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Deutsche Architektur Auf den folgenden Seiten haben wir Zeichnungen von Michaela Melián aus dem Band „Föhrenwald” (siehe Seite 63) mit Fotos eines verlassenen Lagers in der Emma-Ihrer-Straße, München, von Marina Ginal kontrastiert. So unterschiedlich die städtebaulichen Ideen hinter den Architekturen sind - in Föhrenwald die lagertaugliche Arbeiter-Mustersiedlung, in der Emma- Ihrer-Straße die institutionalisierte Desintegration im temporären Bau der Baracke - so bedrückend identisch doch die Wirkung der Fluchten in Zeichnung und Fotos.

"Integration" als falsches Konzept

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Page 1: "Integration" als falsches Konzept

Deutsche Architektur Auf den folgenden Seiten haben wir Zeichnungen von Michaela Melián aus dem Band „Föhrenwald” (sieheSeite 63) mit Fotos eines verlassenen Lagers in der Emma-Ihrer-Straße, München, von Marina Ginal kontrastiert. So unterschiedlichdie städtebaulichen Ideen hinter den Architekturen sind - in Föhrenwald die lagertaugliche Arbeiter-Mustersiedlung, in der Emma-Ihrer-Straße die institutionalisierte Desintegration im temporären Bau der Baracke - so bedrückend identisch doch die Wirkung derFluchten in Zeichnung und Fotos.

Page 2: "Integration" als falsches Konzept

In der Bundesrepublik Deutschland hat sich der Begriff

„Integration” zu einem regelrechten Fetisch entwickelt.

Die Bezeichnung bedarf keinerlei Legitimation: Integra-

tion ist ein Generalziel der gesellschaftlichen Entwick-

lung; wer von Integration spricht, der will auf alle Fälle

etwas Gutes, und Integration ist etwas, dass „wir” alle

begehren. Wer nicht für Integration ist, der wird vom

herrschenden Diskurs gnadenlos als „Multikulti-Träumer”

gebrandmarkt, als gefährlicher Träumer, denn „Multikul-

ti”, soviel scheint ebenfalls festzustehen, führt notwendig

zum Zerfall der Gesellschaft.

Nun ist die Prominenz des Begriffes Integration eigent-

lich erstaunlich, denn letztlich handelt es sich um eine

Renaissance - die Bezeichnung war schon einmal, in den

1970er Jahren, als Allheilmittel für soziale Probleme im

Gespräch. Heute ist allerdings völlig unklar, was mit der

Bezeichnung Integration gemeint ist. Ein Blick auf die

Homepage der „Beauftragten der Bundesregierung für

Migration, Flüchtlinge und Integration” in Berlin zeigt,

dass an keiner Stelle eine genaue Definition geliefert

wird. Die Vorstellungen schwanken zwischen „Leitkultur”

und „Diversity”, wobei es sich um diametral entgegenge-

setzte Konzepte handelt, und auch der sogenannte

„Nationale Integrationsplan” ist kaum mehr als ein Bün-

del von sehr unterschiedlichen Anregungen und „Selbst-

verpflichtungen” ohne inhaltliche Klammer.1

Die Unbestimmtheit des Begriffs

Tatsächlich versteht offenbar jeder etwas anderes unter

Integration. „Zuwanderinnen und Zuwanderern soll eine

gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, politi-

schen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben in

Deutschland ermöglicht werden. Im Mittelpunkt aller

Bemühungen zur Integration steht daher der Gedanke

der Chancengleichheit.”, heißt es auf der Homepage des

Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge2. Dagegen

definiert der Minister für Integration des Bundeslandes

Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, den Begriff eher

kulturell: „Integration bedeutet, das Zusammenleben

unterschiedlicher Kulturen in diesem Land friedlich zu

ermöglichen. Jeder erhält seine eigene Kultur - aber auf

einer gemeinsamen Wertebasis. Grundlage einer solchen

gemeinsamen Leitkultur ist die Verfassung. [...] Integra-

tion bedeutet, die unterschiedlichen Kulturen nebenein-

ander und miteinander leben zu lassen und den Aus-

tausch zu fördern. Interkulturelle Begegnung lässt keine

Ghettos zu und ist auch keine Assimilation.”3

Ein genauerer Blick auf diese und andere Formulierun-

gen zeigt allerdings, dass sich hartnäckig eine Vorstel-

lung hält, nach der die Verfassung so etwas ist wie

„unsere Werteordnung” (Laschet)4, in die sich die Ein-

wanderer einzugliedern haben. Und zwar individuell.

