99,2 100,0 98,7
„Gefährdet“ 0,9 0,8 3,5 1,4 -- -- 0,9
„Abhängig“ 0,3 0,8 0,9 0,7 0,8 -- 0,5
Geringe Fallzahlen; keine klinische Diagnose möglich
5. Wann Computerspiele schaden können (5)
Merkmale auf Seiten der Computerspieler, die
problematisches Spielverhalten begünstigen können:
Kritische Lebenssituationen (Verlust von Partnerschaft, Beruf –
Probleme mit Schule, Beruf und Studium)
Ängstlichkeit, negative soziale Erfahrungen, mangelnde
Selbstwirksamkeitserfahrungen und schwache
Selbstregulationskräfte, besondere Verletzbarkeit
Wenig Sozialkontakte, Ablehnung durch das soziale Umfeld
Wenig befriedigende Interessen und Hobbies
Frühe positive Erfahrungen mit virtuellen Spielwelten und Tendenz zu
medialen Kompensationen
5. Wann Computerspiele schaden können (6)
Merkmale auf Seiten der Computerspiele, die
problematisches Spielverhalten begünstigen können:
persistente und permanente Spielstrukturen
Spielinterne Zeitrhythmen, die Eingreifen zu bestimmten Zeiten
erforderlich machen und/oder fortgesetztes Spielen ohne Möglichkeit
des Unterbrechens vorsehen
Spielformen, die figurale Identifikation ermöglichen (ausgeprägte
Avatar-Bindung) und den Spieler zum fortgesetzten „Upleveln“
motivieren.
Spiele, die soziale Bindungen ermöglichen oder gar notwendig machen
und die dadurch ein ambivalentes Wirkspektrum entfalten können.
5. Wann Computerspiele schaden können (7)
Schlüsselbefunde der Studie in Hinblick auf Computerspielabhängigkeit
Problematische Nutzung der Computerspiele wird nicht ausschließlich
durch ein konkretes Spiel oder ein bestimmtes Genre verursacht.
In denjenigen Fällen, in denen es zu einer zeitlich exzessiven
Computerspielnutzung mit problematischen Auswirkungen auf andere
Lebensbereiche kommt, wirken vielmehr Merkmale von Spieler, Spiel
und Kontext zusammen.
Dies kann sich zum Beispiel in kritischen biografischen
Übergangsphasen zeigen, in denen wenig äußere Zeitstrukturen und
Verpflichtungen vorhanden sind.
5. Wann Computerspiele schaden können (8)
6. Welche Kompetenzen Computerspieler haben sollten
Angemessene Rahmungskompetenzen (mondial,referentiell und selbstreflexiv)
Balance zwischen den Anforderungen der realenWelt und der Bindungskraft virtueller Spielwelten
Gestärkte Selbstregulationskräfte
Entwicklung sozialer Fähigkeiten und Aufbauverlässlicher Beziehungen in der realen Welt
7. Empfehlungen für Eltern, Pädagogen undInstitutionen (1)
Maßnahmen, die dazu dienen, diePersönlichkeitsbildung der Spieler zu stärken undweiter zu entwickeln (insbesondere im Hinblick aufsoziale Kompetenzen und der Entwicklung sozialerBeziehungen)
Angebote mit alternativen Erfahrungsmöglichkeiten,die zugleich einen Bezug zu virtuellen Spielweltenbesitzen (Beispiel: MMORPG und LARP)
7. Empfehlungen für Eltern, Pädagogen undInstitutionen (2)
Möglichkeiten, die die Spiele bieten, inpädagogischen Kontexten (Schule, Jugendarbeit)aufgreifen, vertiefen, transferieren.
Dabei die Fähigkeiten der Spieler im Umgang mitdem Computer und mit Computerspielen nutzen.
Anlässe und Räume bieten, um über die Nutzung derComputerspiele ins Gespräch zu kommen undunterschiedliche Sichtweisen auszutauschen.
Eine wichtige Voraussetzung dazu ist ...
Eltern und Pädagogen sollten durch eigeneSpielerfahrungen ins Spiel kommen
Was wäre nun das Ziel eines solchen Konzepts für diemedienpädagogische Arbeit?
Es gilt, Verständnisbrücken zu bauen
• von den Eltern zu den Medien und ihrer Faszinationskraft,ihren Möglichkeiten und Gefahren,• von den Eltern zu den Kindern und ihrer Mediennutzung,• von den Kindern zu den Erfahrungen und Auffassungenihrer Eltern,• von der Sichtweise der Eltern zur Sichtweise zurSichtweise ihrer Kinder.
Damit ist kein idealistisches Konzept gemeint,
... sondern langwierige und mühsame Arbeit.Erkenntnis auf Erkenntnis, Erfahrung auf Erfahrung
müssen aufgeschichtet und miteinander abgeglichenwerden, damit eine solche Brücke tragfähig wir undzum wechselseitigen Verständnis zwischen Eltern,
Pädagogen und Kindern beitragen kann.
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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Prof. Dr. Uwe HasebrinkDr. Claudia LampertDr. Jan Schmidt
Hans-Bredow-Institutfür Medienforschungan der Universität Hamburg
Prof. Dr. Jürgen FritzDr. Tanja Witting
Fachhochschule KölnFakultät für AngewandteSozialwissenschaftenForschungsschwerpunkt„Wirkung virtueller Welten“