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Drägerheft Technik für das Leben 2018
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rägerheft 403
1. Ausgabe 2018
Zukunft d
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eit
Wie die Digitalisierung unser Leben verändert
Wie viel ist genug?
VernetzenChancen und Risiken
von Big Data S. 62
BergenBrandschutz in der
norwegischen Hansestadt S. 30
AufklärenWas werdende Mütter unter
einer guten Geburt verstehen S. 16
2 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
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Inhalt 403
6 DIE NEUE ARBEIT
Die Digitalisierung treibt dievierte industrielle Revolution –
wir sind bereits mittendrin.Sie verändert auch unsere
Arbeit und den Begriff, denwir von ihr haben. Wielässt sich die Zukunft
aktiv gestalten?
16 GRENZERFAHRUNG
Jede werdende Mutter möchte sie: eine „gute Geburt“. Doch was ist das überhaupt? Vor allem eine kontinuierliche Betreuung sowie bessere Aufklärung über das Kommende. Was, wenn der Traum davon zerplatzt?
30 SCHUTZ DER ALTSTADT
Annähernd 1.000 Jahre alt ist die norwegische Hafenstadt Bergen. Da kommt einiges zusammen. Besonders in der dicht bebauten Altstadt, die dank ihrer klassisch-hanseatischen Baukunst seit 1979 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Menschen und Kulturgüter auf engstem Raum zu schützen, ist Aufgabe der hiesigen Feuerwehr.
Auf rund 700.000 Normen und
Standards weltweit hat man bei Dräger in Lübeck Zugriff –
mehr ab Seite 58.
3DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Die Beiträge im Drägerheft infor-
mieren über Produkte und deren
Anwendungsmöglichkeiten im Allge-
meinen. Sie haben nicht die Bedeu-
tung, bestimmte Eigenschaften der
Produkte oder deren Eignung für
einen konkreten Einsatzzweck zuzu-
sichern. Alle Fachkräfte werden auf-
gefordert, ausschließlich ihre durch
Aus- und Fortbildung erworbenen
Kenntnisse und praktischen Erfah rungen an zuwenden. Die
Ansichten, Meinungen und Äußerungen der namentlich
genannten Personen sowie der Autoren, die in den Texten
zum Ausdruck kommen, entsprechen nicht notwendiger-
weise der Auffassung der Dräger werk AG & Co. KGaA. Es
handelt sich ausschließlich um die Meinung der jeweili-
gen Personen. Nicht alle Produkte, die in diesem Magazin
genannt wer den, sind weltweit erhältlich. Ausstattungs -
pakete können sich von Land zu Land unter schei den. Än-
derungen der Produkte bleiben vorbehalten. Die ak tuellen
Informatio nen erhalten Sie bei Ihrer zuständigen Dräger-
Vertretung. © Drägerwerk AG & Co. KGaA, 2018. Alle Rechte
vorbehalten. Diese Veröffent lichung darf weder ganz noch
teilweise ohne vorherige Zustimmung der Drägerwerk AG
& Co. KGaA wiedergegeben werden, in einem Datensystem
gespeichert, in irgendeiner Form oder auf irgendeine Wei-
se, weder elektronisch noch mechanisch, durch Fotokopie,
Aufnahme oder andere Art übertragen werden.
Die Dräger Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Hersteller
des X-pid (S. 26 f.), des CPS 7900 (S. 33), des PSS BG4 plus
(S. 33), des X-am 8000 (S. 40 f.) sowie des Polytron 8000
(S. 41). Die Drägerwerk AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Her-
steller des Perseus A500 (S. 36), des PulmoVista 500, der
Software SmartPilot View, SmartSonar Sepsis und Smart
Ventilation Control (alle S. 65) sowie des Oxylog VE300
(S. 68).
H E R A U S G E B E R : Drägerwerk AG & Co. KGaA,
Unternehmenskommunikation
A N S C H R I F T D E R R E D A K T I O N : Moislinger Allee 53–55, 23558 Lübeck
E-Mail: draegerheft@draeger.com
C H E F R E D A K T I O N : Björn Wölke,
Tel. +49 451 882 2009, Fax +49 451 882 2080
R E D A K T I O N E L L E B E R A T U N G : Nils Schiffhauer
A R T D I R E K T I O N , G E S T A L T U N G , B I L D R E D A K T I O N U N D K O O R D I N A T I O N :Redaktion 4 GmbH
S C H L U S S R E D A K T I O N : Lektornet GmbH
D R U C K : Lehmann Offsetdruck GmbH
I S S N : 1869-7275
S A C H N U M M E R : 90 70 441
www.draeger.com
IMPRESSUM4Menschen, die bewegenCaroline Berthet managt eine Klinik
in Südfrankreich, Weronica Tunes ist
Brandschützerin in Südnorwegen.
6Das verunsicherte IchWie werden wir morgen arbeiten?
Selten zuvor war die Antwort
so unklar wie heute.
16Was tun?Eine „gute Geburt“ erfordert
einiges Umdenken – werdende
Mütter erwarten eine Behandlung
auf Augenhöhe.
22RaffiniertRohöl ist mehr wert als Gold. Raffine-
rien veredeln es zu Kraftstoffen – und zu
einer breiten Palette anderer Produkte.
30Retten. Löschen. Bergen. Bergens Berufsfeuerwehr operiert
nicht nur mit moderner Ausstattung,
sondern auch mit kreativen Ideen.
36Anti-HackerIT-Schutz ist nicht isoliert, sondern
nur im System möglich. Einblicke in
Szenarien und Schutzkonzepte.
38StickoxideAls Teil von Autoabgasen beherrschen
sie die öffentliche Diskussion.
Der Arbeitsschutz nimmt ihre Gefahren
schon lange ernst.
42Die Fast-AlleskönnerStammzellen haben ein großes
Potenzial – zum tatsächlichen Stand der
Dinge in Forschung und Anwendung.
48Unruhe vor dem SturmWirbelstürme bringen Menschen
in Lebensgefahr und ziehen Milliarden-
schäden nach sich. In den USA beginnt
die Saison am 1. Juni wieder offiziell.
54Desinfizieren hilft!Schon einfache Maßnahmen
reduzieren die Gefahr für eine
Ansteckung mit Krankenhauskeimen.
58Ordnung der DingeSeit gut 100 Jahren gibt es Normen
in Deutschland. Sie stehen für Sicherheit,
Bedienbarkeit und sind so etwas
wie Schnittstellen des globalen Handels.
62Vernetzung tut notDaten sind nichts ohne eine sinnvolle
Vernetzung. Auch darin liegt die
Zukunft – nicht nur in der Medizin.
67Was wir beitragenProdukte von Dräger, die im Zusammen-
hang mit dieser Ausgabe stehen.
68Oxylog VE 300110 Jahre Erfahrung stecken in
diesem neuen Notfall- und Transport-
beatmungsgerät.
ERFAHRUNGEN AUS ALLER WELT
4
Menschen,die
bewegen
Caroline Berthet, 44, stellvertretende Geschäfts-führerin einer Privatklinik in Aubagne/Frankreich
„Seit sechs Jahren manage ich diese Klinik. Natürlich ist die Arbeit nicht immer einfach; etwa, wenn junge Menschen schwer krank sind. Über Dankesbriefe von Patienten freue ich mich immer sehr, denn sie zeigen, welche Mühe sich unser Personal täglich gibt. La Casamance hat circa 400 Angestellte und 150 Ärzte. Jährlich betreuen wir rund 24.000 Patienten stationär, 16.000 weitere
in der Notaufnahme. 2017 haben wir einen Umsatz von 42 Millionen Euro gemacht. In der Schule wollte ich immer wissen, wie die Dinge zusammenhängen, und Menschen miteinander umgehen. Solche Fragen stelle ich mir auch im Management. Ein Krankenhaus ist ein spezielles Unternehmen. Man muss bei jeder Entscheidung die Auswirkung auf den Patienten im Blick haben, der sich immer mehr als Kunde sieht. Kommt jemand aufgrund einer Operation zu uns, stellt er auch Fragen zu seinem Zimmer und dem Essen. Gerade uns Franzosen ist die Qualität des Essens
ja besonders wichtig. Leider erleben wir auch aggressive Patienten. Man-che schreien unser Personal an, weil sie warten müssen. Ich glaube, das ist derzeit ein grundsätzliches Problem in unserer Gesellschaft. Ein wichtiges Thema ist bei uns die IT-Sicherheit. Wir tun alles, um die Systeme vor Cyber angriffen zu schützen (siehe auch Drägerheft 401, Seite 6 ff.). Für die Zukunft wünsche ich mir, dass Krankenhäuser mehr einem Hotel äh-neln, mit Bereichen, in denen man sich unterhalten oder entspannen kann, wenn man warten muss. Das würde viele Patienten etwas aufheitern.“
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5DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Weronica Tunes, 45, Brand-schützerin bei der Berufsfeuer-wehr in Bergen/Norwegen
„Zusammen mit einer Kollegin war ich vor 18 Jahren die erste Frau bei der Feuer-wehr in Bergen. Für mich war das eigent-lich nichts Außergewöhnliches. Ich bin gelernte Maschinenbaumechanikerin und habe anschließend fünf Jahre für das Mili-tär gearbeitet. Während dieser Zeit war ich auch in Bosnien, 1995 in Tuzla. Ich wollte nie einen Schreibtischjob, sondern immer etwas Praktisches machen und mit den Händen arbeiten. Ich liebe meinen jetzigen Beruf. Besonders gut gefällt mir der Team-geist. Zusammenhalt, gegenseitige Wert-schätzung, Toleranz und Respekt sind eini-ge unserer Erfolgskomponenten. Der Job ist sehr abwechslungsreich, herausfordernd und verantwortungsvoll. Am liebsten bin ich mit dem Skylift ganz oben. Mittlerweile lasse ich jungen Kollegen den Vortritt, die müssen ja auch mal ran. Es wäre gut, wenn noch mehr Frauen zur Feuerwehr kämen, aber es müssen auch die richtigen sein. Das ist nichts für jedermann, und Kraft allein reicht nicht aus. Man braucht auch ein praktisches Verständnis, mitunter etwas Impro visationstalent, denn bei den Einsätzen weiß man meist nicht, was einen als nächstes erwartet. Es ist ein schöner Bonus, dass wir die Möglichkeit haben, und auch dazu verpflichtet sind, uns während der Arbeitszeit körperlich fit zu halten.“
FOKUS ARBEITSWELT
Dasverunsicherte
Wie werden wir künftig arbeiten? Selten zuvor war die Antwort so unklar wie heute. Das Gute daran: Wir können sie selbst gestalten.
Text: Tobias Hürter Illustrationen: Kristian Hammerstad/ByHands.no
7
Ich
8 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
FOKUS ARBEITSWELT
Rund die Hälfteunseres Wachlebensverbringen wir mit Arbeit – noch
Warum tun wir uns das an? Warum lassen wir uns jeden Mor-
gen vom Wecker aus dem Schlaf reißen, drängeln uns mit vie-
len anderen durch die Rushhour zur Arbeit, um dort bis abends
zu schuften, statt auszuschlafen und unsere Tage mit einem
genussvollen Abenteuer nach dem anderen zu füllen? Blöde Fra-
ge, könnte man meinen. Wir müssen schließlich von irgendetwas
leben. Aber wohl jeder ahnt, dass das nicht die ganze Antwort
sein kann. Ein Mensch, der in seiner Arbeit glücklich ist, arbei-
tet nicht nur fürs Geld. Er arbeitet auch, um etwas zu schaffen
und seine Fähigkeiten zu entfalten. Deshalb sind die Warum-
Fragen ebenso wichtig wie die dazugehörigen Antworten. Wer
ihnen nachgeht, stößt auf ein Paradox. Wenn Berufstätige in
Umfragen sagen sollen, was sie an ihrer Arbeit schätzen, ran-
giert nicht das Geld auf Platz eins. An erster Stelle steht meist
die Sicherheit, die man durch seine Arbeit hat, dann die Freu-
de. Erst darauf folgt der materielle Lohn. Das klingt zunächst
danach, dass die Arbeit die richtige Rolle im Leben vieler Men-
schen spielt. Allerdings hat die große Mehrheit von ihnen Jobs,
die man nicht anders als monoton oder seelentötend bezeich-
nen kann. Warum müssen wir manchmal sogar darum kämp-
fen, sie tun zu dürfen, und eben nicht durch Maschinen ersetzt
zu werden? In Callcentern, Fabriken und Verpackungsbetrieben
von heute arbeitet man ausschließlich für Geld. „Es gibt vermut-
lich keinen anderen irdischen Grund, dort zu arbeiten“, sagt der
amerikanische Sozialtheoretiker Barry Schwartz.
Verständlich also, wenn Menschen mitunter ein nicht gerade
inniges Verhältnis zu ihrer Tätigkeit haben. Das amerikanische
Meinungsforschungsinstitut Gallup beobachtet seit Jahrzehnten
die Zufriedenheit von Beschäftigten weltweit. Es befragt dafür
regelmäßig Hunderttausende Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte –
und stellt immer wieder fest, dass sich ein großer Teil von ihnen
nicht mit ihrer Arbeit identifiziert. Die erledigen sie als Pflicht-
übung oder hassen sie sogar. Laut einem Gallup-Bericht von
2013 stehen gerade mal 13 Prozent der Beschäftigten in guter
Beziehung („engaged“) zu ihrem Job. „Fast neunzig Prozent
aller Erwachsenen verbringen ihr halbes Wachleben mit Din-
gen, die sie lieber nicht täten – und an Orten, an denen sie lie-
W
ber nicht wären“, sagt Schwartz. Das klingt nun gar nicht mehr
danach, dass die Arbeit die richtige Rolle spielt. Wie aber kann
man ihr dazu verhelfen?
Beginnt nun das Ende der Arbeit?Ginge es nur ums Geld, sollte man kaum noch arbeiten müs-
sen. Schon 1930 prognostizierte der britische Ökonom John May-
nard Keynes in seinem Aufsatz „Economic Possibilities for our
Grandchildren“ (Wirtschaftliche Chancen für unsere Enkel),
dass Menschen 100 Jahre später, also im Jahre 2030, nur noch
15 Stunden pro Woche arbeiten müssten, um gut leben zu kön-
nen – weil die Produktivität so stark steigen würde. Dabei hat
Keynes den Produktivitätszuwachs noch unterschätzt. Tief grei-
fende Neuerungen wie die Digitalisierung konnte er nicht erah-
nen. Mitte der 1990er-Jahre prophezeite der amerikanische
Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin gar „das Ende der Arbeit“
und sah einen „dritten Sektor“ kommen, in dem sich die vom
Broterwerb befreiten Menschen ehrenamtlich engagieren – für
soziale Aufgaben und andere gute Dinge, finanziert von einer
höheren Mehrwertsteuer und einer Reduzierung der Militärbud-
gets. Inzwischen ist das Jahr 2030 schon ziemlich nah, und es
gibt kaum Anzeichen dafür, dass die Vorhersagen von Keynes und
Rifkin eintreffen. Zwar gibt es Querdenker wie den amerikani-
schen Unternehmer Timothy Ferriss, der sogar die Vier-Stunden-
Woche propagiert, aber sie sind Außenseiter. Die große Mehr-
heit der arbeitenden Bevölkerung verbringt noch immer rund
die Hälfte ihres Wachlebens mit Arbeit. Was also stimmt nicht?
Wer verstehen will, was Arbeit heute ist und morgen sein kann,
der muss zunächst verstehen, was sie einmal war. Arbeit ist einer
jener großen Begriffe, die es schon immer gab. Man erkennt
es an der Wortgeschichte. Das Wort Arbeit gehört zu den ältes-
ten Sprachschichten. Schon die Germanen sagten arbaithi für
Arbeit oder Mühsal. Arbeiten, um zu überleben. Doch aus Sicht
der antiken Hochkulturen war das Barbarei. Im klassischen Grie-
chenland machte Arbeit den Menschen unfähig zur Eudaimo-nia, zur Glückseligkeit. Arbeit war etwas für Sklaven, denen die
Muße fehlte: für die Politik, Kunst oder Philosophie. Das Chris-
tentum wiederum stellte diese Sicht auf den Kopf. Arbeit sei die
9DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
DRÄGERHEFT 403 | 1 / 201810
ARBEIT NACH ZAHLENJeder Mensch hat ein ganz individuelles Verhältnis zu seiner Arbeit. Das schwankt
zwischen völliger Erfüllung und kompletter Entfremdung. Statistische Untersuchungen können nur global zeigen, was Arbeit bedeutet und was sie bewirkt – ein paar Stichproben.
Milliarden Menschen über 15 Jahre arbeiten weltweit. Das sind 58,5 % der Weltbevölkerung (über 15 Jahre). Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit
liegt zwischen 32 Stunden (Niederlande) und 53 Stunden (Vereinigte Arabische Emirate). In Industrieländern pendelt sie um 38 Wochenstunden.