Wann die Integration abgeschlossen ist, das bestimmt der

Staat bzw. die einheimische Gesellschaft im Grunde je

nach Gusto. So sind etwa nach dem Ansteigen der Ein-

bürgerungszahlen nach der Reform des Staatsangehörig-

keitsrechtes im beginnenden neuen Jahrtausend die Hür-

den immer höher gelegt worden. Die Voraussetzungen

für eine Einbürgerung waren trotz des Anfang der 1990er

Jahre bereits eingeführten Rechtsanspruchs schon immer

erheblich - Nachweise über gezahlte Rentenbeiträge,

genügenden Wohnraum und ausreichende Einkünfte

gehörten ebenso dazu wie etwa eine Regelanfrage beim

Verfassungsschutz über das politische Betragen. Doch in

jüngster Zeit wird vor allem im Bereich der Deutsch-

kenntnisse ein so erhebliches Niveau erwartet, dass die

Einbürgerungszahlen stark zurückgegangen sind. Dazu

kamen Debatten über „Einbürgerungstests” in Baden-

Württemberg und Hessen 2006. Die Diskussionen und

die Leitfäden haben kaum einen anderen Nutzen, als

den Migranten das Gefühl zu geben, dass „Integration”

unmöglich ist: Sobald sie die Hürden nehmen können,

werden sie höher gelegt.

Die fatale Macht des Unbestimmten

Dass der Begriff Integration schwer zu fassen ist, bedeu-

tet nicht, dass er nicht erhebliche Wirksamkeit entfaltet.

Wie weiter unten noch ausgeführt wird, erscheint Inte-

gration im Alltagsverständnis vor allem als Forderung an

die Einwanderer, sich an die „deutschen Lebensverhält-

nisse” anzupassen. Letzteres Konzept tauchte schon in

den ersten „Einbürgerungsrichtlinien” von 1977 auf. Jener

Text definierte Integration als individuelle Leistung der

Einwanderer.5 Erst nach dem vollständigen Erbringen

dieser Leistung wurde schließlich die Staatsangehörigkeit

verliehen. Nun hat sich seither einiges geändert, doch im

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i n t e g r a t i o n

Das Haus umbauenDer nebulöse Widergänger Integration hilft nicht einmal mehr den Deutschen. Es ist also an der Zeit,neue Sichtweisen für eine gemeinsame Zukunft zu entwickeln. Von Mark Terkessidis

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Page 3: "Integration" als falsches Konzept

herrschenden Diskurs ist das damals niedergelegte Ver-

ständnis oftmals erhalten geblieben. Jedenfalls entspricht

dem unentwegten Reden über Integration keineswegs

ein überprüfbares, staatliches Programm zur Erreichung

eines konkreten Zieles. Der ganze Komplex der Einwan-

derungspolitik in der Bundesrepublik war stets ein

durchaus chaotisches Bündel unterschiedlicher und zum

Teil auch widersprüchlicher Maßnahmen.

In der Folge soll der Begriff Integration einer Kritik

unterzogen werden. Zudem möchte ich die Blickrichtung

umkehren und auch die Bemühungen der Migranten zur

„Selbsteingliederung” beschreiben. Tatsächlich haben die

Einwanderer selbst erhebliche Leistungen erbracht, um

in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Die staatli-

che Rhetorik und Politik der Integration hat sich dage-

gen - so die These - in den meisten Fällen nicht als

Hilfe, sondern eher als Hemmschuh erwiesen, ein von

einheimischer Seite definierter Maßstab, dessen Inhalt

ständig verschoben und damit letztlich gar nicht erreicht

werden kann.

Integration als Allheilmittel

In den 1970er Jahren wurde die Bezeichnung Integration

nicht nur in Bezug auf Migration verwendet, sondern

galt als Allheilmittel gegen Marginalisierung. Gruppen

am Rande der Gesellschaft sollten eingebunden werden

in das Gesamtsystem. Dabei wurde ein Abstand voraus-

gesetzt, eine „Unterentwicklung”, die durch geeignete

materielle Hilfs- und Ausgleichsmaßnahmen überwunden

oder zumindest verringert werden sollte. Als sozialtech-

nisches Ziel galt die Erhaltung des sozialen Friedens. Die

damalige Integrationsidee hatte zwei Voraussetzungen.

