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Im März 1960 blickte die Ausgabe des Ko-mikheftes „Mosaik“ auf die kommenden Sommerfreuden. Das Titelbild zeigt eine Sze-ne auf einem Campingplatz mit Badestrand. Die Szene scheint an sich nichts Besonderes darzustellen, wären da nicht eine Unmenge kleiner Sternchen, die die diversen Gegenstände kennzeichnen. Es handelt sich bei diesen um Schwimmringe, Luftmatratzen, Campingge-schirr, Federballschläger, Angeleimer, Schall-platten usw. Der Text auf dem Titel erläutert: „Daran könnt ihr sehen, welche große Rolle die Kunststoffe in unserem Leben spielen.“ Die Abbildung findet sich in Eli Rubens Monogra-phie “Synthetic Socialism” (146), die sich mit dem Zusammenhang von Diktatur und Plastik in der DDR auseinandersetzt und damit einen differenzierten Blick hinter die beschriebene Kulisse erlaubt.

Rubins Studie situiert sich im Schnittfeld der Geschichte und Kultur der DDR, denn der Autor setzt sich nicht nur mit der Produktion von Plastik, sondern auch dessen Bedeutung für den Alltag auseinander. Anhand dieses umfassenden Zugriffs wird deutlich, dass sich der an der University of Wisconsin lehrende Historiker von verschiedenen Positionen abgrenzt (3ff.). Dazu zählt beispielsweise die Reduktion der DDR auf ihren repressiven Charakter. Aber auch solchen Positionen, die das Totalitarismus-Paradigma überwunden haben, steht Rubin kritisch gegenüber. So teilt er nicht die Ansicht, dass das System der DDR nur funktionierte, weil verschiedene soziale Gruppen es an ihre Bedürfnisse anpassten (Mary Fulbrook). Eher scheint Rubin aus den Forschungen der Alltagsgeschichte (z.B. Alf

Eli Rubin: Synthetic Socialism:

Plastics and Dictatorship in the German Democratic RepublicRezensiert von Robert Stock

Lüdtke) Inspiration zu ziehen, die die Grenzen der staatlichen Macht im Rahmen alltäglicher Praktiken untersuchen. So argumentiert Rubin, dass die ostdeutsche Gesellschaft ein „ganz einzigartiger Zusammenhang von bottom-up und externen Einflüssen, von ökonomischen Bedingungen, bereits bestehenden Auffas-sungen hinsichtlich Ästhetik, Geschlecht und materiellen Werten sowie dem zentralisieren-den Impuls der DDR-Planwirtschaft war“ (8). Um diese These darzustellen, bezieht Rubin unterschiedliche Ebenen in seine Analyse ein: die chemische Industrie, den Wohnungsbau, das Design und der Konsum der aus Plastik gefertigten Gebrauchsgegenstände sowie deren Bedeutung für das Alltagsleben der Menschen in der DDR.

Im ersten Kapitel geht Rubin der Bedeutung des Jahres 1958 nach: Der V. Parteitag der SED erklärte die Erhöhung des Lebensstandards, d.h. die Versorgung der Bevölkerung mit Kon-sumgütern zur Hauptaufgabe, die den Ausbau der Industrie einschloss und darauf abzielte, den Pro-Kopf Verbrauch der Bundesrepublik bei Konsumgütern bis 1961 zu übertreffen. Dies betraf auch den Verbrauch chemischer Erzeugnisse. Im Anschluss an den Parteitag wurde folglich auf der Chemie-Konferenz, organisiert vom ZK der SED und der Staat-lichen Planungskommission im November 1958, die Modernisierung und der Ausbau der chemischen Industrie beschlossen.

Der Siegeszug des Plastiks und vor allem des funktionalen Designs ist Thema des zweiten Kapitels. Hier beschreibt Rubin, wie sich modernes Design für Möbel im Zeitraum 1945–1962 durchsetzen konnte – trotz der Kampagnen gegen den Formalismus und kri-tischer Positionen aus den Reihen linienkon-former Journalisten des „Neuen Deutschland“, die den modernen Möbeln einen Mangel an Kultur und einen kalten Funktionalismus bescheinigten (45, 61).