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¼bis 1/3 der durchschnittlichen
Arbeitszeit benötigte man 2016 im Vergleich zu 1970 für den Kauf ausgewählter Lebensmittel wie etwa:
1 Liter Milch (1970: 9 Min. / 2016: 3 Min.) oder 1 Kilo Schweinekotelett (1970: 96 Min. / 2016: 21 Min.)
3,3
Die Erschöpfung durch Arbeit ist in Europa zwischen 2007 und 2016 stark gestiegen – gemes-sen daran, ob Erwerbstätige sich nach der Arbeit wenigstens an einigen Tagen im Monat nicht mehr
fit für Hausarbeit fühlen. In Deutschland von 39 % auf 48 %, in Frankreich von 47 % auf 64 %,
in Großbritannien von 52 % auf 66 %.
aller Krankenschwesternin den USA berichten über
akute oder chronische Auswirkungen von Stress
und Überarbeitung.
Landwirtschaft
Dienstleistung
Industrie der Beschäftigten in Deutschland arbeiteten im Jahre 2017 im Dienstleistungssektor. Das war nicht immer so. Die Entwicklung zwischen 1950 und 2017 zeigt:
Produktivitätsfortschritte in Industrie und Landwirtschaft haben diesen steilen Anstieg des Dienstleistungssektors erst möglich gemacht.
68,9 %der Menschen in Gesellschaften
mit niedrigem Einkommen arbeiten in der Landwirtschaft. In Gesellschaften
mit hohem Einkommen arbeiten 74,2 % im Bereich Dienstleistungen.
48 %75 %
+44
-10
-22
75 %
32 h
53 h
ARBEITSWELT FOKUS
11DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Zeitfresser Dokumentation: Die eigentliche Arbeit kommt zu kurz
Folge des Sündenfalls, der Vertreibung aus dem Paradies. „Im
Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“, heißt es
im Alten Testament. „Bete und arbeite“ füllte das Leben der
Benediktiner. Der Kapitalismus, der die Arbeitswelt in den letz-
ten 150 Jahren prägte, machte sich diesen Begriff als gottgege-
ben zunutze. Mit ihm entstand die bis heute dominierende Form
der Arbeit: die Lohnarbeit.
Doch der Kapitalismus steckt in der Krise. Der französische
Ökonom Thomas Piketty beschreibt in seinem Buch („Das Kapi-
tal im 21. Jahrhundert“) ein System, das strukturell zu Ungleich-
heit führt. Die Erträge aus Kapitalanlagen wachsen schneller als
die aus eigener Arbeit. Arbeit und Entlohnung entkoppeln sich.
Der Staat muss die Divergenz von Einkommen und Reichtum
ausgleichen, diagnostizierte Piketty. Aber dafür dürfte der Staat
auf Dauer nicht stark genug sein. Daher prophezeit Piketty eine
neue Ära niedrigen Wachstums und extremer Ungleichheit: eine
Welt, in der Reichtum vor allem durch Erben, von einer Genera-
tion zur nächsten, weitergegeben wird. Kurz gesagt: Wer dann
noch arbeitet, ist entweder verrückt oder ein armer Teufel – wie
in vorindustriellen Zeiten. Der britische Autor Paul Mason sieht
die Menschheit bereits in der Ära des Postkapitalismus angekom-
men. Ohne das Wachstum und Erschließen immer neuer Märk-
te funktioniere der Kapitalismus nicht mehr. Allerdings wird
es immer schwieriger, Wachstum zu erzeugen. Masons These:
Die Informationstechnologie ist die Totengräberin des Kapita-
lismus. Denn in den Blütezeiten des Kapitalismus drehte sich
noch alles um Besitz und Kontrolle der physischen Produktions-
mittel. Heute rücken diese in den Hintergrund. 3-D-Drucker zei-
gen, wie Algorithmen sogar beim Bau von Häusern klassische
Berufe ersetzen können.
Kaum eine Tätigkeit verbleibt im AnalogenDiese Umwälzung hat viele Branchen erfasst. In ihrer Studie
„The Future of Employment“ (2013) schätzen Wirtschaftswis-
senschaftler der Oxford University, dass von heute 702 Berufen
fast die Hälfte in den nächsten 20 Jahren durch die Digitali-
sierung verschwinden wird. Profi-Sportschiedsrichter, Taxi-
fahrer und Steuerberater seien besonders gefährdet. Berufe in
der Medizin hingegen schätzen die Oxford-Ökonomen noch als
relativ sicher ein. Dabei gehört die Digitalisierung zum über
150 Jahre alten Trend der Automatisierung. Die Einführung
der Dampfmaschine, der Elektrizität, des Verbrennungsmotors
und des Fließbands erschütterten einst die Arbeitswelt, weck-
ten Ängste und brachen Biografien. Und doch hat die Digita-
lisierung eine andere Qualität, denn sie dringt in fast jeden
Winkel. So gut wie keine Tätigkeit dürfte künftig gänzlich im
Analogen verbleiben. Das bedeutet nicht, dass das Analoge ver-
schwindet. Analoges und Digitales können sich in die Quere
kommen oder gegenseitig befeuern. In der Medizin zum Bei-
spiel können automatisierte Mammografie-Analysen, OP-Robo-
ter und digitale Patienten akten die Qualität und Effizienz der
Patienten versorgung verbessern.
Mitunter jedoch klagen Ärzte darüber, dass die Technik
ihnen dabei im Weg steht. Nach einer Erhebung, die der Münch-
ner Unfallchirurg und Digitalisierungsexperte Dr. med. Dominik
Pförringer vom Klinikum rechts der Isar mit Kollegen initiiert
hat, verbringen Ärzte heute beinahe die Hälfte ihrer Arbeitszeit
nur mit Dokumentation. Da Patienten oft von mehreren Medi-
zinern verschiedener Disziplinen behandelt werden, und die
Zusammenführung der Informationen kaum geregelt ist, bedeu-
tet dies häufig, dass Daten doppelt eingegeben werden – oder
auf unerklärliche Weise verschwinden. Um Zeit zu sparen, ist
mancher Mediziner schon dazu übergegangen, bei Patienten-
gesprächen direkt am Computer mitzuschreiben. „Die Technik
steht buchstäblich zwischen Arzt und Patient“, sagt Pförringer.
Der Standard „9 bis 17 Uhr“ löst sich aufTechnik aber hat das Potenzial, das Analoge und Digitale in eine
gute Richtung zu lenken. Es sind ja auch die analog-mensch-
lichen Seiten, die Patienten am Krankenhauspersonal schät-
zen und die mit zur Genesung beitragen: Verständnis, Vertrau-
en, Empathie. Sie machen medizinische Berufe im digitalen
Umbruch unersetzlich. Die Zukunft gehört somit einer Technik,
die diese Stärken unterstützt und mehr Raum für Menschlich-
keit schafft. Wenn etwa in dünn besiedelten Gegenden die medi-
zinische Versorgung so dürftig wird, dass man Ärzte mit einer
Umsatzgarantie locken muss, kann Telemedizin die Ärzte digital
zu den Patienten bringen. Wenn Disziplinen wie die Chirurgie
DRÄGERHEFT 403 | 1 / 201812
FOKUS ARBEITSWELT
Arbeitszeiten werden flexibel – zumindest dort, wo es geht
Manche nennen sie Generation Y, andere Millennials. Mit diesen Schlagworten sind viele Klischees verbunden – und eine neue Generation junger Menschen, die nun die Arbeitswelt erreicht, mit ihren eigenen Wünschen, Werten, und Denkwei-sen. Das gilt auch in der Medizin. „Y?“ – „Why?“ – „Warum?“ ist die namensgeben-de Frage dieser Generation. Tatsächlich lässt sich bei jungen Medizinern beob- achten, dass sie die Dinge mehr infrage stellen als andere zuvor: „Warum muss ich 24 Stunden am Stück arbeiten?“ „Warum soll ich im Studium die Nebenwirkungen von Präparaten auswendig lernen, die später vielleicht gar nicht mehr auf dem Markt sind?“ „Warum soll ich die Medika-tion eines Patienten dokumen-tieren, obwohl es schon mehrere behandelnde Ärzte vor mir getan haben?“
Viele junge Ärzte wissen genau, was sie in ihrem Beruf erwartet. Oft liegt der in der Familie. Bei Dominik Pförringer, 38, Orthopäde und Unfallchirurg am Münchner Klinikum rechts der Isar, schon seit 1749. Pförringer ist Arzt in achter Generation. Er weiß, dass sein Beruf heute nicht mehr der
gleiche ist wie zu Zeiten seiner Vorfahren. „Ärzte sind heute Dienstleister“, sagt er. Der Service müsse stimmen, im Prinzip wie im Restaurant, nur dass es eben um Gesundheit gehe. Für ihn bedeutet das auch, dass er seine Arbeitszeiten nach den Bedürfnissen seiner Patienten richtet. „Wenn ich gerufen werde, bin ich fast immer zur Stelle – egal wann, egal wo ich gerade bin.“ Er wünscht sich, dass auch andere sich mehr am Wohl der Patienten orientieren. „Zudem eine gerechtere Verteilung der Mittel – weniger für Unternehmen, mehr für die Patienten.“ Ein Schritt in diese Richtung könnte die Einführung einer ergebnisorientierten Vergütung sein, deren Höhe sich nach der Patientenzufriedenheit richtet. Auch Veronika Goethe, 27, Urologin am Klinikum rechts der Isar, hat ihren Beruf „geerbt“. Ihre Mutter ist Ärztin. Hinzu kamen eine frühe Neigung zu den Lebenswissenschaf-ten und der Wunsch, anderen Menschen zu helfen – sowie das nötige Geschick und Quäntchen Glück, um einen Studienplatz zu ergattern. Veronika Goethe kann ihre Zeit zwischen Forschung und Behandlung
aufteilen. Die eine Hälfte arbeitet sie als Studienärztin für die PROBASE-Studie zum Prostatakrebs-Screening, die andere Hälfte behandelt sie Patienten auf der Urologischen Station. Entgegen Ihrer Vorstellung als Studentin schätzt sie inzwischen das breite Spektrum und die Entwicklungsmöglichkeiten, die sich ihr an einer großen Klinik bieten. Überhaupt ist der Drang früherer Generationen, möglichst rasch aus der Klinik in die Selbständigkeit zu finden, bei jüngeren Medizinern merklich geringer ausgeprägt. Der Stress und die Unsicherheit einer Selbstständigkeit schreckt viele ab. Sie ziehen ein festes Gehalt und geregelte Arbeitszeiten vor. Ein Problem, das junge Mediziner immer wie-der ansprechen, ist die mangelnde Kommunikation zwischen Ärzten verschie-dener Häuser oder Disziplinen. Sie wissen, dass gerade in dieser Zeit der Spezialisie-rung und Rationalisierung eine reibungslose Kommunikation der Schlüssel zu gutem Arbeiten ist. Und sie erleben, dass die heutigen Strukturen und technischen Mittel die Kommunikation nicht immer erleich-tern – obwohl sie das Potenzial dazu haben.
Die „Warum?“-Frager kommen
wegen der körperlichen Belastung unter Nachwuchssorgen lei-
den, können OP-Roboter sie auch für junge Mediziner attraktiver
machen. Neue Technologien können in einer ökonomisierten
Medizin Spielräume für die Dinge schaffen, die sich Patienten
von Ärzten wünschen und Ärzte einst dazu bewegt haben, ihren
Beruf zu ergreifen: Hilfe und Verständnis.
Eine weitere Entwicklung der Digitalisierung ist die Indivi-
dualisierung – auch die der Arbeit. Der Standard „9 bis 17 Uhr“
befindet sich in Auflösung. Es zeichnet sich ab, dass viele Arbeit-
nehmer ihre Arbeitszeiten lieber individuell vereinbaren wür-
den. Ein Schritt in diese Richtung ist der jüngste Tarifabschluss
in der deutschen Metallindustrie, der Mitarbeitern die Wahl zwi-
schen Geld und Freizeit lässt. Dabei hängt das beste Arbeitsmo-
dell natürlich nicht nur vom Lebensmodell eines Menschen und
vom Geschäftsmodell des jeweiligen Arbeitgebers ab, sondern
auch von der Branche. Im Bergbau sind Teilzeitjobs mit flexiblen
Arbeitszeiten kaum praktikabel, die Feuerwache einer Großstadt
lässt sich nur schwerlich mit ausschließlich freien Mitarbeitern
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FOKUS ARBEITSWELT
14 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Das erschöpfteSelbst sollte keine Zukunft haben
Kristian HammerstadWomöglich hat er für sich bereits die Zukunft einer Arbeit „im Flow“ (Mihály Csíkszent-mihályi, 1975) verwirklicht – selbstbestimmt, kreativ und mit schöpferischer Leidenschaft: Kristian Hammerstad, geboren 1980 in Oslo, ist Illustrator mit Leib und Seele. Dazu erfasst er das Wesen seiner Gegenstände und
setzt ihren eigentlichen Gehalt in comicartige Illustrationen um – das eignet sich gerade für abstrakte Themen, wie auch die Zukunft der Arbeit eines ist. Damit begeistert der Künstler die Leser vom New Yorker über Le Monde bis zur New York Times. Unübersehbar sind formale Anleihen bei US- amerikanischen Comics der 1950er-Jahre, die wie direkte Echolotungen in die Gesellschaft anmuten.
betreiben, und ein Unfallchirurg wird auch künftig einen Fami-
lienabend für einen Notfall verlassen müssen.
Doch mehr Flexibilität bei Unternehmen und Mitarbeitern
hat auch seine Schattenseiten, denn Freiheit kann anstrengend
sein. Nicht zufällig sprach der deutsch-amerikanische Philosoph
und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900-1980) von der „Furcht
vor der Freiheit“. Dahinter steckt der Gegensatz von Freiheit
und Sicherheit. Man kann nie beides ganz haben. Freiheit wird
zur Belastung, wenn sie als beliebig, willkürlich oder unbere-
chenbar erlebt wird. Dann kann sie ihre wichtigste Funktion
verlieren, nämlich Sicherheit zu geben. Dabei bedeutet Sicher-
heit viel mehr als nur finanzielle Absicherung. Arbeit veran-
kert Menschen in der Gesellschaft, sie verschafft ihnen Aner-
kennung und einen Platz im Sozialen – Grundbedürfnisse, die
in vielen Arbeitsverhältnissen von heute zu kurz kommen. Auch
diese Überlegungen gehören zu einer Arbeitswelt, die mehr sein
sollte als „Lohn gegen Leistung“. In einer schlechten Arbeits-
welt bleibt den Menschen nur die Wahl zwischen zwei Übeln:
dem Frust in der Arbeit oder dem Frust in der Arbeitslosigkeit.
Wenn Menschen in der Arbeit nicht mehr das finden, was sie
brauchen, beginnen sie zu leiden. Sie rennen der Anerkennung
hinterher. Das endet oft in Frustration, in der inneren Kündi-
gung, im Burnout oder im Karoshi, dem Tod durch Überarbei-
tung. „Das erschöpfte Selbst“, das der französische Soziologe
Alain Ehrenberg in seinem gleichnamigen Buch beschreibt, ist
ein gedemütigtes, frustriertes, verunsichertes Ich.
Arbeit: ein Begriff, der sich wandeltArbeit macht einen Menschen zu dem, der er ist. Sie ist ein
wesentlicher Teil der Antwort auf die Frage: Wer bist du? Sie
gibt einem Menschen einen Ort in der Gesellschaft. Doch Digi-
talisierung und Produktivitätsgewinne bedeuten auch, dass wir
da rüber nachdenken müssen, was wir in Zukunft überhaupt
unter dem Begriff Arbeit verstehen wollen. In der klassischen
Marienthal-Studie, in der Soziologen in den 1930er-Jahren die
Auswirkungen der Arbeitslosigkeit in der Textilindustrie unter-
suchten, zeigte sich: Das Problem von Menschen, die keine
Arbeit haben, ist nicht so sehr, dass sie kein Geld haben, son-
dern eher dass ihnen die Gründe fehlen, etwas zu tun. War-
um in den Park gehen, wenn man nichts hat, wovon man sich
erholen muss? Warum ausgiebig essen, wenn man nichts hat,
wofür man sich stärken muss? Einer Gesellschaft, der die Arbeit
fehlt, fehlt der Zusammenhalt. Das Soziale löst sich auf. Doch
zunehmend verstehen wir unter Arbeit eben nicht mehr die
reine Erwerbstätigkeit: Heute kann es einem Menschen Selbst-
wert und gesellschaftliche Anerkennung verschaffen, wenn er
seinen demenzkranken Angehörigen pflegt oder seine Erfah-
rungen als Trainer der Jugendmannschaft eines Sportvereins
weitergibt. Manche Menschen blühen in einer selbstständigen
Tätigkeit auf, andere wären als Ich-AG hoffnungslos überfor-
dert. Wie jemand seine Arbeit gestaltet, sollte eine Gesellschaft
– die Freiheit zu ihren Grundwerten zählt – ihm selbst überlas-
sen. Vielleicht durch die Einführung neuer Arbeitsmodelle, viel-
leicht durch die Förderung ehrenamtlicher Tätigkeiten, viel-
leicht sogar durch ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie
es inzwischen quer durch das politische Spektrum diskutiert
wird. Es würde die Arbeit nicht entwerten. Alle Beteiligten soll-
ten sich fragen: Welche Art von Arbeit und somit Zukunft wol-
len wir miterschaffen? Darin wird Arbeit nicht mehr so sehr wie
heute Mittel zum Zweck sein, sondern eher ein Zweck an sich.