Zum einen gab es als Zielvorgabe die Norm des mittel-

ständischen, männlichen, heterosexuellen und einheimi-

schen Subjektes. An dieser Norm wurde der besagte

Abstand der jeweiligen marginalisierten Gruppe gemes-

sen. Die andere Voraussetzung war der in die Wirtschaft

intervenierende Staat.

Nun sind beide Prämissen seitdem erheblich ins Wanken

gekommen. Bereits in den 1970er Jahren wurde der

Gedanke der Norm heftig theoretisch kritisiert. Unterdes-

sen jedoch ist diese Norm auch real unter Druck geraten

- auch wenn Deutschland der Entwicklung hinterher-

hinkt, hat selbst hier der demographische Wandel dafür

gesorgt, dass in den Eliten immer mehr Frauen, Homose-

xuelle oder Personen mit Migrationshintergrund zu fin-

den sind. So hat sich die „Norm” verändert. Zudem

erlebt man seit Mitte der 1970er Jahre eine zunehmende

Hinwendung zum Credo des Neoliberalismus. Das lautet:

Der Staat solle sich aus der Wirtschaft zurückziehen,

denn dessen Aufgabe sei nicht die Wohlfahrt der Allge-

meinheit; das soziale Umverteilen müsse aufhören. Wie

aber soll Integration ohne diese Voraussetzungen funk-

tionieren?

Ökonomische Integration

Zudem muss man Marios Nikolinakos beipflichten, der

1973 einen gewichtigen Einwand gegen den Begriff Inte-

gration erhob. Falsch sei es, schrieb er, „von einer anzu-

strebenden Integration bzw. Eingliederung der Gastarbei-

ter (zu) sprechen, zumal die Gastarbeiter schon wirt-

schaftlich und sozial objektiv in der deutschen Wirtschaft

integriert sind, nämlich als Hilfsarbeiter und als eine

soziale Schicht, die die Funktion des Proletariats und

Subproletariats des 19. Jahrhunderts erfüllen muss.”6 Man

mag letztere Bemerkung ein wenig polemisch finden,

aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die

Arbeitsmigranten bei ihrer Ankunft auf dem Arbeitmarkt

zumeist nur Zutritt zum Segment der unqualifizierten

und unsicheren Arbeit hatten. Die Einbeziehung auf dem

deutschen Arbeitsmarkt war also bereits eine spezifische

Form der Ausgrenzung. Nun ist die Benachteiligung auf

dem Arbeitsmarkt nur selten Thema von realen Integra-

tionsmaßnahmen geworden, und in der heutigen Debat-

te spielt das Ökonomische als zentrales Moment der

systemischen Inklusion keine Rolle mehr. Das ist

erstaunlich, denn die wirtschaftlichen Rahmendaten

haben sich für die Einwanderer verschlechtert. Für soge-

nannte Ausländer ist in Nordrhein-Westfalen in den letz-

ten 15 Jahren das Risiko, arbeitslos zu werden, etwa

dreimal so hoch geworden wie für die Einheimischen.

Ungleiche Voraussetzungen

Als einzige Korrekturmaßnahme in dieser Hinsicht

erscheint in diesen Tagen die Bildungspolitik. Das ist im

Sinne des Neoliberalismus durchaus konsequent: Für

eine entfesselte Konkurrenz sollen zumindest alle Perso-

nen gleich ausgerüstet sein. Allerdings haben seit dem

ersten „PISA”-Schock 2000 eine ganze Reihe von Unter-

suchungen gezeigt, dass die Benachteiligung von Kin-

dern mit Migrationshintergrund so massiv wie in kaum

einem anderen Einwanderungsland ist. Tatsächlich haben

andere Einwanderungsländer Schulreformen hinter sich,

welche die reale Vielfalt der Hintergründe, Eintrittsbedin-

gungen und Voraussetzungen von Kindern im alltäg-

lichen Funktionieren der Institution berücksichtigt.

In Deutschland jedoch wird auf die Probleme des Schul-

systems gemeinhin anders reagiert. Zunächst wird das

schlechte Abschneiden den Migranten selbst angelastet.