Sehr wichtig war in diesem Zusammenhang die Entscheidung zur besseren, schnelleren und billigeren Schaffung von Wohnraum, die auf der Bau-Konferenz 1955 in Moskau be-schlossen wurde. Rubin geht darauf im dritten Kapitel ein. Davon ausgehend erläutert er, wie der neu geschaffene Wohnraum in Plattenbau-

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Siedlungen begann, sich mit seriell produzierten Möbeln zu füllen. Eines der charakteristischen Elemente war dabei die Schrankwand, mit der sich „sowohl in der Möbelindustrie als auch im Wohn- und Lebensstil eine neue, moderne Ära“ (94) ankündigte. Materialien wie Polyethylene, Polyester oder Sprelacart fanden für Bestandteile von Tischen, Stühlen oder Furniernachbildungen bei Schränken etc. Verwendung. Solche Möbel, Geschirr usw. zogen auch im Küchenbereich ein und hatten Auswirkungen auf das Leben der Frauen, deren Hausarbeit und Freizeitaktivitäten nun Ziel staatlicher Untersuchungen und Kampagnen wurden, die u.a. auf Rationalisierung – auch durch den Einsatz von Plastik – abzielten.

Im folgenden Kapitel spürt Rubin dem Einzug des Plastiks in die Alltagswelt der Ostdeutschen nach. Texte, die in Zeitschriften für Erwachsene, Kinder oder Jugendliche die Vorteile und den Nutzen des Materials erklär-ten, „glorifizierten schlichtweg die Produktion von Plastik, indem sie die bekannten Ziele des Chemie-Programms wiederholten und Plastik-Produkte einzelner Betriebe präsentierten“ (137). Gerade die Langlebigkeit der Produkte wurde dabei – im Gegensatz zur kapitalistischen ‚Wegwerfmentalität’ – herausgestellt. Diese Distinktion schlug sich auch in der Sprache selbst nieder: Während das ostdeutsche Wort „Plaste“ dem Russischen entlehnt wurde und durch Werbetafeln wie „Plaste und Elaste aus Schkopau“ Verbreitung fand, verbreitete sich in der Bundesrepublik eher die Bezeichnung Plastik (vom englischen Wort plastics), die sich dort mit der Konnotation eines ‚Billigstoffs’ verknüpfte.1 Dass die Produkte aus Plaste in der DDR jedoch nicht immer das hielten, was sie versprachen, zeigt Rubin anhand von Eingaben an das Ministerium für chemische Industrie (217) im fünften Kapitel des Buches.

Ausgehend von einer breiten Materialbasis schildert Rubin überzeugend „eine distinkte ostdeutsche Gesellschaft“ (7) im Spannungsfeld von Herrschaft, Wirtschaft, Alltag und dem Material Plastik. Interne Spannungen kommen dabei allerdings nur am Rande zur Sprache. So etwa der Fall von Angela K., die „eine bewus-ste Entscheidung traf, Plastikgegenstände aus ihrer Wohnung auszuschließen“ (221). Dieser

gewählte Lebensstil – eine Art inneres Exil – wurde auch von Mitarbeitern der Staatssi-cherheit bemerkt, die als getarnte IM Zugang zur Wohnung der Befragten hatten. Dies stellte sich nach 1989 heraus, als die Befragte Einsicht in ihre Stasi-Akte nahm. Solche Fälle sowie Strategien subkultureller Gruppierungen im Hinblick auf die Gestaltung des alltäglichen Lebensumfeldes durch das Material Plastik hätten in der vorwiegend auf den Mainstream gerichteten Studie eingehender berücksichtigt werden können.2

Die auf dem oben angesprochenen „Mo-saik“-Titel dargestellten Objekte sind heute wohl kaum noch in unserer alltäglichen Umgebung präsent. Umso mehr haben aber beispielsweise Eierbecher oder andere Objekte auf Flohmärkten und anderswo einen Status als begehrte Sammler- oder Liebhaberstücke erlangt. Ob dies ein Zeichen von Ostalgie war oder ist, soll an dieser Stelle nicht weiter dis-kutiert werden. Dass sich mit einem solchen Objekt aber komplexe historische Umstände verbinden, die auf unterschiedliche Art auch bis in die Zeit nach 1989 weiterwirken, das zeigt die Studie von Rubin auf sehr anschau-liche Weise.