Gute Arbeit gibt uns Gründe, etwas zu tun. Sie motiviert, hält
uns lebendig. Gute Arbeit erkennt man daran, dass sich die Fra-
ge, warum wir jeden Morgen aufstehen, gar nicht mehr stellt.
Drägerheft: Frau Dr. Ahlers, ist die Digitalisierung der Arbeitswelt ein neues Phänomen oder eher die Fortsetzung eines alten?Dr. Elke Ahlers: In Teilen ist sie eine ver-
stärkte Fortsetzung dessen, was es vor-
her auch schon gegeben hat – eine Fle-
xibilisierung der Arbeitswelt. Viele
Themen wurden schon vor zehn Jahren
diskutiert, als der Begriff der Digitalisie-
rung noch nicht im Vordergrund stand.
Damals wie heute ging es um den demo-
grafischen Wandel, um Rationalisierung
von Arbeitsplätzen, um schlanke Orga-
nisationen, verstärkte Kundenorien-
tierung oder die Auswirkungen auf die
Arbeitsbedingungen. Es ging auch um
Entgrenzung der Arbeitszeit, um eine
bessere Work-Life-Balance und ange-
passte Arbeitszeitmodelle.
Worin besteht dann die Veränderung?
In vielen Branchen wird heute grund-
legend anders gearbeitet. Gerade im
Dienstleistungssektor arbeitet man oft in
Projekten, selbst organisiert mit Zielver-
einbarungen und Deadlines – mobil oder
von zu Hause aus. Bereits vor der Ära der
Digitalisierung stand der Umgang mit
diesen Anforderungen auf der Agenda.
Das waren große Themen, die mit der
Digitalisierung nach hinten geschoben
wurden. Dann hieß es, wir könnten uns
nicht mit solch althergebrachten Din-
gen beschäftigen und müssten uns jetzt
mit der großen Welle der Digitalisierung
auseinandersetzen – auch um interna-
tional wettbewerbsfähig zu bleiben.
Aber das ist doch keine reine Erfin-dung. Vor zehn Jahren haben wir völlig anders gearbeitet als heute, und dieser Umbruch ist auch technisch getrieben.
„Das verstärkt die Entwicklungen“Die Sozialwissenschaftlerin Dr. Elke Ahlers leitet seit 2013 das Referat Qualität der Arbeit der Hans-Böckler-Stiftung. Dort hat sie auch die Auswirkungen der Digitalisierung untersucht.
Das stimmt. Es wird heute stark ver-
netzt und beschleunigt gearbeitet, vor
allem über das Internet. Die Digitalisie-
rung verstärkt die Entwicklungen von
damals noch. Wenn man immer und
überall arbeiten kann, dann ist das ein
Treiber für weitere Flexibilisierung und
Entgrenzung der Arbeit.
Sie haben 2.000 Betriebsräte in ganz Deutschland zur Digitalisierung befragt. Was kam dabei heraus?Die Reaktionen sind sehr gespalten.
Ein großer Teil der Betriebsräte, rund
40 Prozent, steht dem positiv gegenüber.
Ein kleinerer Teil sieht die Digitalisie-
rung kritisch. Und viele haben noch gar
keine Meinung dazu.
In welcher Branche sieht man die Digitalisierung besonders kritisch?Auffällig sind die Antworten der
Betriebsräte aus Banken und Versiche-
rungen. Dort hat die Digitalisierung,
unseren Daten zufolge, die meisten
negativen Auswirkungen.
Warum gerade dort?
Im Finanzwesen findet eine starke Algo-
rithmisierung von Arbeitsprozessen
statt – etwa von Versicherungsanträgen
oder Kreditbearbeitungen. Das überneh-
men oft Computer. Die Arbeitnehmer
sehen dann, dass ihre Arbeit überflüssig
wird. Es kommt zu Umstrukturierungen
und Entlassungen. Aber auch die Arbeits-
intensivierung der Beschäftigten ist ein
Thema, oder die technisch getriebene
Leistungskontrolle. In dieser Branche
waren die Arbeitsanforderungen schon
früher stark umsatzgetrieben. Die Digi-
talisierung erweist sich nun als Verstär-
ker dieses Trends.
Wo steht man der Digitalisierung positiv gegenüber?Die wenigste Kritik kommt aus Unter-
nehmen der Informations- und Kommu-
nikationstechnologie. Die Betriebsräte
dort bewerten die Digitalisierung eher
positiv. In dieser Branche arbeiten die
Beschäftigten stärker im Homeoffice,
was im Idealfall die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf erleichtert. Aber hier
haben diese Modelle bereits Tradition.
Ein Homeoffice kann die Grenzen zwischen Arbeit und Familie auch auf-lösen. Werden Betriebsräte da aktiv?Ja, wir beobachten, dass es über gute
Betriebsvereinbarungen gelingen kann,
die Probleme der ständigen Erreichbar-
keit in den Griff zu bekommen.
Wodurch entsteht der Druck zu ständiger Erreichbarkeit?Viele Mitarbeiter arbeiten sehr selbst
organisiert. Für den Druck, ständig
erreichbar sein zu müssen, ist nicht nur
der Arbeitgeber verantwortlich; er ergibt
sich oft aus der Arbeitsorganisation
und den Projektstrukturen.
Die neue Bundesregierung hat die Digitalisierung als eines ihrer wichtigs-ten Themen ausgegeben. Was würden Sie ihr als Aufgabe geben?Wenn Politiker über Digitalisierung
reden, dann geht es oft um den Ausbau
von Breitbandnetzen und die Anpassung
an eine internationale Wettbewerbs-
fähigkeit. Es sollte aber auch um gute
Arbeit in Zeiten des digitalen Wandels
gehen, um den Schutz der Beschäftig-
ten vor Selbstausbeutung und um mehr
Mitspracherechte bei der Organisation
der Arbeit.
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GESUNDHEIT FRÜHGEBORENENMEDIZIN
Grenz-erfahrung
Frühgeborene möchten ihre Entwicklung im Schutz des Mutterleibs verbringen, nicht auf der Intensivstation. Das geht am besten mit individualisierter Hilfe
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Mütter, die ihr Kind weit vor dem errechneten Geburtstermin zur Welt bringen, sind nicht nur in Sorge um das Wohlergehen ihres Babys – sie müssen auch mit dem Schock über das ABRUPTE ENDE IHRER SCHWANGERSCHAFT zurechtkommen. Was, wenn der Traum von einer guten Geburt zerplatzt?
Text: Dr. Hildegard Kaulen
„Nein!“ Wie ein lautloser Schrei
dröhnte dieses Wort durch Paulas Kopf,
als sie spürte, wie Fruchtwasser an der
Innenseite ihrer Oberschenkel herunter-
lief. Paula M. war zu diesem Zeitpunkt
am Ende der 26. Schwangerschaftswoche
und hatte sich über die Entbindung noch
keinerlei Gedanken gemacht. „Nein, das
Kind muss bleiben, wo es ist! Ich schließe
jetzt die Augen, und dann wird der Spuk
vorüberziehen.“ Zog er aber nicht. Pau-
las vorzeitiger Blasensprung, eine einset-
zende Infektion und Unregelmäßigkeiten
bei den kindlichen Herztönen ließen ihr
keine andere Wahl. Ihr Sohn musste weit
vor dem errechneten Geburtstermin per
Kaiserschnitt entbunden werden. Leons
Geburtsgewicht lag bei 900 Gramm. Als
Paula ihn zum ersten Mal sah, war sie
erschüttert: Wie sollte sie diesem winzi-
gen, unreifen und schutzlosen Kind das
herausfordernde Leben zutrauen? Wür-
de er es je allein meistern?
Diese und andere Fragen beschäfti-
gen alle Mütter von Frühgeborenen. Je
unreifer das Kind, desto tiefer sitzt der
Schock. Das weiß auch Prof. Dr. Chris-
tian Poets, der den Lehrstuhl für Neo-
natologie an der Universität Tübingen
innehat. „Die Mütter können das abrup-
te Ende ihrer Schwangerschaft kaum
fassen“, sagt er. „Sie glauben, versagt
zu haben, weil sie das Kind nicht über
die ganzen 40 Wochen bei sich behalten
haben. Und dann erleben sie auch noch,
dass ihnen andere Menschen ihre urei-
gene Aufgabe, selbst für ihr neugebore-
nes Kind zu sorgen, aus der Hand neh-
men. Dieser Schock sitzt tief“, sagt Poets.
„Doch NIDCAP kann dabei helfen, dieses
Trauma zu verarbeiten.“ NIDCAP steht
für Newborn Individualized Developmen-tal Care and Assessment Program und ist
ein individualisiertes Betreuungskonzept
für Frühgeborene, das in den 1980er-Jah-
ren von der deutschstämmigen Psycho-
login Heidelise Als entwickelt wurde. Sie
arbeitet seit 40 Jahren als Professorin an
dem zur Harvard Medical School gehö-
renden Boston Children’s Hospital. Das
Programm war primär für Pflegekräfte
gedacht, bezieht heute jedoch auch die
Eltern mit ein. NIDCAP basiert auf einer
individuellen – Assessment genannten –
Die Pionierin des NIDCAP-Konzepts Professorin Heidelise Als im Gespräch mit Professor Christian Poets von der Universität Tübingen
GESUNDHEIT FRÜHGEBORENENMEDIZIN
18 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Bewertung: Jedes Frühchen soll genau
die Pflege und Unterstützung bekom-
men, die es benötigt. Dafür muss man
das Verhalten des Kindes verstehen – also
erkennen, was es durch seine Reaktio-
nen, Laute und Hautveränderungen zum
Ausdruck bringen will. Das Assessment
erfolgt durch systematische Verhaltensbe-
obachtungen, die in einem standardisier-
ten Untersuchungsprotokoll festgehalten
werden. Daraus wird dann eine individu-
elle Betreuung entwickelt.
Mehr als nur ein paar AnpassungenAuf welchen Annahmen basiert NIDCAP?
Kinder profitieren von Reizen, die zur
rechten Zeit kommen und die passende
Komplexität haben. Reifere Kinder ver-
tragen mehr Stimuli als unreifere. Das
Programm geht davon aus, dass auch
sehr unreife Kinder auf Reize reagieren ,
tern, Grimassieren, Erblassen, Überstre-
cken oder Schluckauf. Zeichen für Ent-
spannung sind zum Beispiel das Einrol-
len des Körpers, das Anziehen der Arme
und Beine, eine zufriedene Mimik oder
das Hand-zum-Mund-Führen. All das wird
bei NIDCAP sorgfältig registriert.
Die Professorin Heidelise Als hat die
entwicklungsbiologischen Konzepte hin-
ter NIDCAP vielfach beschrieben. Dem-
nach erwartet das Frühgeborene, dass
es die kritischste Phase seiner Gehirn-
entwicklung im Schutz des Mutterleibs
erlebt, sich an den Grenzen der Frucht-
blase orientieren kann und seinen Tag
durch den Schlaf-Wach-Rhythmus der
Mutter strukturiert. Stattdessen wird es
mit den Bedingungen einer Intensivsta-
tion und oft auch fassungslosen Eltern
konfrontiert. Somit braucht es individu-
elle Hilfe, um seine Gehirnentwicklung
unter diesen völlig anderen Umständen
zu meistern. Psychologin Als begründet
viele Empfehlungen auch mit dem Hin-
weis auf die noch unreifen Systeme des
Frühgeborenen. Sie spricht von verschie-
denen: dem autonomen System für alle
Vitalfunktionen wie Atmung, Herzschlag
und Verdauung, dem Bewegungssystem
für alle motorischen Aktivitäten, dem Sys-
tem für Wachheit und Schläfrigkeit, für
Aufmerksamkeit und soziale Interaktion
sowie dem System zur Integration dieser
Funktionen. Sehr unreife Frühchen tun
sich schwer, beim Füttern auf soziale Rei-
ze zu reagieren. Sie können nicht gleich-
zeitig saugen, schlucken, atmen und dabei
auf die Ansprache der Eltern oder die der
Pflegekraft eingehen. Das überfordert
die Inte grationskraft ihrer noch unreifen
Systeme. Deshalb raten NIDCAP-Experten
dabei ihre individuellen Stärken nutzen
und ihren eigenen Willen zum Ausdruck
bringen. Diese Reaktionen müssen rich-
tig verstanden und mit einer individuellen
Betreuung beantwortet werden. „ NIDCAP
ist allerdings mehr als gedämpftes Licht,
ein niedriger Geräuschpegel und Körper-
kontakt“, sagt Professor Poets. „Es ist eine
Wahrnehmungsschule, die uns lehrt, auf
das zu hören und zu schauen, was das
Frühchen kann, will und braucht. Das
Kind gibt den Rhythmus vor – es bestimmt,
was zu tun und wann der richtige Zeit-
punkt dafür gekommen ist. Sei es beim
Füttern, bei der Pflege, bei medizinischen
Interventionen oder beim Kuscheln.“ Mit
NIDCAP nehmen auch die Eltern Wahr-
nehmungsunterricht und verbessern
damit ihre Handlungskompetenz und
Selbstbefähigung. Es gibt klare Stress-
indikatoren, die Eltern und Pflegekräften
zeigen, wie sich das Kind fühlt: etwa Zit-
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Körperkontakt stärkt die Bindung
zwischen Mutter und Kind – und gewährt
Schutz und SicherheitEine Wahrnehmungs schule, die dabei hilft, Frühchen besser zu verstehen
19DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
Jedes Kind hat individuelle Stärken – und einen ganz eigenen Willen
Ausgestreckte Arme und eine angespannte Körperhaltung deuten auf Stress hin
Gebeugte Arme und zusammengeführte Hände sind Zeichen der Entspannung
Auch der Gesichtsausdruck und die Atmung zeigen, wie gut es dem Frühchen geht
GESUNDHEIT FRÜHGEBORENENMEDIZIN
20 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
den Eltern und Pflegekräften auch, das
Kind ruhig und ohne Ansprache zu
füttern.
Einziges deutsches Ausbildungszentrum Professor Poets kam erstmals 1994 mit
NIDCAP in Berührung. Eingeführt hat
er das Programm allerdings erst 14 Jah-
re später. Bleibeverhandlungen nach
einer Berufung auf einen Lehrstuhl an
der Berliner Charité verschafften ihm
dafür in Tübingen den finanziellen Spiel-
raum. Weitere finanzielle Hilfe erhielt er
durch Elternvereine, die das Programm
ebenfalls unterstützten. Heute arbei-
ten sechs NIDCAP-Experten in seinem
Team, zusammen mit zwei Ausbilderin-
nen. Die Tübinger Neonatologie ist auch
das einzige NIDCAP-Ausbildungszentrum
im deutschsprachigen Raum. Bei des-
sen Errichtung unterstützte Professorin
Heide lise Als ihren Kollegen Poets sogar
persönlich. Heute ist NIDCAP in vielen
Ländern fest verankert. Allerdings tun
sich die Neonatologiezentren in Deutsch-
land noch schwer. Die Etablierung kos-
tet Zeit und Geld, zudem verlangt sie
ein Umdenken. In einem NIDCAP-Team
hat derjenige das Sagen, der die Inte-
ressen des Frühgeborenen am besten
erkennt und vertritt – und nicht derjeni-
ge, der in der Hierarchie ganz oben steht.
Wie schwierig war die Umsetzung? „Es
braucht ein Umdenken, aber mit der Zeit
entwickelt man eine größere Sensibilität
für das, was die Frühgeborenen ausdrü-
cken wollen“, sagt Professor Poets, der
NIDCAP allerdings nur für sehr unreife
Frühgeborene anbietet. Geholfen habe
ihm auch eine Vorgabe des Gemeinsa-
men Bundesausschusses, nach der inzwi-
schen mindestens eine Gesundheits- oder
Kinderkrankenpflegekraft pro intensiv-
therapiepflichtigem Frühchen anwesend
sein muss. Diese Vorgabe habe zu einer
Anhebung des Betreuungsschlüssels auf
den Intensivstationen geführt. „Dadurch
haben wir mehr Zeit für die aufwendigen
Beobachtungen“, ergänzt der Klinikchef.