Franz Hamburger schreibt, dass es eine nicht-öffentliche,

ethnozentristische Auslegung von PISA gebe: „Die weit

verbreitete Überlegung, wie ‚Deutschland’ abschneiden

20

i n t e g r a t i o n

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würde, wenn die Kinder mit Migrationshintergrund ‚her-

ausgerechnet’ würden, ist ein zentrales Deutungsmus-

ter”.7 In diese Kerbe schlug auch FAZ-Kommentator Jür-

gen Kaube, der nach der PISA-Studie 2005 meinte, dass

es darum gehe, „sich der Tatsache zu stellen, dass Tür-

ken in Deutschland als größte Problemgruppe im Durch-

schnitt weniger bildungsfreundlich erzogen werden”.8

Die meisten Bundesländer verfahren nach dem Prinzip:

Nicht die Schule wird reformiert, sondern die Migranten.

Das Konzept Integration geht letztlich weiterhin von

einer „deutschen” Norm aus. Nun weiß man aus der

pädagogischen Forschung, dass es keineswegs „integra-

tiv” wirkt, wenn man bei Personen ausschließlich Defizi-

te diagnostiziert und nicht auch deren Können und Ent-

wicklungsmöglichkeiten, und sie dann in Sonderklassen

verfrachtet, um das Defizit auszugleichen. Alle Erfahrun-

gen aus benachbarten Einwanderungsländern zeigen,

dass beispielsweise der Spracherwerb in den ersten

Schuljahren konsequent in den Regelunterricht eingebaut

werden sollte.

Zudem gelten die „Defizite” der Migrantenkinder

gewöhnlich als Produkt eines kulturellen Unterschieds.

Bereits in den 1970er Jahren bezeichneten deutsche For-

scher etwa die türkische Familie als dysfunktional - das

angeblich dort herrschende patriarchale Prinzip sei unge-

eignet für das Leben im Einwanderungsland.9 Seit dem

Jahrtausendwechsel haben solche Auffassungen eine

Renaissance erlebt. Inzwischen gilt allerdings der Islam

als primäres Hindernis für die Integration. „Kronzeugin-

nen” mit Migrationshintergrund wie Necla Kelek bezeich-

nen den Islam als „Kulturmuster”, welches „das Handeln

muslimischer Migranten in Deutschland bis in den letz-

ten Winkel ihres Alltags” formt. So werde ein Wertesy-

stem begründet, das „mit den Werten und Normen der

deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht viel gemein”

habe.10 Es erscheint dann logisch, dass der Bildungsmiss-

erfolg kein Ergebnis von Diskriminierung ist - verant-

wortlich ist eben das rückständige „Kulturmuster”.

Selbstintegration als migrantische Alltagspraxis

Während der herrschende Begriff der Integration offen-

bar eher kontraproduktiv wirkt und ständig den Unter-

schied zwischen „uns” und „ihnen” herausstreicht, gibt es

selbstverständlich eine Alltagspraxis der Migranten, eine

Praxis, die man möglicherweise mit dem Begriff Selbst-

eingliederung umschreiben könnte. Diese Eingliederung

betrifft oftmals nicht das große Ganze, den Nationalstaat,

„Deutschland”, sondern vielmehr den lokalen Lebenszu-

sammenhang. Wie etwa die Untersuchung „Die multikul-

turelle Stadt” (2001) gezeigt hat11, führt die Heterogenität

des urbanen Lebens keineswegs - wie in der Bundesre-

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Illustration: Michaela Melián, Foto: Marina Ginal

Page 5: "Integration" als falsches Konzept

publik oftmals unterstellt - zur „Desintegration”, sondern

eher zu kommoden Formen städtischen Nebeneinanders.

Der lokale Zusammenhang ist für viele Einwanderer

auch deswegen relevant, weil er als inklusiv verstanden

wird. So hört man oft Aussprüche wie: „Ich bin Kölner,

aber kein Deutscher”.

Diese Selbsteingliederung kann vielfältige Formen

annehmen. Wenn man davon ausgeht, dass Mobilität,

Eigenverantwortung und Flexibilität heutzutage zentrale

gesellschaftliche Werte darstellen, dann besitzt ein großer

Teil der Migranten in dieser Hinsicht besondere Qualifi-

kation. Während man in Deutschland gern das Schicksal

der sogenannten zweiten Generation beklagt, die orien-

tierungslos „zwischen allen Stühlen” leben muss, zeigt

sich bei näherem Hinsehen, dass viele Jugendliche sich

sehr gut in mehreren Sprachen, mehreren kulturellen

Kontexten zurechtfinden und somit eher „auf allen Stüh-

len”12 sitzen können.

