Psychoterror der Macht - Natasa...

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SP I EG E L D ER Z E I T • MED I EN UND KR I T I K • KU LTUR • K I NDERSE I T E

EZ AM WOCHENENDE34 2./3. April 2011

Das eigene Fremdsein

Die Lyrikerin Else Lasker-Schüler stand in regem Austauschmit der deutschen Künstlerszene zu Be-ginn des 20. Jahrhunderts. Sie war eine Doppelbegabung und hinterließ über ihre Texte hinaus eine Vielzahl vongraKschen Arbeiten, die nun erstmals in einem Werkverzeichnis publiziert werden (Else Lasker Schüler: Die Bilder.Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 304 Seiten, 30 Euro). Noch bis zum 1. Mai sind die Originale im HamburgerBahnhof Berlin ausgestellt. Die 1869 inWuppertal geborene Lasker-Schüler erfand in ihren Bildern Fantasiegestal-ten wie in der obigen Abbildung den „blauen Jaguar“. Sie zeugen nicht nur von einer Begeisterung der Künstlerinfür den orientalischen und den indianischen Kulturkreis, sondern sie re]ektieren nicht zuletzt ihr eigenes Fremd-sein als Jüdin in Deutschland. Sie emigrierte 1933 in die Schweiz und starb 1945 in Jerusalem.

Zum Täter werdenAllein gegen Neonazis: Jakob Arjounis neuer Roman

Von Elke Vogel

Rick wäre gern wie Cherryman.Wenn es gefährlich wird, verwandeltsich der von ihm erfundene Comic-Held in einen Kirschbaum. NahenFeinde, werden sie von CherrymansÄsten verdroschen und gewürgt, gif-tige Früchte und in die Münder derGegner eindringende Blätter erledi-gen den Rest.„Cherryman jagt Mr. White“ heißtder neue Roman von BestsellerautorJakob Arjouni („Happy birthday,Türke!“). Schauplatz ist das fiktivebrandenburgische Dorf Storlitz. Der18-jährige Rick ist dort ein Außen-seiter. Er will nichts mit den im Ortherumlungernden, Bier trinkendenJungs mit den rechtsextremistischenAnsichten zu tun haben. Das gefälltder Neonazi-Bande nicht. Ricks Kat-

ze ist das erste Opfer. Am Endekämpft Rick um sein eigenes Leben.„Beeindruckend trostlos und miss-trauisch“ empfindet der 46-jährigeArjouni die Stimmung in manchenbrandenburgischen Dörfern: „Ag-gression liegt in der Luft. Das heißtnicht, dass einem da dauernd etwaspassiert. Aber es könnte etwas pas-sieren.“Rick will raus aus Storlitz. Eine Stel-le als Gärtnerlehrling ist sein Traum– und plötzlich scheint sein Ziel auchin greifbare Nähe gerückt. Doch da-für muss er sich mit dem Quallenwe-sen Mr. White einlassen, einemschmierigen Neonazi mit bestenKontakten bis nach Berlin. Dass dieGeschichte nicht gut ausgeht, erfährtder Leser schon auf der ersten Sei-te. In Briefen an den Kriminalpsy-chologen Doktor Layton berichtet

Rick vom Gefängnis aus, was ihmwiderfahren ist, und er erzählt auchvon dem, was er selbst seinen Fein-den angetan hat. Rick bewertetnichts, entschuldigt nichts. Er erzählteinfach, was er erlebt hat. Das ist dieStärke von Arjounis Erzählweise.Entwicklungsroman, Thriller, Gesell-schaftskritik – „Cherryman jagt Mr.White“ ist alles gleichzeitig. Die Ge-schichte mit dem sympathischen An-ti-Helden zieht den Leser von An-fang an in ihren Bann. Zum Schlussgerät man dennoch in ein morali-sches Dilemma, denn Rick wirdselbst zum Täter. Dabei wollte er nurseinem tristen Dorf entfliehen undam liebsten Comiczeichner werden.

Jakob Arjouni: Cherryman jagt Mr.White. Diogenes Verlag Zürich, 176Seiten, 19,90 Euro.