Eltern zu Experten machenWie sollte NIDCAP weiterentwickelt wer-
den? Poets zögert nicht mit der Antwort.
„In Richtung einer noch stärkeren Befä-
higung der Eltern“, sagt er. „Auch wenn
sie heute schon sehr stark eingebunden
werden, ist NIDCAP immer noch ein
expertenbasiertes Programm. Die Spe-
zialisten geben den Ton an. Ich wür-
de die Eltern gern dabei unterstützen,
selbst die Experten für ihr Kind zu sein.“
21DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
Die Dissertation von Dr. Cecilia Colloseus ist im Campus-Verlag erschienen:„Gebären – Erzählen. Die Geburt als leibkörperliche Grenzerfahrung“
Ein Kind zur Welt zu bringen, ist das ureigene Privileg einer Frau. Gleichzeitig ist es eine Grenzerfahrung, auf die sich Schwangere nur bedingt vorbereiten können und über die auch öffentlich kaum gesprochen wird. In Internetforen lassen sich allerdings immer mehr Gebärerzählungen finden. Darin zeigt sich auch, dass viele Mütter die Geburt ihres Kindes in wenig guter Erinnerung haben. Die Zahl derjenigen, die von einem traumatischen Erlebnis sprechen, steigt – auch wenn das Kind gesund und reif zur Welt gekommen ist. Die Kulturanthropologin Dr. Cecilia Colloseus von der Universität Tübingen hat im Rahmen ihrer Dissertation 44 Gebärerzählungen ausgewertet und damit erstmals der Perspektive der Gebärenden auf die Geburt einen eigenen Platz in der wissenschaftlichen Forschung gegeben. Dabei zeigte sich, dass die Medizin das Thema Geburt als Grenzerfahrung offensichtlich nicht genügend würdigt. Die Frauen werden zu selten gefragt, was ihnen wichtig ist und was sie für eine gute Geburt brauchen. Viele erleben die Ankunft ihres Kindes offenbar nicht als aktives Gebären, sondern als passives Entbundenwerden. Diese Passivität widerspricht der zunehmend eingeforderten partizipativen Entscheidungsfindung (siehe auch Drägerheft 401, Seite 22 ff.). Man versteht darunter das gemeinsame Entscheiden über medizinische Eingriffe auf Augenhöhe.
Was ist werdenden Müttern wichtig? „Die Frauen wünschen sich eine bessere und kontinuierliche Betreuung sowie eine bessere Aufklärung“, sagt Dr. Colloseus und ver-weist auf Ergebnisse der Hebammenwissenschaft. „Viele Frauen, vor allem Erstgebären-de, können diesen Wunsch allerdings erst nach der Entbindung formulieren, weil sie von anderen Voraussetzungen ausgegangen sind.“ Sie rechnen damit, dass zu jeder Zeit eine Hebamme anwesend sein wird. Das ist aber aufgrund personeller Engpässe in den meisten Entbindungskliniken nicht der Fall. Die Frauen werden oft über Stunden allein gelassen. Das macht vielen Angst. Wenn die Geburt dann unmittelbar bevorsteht, kommt es häufig zu Maßnahmen, denen sie nicht explizit zugestimmt haben. „Viele erleben dann einen Kontrollverlust. Sie nehmen die nicht angekündigten oder rabiat ausgeführten geburtsmedizinischen Interventionen als übergriffig oder gar gewaltsam wahr“, sagt Colloseus. „Für viele wird die Geburt dadurch zum Trauma.“ Dabei ist die Kulturanthropologin fest davon überzeugt, dass es sich in jeder Hinsicht lohnen würde, das physische und psychische Erleben der Gebärenden mehr in den Fokus zu rücken. Investitionen in eine bessere personelle Ausstattung der Kreißsäle würden nicht nur die Hebammen und Ärzte entlasten, sondern den Gebärenden auch belastende Erfahrun-gen ersparen. Das Geld, das dafür ausgegeben werden müsste, könnte an anderer Stelle gespart werden, etwa wenn die Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörun-gen infolge der Geburt oder vermeidbarer Geburtsverletzungen wegfallen.
Der Neonatologe hat diese Weiterent-
wicklung in Kanada bereits kennenge-
lernt und ist begeistert. „Ich möchte die
Eltern von Anfang an in alle Handgriffe
und Entscheidungen einbinden. Sie sol-
len zu Dolmetschern ihres Frühgebore-
nen werden. Außerdem sollen sie befähigt
werden, bereits in der Klinik die Versor-
gung ihres Kindes weitgehend (mit) zu
übernehmen.“ Derzeit seien die Eltern
oft noch sehr unsicher. Das merke man
besonders, wenn die Entlassung anstehe.
Dann stellen sie sich Fragen wie: Werden
wir allein mit unserem Kind zurechtkom-
men? Können wir sicher genug erkennen,
was es will und braucht? Kommen wir
mit der Verantwortung zurecht? Wären
die Eltern von Anfang an Experten für
ihr Kind, müssten sie sich diese Fragen
nicht mehr stellen – genau dazu möchte
er sie befähigen. Wie wichtig aber ist eine
„gute Geburt“? Der Professor zögert auch
bei dieser Frage nicht mit der Antwort.
„Sie stärkt die Bindung zwischen Mutter
und Kind – und fördert die Selbstkompe-
tenz und Selbstwirksamkeit der Mütter.“
Poets glaubt deshalb auch, dass jede wei-
tere Befähigung den Frühchen-Müttern
helfen wird, besser mit dem Trauma der
Geburt zurechtzukommen.
Leon ist heute sechs Jahre alt. Trotz-
dem steckt Paula M. der Schrecken der
Frühgeburt noch immer in den Knochen.
Sie hat sich bislang nicht zu einer zwei-
ten Schwangerschaft entschließen kön-
nen. Sie weiß, dass sie daran arbeiten
muss, wenn sie noch einmal schwanger
werden und in ihrem Sohn nicht immer
nur das Frühchen sehen möchte. Egal wie
alt er ist und wie selbstbewusst er neben
ihr steht.
Was ist eine gute Geburt? Dr. Cecilia Colloseus von der Universität Tübingen hat sich in ihrer Dissertation mit Gebärerzählungen beschäftigt.
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22 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
WIRTSCHAFT PETROCHEMISCHE INDUSTRIE
Treibstofffür die Zukunft
Raffinerien veredeln Erdöl nicht nur zu Benzin und Diesel, sondern auch zu einer breiten Palette anderer Produkte. Schon deshalb wird ihre Kompetenz in einer künftigen Epoche der ELEKTROMOBILITÄT benötigt. Das gilt auch für die größte Erdölraffinerie Deutschlands.
Text: Peter Thomas
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23DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
DDer riesige Organismus verändert sich
kontinuierlich. Die Rheinland Raffinerie,
zwischen Köln und Bonn gelegen, ist wie
ein Lebewesen aus Stahl und Backstein,
aus Beton und Dampf. Ein Netz aus
6.500 Kilometer Rohrleitungen bildet die
Adern, gewaltige Cracker und Destilla-
tionskolonnen die Organe. Straßen, Schie-
nen, Häfen und Verwaltungseinrichtungen
entsprechen den Nerven. Der Organismus
baut Tag für Tag an sich, denn an irgend-
einer Stelle wird immer geschweißt oder
gereinigt, finden Modernisierungs- und
Wartungsarbeiten statt, wird der Trans-
port von Rohstoffen optimiert.
1937 als Hydrierwerk zur Herstellung
synthetischer Kraftstoffe aus Braunkohle
errichtet, ist die Rheinland Raffinerie
heute die größte Ölverarbeitungsanlage
des Landes. Das 4,4 Quadratkilometer
große Gelände teilt sich in zwei Werks-
teile auf: Wesseling im Süden (mit einer
Kapazität von 7,3 Millionen Tonnen Roh-
öl im Jahr) und Köln-Godorf im Norden
(9,3 Millionen Tonnen) – 16,6 Millio-
nen Tonnen Rohöl, das entspricht knapp
einem Sechstel der gesamten Raffinerie-
kapazität in Deutschland. Diese ist seit
den 1950er-Jahren steil angestiegen, auf
knapp 180 Millionen Tonnen bis Ende der
1970er-Jahre. Darauf allerdings folgten
ein deutlicher Rückgang sowie eine Kon-
solidierung auf gut 100 Millionen Ton-
nen, die seit 2010 stabil geblieben ist.
Insgesamt sind nach Angaben des Mine-
ralölwirtschaftsverbands derzeit 15 Werke
in Deutschland an zwölf Raffineriestand-
orten aktiv, deren Produktionsanlagen zu
90 Prozent ausgelastet sind.
Das Werk Nord der Rheinland Raffinerie
wurde 1960 in Köln-Godorf eröffnet. Derzeit werden
hier 9,3 Millionen TonnenErdöl verarbeitet
24 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Jede neunte Tankfüllung kommt von hier
Ist das Mineralölgeschäft nicht eher ein
Auslaufmodell, angesichts von Energie-
wende und aufkommender Elektromo-
bilität? Was genau die Raffinerie in zwei
bis drei Jahrzehnten in welchen Men-
gen herstellen wird, lässt sich tatsächlich
nicht sagen. Aber dass die Kompetenzen
auch zukünftig gebraucht werden, da ist
sich Standortsprecher Jan Zeese sicher.
Einerseits werde es trotz unterschiedli-
cher Energieträger nach wie vor Bedarf
an Kraftstoffen und Heizöl geben. Ande-
rerseits können Raffinerien auch neue
Treibstoffe liefern. Hier denkt die Bran-
che insbesondere an Brennstoffzellen-
fahrzeuge. Diese emissionsfrei fahrenden
begann schließlich vier Jahre später. Shell
übernahm Wesseling im Jahre 2002 von
der Deutschen Erdöl AG (DEA). Das Werk
im wenige Kilometer entfernten Godorf
begründete Shell bereits 1960.
26.000 Schulungsstunden in zwölf MonatenRaffinerien sind wichtige Knoten in
jenem energiegeladenen Netzwerk, das
ein Land am Arbeiten und schlussend-
lich am Leben hält. Deshalb gelten sie –
ebenso wie Tanklager, Tankstellennetze
und Pipelines – als „kritische Infrastruk-
tur zur Versorgung der Bevölkerung“. Dies
entspricht der 2016 erlassenen „Verord-
nung zur Bestimmung Kritischer Infra-
strukturen nach dem BSI-Gesetz (BSI-Kri-
tisV)“. Wie stark unser Alltag von diesen
Anlagen abhängt, wird am größten Werk
Dialog für mehr Sicherheit: Matthias Stuckstedte (Zweiter
von links) ist als Projekt-koordinator von Dräger für
die Rheinland Raffinerie regelmäßig im Gespräch mit
dem Kunden – und mit seinem Team
WIRTSCHAFT PETROCHEMISCHE INDUSTRIE
Pkw, Nutzfahrzeuge und Züge beziehen
ihre Energie aus Wasserstoff. Den gewin-
nen Raffinerien schon länger aus Erdgas
in einem Dampfreformer. Der nächste
Schritt, die Herstellung von gasförmigen
Wasserstoff (durch Elektrolyse von Was-
ser mit Ökostrom) als Energiequelle,
liegt nahe. Innovation ist für die petro-
chemische Industrie der Treibstoff für
die eigene Zukunft; und sich immer wie-
der neu zu erfinden, für die Rheinland
Raffinerie ein Stück eigene Geschichte.
In den Anfangsjahren ab 1937 verarbei-
tete das Werk Wesseling zunächst Braun-
kohle aus dem nahen Rheinischen Revier.
Da raus wurden synthetische Treibstoffe
nach dem Bergius-Pier- Verfahren (Kohle-
hydrierung) gewonnen. Nach schweren
Bombenschäden 1944 geschlossen, stell-
te das Werk nach Kriegsende zunächst
Methanol und Ammoniak für die Dünge-
mittelindustrie her. Der moderne Raffine-
riebetrieb, auf Grund lage von Mineralöl, FO
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25DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
160 Jahre Ölförderung in Deutschland Heute kommen 2,4 Millionen Tonnen des in Deutschland verarbeiteten Rohöls aus inländischer Förderung – das sind gut 2,5 Prozent der in deutschen Raffinerien eingesetzten Menge. Historisch hat die Ölförderung hierzulande eine größere Bedeutung. Die Förderung im industriellen Maßstab begann mit einer Bohrung im niedersächsischen Wietze (1858). Dort hatten Landwirte bereits seit dem 17. Jahrhundert ölhaltige Sande gewonnen und das daraus gewonnene Öl unter anderem als Schmierstoff verkauft. Die Bohrung im Jahre 1858 durch den Geologen Prof. Georg Hunaeus war womöglich die Erste ihrer Art auf der ganzen Welt. Die Förderung im größeren Maßstab begann Ende des 19. Jahr-hunderts. In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war Wietze das produktivste Ölfeld Deutschlands.
in der Bundesrepublik besonders deutlich:
Die Rheinland Raffinerie produziert rein
rechnerisch jede neunte Tankfüllung aller
deutschen Pkw mit Verbrennungsmotor.
Aber auch Branchen wie die Kunststoffin-
dustrie sind von ihr abhängig. „Entweder
geht es sicher oder gar nicht“ ist deshalb
das Motto, unter dem die Rheinland Raf-
finerie arbeitet. „Dazu“, sagt Claus-Chris-
toph Hoppe, Leiter des Bereichs Sicherheit
und Umweltschutz, „gehört seit 2014 auch
ein Schulungszentrum für Arbeitssicher-
heit.“ Die Idee dazu stammt aus den Nie-
derlanden. Wer im Werk arbeitet, musste
zuvor einen Sicherheitsparcours mit typi-
schen Szenarien absolvieren und einen
Test bestehen. Davon profitieren alle der
rund 3.000 Mitarbeiter (rund 1.600 von
Shell sowie im Schnitt mehr als 1.300 von
Partnerfirmen), die in beiden Werksteilen
beschäftigt sind. Allein in 2015 kamen so
26.000 Schulungsstunden im Safety Cen-ter zusammen.
All das braucht eine aktive Beglei-
tung im Betrieb, etwa durch Sicherheits-
posten und Gasmessgeräte. Dafür setzt
Shell auf die Expertise von Dräger. Täg-
lich sind rund 50 Fachkräfte des Lübecker
Unternehmens an beiden Stand orten im
Einsatz. Mit ihren Schutzhelmen in silber-
Gelebte Sicherheitskultur ist unverzichtbar für den Betrieb einer komplexen Raffinerie. Dazu gehören auch Sicherheitsposten
Sicherheit mit Strategie heißt auch, dass jeder Einsatz auf dem Raffineriegelände vorher abgestimmt wird
26 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Claus-Christoph Hoppe
„Höchstmaß an Sicherheit“Claus-Christoph Hoppe ist Bereichsleiter Sicherheit und Umweltschutz für die Shell Rheinland Raffinerie. Das Thema Arbeitssicherheit sieht er als ganzheitliche Aufgabe für den Betreiber der petrochemischen Großanlage.
Drä gerheft: Herr Hoppe, im Safety Center gibt es die Station „Housekeeping“. Gehört ein ordentlicher Haushalt zur Arbeitssicherheit?Claus-Christoph Hoppe: Ordnung auf der Baustelle trägt dazu bei, die Arbeits-sicherheit zu erhöhen. Nur ein aufgeräumter Arbeitsplatz ist auch sicher. Das fängt schon damit an, dass man auf die Baustelle nur das mitnimmt, was auch wirklich gebraucht wird. Und am Einsatzort werden die Arbeitsmittel und -materialien in Kisten geräumt – das reduziert Stolperfallen. Auch das Sichern von Arbeitsmitteln bei Arbeiten in Hö hen gehört zum Housekeeping.
Welche Rolle spielt dabei das Safety Center im Werk?Unser 2014 in Betrieb genommenes Zentrum für Arbeitssicherheit ist ein Meilenstein. Schon nach zwei Jahren hat sich gezeigt, wie nachhaltig diese Investition die Arbeitssicherheit erhöht hat: Bisher haben wir mehr als 22.000 Mitarbeiter geschult. Mit einem Wert von 1,0 meldepflichtigen Arbeitsunfällen auf eine Million Arbeitsstunden (bis September 2017) stehen wir in unserer Branche ganz weit oben – auch im Vergleich mit anderen Industrien.
Wie funktionieren die Schulungen?Im Safety Center sind zwölf raffinerietypische Arbeitssituationen aufgebaut – alle sind mit Fehlern behaftet, die jeder identifizieren muss, der bei uns arbeiten will. Anschließend folgt ein Test. Erst dann bekommt man eine Arbeitserlaubnis und darf auf dem eigentlichen Raffineriegelände arbeiten.