Tatsächlich sind nach einer über 40-jährigen Einwande-

rungsgeschichte selbst die immer wieder als Beispiel für

„Parallelgesellschaften” angeführten „Männercafés” keine

eindeutigen Orte mehr. So hat der Autor Imran Ayata

festgehalten, dass er sich dorthin verzieht, weil er hier

eben nicht ununterbrochen als „Türke” identifiziert

wird.13 So kann, was von außen nach der schlimmsten

Homogenität aussieht, erstaunlicherweise innen ein

Raum der Individualisierung sein.

Vorschläge an die Adresse der Politik

Das Konzept Integration ist, wie gesagt, erheblich ange-

staubt - ein Wiedergänger aus einem vergangenen Jahr-

zehnt. Tatsächlich wäre es für die Bundesrepublik deut-

lich besser, die Behörden würden sich an den Aktivitäten

der Migranten orientieren und den Versuch unterneh-

men, die positiven Beispiele fortzuentwickeln. Auf kom-

munaler Ebene geschieht das in letzter Zeit durchaus

häufiger. Die großen Konzepte wie Integration kursieren

dagegen auf der Ebene des Bundes und der Länder und

in der Medienlandschaft - dort bleibt die Lage vor Ort oft

ziemlich abstrakt. Die Anerkennung der „Selbsteingliede-

rung” wäre aber auch bei diesen Institutionen wichtig,

denn sie leisten gewissermaßen die symbolische Selbst-

vergewisserung der Gesellschaft.

Besonders relevant für die deutsche Gesellschaft ist die

Verbesserung der Partizipationsmöglichkeiten. In letzter

Zeit hat es eine Renaissance der Debatte über das kom-

munale Wahlrecht für sogenannte Drittstaatsangehörige

gegeben, weil auf kommunalem Level mittlerweile das

Problem auftritt, dass bis zu 30 Prozent der Bewohner

nicht wählen dürfen, was die Legitimität kommunalen

22

Mark TerkessidisJahrgang 1966 ist

ein Journalist, Autor

und Migrationsfor-

scher. Seine Themen-

schwerpunkte sind

Jugend- und Popkul-

tur, Migration und

Rassismus. Mitbe-

gründer des „Institu-

te for Studies in

Visual Culture”

(ISVC) in Köln

Illustration: Michaela Melián, Foto: Marina Ginal

Page 6: "Integration" als falsches Konzept

Handelns in Frage stellt. Insofern darf der Zugang zu

bestimmten Rechten nicht am Ende eines nebulösen

Integrationsprozesses stehen.

Wenn Partizipation das Ziel wäre, dann muss allen die-

sen Menschen ein niedrigschwelliges Angebot gemacht

werden. Das betrifft zunächst die Regelung des Aufent-

haltes. Diese sollte in der Kommune für sämtliche Perso-

nen unproblematisch sein, die sich dort aufhalten - seien

sie nun legal oder illegal eingereist. An das leicht zu

erwerbende Aufenthaltstatut sollten wiederum bestimmte

Rechte gekoppelt sein, die keine permanente Anwesen-

heit nötig machen. In einigen Kommunen gibt es öffent-

lich tagende „lokale Räte”, die auch für den Nahbereich

relevante Beschlüsse fassen dürfen. Prinzipiell kann sich

jeder beteiligen. Solche Formen der Einbeziehung

machen Mehrfachbindungen möglich und schaffen For-

men der Eingliederung, die ohne die Vorstellung von

„Integrationsnormen” auskommen. Diese Art der Teilha-

be könnte man das „Recht auf einen Ort” nennen.

Die Utopie der Diversity

Solche Partizipationsformen sollten ergänzt werden

durch die Anwendung der Idee der „Diversity”, die de

facto der deutschen Vorstellung von Integration diametral

entgegengesetzt ist. Einer der eloquentesten Vertreter des

„Diversity”-Ansatzes ist der USA-amerikanische Organisa-

tionsberater Roosevelt Thomas. In seinem auch auf

Deutsch erschienenen Buch „Management of Diversity”

erzählt er zu Beginn die unterdessen in vielen Publika-

tionen reproduzierte Geschichte von der Giraffe und

dem Elefanten.14 Sehr verkürzt handelt sie von der Einla-

dung eines Elefanten in das Haus einer Giraffe. Dieses

Haus ist den Bedürfnissen der Giraffe vollends ange-

passt, was bereits bei der Ankunft des Elefanten zu Pro-

blemen führt: Er, das gedrungene, schwere, breite Tier,

kann nicht durch die hohe und schmale Tür eintreten.