Schicksalhafte Sandkastenliebe„Jeden Tag, jede Stunde“: Begehrter Debütroman von Nataša Dragnic

Von Sibylle Peine

Das kommt alle Tage vor: Um dasErstlingswerk einer Autorin reißensich Verlage in zahlreichen Ländern.In dem Liebesroman „Jeden Tag, je-de Stunde“ von Nataša Dragnic gehtes geht um ganz große Gefühle. EinPaar, das von Kindesbeinen an für-einander bestimmt zu sein scheint,verliert sich und findet sich wieder,nur um sich erneut zu verlieren. Ei-genes Verschulden, aber auch tragi-sche Verquickungen und Manipula-tionen treiben es auseinander, unddoch bleibt es immer auf schicksal-hafte Weise miteinander verbunden.Die Sandkastenliebe beginnt in ei-nem kroatischen Küstenstädtchen inden 1960er-Jahren. Der fünfjährigeLuka ist von der kleinen Dora faszi-niert. Die beiden Kinder werden un-

zertrennlich, verbringen heitereSommertage am Strand miteinander.Die unbeschwerte Zeit findet ein ab-ruptes Ende, als Doras Familie plötz-lich wegzieht. Luka bleibt allein zu-rück, fühlt sich von seiner Freundinim Stich gelassen.Dora verbringt ihre Jugend in Paris,wird Schauspielerin. Luka lebt wei-ter in Kroatien und entwickelt sichzu einem erfolgreichen Maler. Beieiner Ausstellung in Paris begegnensich die beiden wieder. Vom selbenAugenblick an sind sie ein Liebes-paar. Doch Luka muss zurück nachKroatien, um nur kurz ein paar Din-ge in Ordnung zu bringen. Doch erkommt nicht mehr nach Paris zurück.Erst viel später erfährt Dora warum.Der Roman beginnt als heitere Som-mergeschichte beinahe fantastisch-märchenhaft. Nach und nach aber

hält die Realität Einzug, schließlichkippt das Ganze sogar ins Melancho-lische. Die Wirklichkeit ist am Endestärker als der Glaube an das gemein-same Schicksal. Eine Geschichte überverpasste Chancen und mangelndeCourage.Die Sprache der Autorin erinnert invielen Sequenzen an einen Film. DieDialoge sind knapp und schnörkel-los. In kurzen Strichen gelingt ihr ei-ne atmosphärische Verdichtung.Mittlerweile hat die Deutsche Ver-lags-Anstalt von dem Debütwerk der46-jährigen in Erlangen lebendenKroatin bereits 23 Lizenzen ver-kauft, darunter in entfernte Länderwie China, Taiwan oder Brasilien.

Nataša Dragnic: Jeden Tag, jedeStunde. DVA München, 288 Seiten,19,99 Euro.

Psychoterror der Macht„Hundert Tage“ von Roxana Saberi: Ein erschütterndes Buch über politische Haft im Iran

Von Yuriko Wahl

US-Präsident Barack Obama undAußenministerin Hillary Clinton ver-langten ihre Freilassung, Amnesty In-ternational und viele Reporter-Or-ganisationen verschafften ihrem Fallweltweite Öffentlichkeit. Die ira-nisch-amerikanische Journalistin Ro-xana Saberi wurde im berüchtigtenEvin-Gefängnis in Teheran terrori-siert, mit dem Tode bedroht, bis sieein falsches Spionage-Geständnis ab-legte, das sie aber noch hinter Git-tern widerrief.

Willkür und ständige Todesangst

In ihrem Buch „Hundert Tage“, dasjetzt in Deutschland erschienen ist,erzählt die 33-Jährige ihr Schicksal– mit durchlittener „weißer Folter“,Willkür und ständiger Todesangst,

schildert aber auch eindringlich dasLeid der zu Unrecht inhaftiertenMitgefangenen.„Viele Iraner, die die Demokratie-bewegung in ihrem Land unterstüt-zen, hoffen jetzt auf positive Effek-te für den Iran, wenn sich die Demo-kratie in Tunesien, Ägypten oder Li-byen durchsetzen kann“, sagte Sa-beri. Vor einem Jahr kam ihr Buchin den USA auf den Markt, nun fol-gen einige europäische Länder. „Jestärker das Regime mit Brutalität undGeheimdienst-Methoden gegen dieBevölkerung vorgeht, desto wahr-scheinlicher ist es, dass es zu einerRevolution kommen wird“, glaubtdie Journalistin, die seit 2003 im Iranlebte.Die Führung in Teheran drangsaliertMenschenrechtler, Aktivisten, Stu-dentenführer und Journalisten im-mer wieder, Kundgebungen werden

niedergeknüppelt. „Anklagen wegenangeblicher Spionage sind weit ver-breitet im Iran“, weiß Saberi. Kriti-ker würden unter diesem Vorwandweggesperrt, angeblich, um die na-tionale Sicherheit zu schützen.Saberi hat die ganz dunkle Seite inTeheran erlebt. In einem Schaupro-zess verurteilte ein Revolutionsge-richt sie im April 2009 wegen Spio-nage für die CIA zu acht Jahren Haft.Internationale Empörung und Pro-test folgten, Saberi trat in den Hun-gerstreik. Beides zeigte Wirkung.