Welche Rolle hat die Zusammenarbeit mit öffentlichen Feuerwehren?Diese Kooperation funktioniert wirklich gut, auf allen Ebenen. So übt beispielsweise unsere Werkfeuerwehr in Wesseling mit der Freiwilligen Feuerwehr bestimmte Einsatzszenarien in unserem Hafen. Zudem werden regelmäßig alle Meldeketten überprüft und gegebenenfalls angepasst. Mit einem mehrstufigen Verfahren informieren wir alle zuständigen Behörden und Feuerwehren über mögliche Ereignisse. Die Werkfeuerwehr der Raffinerie hat zwei Wachen und mehr als 100 hauptamtliche Einsatzkräfte.
Was haben die Anwohner davon?Die Menschen, die nahe einem der beiden Werke wohnen, sind daran interessiert, dass der Betrieb sicher und zuverlässig funktioniert. Wir sind davon überzeugt, dass wir dieses „Goal Zero“ erreichen können; ohne ungeplante Ereignisse, Beschwerden oder Regelverstöße. Dazu gehört auch, dass wir unsere Nachbarn informieren. Wir haben für beide Werke einen E-Mail-Verteiler eingerichtet. Zudem gibt es ein kostenfreies, rund um die Uhr besetztes Nachbarschaftstelefon.
Wann sind Sie mit dem Sicherheitsniveau der Raffinerie zufrieden?Eigentlich nie, denn absolute Sicherheit gibt es nicht. Deshalb müssen wir immer daran arbeiten, ein Höchstmaß an Sicherheit zu gewährleisten – für unsere Mitarbeiter, Partnerfirmen, Nachbarn, Anlagen und die Umwelt.
ner, weißer und grüner Lackierung (für
Sicherheitsposten, Aufsichten und Gasprü-
fer) geben sie diesem Bereich der Arbeits-
sicherheit seit 2016 ein Gesicht. „Die lau-
fenden Prozess innovationen spiegeln sich
auch im Arbeitsalltag unserer Mitarbeiter
wider“, sagt Matthias Stuckstedte, Projekt-
koordinator von Dräger Rental & Safety
Services für die Rheinland Raffinerie.
„Mehr Baustellen führen zu einem höhe-
ren Bedarf an Leistungen für die Arbeitssi-
cherheit.“ Drägers Expertise im schnellen
und präzisen Messen von Gaskonzentra-
tionen in der Atmosphäre ist aber nicht
nur beim Freimessen jener Bereiche
gefragt, in denen gearbeitet werden soll.
Die Partner schaft zur größten deutschen
Raffinerie reicht viele Jahrzehnte zurück,
unter anderem durch die Ausstattung mit
Atemschutztechnik sowie mobiler und
stationärer Gasmesstechnik. Auch bei
der Umsetzung neuer Regularien arbei-
tet die Industrie mit den Lübecker Spe-
zialisten zusammen. In der Rheinland
Raffinerie beispielsweise laufen Versu-
Für Messungen flüchtiger organischer Gefahrstoffe in
der Atmosphäre ist das Dräger X-pid prädestiniert –
das Gerät zeigt die Konzentra-tion im Milliardstelbereich an
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27DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
PETROCHEMISCHE INDUSTRIE WIRTSCHAFT
Mehr als 17.000 Geräte auf Vorrat
che für Benzolmessungen mit dem neu-
en X-pid (siehe auch Drägerheft 402, Seite
40 ff.). Derzeit geht es darum, den Einsatz
des Gasmessgeräts für eine breite Anwen-
dung zu optimieren. Statt wie bisher Pro-
ben zu nehmen und diese im Labor zu
untersuchen, könnten künftig flüchtige
organische Gefahrstoffe auch im Bereich
der neuen, niedrigeren Grenzwerte mobil
bestimmt werden. Sicherheit ist etwas,
worüber die Rheinland Raffinerie offen
spricht. „Anders geht es auch nicht, bei
einem so großen Standort in einer dicht
besiedelten Region“, sagt Werksprecher
Zeese. Und wenn es trotz aller Anstren-
gungen doch einen Vorfall gibt, fließt die
entsprechende Erkenntnis in das Sicher-
heitskonzept ein. Aus Rückschlägen wür-
de man lernen, und die Chance nutzen,
künftig noch besser zu werden, sagte dazu
Raffinerie-Leiter Dr. Thomas Zengerly (ab
Juli neuer Deutschland-Chef bei Shell) in
einem Interview, das im Dezember 2015
in der Nachbarschaftszeitung des Werks
erschien.
Teil der ArbeitssicherheitManchmal braucht Sicherheit nur einen
freundlichen Gruß und einen flinken
Griff zum Scanner: „Guten Morgen!“,
ruft Rebecca Schaffrath, nimmt ein Ein-
gasmessgerät entgegen, scannt den Bar-
code und gibt ein neues Gerät aus. Die
On-site-Koordinatorin von Dräger Rental
& Safety Services ist verantwortlich für
mehr als 17.000 Geräte, die in den bei-
den Safety Shops der Raffinerie vorge-
halten werden. „Seit 2010 besteht dieses
Angebot“, sagt Volker Schütte, Leiter der
Vertriebs region West bei Dräger. „Wir sind
Bestandteil der Arbeitssicherheit und tief
verankert in der Prozesslandschaft des
Kunden.“ Während die Sicherheitsposten,
Aufsichten und Gasprüfer ihren Standort
jeweils vor dem Werkstor haben, befin-
det sich der Safety Shop mitten im Her-
zen der Raffinerie. Das entspricht auch
der Bedeutung des schnörkellosen Büro-
containers mit der großen Ladentheke,
erklärt Sven Schmellenkamp, der als Key
Account Manager bei Dräger für die Raf-
finerie zuständig ist. „Der Safety Shop ist
Dreh- und Angelpunkt der Arbeitssicher-
heit insbesondere für alle Fremdfirmen,
die hier mit Messtechnik ausgestattet wer-
den.“ Hierfür hält man mehrere Tausend
Eingas- sowie mehrere Hundert Mehrgas-
messgeräte von Dräger vor. „80 Prozent
der Ausleihen entfallen dabei auf Schwe-
felwasserstoffwarner.“
Von Montag bis Samstag ist der Shop
meist von 06:30 bis 16:00 Uhr geöffnet.
Außerhalb dieser Zeiten übernimmt ein
Rental Robot (siehe auch Drägerheft 388,
Seite 32 ff.). Der blaue Stahlschrank hält
eine umfassende Auswahl der wichtigs-
ten Geräte vor. Dazu gehört auch Alkohol-
messtechnik. Sie steht dem Schichtmeis-
ter zur Verfügung, etwa für Stichproben
von Kraftfahrern am Werkstor. Auch das ist
ein Stück Sicherheit – ohne die geht in der
Rheinland Raffinerie ohnehin nichts.
Technikkompetenz wie hier in einem der beiden Safety Shops gehört zu den Leistun-gen von Dräger in derRheinland RaffinerieF
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28 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Schmieröle/Wachse
WIRTSCHAFT PETROCHEMISCHE INDUSTRIE
Der lange Weg des
Rohöl
Von der Quelle bis zum fertigen Produkt durchläuft das schwarze Gold einen komplexen Prozess. Immer wichtiger wird in der Raffinerie der Wasserstoff.
20 °C
100 °C
300 °C
500 °C
einfache Moleküle
komplexe Moleküle
Hydrocracker
Dampfspaltung
Entschwefelung ist notwendig, weil die Verbrennung der Raffinerieprodukte sonst giftige Schwefeloxide erzeugt. Die Schwefelrückgewinnung dient aber nicht nur dazu, strenge Grenzwerte einzuhalten. Sie ist auch die wichtigste Quelle für elementaren Schwefel, einen Rohstoff der chemischen Industrie.Schwefel
Kerosin
Diesel
Koker oder Visbreaker
Katalytischer Reformer
Hydroentschwefelung
Die Menge von Rohöl wird oft in Barrel zu 159 Liter angegeben. Das Maß stammt aus dem 18. Jahrhundert, als Erdöl noch in alten Herings-fässern transportiert wurde.
H2
H2
Die Destillation steht am Anfang der Raffinerieprozesse:Das Rohöl wird erhitzt, um verschiedene Bestandteilevoneinander zu trennen. Stoffe mit kleinen Molekülenverdampfen bei niedrigen Temperaturen und annähernd Umgebungsdruck (atmosphärische Destillation). Große und komplexe Moleküle brauchen hohe Temperaturen bis 500 °C sowie reduzierten Druck (Vakuumdestillation).
Koks wird aus sehr schweren Ölen erzeugt, den Rückständen der Vakuumdestillation. Der sogenannte Grünkoks enthält noch Kohlenwasserstoffe. Sie werden bei einer starken Erhitzung, der Kalzinierung, entfernt.
Katalytischer Fließbettcracker
Wasserstoff wird als Prozessgas in Raffinerien genutzt. Er dient dazu, im Hydrotreating-Pro-zess Mitteldestillate zu entschwefeln oder beim Hydrocracken Vorprodukte für Treibstoffe zu gewin-nen. Der Wasserstoff entsteht in der Raffinerie entweder beim katalytischen Reforming oder durch die Dampfreformierung von Erdgas. Aber Wasserstoff gilt auch als Energieträger der Zukunft, den Brennstoffzellen emissionsfrei in elektrische Energie umwandeln. Deshalb investieren viele Raffinerien in Elektrolyseanlagen, um Wasserstoff über den eigenen Bedarf hinaus zu erzeugen. Künftig soll der dafür notwendige Strom vor allem aus erneuerbaren Energien stammen. So entsteht dann „grüner Wasserstoff“.
Aromatische Verbindungen
Atm
osph
äris
che
Des
tilla
tion
Vaku
umde
still
atio
n
Ethylen/Propylen
Petrochemisches Ausgangsmaterial
Butadien
Benzin
Petrolkoks
Flüssiggas (LPG)
29DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
INFOGRAFIK: PICFOUR (QUELLEN: ISTOCK(7), SHUTTERSTOCK(3)); QUELLEN: BP: STATISTICAL REVIEW OF WORLD ENERGY (JUNI 2017), BUNDESANSTALT FÜR GEOWISSENSCHAFTEN UND ROHSTOFFE (BGR): ENERGIESTUDIE 2017, MINERALÖLWIRTSCHAFTSVERBAND (MWV): JAHRESBERICHT 2017, THE LIMITS TO GROWTH. A REPORT FOR THE CLUB OF ROME’S PROJECT ON THE PREDICAMENT OF MANKIND. NEW YORK 1972, THE ECONOMIST, 19. DEZEMBER 2017: THE WORLD IN A BARREL.
Nordamerika
4635
2615
7
Südamerika
1851
2552
Arabische Halbinsel/Iran
5310
9
316
Russland/Zentralasien
2920
2830
Asien/Ozeanien
156
2613
Afrika
17 17
2911
Europa/Türkei
102 5 5
Wann versiegt das schwarze Gold? 1972 hatte der Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ prognostiziert – auch die der Erdölförderung: Bei gleich-bleibender Förderung würde die letzte Quelle im Jahre 2000 versiegen, bei steigendem Verbrauch sogar zehn Jahre früher. Dabei waren die Wissenschaftler von den „Reserven“ ausgegangen: bekannten Vorkommen, die sich nach dem Stand der Technik wirtschaftlich fördern lassen. Und genau diese Reserven sind mit heute rund 240 Milliarden Tonnen beinahe viermal so groß wie der damals angenommene Wert. Möglich wurde dies durch die Weiterentwicklung von Bohr- und Fördertechniken sowie die Entdeckung von immer mehr Lagerstätten. Neue Abbaumethoden wie das Fracking oder die wirtschaftliche Nutzung von Ölsanden und -schiefer ließen die Prognosen über nutzbare Ölvorkommen ebenfalls steigen. Dennoch sind die Vorräte endlich. Wann genau der in Jahrmillionen aufgebaute Bestand versiegt, weiß man nicht – nur, dass dieser Zeitpunkt kommen wird. Daran ändern auch die gegenüber den Reserven weitaus größeren „Ressourcen“ nichts: bekannte Vorkommen, die sich noch nicht wirtschaftlich fördern lassen. Weltweit 4,4 Milliarden Tonnen Erdöl wurden 2016 gefördert. Das entspricht einer Energiemenge, wie sie ganz Deutschland in gut dreizehneinhalb Jahren verbraucht (Basis: 2017).
Schweröl
Schiffstreibstoff besteht meist aus einer Mischung aus Schwer- und Dieselöl. Das schwefelhaltige Schweröl wird aber in immer mehr Bereichen verboten – etwa in Häfen und entlang von Küsten.
BitumenBitumen (Erdpech) wird seit der Antike als Dichtmittel benutzt. Das bei der Vakuumdestillation von schweren Rohölsorten entstehende Bitumen kommt insbesondere im Straßenbau und für Dachabdichtungen zum Einsatz.
Petrochemikalien bilden eine Gruppe wichtiger chemischer Rohstoffe. Dazu gehören Ethylen (Grundlage des weltweit häufigsten Kunststoffs, Polyethylen – etwa für Textilfasern), Propylen und Butadien (Ausgangs-stoff für Synthesekautschuk).
Pharmazeutische Produkte sind auf (aus Erdöl gewonnene) Rohstoffe angewiesen. Zum Beispiel enthalten rund 90 Prozent aller Tabletten solche Erdölderivate.
Aromatische Kohlenwasserstoffe haben Moleküle mit Ringsystemen, ihre Stammverbindung ist das Benzol. Sie dienen als Lösemittel (zum Beispiel in Lacken) und als Vorprodukt der Kunststoffchemie (zum Beispiel für Anilin, Styrol und Nylon).
Gesamtpotenzial des Erdöls (2016; in Gigatonnen)
kumulierte Förderung Reserven Ressourcen (nicht konventionell) Ressourcen (konventionell)
Elektrolyse
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gegen die Flammen
Mit Übung macht den
Meister Es brennt in einem präparierten
Schiffs container: Für die Røykdykker
(„Rauchtaucher“) nur eine Übung – verbun-den mit der Hoffnung, dass die Holzhäuser in
der historischen Alt-stadt nie Feuer fangen
BRANDSCHUTZ PANORAMA
31DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
Für Kjell-Ove Christophersen gehört Brandprävention zu
einer herausragenden Aufgabe: „Deshalb haben wir uns kürz-
lich mal etwas anderes einfallen lassen“, erzählt der Stations-
chef der Hauptbrandwache in Bergen. Die Hovedbrannstasjon
ist ein modernes Gebäude, das viel Licht hereinlässt – wenn
die Sonne denn mal scheint, in der als Regenloch verschrie-
nen zweitgrößten Stadt Norwegens. Im Herbst füllt sie sich.
Aber nicht mit Passagieren der Hurtigruten, sondern mit Stu-
dierenden, kurz vor Semesterbeginn. „Da wird viel gefeiert“,
sagt Christophersen. „Wir ziehen dann mit durch die Clubs
und Bars und verteilen Sandwiches.“ Die Gabe der Smørre-brød verbinden die Feuerwehrleute mit einem gut gemein-
ten Rat: „Fangt später zu Hause bloß nicht an zu kochen!“ Das
sei nun mal der Klassiker: alkoholisiert und hungrig etwas auf
den Herd zu stellen, um dann einzuschlafen. „Die sind total
abgefahren auf die Aktion, haben sie zigfach auf verschiedenen
Social-Media-Kanälen geteilt.“
F
SmørrebrødBergens Berufsfeuerwehr arbeitet nicht nur mit moderner Ausstattung, sondern auch mit kreativen Ideen. Die dicht bebaute Altstadt erfordert zudem Spezialfahrzeuge.
Text: Barbara Schaefer Fotos: Patrick Ohligschläger
BRANDSCHUTZ PANORAMA
So wird heute in Norwegen gebaut: Die skandinavisch helle Haupt-feuerwache lässt viel Licht in die Innenräume
PANORAMA BRANDSCHUTZ
32 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Zurück auf der Wache zeigt Christophersen auf ein anderes Spe-
zialfahrzeug: Dessen zweiter Rädersatz – ohne Reifen und mit
schmalem Radstand – kann auf Trambahngleise gesetzt wer-
den. In Bergen, einer Stadt mit rund 280.000 Einwohnern, sind
von den 187 Feuerwehrleuten 37 immer im Dienst, verteilt auf
vier Schichten und sechs Stationen. In Städten ab 20.000 Ein-
wohnern ist in Norwegen eine Berufsfeuerwehr vorgeschrieben,
mit mindestens vier Mann und einem Leiter je Schicht. Ab 8.000
Einwohnern wacht tagsüber eine Berufsfeuerwehr, nachts rückt
die Freiwillige Feuerwehr aus. Auf der Bergener Hauptbrandwa-
che wird in 24-Stunden-Schichten gearbeitet, danach hat man 48
Stunden frei. „In vier Wochen arbeiten wir zehn Tage“, sagt einer
der Feuerwehrmänner und grinst. Für die Ölplattformen, die
nur 15 Helikopterminuten entfernt in der rauen Nordsee stehen,
sind Bergens Brandschützer, hier Røykdykker oder Rauchtaucher
Brände in einer größeren Stadt können schnell zum Desaster
werden – in Bergen sind sie gefürchtet: 1916 zerstörte ein Feu-
er die halbe Altstadt. Was von der historischen Bebauung blieb,
steht hier dicht an dicht; wie in Bryggen, dem ältesten Stadtteil
und ehemaligen Landungskai der Hanse. Wenn die hiesige Feu-
erwehr ihren nagelneuen, 42 Meter hohen Bronto Skylift aus-
fährt, zeigt sich von oben deutlich, wie heikel die Situation ist.