Die Giraffe nutzt die Möglichkeit, die Tür zu verbreitern.

Doch die Malheurs des Elefanten nehmen kein Ende:

Die Treppenstufen brechen ein, er sorgt für Risse in der

Wand. Schließlich empfiehlt die Giraffe dem Gast ein

Schlankheitsprogramm: Fitness-Studio und Ballettunter-

richt. Der Elefant jedoch definiert das Problem anders:

„Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob ein für eine

Giraffe entworfenes Haus je für einen Elefanten passen

wird, außer es würden einige tiefgreifende Umbaumaß-

nahmen vorgenommen”.15

Entsprechend bietet „Diversity” eine neue Sichtweise an:

Nicht die Minderheiten haben Defizite und sind reform-

bedürftig, sondern angesichts der vielfältigen Zusammen-

setzung der Bevölkerung muss das „Haus”, in dem diese

Menschen leben, umgebaut werden. Es geht darum, den

geteilten Raum kreativ neu zu erfinden. Insofern darf

„Diversity” auch nicht als notwendiges Übel betrachtet

werden, sondern als eine begrüßenswerte Gestaltungs-

aufgabe. Tatsächlich könnte „Diversity” eine ganz neue

Definition des Gemeinwesens mit sich bringen. Denn im

Gegensatz zum traditionellen Modell des Nationalstaates,

der sich auf die geteilte Geschichte beruft, verweist

„Diversity” auf das Zusammenleben in einer geteilten

Zukunft.<

23

i n t e g r a t i o n

1 Vgl. www.bundesregie-

rung.de/Webs/Breg/DE/

Bundesregierung/Beauf-

tragtefuerIntegration/

beauftragte-fuer-integra-

tion.html, letzter Zugriff

15.02.2008.

2 Vgl. www.bamf.de/cln

_011/nn_442456/DE/Inte-

gration/integration-

node.html?__nnn=true,

letzter Zugriff 21.02.2008.

3 „Integration ist jetzt

Kernaufgabe”, Interview

mit Armin Laschet (CDU),

NRW-Minister für Genera-

tionen, Familie, Frauen

und Integration,

http://www.caritas-

nrw.de/cgi-bin/showcon-

tent.asp?ThemaID=649,

letzter Zugriff 21.02.2008.

4 ebd.

5 Vgl. Einbürgerungs-

richtlinien vom 15.

Dezember 1977. In: Deut-

sches Ausländerrecht,

1993, München, S. 167-

181.

6 Nikolinakos, Marios(1973): Politische Ökono-

mie der Gastarbeiterfrage.

Migration und Kapita-

lismus. Reinbek bei Ham-

burg, S. 13.

7 Hamburger, Franz(2005): Der Kampf um

Bildung und Erfolg. In:

Hamburger, F., Badawia,

T. und Hummrich, M.

(Hg.): Migration und

Bildung, Wiesbaden.

8 Kaube, Jürgen(16.5.2005): Das Migra-

tionsdesaster, in: Frank-

furter Allgemeine Zeitung.

9 Vgl. Terkessidis, Mark(2004): Die Banalität des

Rassismus. Migranten

zweiter Generation ent-

wickeln eine neue Per-

spektive, Bielefeld (Trans-

cript), S. 149ff.

10 Kelek, Necla (2005):

Die fremde Braut, Köln,

S.235.

11 Bikow, Wolf-Dietrichet al. (2001): Die multi-

kulturelle Stadt, Von der

Selbstverständlichkeit im

städtischen Alltag,

Opladen.

12 Vgl. Otyakmaz, BerrinÖzlem (1995): Auf allen

Stühlen. Das Selbstver-

ständnis junger türki-

scher Migrantinnen in

Deutschland, Köln.

13 Vgl. Ayata, Imran(1998): Sabri Abis Män-

nercafé: Über einen Ort,

der mir gefällt. In: Mayer,

Ruth & Terkessidis, Mark

(Hg.): Globalkolorit. Mul-

tikulturalismus und

Populärkultur, St. Andrä-

Wörden, S. 41-56.

14 Vgl. Thomas,Roosevelt (2001):

Management of Diversity.

Neue Personalstrategien

für Unternehmen - Wie

passen Giraffe und

Elefant in ein Haus?.

Wiesbaden, S.25ff.

15 Ebd.: 26f.