Leiden der Landsleute

In einem Berufungsverfahren wurdedie Haft- in eine Bewährungsstrafeumgewandelt, Saberi kam nach 100Tagen frei. Albträume und Verfol-gungsängste begleiten sie nach dererlebten systematischen Einschüch-

terung und Manipulation noch heu-te in den USA, aber sie weiß: „Vie-le Gefangene sind brutaler behan-delt worden als ich.“Saberi, Tochter eines Exil-Iranersund einer Japanerin, berichtete seit2003 als Reporterin aus dem Iran.Als ihr 2006 die Erlaubnis dazu ent-zogen wurde, führte sie für ein Buchüber den Iran zahlreiche Interviews.Der Geheimdienst holte sie einesMorgens ohne jede Erklärung aus ih-rer Wohnung, steckte sie in Einzel-haft, zwang sie mit Druck, Psycho-terror und Drohungen auch gegenAngehörige – sogenannter weißerFolter – zu einem Geständnis, das siemehrfach vor laufender Kamera wie-derholen musste. Erst nach fünf Wo-chen Schikane durfte sie kurz mit ei-nem Anwalt sprechen. Lange durftesie nicht telefonieren, niemand wuss-te zunächst, wo Saberi steckte.

Saberi beschreibt auch die Qualenvieler politischer Gefangener, mit de-nen sie sich vorübergehend eine Zel-le teilte – etwa eine Studentin, Intel-lektuelle, Unterstützerinnen der Op-positionsbewegung.Zwei Mithäftlinge, die der verfolg-ten Bahai-Religionsgemeinschaft an-gehören, wurden nach Saberis Frei-lassung zu 20 Jahren Haft verurteilt.Die Freude über ihre Freiheit nachmehr als drei Monaten bleibe ge-trübt, schreibt die 33-Jährige: „Esschmerzt mich zu sehen, wie sehrmeine Landsleute leiden müssen,wenn sie sich für so grundlegendeRechte wie Rede-, Vereinigungs-oder Versammlungsfreiheit einset-zen.“

Roxana Saberi: Hundert Tage. Mei-ne Gefangenschaft im Iran. „EichbornVerlag, 352 Seiten, 19,95 Euro. Roxana Saberi Foto: dpa

Soap im NeandertalLetzter Ayla-Band ist erschienen

Von Oliver Hollenstein

Jean M. Auels Bücher über das Stein-zeitmädchen Ayla sind seit 30 Jah-ren Bestseller. Nun ist der letzte Teilder Reihe erschienen – eine Reise ineine faszinierende Welt, wenn manauf eine spannende Story verzichtenkann.Alles begann damit, dass Jean M. Au-el nicht einschlafen konnte. Es warim Winter 1977, als die Amerikane-rin auf die Idee kam, eine Kurzge-schichte über eine junge Frau zuschreiben. Aus der Kurzgeschichtewurden sechs Bücher, aus der jun-gen Frau Ayla wurde ein Urmen-schen-Mädchen, das unter Neander-talern aufwächst und als Fremde inbeiden Welten ihren Platz im Lebenfinden muss. Mehr als 45 MillionenMal verkauften sich die ersten fünfAyla-Bände weltweit. Jetzt ist derletzte Band erschienen: „Ayla unddas Lied der Höhlen“.

Sinnsuche in der Urzeit

Zum Serienfinale bleibt sich die Au-torin treu: Auf 1120 Seiten machtAyla das, was sie auch in den erstenfünf Bänden macht. Als eine Art Ur-zeit-MacGyver reist sie durch dieWelt, erfindet allerhand nützlicheDinge, muss böse Intrigen überste-hen, viele Menschen kennenlernenund – sie ist nun in der Ausbildungzur Heilerin – rituelle Gedenkstät-ten besichtigen. Ein ausgedehnterDrogentrip, leidenschaftlicher Sex,rasende Eifersucht und harmonischeVersöhnung dürfen auf dem Weg na-türlich nicht fehlen.Es wäre einfach, Auels Geschichtenals seichten Kitsch abzutun – und un-gerecht. Was Millionen Fans faszi-niert, ist nicht, was in ihren Geschich-ten passiert. Es ist die Welt, in diesie die Leser entführt. Das Leben vorrund 30 000 Jahren, das unseremheutigen Leben gleichzeitig so fernund doch so nah ist. Auels Urmen-schen sind keine grobschlächtigenHalbaffen, sondern reflektierte Er-wachsene, die denken und fühlen wiewir – und die mit denselben Proble-men kämpfen: Eifersucht, Sinnsuche,Diskriminierung, Erfolgsdruck, Al-koholismus.Ist das nicht etwas unrealistisch?„Unser Bild von Urmenschen ist lei-der von Hollywood-Klischees ge-

prägt. Die Wissenschaft sieht dasganz anders“, sagt die Autorin. Mitihrem runden Gesicht, ihrer großenBrille und ihrem Halstuch wirkt die75-Jährige, als würden ihre fünfzehnEnkel und acht Urenkel gleich ne-benan auf die Oma warten, damit sieihnen endlich noch eine Geschichteerzählt.