Eine Dachlandschaft wie von einer Modelleisenbahn, ein Zick-
zack von Giebeln. Es scheinen nicht einmal Gassen hindurch-
zuführen. Die Kontorhäuser sind vollständig aus Holz gebaut,
auf den Dächern verlaufen schmale Rohre – was aussieht wie
Blitzableiter, sind moderne Sprinkleranlagen. Man mag sich gar
nicht vorstellen, wie schnell sich hier ein Feuer ausbreiten könn-
te. „Früher wurde eigentlich überall dicht an dicht gebaut“, sagt
Kjell-Ove Christophersen. Die hiesige Berufsfeuerwehr ist mehr
als 150 Jahre alt, „wie in ganz Europa löschte man mit vielen
Händen, hat Eimer durchgereicht und Handpumpen bedient“.
Heute baue man wieder mit Holz, aber meist handle es sich
nur um Fassaden vor Steinmauern. Doch auch diese Architek-
tur hat es brandtechnisch in sich: Hinterlüftete Wände führen
zum Kamineffekt, Brände können sich so erst recht schnell aus-
breiten. Angepasst an die engen Straßen gehören deshalb auch
schmalere Fahrzeuge zum Fuhrpark. Die sind nicht die üblichen
2,40 Meter breit, sondern nur 2,00 bis 2,35 Meter.
Diese Architektur hat es brandschutz-technisch in sich
Bryggen von obenBergens bekannte Kaufmannssiedlung Bryggen wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. Beim Blick von oben zeigt sich die enge Bebauung der Kontorhäuser aus Holz
33DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
genannt, nicht zuständig. Doch jede Wache betreut ein Spezialge-
biet. Die in Laksevåg, rund sechs Kilometer von Bergen entfernt,
ist für CBRNE-Unfälle ausgestattet. Aber auch in Bergen ist man
gut gerüstet für Unfälle etwa mit chemischen oder explosionsge-
fährdeten Stoffen. Deshalb hängen in der Hauptwache die blauen
CPS 7900-Chemikalienschutzanzüge von Dräger. Sie bieten den
Røykdykkern mitsamt Atemschutzgerät wirksamen Schutz bei
Einsätzen mit Gefahrgütern. Nach ihrer Rückkehr befreien Kol-
legen sie daraus. Allein lassen sich die gasdichten Verschlüsse nur
schwer bewältigen. Die Rettungstaucher befinden sich in Sand-
viken; sie rücken etwa 100-mal im Jahr aus, auch nach Schiffs-
kollisionen oder Segelunfällen. Christophersen gehörte 18 Jahre
lang dazu. „Die Polizei ruft sie immer dann, wenn Menschen ver-
misst werden und es Anhaltspunkte gibt, dass sie im Meer oder
in einem See verschwunden sein könnten.“ Hinzu kämen Selbst-
mordversuche. „Wenn jemand auf einer Brücke steht, fahren
wir mit dem Boot raus und haben dann auch Taucher an Bord.“
Etwa zur Askøybrücke über dem Byfjord, einer Hängebrücke im
Stil der Golden Gate Bridge, 1992 erbaut und mit 62 Metern so
hoch, dass selbst Kreuzfahrtschiffe durchpassen.
Brand auf norwegischer PassagierfähreGanz genau erinnert sich Kjell-Ove Christophersen an einen Ein-
satz im Jahre 2004: „Ein Lastschiff, das Steine aus der Nordsee
geladen hatte, rammte einen Felsen und kippte innerhalb von
zwei Minuten um. Die Mannschaft war eingeschlossen. Wir konn-
ten sie nur noch bergen.“ Leider hat Rettungstauchen meist mit
Bergung zu tun. Dennoch sehen sich die Taucher, wie alle Feu-
erwehrleute, als Lebensretter. „Selbst wenn nur noch geborgen
werden kann, ist das für die Angehörigen wichtig – für einen
Abschied, für ein Begräbnis“, sagt Christophersen. Bei einem
Einsatz im Jahre 2011, im rund 400 Kilometer nördlich gelege-
nen Ålesund, wurde auch die Bergener Feuerwehr zu Hilfe geru-
Jüngste ErrungenschaftDer 42 Meter hohe Bronto Skylift ist das neueste Pferd im Stall der Bergener Feuerwehr
fen. Es gab einen Brand auf einem Hurtigruten-Schiff. Auf der
legendären Postschiff-Route reisen heute mehr Touristen als Ein-
heimische. Die Schiffe fahren täglich von Bergen bis nach Kir-
kenes, ganz im Norden, an die Grenze zu Russland. Die „Nord-
lys“, 1993 in Stralsund vom Stapel gelaufen, nahm gerade Kurs
auf Ålesund, als sich im Maschinenraum eine Explosion ereig-
nete. Ein Großteil der Passagiere rettete sich auf andere Schif-
fe, zwei Besatzungsmitglieder starben. Die Rauchentwicklung
war so gewaltig, dass die Innenstadt von Ålesund evakuiert, Kata-
strophenalarm ausgerufen und weitere Einsatzkräfte von Städ-
ten entlang der Küste angefordert werden mussten. Die Berge
um Bergen sind von Tunneln durchlöchert; ein Brand dort zählt
zu den brenzligeren Einsätzen. „Dafür haben wir acht Kreislauf-
Atemschutzgeräte (Typ: Dräger PSS BG4 plus)“, sagt Nils Harald
Ekerhovd, als Service-Koordinator zuständig für das Material. Die
Geräte liefern im Einsatz bis zu vier Stunden Atemluft. Im Stra-
ßenverkehr geht das Ölförderland Norwegen grüne Wege. Bereits
PANORAMA BRANDSCHUTZ
34 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
jedes dritte neu zugelassene Auto ist ein Elektroauto. Das stellt
die Feuerwehr vor neue Herausforderungen. Bei einem Brand sei
zunächst zu klären, ob das Auto spannungsfrei ist, erst dann kön-
ne gelöscht werden. Wie Kjell-Ove Christophersen erklärt, fehl-
ten bislang Erfahrungswerte. Erst zweimal brannte in Bergen
ein Elektrofahrzeug. „Es braucht immens viel Wasser, um eine
brennende Batterie zu löschen.“ Bei einem Einsatz seien 17.000
Liter Wasser geflossen. „Unter Wasserknappheit leiden wir hier
ja glücklicherweise nicht“, fügt er hinzu. Der Stationschef woll-
te schon als Jugendlicher Feuerwehrmann werden. Mitten in
Bergen aufgewachsen, hat er als Kind einige Brände mitbekom-
men. Bergen habe da keine spezielle Rolle gespielt, das sei über-
all gleich gewesen: „Um 23 Uhr waren alle im Bett, kaum jemand
hatte ein Telefon – es gab weder Feuerlöscher noch Rauchmel-
der. Wenn jemand ein Feuer bemerkte, musste er Alarm auslö-
sen und auf die Feuerwehr warten.“ Es habe damals zwar nicht
öfter gebrannt, „aber die Brände waren größer“. Bis heute stellen
Hausbrände das größte Problem dar. Deshalb seien Rauchmelder
und Feuerlöscher in jeder Wohnung Pflicht. „Die Bevölkerung
ist auf einen möglichen Brand vorbereitet, weil ein solches Sze-
nario an jeder Arbeitsstelle, egal ob Shoppingcenter oder Kran-
kenhaus, einmal im Jahr trainiert wird.“
In ganz Norwegen geht die Feuerwehr im Dezember von
Haus zu Haus. „Wir prüfen Notausgänge, Rauchmelder und
Feuer löscher.“ Es gehe nicht nur um praktische Dinge, sondern
auch darum, die Wachsamkeit aufrechtzuerhalten. „In Norwe-
gen werden pro Kopf mehr Kerzen angezündet als sonst wo auf
der Welt“, weiß der Feuerwehrchef. Das liege am koselig, was in
etwa „gemütlich“ bedeutet und das Bedürfnis meint, dem dunk-
len Winter nicht allzu viel Raum zu geben. Überall stehen Lam-
pen auf den Fensterbänken – und eben Kerzen. Hinzu kämen die
Kaminöfen. „Wenn die vorher ein halbes Jahr nicht in Betrieb
waren, geht beim Anfeuern schon mal etwas schief.“
Drohnen mit Infrarotkameras Glücklicherweise sei die norwegische Feuerwehr gut ausgestat-
tet, personell wie finanziell. „Wir versuchen immer, die neues-
ten Technologien einzusetzen.“ Nils Harald Ekerhovd demons-
triert, wie Infrarotkameras funktionieren. Er legt seine Hand
kurz auf einen Metalltisch und richtet dann die Wärmebildka-
Meerwasser löscht, macht aber Arbeit
Schnee, Chemie und RegenMit Schnee hat Bergen selten zu kämpfen – aber die Bekämpfung chemi-scher Stoffe zählt zum Einsatzgebiet der Feuer-wehr in der regenreichs-ten Stadt Norwegens
35DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
Fotostrecke:In Norwegens zweitgrößter Stadt halten verschiedene Einsätze den Arbeitsalltag für die Brandschützer spannend und abwechslungsreich.www.draeger.com/403-35
Bryggen und die HanseGetrockneten Fisch gab es in Bergen in Hülle und Fülle. Die Hanse errichtete dort 1343 eine Handelsniederlassung, die der Hansestadt Lübeck unter-geordnet war. Das Hansekontor, genannt Deutsche Brücke,
bestand aus über 20 nebeneinander liegenden Höfen. Deutsche Kaufleute und Handwerker machten rund ein Viertel der Stadtbevölkerung aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus dem Namen Deutsche Brücke nur noch Bryggen. Es steht seit 1979 mit seinen rund 60 Gebäuden auf der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Im Laufe seiner über 1.000-jährigen Stadtgeschichte blieb Bergen von Bränden nicht verschont. Bei einem Großfeuer im Jahre 1702 wurden fast alle Holzgebäude vernichtet, anschließend aber wieder aufgebaut. Besonders dramatisch war es im Januar 1916 – 380 Gebäude fielen damals den Flammen zum Opfer, 2.700 Menschen wurden obdachlos. 1955 wütete ein Großbrand im Hafenviertel, neun Holzspeicher brannten vollständig nieder.
mera da rauf. Der Abdruck der Hand ist einwandfrei zu erkennen.
„So lassen sich in verrauchten Räumen, wo es mitunter pech-
schwarz ist, Wärmequellen ausfindig machen – ob Glutnester
oder am Boden liegende Personen.“ Eine der Drohnen ist eben-
falls damit bestückt. Die Drohnen kämen bei Waldbränden zum
Einsatz, oder um Vermisste zu finden. Solchen technischen Hilfs-
mitteln gehöre die Zukunft, sagt Ekerhovd.
Nach jedem Einsatz prüfen Ekerhovd und sein Team die
gesamte Ausrüstung. Die Chemikalienschutzanzüge etwa wer-
den gereinigt. „Wenn der Typ mir sympathisch ist, darf er die
Klamotten vorher ausziehen, sonst spritze ich den ganzen Mann
ab“, scherzt Ekerhovd. „Wenn mit Meerwasser gelöscht wurde,
ist die Reinigung des Materials besonders aufwendig.“ Das Team
muss sich darauf verlassen können, dass anschließend alles wie-
der einwandfrei funktioniert. Bereitet ihm die Verantwortung
mitunter Sorgen? Ekerhovd wägt ab. „Wenn mir ein Kollege nach
einem Einsatz sagt, dass etwas nicht in Ordnung war, komme ich
schon ins Grübeln. Wir säubern und testen hier alles ganz genau,
aber eine hundertprozentige Sicherheit gibt es einfach nicht.“
Sein Kollege Leif Erik Gjesdal fügt an, dass aber noch nie etwas
Schlimmes passiert sei.
Kürzlich rückte ein Löschzug aus, zu einer Hytte – sie ist
unabdingbarer Bestandteil eines norwegischen Lebens. Die
Hütte, am See oder in den Bergen, wird weitervererbt. Man ver-
bringt Wochen hier, im Sommer wie Winter. Ein Autofahrer hat-
te einen Brand gemeldet. Von einem Nachbarn bekamen sie
die Handynummer. „Da keiner abnahm, befürchteten wir, dass
noch jemand in der Hütte liegt“, sagt Stationschef Christopher-
sen. Das Team ging in voller Montur rein, aber die Hütte war
leer. „Wir haben nicht herausbekommen, was die Brandursache
war. Für derartige Untersuchungen ist die Polizei zuständig. Wir
löschen nur.“ Zum Löschzug gehört eine fahrende Kommando-
zentrale, die auch über WLAN verfügt. Dort können Stadtpläne
der Einsatzorte eingesehen und ausgedruckt werden, samt aller
Hy dranten und Notausgänge. „Die Ausdrucke laminieren wir
direkt im Wagen“, sagt Christophersen. „Es regnet nun einmal
viel.“ Wenn man so lange bei der Feuerwehr arbeitet, ändert sich
dann auch das private Verhalten? „Ja, ganz automatisch“, bekräf-
tigt der Feuerwehrchef. „In fremden Gebäuden bin ich immer
wachsam und zähle die Schritte bis zum Notausgang.“ Es sich
nur optisch einzuprägen reiche nicht. Im Alarmfall schließen
die Feuerschutztüren, und dann sähe plötzlich alles ganz anders
aus. Das mache er auch auf Schiffen und Fähren so. „Im Notfall
kann man sich nur auf sich verlassen. Die Überlebenschancen
sind in den ersten Minuten am größten. Das gilt für alle Notfäl-
le.“ Auch bei einem Feuer, oder wie Christophersen präzisiert:
„Flammen, die außer Kontrolle geraten sind“, könne man in
den ersten Momenten leicht selbst löschen. „Alles, was danach
kommt, ist schwierig bis gefährlich.“ Einmal hat er das in den
eigenen vier Wänden erlebt. „An Weihnachten. Ich sah aus dem
Augenwinkel, dass eine Kerze komisch flackerte – kurz darauf
brannte es drum herum.“ Er konnte den Brand rasch mit einer
Decke löschen. „Aber meine Familie hat große Augen gemacht,
wie schnell aus Flammen Feuer wird.“
Wächter über das Material: Den tadellosen Zustand der Ausrüstung immer im Blick hat Nils Harald Ekerhovd
ILLU
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KRANKENHAUS IT-SICHERHEIT
36 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
USB-Killer sind ein heißes Thema für
IT-Sicherheitsexperten. Eigentlich dient
die USB-Schnittstelle dazu, Daten auf
einen Computer zu überspielen. Aller-
dings lässt sich auf diesem Wege auch die
Elektronik ganzer Notebooks zerstören.
Hierfür werden USB-Sticks zu Elektro-
schockern umgebaut, die in der Lage sind,
sehr hohe Spannungen zu erzeugen und
schlagartig auf den Computer zu schleu-
dern. „Wir haben diese USB-Killer auch
an unseren Anästhesiegeräten getestet“,
sagt Hannes Molsen, Product Security
Manager bei Dräger. „Tatsächlich war
die Schnittstelle anschließend nicht mehr
zu gebrauchen. Ansonsten funktionierte
das Gerät jedoch einwandfrei.“ Zu einer
Gefährdung von Patienten käme es in der
klinischen Praxis dadurch nicht, da die
USB-Schnittstelle nur dem Export statis-
tischer Daten, etwa des Logbuchs, dient.
U
Wer medizintechnische Geräte vor Hackern schützen will, kann den Angreifern ihr Handwerk auf vielfältige Weise erschweren. Technisches Know-how spielt dabei eine wichtige Rolle, der gelebte Sicherheitsgedanke auch – und sogar der provozierte Zufall.