Bei seiner Forschung wurde Rubin unter anderem von Andreas Ludwig und dem „Doku-mentationszentrum Alltagskultur der DDR“ in Eisenhüttenstadt unterstützt.3 Insofern macht das Buch ebenfalls neugierig, diesem Ort ei-nen Besuch abzustatten. Schließlich liegt die einstige Stalin-Stadt nur eine kurze Zugstrecke von Berlin entfernt und das dortige Museum eröffnet interessante Perspektiven auf wichtige Aspekte der ostdeutschen Alltags-Geschichte, die in dieser Art wohl nicht vom „DDR Muse-um“ in Berlin-Mitte behandelt werden.4

Anmerkungen

1 Vgl. Schroeter, Sabina: Die Sprache der DDR im Spiegel ihrer Literatur. Studien zum DDR-typi-schen Wortschatz, Berlin u.a. 1994, 60, 133.

2 In der Ausstellung „Parteidiktatur und Alltag in der DDR“ des Deutschen Historischen Museums waren zum Beispiel ein Oberteil und ein Rock zu sehen, die von der alternativen Modegruppe ccd hergestellt worden waren. Diese hatte sich Mitte

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der 1980er Jahre im Prenzlauer Berg gegründet. Die Kleidungsstücke gehörten zur „Folien-Kollek-tion“ und waren aus Resten von Duschvorhängen, medizinischen Eingeweidetüten und Folien für Erdbeerpflanzungen gestaltet worden. Vgl. die Abbildung im Ausstellungskatalog: Falkenberg, Regine (Hg.): Parteidiktatur und Alltag in der DDR. Aus den Sammlungen des Deutschen His-torischen Museums, Berlin: DHM 2007, 199.

3 Informationen zum Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt finden sich unter: http://www.alltagskultur-ddr.de/pages/home.html (Zugriff: 13.07.2011). Dort findet sich auch eine Rubrik „50 Jahre Chemiekonferenz – Plastik im Alltag der DDR“. Siehe auch die Beiträge in Ludwig, Andreas (Hg.): Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin: Ch. Links 1999.

4 Vgl. die Internetseite dieser Einrichtung mit In-formationen zur Ausstellung und dem Konzept „Geschichte zum Anfassen“: http://www.ddr-mu-seum.de/de/ausstellung/ (Zugriff: 13.07.2011).

Eli Rubin: Synthetic Socialism: Plas-tics and Dictatorship in the German Democratic Republic, Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2008, 286 Seiten.

Peter Krause, Ilona Ostner (Hg.):

Leben in Ost- und WestdeutschlandEine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010

Rezensiert von Raj Kollmorgen

Das Jahr 2010 war Anlass für vielfältige Bi-lanzierungen der deutschen Vereinigung (vgl. die Sammelbesprechung von Koch 2011). Der rezensierte Band ordnet sich hier ein – wie der Untertitel unmissverständlich anzeigt – und unternimmt einen voluminösen Versuch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu bilanzieren. Schon die Anzahl der AutorInnen (insgesamt 68), der Beiträge (38) sowie der Umfang des Buches (knapp 800 Seiten) sind Respekt erheischend und lassen erahnen, welcher editorische Aufwand hinter diesem Projekt gesteckt haben muss.

Der Band soll – so formulieren die beiden Herausgeber – „die Entwicklung der Lebensbe-dingungen in beiden Landesteilen seit der Ver-einigung“ thematisieren und „in wesentlichen Teilen komparativ empirisch (mit SOEP-Daten1 und anderen) angelegt sein“ (12). Das erfolgt in vier Kapiteln. Nach der Einleitung werden im ersten Kapitel „Einleitung und Bilanzierung“ vier Überblicksartikel zu den Themen Lebens-verläufe, Transformation und Einkommen, Gerechtigkeitsvorstellungen sowie Psychologie der Wiedervereinigung angeboten. Das zweite Kapitel „Stadien im Lebensverlauf“ umfasst insgesamt 16 Beiträge, die sich in fünf Blöcken mit spezifischen Lebensphasen und ihren sozialen und sozialpolitischen Problemlagen beschäftigen: Lebensbeginn, Kindheit und Jugend; Erwachsenwerden – Partnerschaft und Mating; Lebensmitte – Arbeitsmarkt und berufliche Integration; Übergänge in den Ruhestand; Altern und Lebensende. Das dritte Kapitel „Lebensbedingungen im Lebensverlauf“ befasst sich in ebenfalls 16 Beiträgen mit vier lebenslaufübergreifenden Querschnittsthemen:


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