Menschen wie wir

„Unsere Vorfahren haben sich umBehinderte und Schwache geküm-mert“, sagt Auel. Das sei wissen-schaftlich erwiesen. Ebenso, dass esdamals keine Kriege gab und dassdie Medizinmänner schon erstaunli-che Dinge konnten. „Die Urmen-schen waren keine blutrünstigen Pri-mitiven. Sie waren Menschen wiewir.“Seit sie vor mehr als 30 Jahren ihrenersten Roman schrieb, ist Auel mitihrer akribischen Recherche in derWissenschaft zur anerkannten Ur-zeit-Expertin geworden. Für ihre Bü-cher hat sie Unmengen Literatur ge-wälzt. Sie hat Überlebenstrainingsin der Wildnis gemacht, gelernt, wieman Fell zu Leder macht und Natur-heiler befragt. Die Höhlen, die siebeschreibt, hat sie – „selbstverständ-lich“ – alle besucht.Es ist dieses schier unerschöpflicheWissen, das Leser auch beim sechs-ten Ayla-Band immer wieder in Er-staunen versetzt: Die Mischung ausdetaillierter wissenschaftlicher Be-schreibung und Fiktion erweckt ei-ne Welt zum Leben, die vielleichtwirklich so gewesen sein könnte.Ausführlich beschreibt Auel, wie dieUrmenschen auf Jagd gehen, ihreHütten bauen oder Kranke versor-gen.Jedermanns Sache dürfte Auels Buchaber nicht sein. Der ungeduldige Le-ser des 21. Jahrhunderts dürfte Mü-he haben, sich für die Detailfülle zubegeistern. Auch die zahlreichen Re-dundanzen erfordern bisweilen Ge-duld. Die Millionen Fans von Aylawerden solche Kleinigkeiten dage-gen kaum aufhalten. Sie lieben Au-el gerade dafür: Die Ayla-Serie isteine Historien-Soap vor atemberau-bender Kulisse.

JeanM. Auel: Ayla und das Lied derHöhlen. Heyne Verlag, 1120 Seiten,27,99 Euro.

Wie sag ich‘smeiner Katze?

(waw) – Es gibt bekanntlich zwei Sor-ten von Menschen: die Katzen- unddie Hundeliebhaber. Diese Regel be-stätigende Ausnahmen sind rar. Füralle Stubentiger-Freunde und solche,die es werden wollen, hat der Lan-genscheidt Verlag nun das Bändchen„Katze – Deutsch. Deutsch – Katze.Wie sag ich‘s meiner Katze?“ her-ausgebracht (128 Seiten, 9,99 Euro)– ein mit viel Humor und Ironie ge-schriebenes Standardwerk über dieKommunikation mit den beliebtenHausgenossen.Wie im Wörterbuch üblich, werdenin die Kapitel von „Welche Katzepasst zu mir?“ bis „Die Suche: So ge-hen Sie vor“ typische Redewendun-gen eingeblendet: Bei Katzenhalterhört man beispielsweise gerne ein„Guck mal, die putzigen Abdrückein der Butter“ oder „Ein Sofa kannman immer neu kaufen“. Der Leserlernt „Kätzisch für Anfänger“ unddie zahllosen Varianten von „Miau“subtil unterscheiden. Autorin NinaPuri spricht aus Erfahrung, wenn sieden Vorgang „Katze legt ein veren-dendes und ausgeweidetes Kleintierunter das Bett“ aus dem Kätzischenins Deutsche übersetzt mit „Ich magdich sehr“. Wer seine Katze liebt,wird auch dieses Buch lieben.

Über Geld redetman doch

(dpa) – Der Börsenprofi und Fern-sehjournalist Frank Lehmann plau-dert in seinem Buch „Über Geld re-det man nicht“ aus dem Nähkästchenund verrät, „was Ihnen die Finanz-profis verschweigen“ (Econ Verlag,Berlin, 288 Seiten, 18 Euro). Der Au-tor, der einst die „Börse im Ersten“aus der Taufe gehoben hat, verstehtsich als Anwalt all jener, die ihr müh-sam Erspartes vernünftig anlegenwollen. Er schreibt über die Tricks,mit denen Banken, Versicherungenoder Makler die privaten Anlegersystematisch über den Tisch ziehen.Der Insider zeigt auch, warum Ver-trauen zwischen Kunde und Banknicht mehr zählt, und er warnt vorFallen, die Anleger teuer zu stehenkommen können. Und für die Men-schen mit weniger Geld hat Lehmannauch ein Trostpflaster parat: „DieReichsten“, schreibt er, „sind nichtdie Zufriedensten.“

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