Text: Frank Grünberg
DIE UNBEKANNTEN
Produktsicherheit: Wie lässt sich dieses
Anästhesiegerät (Typ: Perseus A500)
vor Cyber-Angriffen schützen? Diese und
andere Fragen wurden Anfang des Jahres
bei Dräger in Lübeck diskutiert
37DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
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befiel (siehe auch Drägerheft 401, Seite
6 ff.). Hier waren die Dräger-Experten im
Mai 2017 binnen 48 Stunden in der Lage,
Entwarnung für die eigenen Geräte zu
geben. Manche Kliniken allerdings zahl-
ten dafür, dass Hacker die PCs und IT-Netz-
werke – und damit wichtige Patientenda-
ten – wieder aus der Geiselhaft entließen.
Medizintechnische Geräte des Lübecker
Konzerns wurden seinerzeit nicht infi-
ziert. Technik allein aber hilft in Sicher-
heitsfragen nur begrenzt weiter. Denn die
größte Sicherheitslücke ist und bleibt der
Mensch. Durch Fahrlässigkeit oder Unwis-
senheit öffnet er Angreifern Türen, die
eigentlich verschlossen sind. „Sicherheit
ist kein Produkt, das man einmalig kauft“,
weiß Molsen. Vielmehr sei sie Folge eines
Prozesses, der nie endet, aber immer wei-
ter verbessert werden könne. „Aufklärung
tut not“, sagt er.
Molsen und seine Kollegen wählten
hierfür verschiedene Mittel. Sie luden
nicht nur professionelle Hacker ein,
die über ihr Handwerk berichteten; sie
baten auch Kollegen um einen Selbst-
versuch. Die Aufgabe: ein ungeschütz-
tes Windows-XP-Betriebssystem – inner-
halb von 15 Minuten – vollständig aus der
Ferne zu übernehmen. Die Erkenntnis:
Mit einer guten Anleitung ist das selbst für
Laien kein Problem.
Die USB-Sicherheitstests waren einer
der Höhepunkte der „Woche für Produkt-
sicherheit“, die Dräger Anfang des Jahres
erstmalig auf dem Lübecker Firmenge-
lände veranstaltete. Fünf Tage lang disku-
tierten Sicherheitsexperten, Softwareent-
wickler und Entwicklungsingenieure des
Hauses die Frage, wie sie Produkte vor
Angriffen jeglicher Art schützen können.
Eine feste Agenda gab es nicht. Es wurde
kreativ getestet und experimentiert. „Die
Woche war ein voller Erfolg“, blickt Orga-
nisator Molsen auf die Premiere zurück.
„Wir haben nicht nur viel voneinander
gelernt, sondern auch neue Ansätze ent-
deckt, wie wir den ‚unbekannten Unbe-
kannten‘ auf die Spur kommen können.“
Die „unbekannten Unbekannten“
gelten als eine der größten Herausforde-
rungen für Sicherheitsforscher. Sie sind
verantwortlich dafür, dass es keine abso-
lute Sicherheit gibt. Ein Restrisiko bleibt
immer, sei es auch noch so klein. Am leich-
testen kann man sich vor den „bekann-
ten Bekannten“ schützen. Von diesen Risi-
kofaktoren weiß man, dass sie existieren
und unter welchen Bedingungen sie auf-
treten. Gegen sie lassen sich Vorkehrun-
gen treffen. Schwieriger ist die Abwehr
der „bekannten Unbekannten“. Zwar ist
ihre Existenz bekannt, jedoch nicht ihr
Verhalten. Bei den „unbekannten Unbe-
kannten“ wiederum sind weder Existenz
noch Wesen gewiss. Um sie zu entdecken,
hilft keine Theorie, sondern meist nur der
Zufall. Diesem Zufall halfen Molsen und
seine Mitstreiter auf die Sprünge, indem
sie ihre Sicherheitstests so stark verdich-
teten wie nie zuvor. Zwar sind Sicher-
heitstests fester Bestandteil eines jeden
Entwicklungszyklus, allerdings finden sie
immer isoliert für einzelne Prototypen
statt. Im Rahmen der Woche für Produkt-
sicherheit hingegen trafen Material und
Menschen so intensiv zusammen, dass
sich die Tester aufwendige Rüstzeiten spa-
ren konnten und so Zeit für außergewöhn-
liche Experimente blieb. Beispielsweise
dachten sich die Beteiligten scheinbar
sinnlose Testdaten und Testreihen aus,
mit denen sie Beatmungs- und Anästhesie-
geräte massiv befeuerten. Und tatsächlich
traten dadurch Sicherheitslücken zutage,
die sie nicht hätten vorhersagen können.
„All das entdeckten wir weit vor der Pro-
dukteinführung“, sagt Molsen. „Niemand
kann sagen, ob die Lücke jemals einen
Schaden verursacht hätte.“ Fest steht: Bei
Dräger gibt es seitdem einige „unbekann-
te Unbekannte“ weniger.
Zehn Gebote für ProduktsicherheitDieser Zugewinn an Sicherheit baut auf
systematischen Vorarbeiten auf. So hat der
Hersteller die Richtlinien, die bei der Ent-
wicklung neuer Geräte zu befolgen sind,
in den „Zehn Geboten für Produktsicher-
heit“ dokumentiert. Dort ist etwa zu lesen,
dass es in der Software keine „versteckten
Hintertüren“ oder „fest kodierte Zugangs-
daten“ geben darf. Zudem sollen Betriebs-
systeme mit den „kleinstmöglichen Sys-
temrechten“ laufen. Was nicht gebraucht
wird, wird nicht aktiviert. Eine Minimal-
Architektur bietet die geringste Angriffs-
fläche und damit den größten Schutz. Es
ist wie bei einem Fahrrad: Was nicht ver-
baut ist, kann auch nicht kaputtgehen. Die
solchermaßen gewonnene Transparenz
beschleunigt zudem die Gefahrenana-
lyse. Beispiel: die Erpressungs-Software
„ WannaCry“, die viele Krankenhäuser
Stetspräsent
In der Stadtluft gelten STICKOXIDE als gefährlich, doch auch im Arbeitsschutz spielen sie eine gewichtige Rolle. Um die Einhaltung strenger Grenzwerte kontrollieren zu können, ist extrem empfindliche und zuverlässige Gasmesstechnik nötig.
Text: Peter Thomas
DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Im Untergrund der Bankenmetropole Frankfurt verläuft dieser 1978 eröffnete S-Bahn-Tunnel. Im August 2018 soll sein neues Stellwerk in Dienst gehen
38
39DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
GEFAHRSTOFFE UMWELT
Von drohenden Fahrverboten in deut-
schen Innenstädten bis hin zu manipulier-
ten Motorsteuerungen von Dieselfahrzeu-
gen: Stickoxide kommen nicht mehr aus
den Schlagzeilen. Wer Fotos eines Staus in
der innerstädtischen Rushhour sieht, der
hat sofort die Diskussion um die Gefähr-
dung menschlicher Gesundheit und der
Umwelt durch die Gase Stickstoffmono-
xid (NO) und Stickstoffdioxid (NO2) vor
Augen. Dabei sind Verbrennungsmoto-
ren nur eine von mehreren Quellen, die
Stickoxide freisetzen. Stickoxide entste-
hen überall dort, wo Öl, Holz, Kohle oder
Gas verbrannt werden – aber auch bei der
Metallverarbeitung, etwa beim Schweißen.
Betroffen sind verschiedene Branchen, ob
Energiewirtschaft, Montanindustrie oder
Düngemittelherstellung.
Neu ist das Thema nicht. Stickoxide
(kurz: NOX) sind schon lange als toxische
Stoffe bekannt. NO2 gilt als die gefährliche-
re Substanz. Es reizt Atemwege und Augen,
schädigt Schleimhäute und kann bei länge-
rer Exposition zu chronischen Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen führen. Die Umwelt
leidet ebenfalls durch die stark reaktiven
Stickstoffoxide, die zur Bildung von boden-
nahem Ozon beitragen. Das hatte die bei-
den Gase bereits in den 1990er-Jahren in
den Fokus gerückt. Nicht nur im Blechge-
wühl des Straßenverkehrs werden Stick-
oxide genau beobachtet, sondern auch tief
im Erdinneren. Wie sie dorthin gelangen?
Die Antwort gibt ein gelb lackierter Lind-
wurm, der plötzlich aus dem Dunkel eines
Eisenbahntunnels auftaucht. Das Unge-
heuer faucht und kreischt den stählern
glitzernden Schienenstrang entlang. Es
sind gigantische Dieselmotoren, die die-
ser Gleisbaumaschine ihre Kraft verleihen.
Die Maschine arbeitet im unterirdischen
Netz der S-Bahn von Frankfurt am Main,
das in einem Jahrhundertprojekt umge-
baut und mit neuer Leit- und Sicherungs-
technik ausgestattet wird. Nach umfang-
reichen Vorarbeiten hatte das eigentliche
Vorhaben 2015 begonnen. In diesem Jahr
soll die Maßnahme mit Inbetriebnahme
eines elektronischen Stellwerks (ESTW)
der neuesten Generation abgeschlossen
werden.
Anspruchsvoller Arbeitsschutz „Dabei steht der Arbeitsschutz für alle
Mitarbeiter an oberster Stelle“, sagt Ralf-
Ulrich Michalski. Der Ingenieur hat im
Auftrag von DB Netz, einer Tochtergesell-
schaft der Deutschen Bahn, die Bewet-
terung der unterirdischen Baustellen
geplant, um die Emissionen der Motoren
und der Arbeiten an Gleiskörpern sowie
Schienen gezielt abzuführen. Im Fokus
stehen neben Stäuben auch Stickoxide. Sie
spielen im Arbeitsschutz eine wichtige Rol-
le. Die Einhaltung der Arbeitsplatzgrenz-
werte (AGW) ist besonders anspruchsvoll,
seitdem im Mai 2016 in der Technischen
Regel für Gefahrstoffe („Arbeitsgrenz-
werte“; TRGS 900) neue, bis zu zehn-
mal strengere Werte für die beiden Gase
gelten. In ihrer jüngsten Fassung, vom
31. Januar 2018, nennt die TRGS 900 hier
je Kubikmeter Luft 2,5 Milligramm NO
sowie 0,95 Milligramm NO2 als Obergren-
zen. Diesen Konzentrationen sollen sich
erwachsene Menschen an ihrem Arbeits-
platz bis zu acht Stunden – ohne gesund-
heitliche Beeinträchtigungen – aussetzen
können. Umgerechnet in die gängige Grö-
ße parts per million (ppm) sind das 2 ppm
(NO), beziehungsweise 0,5 ppm (NO2).
Diese Werte entsprechen auch den Emp-
fehlungen des Wissenschaftlichen Aus-
schusses für Grenzwerte berufsbedingter
Exposition der Europäischen Kommissi-
on (SCOEL) sowie der daraus im Januar
2017 abgeleiteten EU-Richtlinie 2017/164.
„Mittlerweile hat das Thema richtig Fahrt
aufgenommen – sowohl was die Strategien
für die Einhaltung der Grenzwerte betrifft
als auch deren zuverlässige Messung“,
sagt Christoph Feyerabend. Der Ingenieur
arbeitet bei Dräger im Geschäftsbereich
Bergbau. Hinsichtlich NOX gebe es eine
Schnittmenge zwischen Bergbau, Bauar-
beiten in unterirdischen Verkehrsanlagen
und Tunnelneubauten, sagt Feyerabend.
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Licht in der Mitte des Tunnels: Bauarbeiten auf Deutschlands meistbefahrener Bahnstrecke,
dem S-Bahn-Tunnel in Frankfurt am Main
UMWELT GEFAHRSTOFFE
40 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Bewetterung wie im Bergbau
Strategien zur Einhaltung der Grenzwer-
te führten beispielsweise auch im Erzberg-
bau zu Konzepten wie der elektrischen Mine. Darin sollen so viele Aggregate wie
irgend möglich mit Strom statt mit Ver-
brennungsmotoren betrieben werden. Das
reduziert auch den Ausstoß von Kohlen-
stoffdioxid und hat Vorteile hinsichtlich
der Umweltauflagen. Eine zweite Emis-
sionsquelle, die etwa der bergmännische
Tunnelvortrieb in den Griff bekommen
muss, sind Sprengschwaden. Auch sie ent-
halten hohe Konzentrationen an NOX. Dass
die Thematik sehr aktuell ist, hat auch das
diesjährige Symposium Gefahrstoffe der
Berufsgenossenschaft Rohstoffe und che-
mische Industrie (BG RCI) „Schlema IX“
gezeigt. Dort ging es um Konzepte zum
Umgang mit Stickoxiden im Bergbau und
um neue Messtechnologien. Unterirdi-
sche Verkehrsanlagen zeigen schon lan-
ge, dass Stickoxide nicht zwingend ein Pro-
blem sein müssen. Im laufenden Betrieb
von elektrifizierten Tunnel-Bahnstrecken
beispielsweise spielen die NOX-Emissio-
nen so gut wie keine Rolle. Diesen Effekt
der lokal emissionsfreien E-Motoren nutz-
ten schon britische Ingenieure, als sie –
lange vor den ersten Arbeitsplatzgrenz-
werten – das tief liegende und ab 1890 in
Betrieb genommene Londoner Tube-Netz
bauten. Die Tunnelanlagen hätten wegen
der schädlichen Emissionen unmöglich
mit Dampfloks betrieben werden kön-
nen. Doch genau diese zogen die Wag-
gons in den Anfangsjahren der ältesten
U-Bahn der Welt nach der Eröffnung der
ersten oberflächen nahen Strecke mit zahl-
reichen Ventilationsöffnungen im Jahre
1863. Vom Dampfzeitalter ist die moder-
ne S-Bahn des Rhein-Main-Gebiets natür-
lich weit entfernt, aber in Phasen inten-
siver Bautätigkeit sind Emissionen von
Arbeitsmaschinen wie Diesellok und
Schwellen-Motorschrauber eine Heraus-
forderung. Und die hat in den vergange-
nen Jahren sogar zugenommen, erklärt
Ingenieur Michalski: „Einerseits sind die
Grenzwerte strenger geworden, anderer-
seits hat auch die Maschinenleistung deut-
lich zugenommen – und mit ihr das Maß
an Emissionen. Schon deshalb kommt
man ohne eine ausgefeilte Strategie für
die technische Bewetterung nicht aus.“
Königsklasse der BewetterungDie Lösungen dafür haben im Frank-
furter Untergrund nicht nur den Namen
mit der Be- und Entlüftung von Bergwer-
ken gemein. Sie brauchen sich auch mit
ihrer Komplexität nicht vor den Anla-
gen für Abbau und Abtransport von Koh-
le, Erzen und Salzen zu verstecken. Denn
der Tunnel der ab 1978 eröffneten S-Bahn
unter dem Finanzplatz am Main besteht
aus einem verzweigten Netz von Strecken
und Stationen, von Querverbindungen,
Kreuzungen und Notausstiegen. „Im Ver-
gleich zu einem herkömmlichen Eisen-
bahntunnel, der nur zwei Portale und
die dazwischen liegende Röhre hat, ist
das die Königsklasse“, sagt Michalski. In
der Hochphase der emissionsträchtigen
Bauarbeiten kamen daher nicht nur luft-
dichte Röhren („Lutten“) für die Bewet-
terung zum Einsatz, sondern auch fahr-
und drehbare Großventilatoren mit jeweils
200 Kilowatt Leistung. Doch Emissionen
sicher und kontrolliert abzuführen ist
das eine. Die Einwirkung von Stoffen auf
den Menschen – die Immission – zu kon-
trollieren, das andere. „Im betrieblichen
Alarm- und Gefahrenabwehrplan sowie
der Betriebs- und Bauanweisung wurde
deshalb ein Messkonzept für besonders
emissionsträchtige Arbeiten entwickelt“,
erklärt Christian Ludwig, Projektingeni-
eur für den Neubau des ESTW. Dazu setzte
DB Netz fest installierte und mobile Gerä-
te ein. Die stationären Anlagen messen
neben den beiden Stickstoffoxiden auch
Kohlenstoffmonoxid und -dioxid, Sauer-
stoff, Luftfeuchtigkeit sowie Richtung und
Stärke der Luftbewegung. Andererseits
wurden Arbeitstrupps, die nahe an Emis-
sionsquellen eingesetzt waren, zusätzlich
mit mobilen Gasmessgeräten ausgestat-
Großgebläse werden bei Arbeiten in unterirdischenVerkehrsanlagen verwendet, um die Emissionen von Maschinen gezielt abzuleiten
Tragbare Gasmesstechnik
wie das Dräger X-am 8000
kommt auf Tunnel-baustellen je nach Bedarf ebenso zum
Einsatz wie fest installierte Geräte
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41DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
tet. Das Konzept habe sich bewährt, sagt
Ludwig. Auch weil sich alle im Auftrag der
Bahn tätigen Unternehmen an die Arbeits-
schutzregeln gehalten hätten. „Dass sol-
che Prozesse hinterlegt sind, ist mindes-
tens ebenso wichtig wie die Messung
selbst. Nur so kann man bei kritischen
Ergebnissen angemessen reagieren“, sagt
Gero Sagasser, Produktmanager für Sta-
tionäre Gasmesstechnik bei Dräger. Die
mehrjährige Baustelle auf Deutschlands
längster unterirdischer S-Bahn-Strecke ist
zwar besonders komplex, aber kein Einzel-
fall. Vielmehr steige die Zahl der Projekte
für den Bau oder die Ertüchtigung unterir-
discher Verkehrsanlagen, so Sagasser. Das
gelte für herausragende Eisenbahnvorha-
ben wie den Brenner-Basistunnel eben-
so wie für urbane Tunnelinfrastrukturen.
Ob Baustelle oder Bergwerk: Die Frage
nach NOX ist angesichts immer strengerer
Grenzwerte stets präsent.
Messungen ab 0,04 ppmEinen Trend zu noch niedrigeren AGW als
in Europa gibt es in Kanada. Dort schrei-
ben einige Provinzen bereits Arbeitsplatz-
grenzwerte von höchstens 0,2 ppm des
toxischen NO2 vor. Solche Dimensionen
jenseits analytischer Messtechnik zuverläs-
sig zu detektieren galt noch vor zehn Jah-
ren als kaum lösbar. „Heute jedoch bieten
wir Sensoren für extrem niedrige Konzent-
rationen an – mit neuer Elektrodentechnik
auf Basis von Carbon-Nanoröhren“, sagt
Christoph Feyerabend. „Sie lassen sich in
unseren gängigen mobilen wie stationä-
ren Gaswarngeräten verwenden.“ NO2-LC-
Sensoren sind seit etwa sieben Jahren für
tragbare und seit 2013 in stationären Gas-
messgeräten verfügbar. Sie messen NO2 in
Konzentrationen ab 0,04 ppm mobil (z. B.
Dräger X-am 8000) und 0,05 ppm statio-
när (z. B. Dräger Polytron 8000). So hilft
moderne Messtechnik dabei, immer stren-
gere Arbeitsplatzgrenzwerte verlässlich zu
kontrollieren.
Stickoxide: Messstellenvon Sylt bis zur Zugspitze Stickoxide sind auch im Umweltschutz schon lange ein Thema. Das reicht von der Auseinandersetzung mit dem sauren Regen über die Ozonbelastung bis zur aktuellen Debatte über Emissionen von Kraftfahrzeugmotoren. Unerlässlich für eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung sind verlässliche Messdaten der NO
X-Konzentration in der Atmosphäre. Das Umweltbundesamt (UBA)
trägt solche Messwerte aus ganz Deutschland zusammen – und misst bereits seit seiner Gründung 1974 auch selbst: zum Beispiel die NO
2-Konzentration
in der Atmosphäre. Dabei kamen stets verschiedene, kontinuierliche und diskontinuierliche Methoden zum Einsatz. „Die verwendete Technik hat sich seither erheblich weiterentwickelt“, sagt Dr. Axel Eggert vom UBA. Besonders in den vergangenen fünf Jahren habe das Tempo der Innovation deutlich angezogen. Anfangs setzten die Wissenschaftler zum Beispiel das Saltzman-Verfahren ein. Dabei wird Luft durch Waschflaschen mit einer Lösung geführt, die sich je nach Kontakt mit NO2
rot färbt. Noch bis 2017 wurden auch sogenannte Glasfritten verwendet: Glasschäume mit großer Oberfläche, die mit Natriumjodid und Natrium hydroxid imprägniert sind. Wird Luft durch diese Fritte geleitet, reagiert das NO2
mit der imprägnierten Oberfläche. Längst jedoch setzt das UBA auch fotometrische Verfahren wie Chemilumineszenz und Cavity-Enhanced- Absorption-Spektroskopie ein. Ein Schwerpunkt der Arbeit des Umweltbundesamtes sind Hintergrundmessungen. Dabei wird nicht die lokale Belastung an besonders emissionsträchtigen Punkten gemessen, sondern der weiträumige Transport von Schadstoffen. Die sieben Messstellen liegen deshalb bewusst außerhalb von Ballungsgebieten und fern von Industrie oder Kraftwerken. Die nördlichste Station befindet sich auf Sylt, die südlichste auf der Zugspitze.
Die NO2-Immission
in Deutschland zeigt diese Karte des Umweltbundesamtes mit Jahresmittelwerten. Sie ist auf Grund-lage von Daten lokaler Messstationen entstanden
Westerland Zingst
Neuglobsow
Waldhof
Schmücke
Schauinsland
Zugspitze
Langen
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Messstelle
Messnetz-Zentrale
0 - 5 ug/m3
> 5 ug/m3
> 10 ug/m3
> 15 ug/m3
> 20 ug/m3
> 25 ug/m3
> 30 ug/m3
> 35 ug/m3
> 40 ug/m3
> 45 ug/m3
> 50 ug/m3
> 55 ug/m3
> 60 ug/m3
WISSENSCHAFT MEDIZIN
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42 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Stammzellensind für den Laien unter dem Mikroskop kaum zu erkennen – hier eine künstlerische Interpretation
43
Als John Gurdon (*1933) vor 60 Jah-
ren Froscheier an der University of Oxford
untersuchte, konnte er nicht wissen, dass
er sich gerade in die Geschichtsbücher der
Medizin schrieb – Nobelpreis inklusive.
Gurdon bestrahlte die Eier mit UV-Licht,
um deren Erbgut zu zerstören. Dann saug-
te er mit einer Pipette den Zellkern samt
Erbgut eines erwachsenen Frosches aus
einer Zelle und injizierte die DNA in das
präparierte Ei. In wenigen Tagen entwi-
ckelte sich daraus ein lebendiger Frosch.
Ohne dass es sein Ziel war, hatte Gurdon
damit erstmals einen Klon von einem
erwachsenen Tier geschaffen – also eine
exakte genetische Kopie eines lebenden
Wesens. Eigentlich ging der damalige Dok-
torand der Frage nach, ob alle Zellen das
gleiche Erbgut bergen, oder ob sie sich
in ihren Erbanlagen unterscheiden. Wie
sonst könnte es sein, dass ein Körper aus
so unterschiedlichen Gewebearten und
Organen besteht? Nierenzellen filtern das
Blut, Neuronen leiten die Nervensignale
weiter. Muskelzellen bewegen den Kör-
per, der weit mehr als 100 Gewebetypen
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STAMMZELLEN versprachen lange Zeit eine Revolution der Medizin – als universelles Reparaturkit für defekte Organe. Dann bemerkten Forscher, dass es gar nicht so leicht ist, die Heilkraft der Universalzellen zu nutzen. Nach einigen Schwierigkeiten gibt es inzwischen Erfolg versprechende Ansätze.
Text: Hanno Charisius
DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
beherbergt, und pumpen das Blut. Wie
aber kommt es zu dieser Vielfalt, wenn
doch alle Zellen das gleiche Erbgut in sich
tragen? Denn das hatte ja der Klonfrosch
bewiesen: dass jede Zelle eines Lebewe-
sens sämtliche Gene in sich trägt, um von
einer befruchteten Eizelle zu einem Orga-
nismus heranzuwachsen. Nebenbei zeig-
te Gurdon mit seinem Versuch, dass es
umgekehrt Wege gibt, aus einer erwach-
senen Zelle wieder eine Universalzelle zu
machen, aus der die Vielfalt eines Orga-
nismus entstehen kann.
Traum vom ReparaturkitGenau diese Reprogrammierung pas-
siert beim Klonen: In wenigen Stunden
dreht die Eizelle die Entwicklung der
erwachsenen Zelle zurück, die als Spen-
der gedient hat. Das gleicht einem Jung-
brunnen für Zellen. Werden diese so in
einen Zustand zurückversetzt, wie er in
ganz jungen Embryonen herrscht, ver-
wandeln sie sich zu Fast-Alleskönnern.
Sie bringen zwar keinen Menschen her-
vor, aber nahezu alle Zelltypen. Seit der
Entdeckung em bryonaler Stammzellen
WISSENSCHAFT MEDIZIN
44 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Neustart: Ausgereifte Körperzellen lassen sich wieder in einen Urzustand versetzen
träumen Mediziner von ihnen als einer
Art universellem Reparaturkit für den Kör-
per. Lädiertes Gewebe sollte sich damit
wieder instand setzen lassen, so die Idee
der regenerativen Medizin. 1998 berich-
tet der amerikanische Zellbiologe James
Thomson, wie es ihm gelang, embryonale
Stammzellen zu erschaffen. Damit schien
das Ziel, schwere Krankheiten – wie Dia-
betes, Alzheimer und Parkinson – oder
die Folgen von Verletzungen und Infark-
ten therapieren zu können, in greifbare
Nähe gerückt. Es gab nur ein Problem:
Um an die Zellen zu gelangen, muss man
zunächst einen Embryo erschaffen. Weni-
ge Tage, nachdem Eizelle und Spermium
miteinander verschmolzen sind, bildet
sich eine Blastozyste, ein bläschenförmi-
ges Gebilde, das aus einer Hülle und einer
inneren Zellmasse besteht. Diese beher-
bergt jene pluripotenten Zellen, die sich
in so ziemlich jeden Gewebetyp verwan-
deln können. Würde man Stammzellen
für einen Patienten herstellen wollen,
käme hier ein ähnliches Verfahren zum
Einsatz, das auch Gurdon bereits nutzte:
Erbgut aus der Eizelle entfernen, es in
eine Zelle des Patienten einpflanzen und
warten, bis daraus ein Embryo mit den
begehrten Zellen geworden ist.
Meister der VerwandlungUm diese Zellen jedoch nutzen zu kön-
nen, muss man den jungen Embryo zerstö-
ren. Das birgt derart fundamentale ethi-
sche Probleme, dass die Herstellung von
menschlichen embryonalen Stammzel-
len in Deutschland gleich ganz verboten
wurde. Und die Forschung an embryona-
len Stammzellen, die importiert wurde, ist
nur eingeschränkt erlaubt. 2007 wischte
eine Entdeckung des japanischen Stamm-
zellforschers Shin’ya Yamanaka prak-
tisch all diese Bedenken beiseite. Er hatte
eine Möglichkeit gefunden, Zellen eines
erwachsenen Menschen auf chemischem
Wege wieder in den Embryonalzustand zu
versetzen. Gezielt mit verschiedenen Wirk-
stoffen behandelt, erwachen in den entwi-
ckelten Zellen Gene, die normalerweise
nur in Embryonen aktiv sind und später
stillgelegt werden. So können etwa aus
Hautzellen wieder embryonale Stamm-
zellen entstehen. Sie gelten als pluripo-
tent und können sich in viele verschiedene
Gewebetypen verwandeln – nur eben nicht
in einen Menschen. Yamanaka verwandel-
te mit seinem Rezept Hautzellen von Mäu-
sen in Stammzellen, die als induzierte plu-ripotente Stammzellen (iPS) bezeichnet
werden. 2012 hat er für seine Entdeckung
den Medizin-Nobelpreis erhalten. Er teilte
ihn sich mit John Gurdon, der die Grund-
lage für Yamanakas Werk legte, indem er
beobachtete, dass man ausgereifte Zellen
wieder zurückversetzen kann – in eine Art
Urzustand, in dem ihnen wieder alle ent-
wicklungsbiologischen Wege offen stehen.
Ganz so wie der Meeresgott Proteus aus
der griechischen Mythologie, der als Meis-
ter der Verwandlung jede beliebige Gestalt
annehmen konnte.
Bereits Ende 2012 wollen Wissen-
schaftler des US-amerikanischen White-
head-Instituts das Potenzial dieser Zel-
len im Tierversuch demonstriert haben.
Sie berichteten in einem Fachartikel, wie
sie Mäuse heilen konnten, die an Sichel-
Stammzellensind kostbar. Deshalb hantieren Forscher im Labor immer nur mit winzigen Mengen
45DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
zellenanämie litten. Bei dieser Krankheit
produziert der Körper durch einen Gende-
fekt deformierte rote Blutkörperchen, die
Organe zerstören können. Die Forscher
entnahmen Mäusen ein paar Hautzellen
und verwandelten sie durch den chemi-
schen Proteus-Effekt in iPS-Zellen, die sie
wiederum in Vorläuferzellen des Blutes
umwandelten. Den Gendefekt reparierten
sie durch einen Eingriff und spritzten die
Vorläuferzellen den kranken Tieren, wo
sie zu gesunden Blutzellen heranreiften.
Nach Angaben der Forscher verschwanden
die Symptome der Tiere fast vollständig.
Wenige Studien an MenschenMittlerweile wird die Qualität dieser ers-
ten Studie mit iPS-Zellen von verschiede-
nen Experten angezweifelt. Zwar gibt es
zahlreiche Untersuchungen, die das Kon-
zept prinzipiell bestätigen, jedoch liegen
nur wenige Berichte über Heilversuche
mit den Wunderzellen an Menschen vor.
2014 war die Augenärztin Masayo Takaha-
shi vom Riken Center for Developmental
Biology in Kobe die Erste, die iPS-Zellen
an einer Patientin ausprobierte. Die über
70-jährige Patientin litt an einer alters-
bedingten Makuladegeneration, bei der
die Pigmentschicht der Netzhaut zerstört
wird. Bereits als Takahashi ihr ein winzi-
ges Stück gezüchteter Pigmenthaut ins
Auge pflanzte, betonte die Ärztin, dass es
bei diesem ersten Test ausschließlich um
die Sicherheit der Methode ginge und es
nicht das Ziel wäre, die Sehkraft wieder
vollständig herzustellen. Knapp drei Jah-
re später veröffentlichte sie die Ergebnis-
se. Es habe keine Abstoßungsreaktionen
oder andere Nebenwirkungen gegeben.
Besser sehen kann die Patientin zwar
immer noch nicht, doch die experimen-
telle Therapie hatte die Krankheit auf-
gehalten. Keinesfalls verwechseln darf
man derartige streng kontrollierte Expe-
rimente mit obskuren Heilversuchen, wie
sie in manchen kommerziellen Stamm-
zellkliniken angeboten werden. Vor sol-
chen Praktiken warnten Wissenschaftler
im vergangenen Jahr in derselben Ausga-
be des Fachjournals, in dem Takahashi
ihren Bericht veröffentlichte. Dafür gab
es einen tragischen Anlass: Drei ameri-
kanische Frauen waren erblindet, nach-
dem Ärzte ihnen Zellen injizierten, die
sie aus dem Fettgewebe ihrer Patientin-
nen gewonnen hatten.
Wie sorgsam hingegen seriöse Wis-
senschaftler vorgehen, zeigt sich auch
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Reprogrammierung
Körperzellen
Zellen reprogrammierenVerschiedene biochemische Faktoren schicken differenzierte Zellen wieder in den Urzustand – aus dem sie sich in viele andere Gewebetypen verwandeln können.
46 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
im Fall Takahashi. Die Augenärztin ver-
zichtete darauf, einem zweiten Patienten
die maßgeschneiderten Stammzellen ein-
zusetzen, weil sich während der Herstel-
lung im Labor zu viele Fehler in das Erb-
gut eingeschlichen hatten. Diese erhöhen
das Risiko für Komplikationen, etwa durch
das Entstehen von Krebs. Das ist ein allge-
meines Risiko von Stammzellen, denn sie
können sich nicht nur in das gewünsch-
te Gewebe verwandeln, sondern auch
in Tumore. 2011 zeigte eine amerikani-
sche Forschergruppe, wie weit verbreitet
schwere genetische Veränderungen nicht
nur in embryonalen Zellen sind, sondern
auch in den iPS-Zellen, die bis dato als
Hoffnungsträger der regenerativen Medi-
zin galten. In embryonalen Stammzel-
len fanden die Wissenschaftler zahlrei-
che duplizierte Genabschnitte, während
den iPS-Zellen offenbar Gen-Informatio-
nen fehlten. Ob das für künftige therapeu-
tische Anwendungen problematisch ist,
zählt bis heute zu den drängendsten Fra-
gen. Weit mehr Erfahrung haben Medizi-
ner mit adulten Stammzellen gesammelt,
die sich im Gewebe eines jeden Menschen
finden. Auch sie können sich fast unein-
geschränkt vermehren, sind aber bereits
auf einen Gewebetyp oder ein Organ spe-
zialisiert und so etwas wie die Reparatur-
truppe des Körpers. Sie sorgen auch dafür,
dass Ersatz zur Stelle ist, wenn betagte Zel-
len ihren Dienst quittieren. Je nach Organ
liegt die Lebenserwartung zwischen eini-
gen Tagen und vielen Jahren. Rote Blutkör-
perchen leben circa drei Monate, die Zel-
len der Darmoberfläche erneuern sich fast
permanent. Zwar ist dieser Zelltyp nicht
so vielseitig wie seine pluripotenten Ver-
wandten aus Embryonen oder Zellen nach
der chemischen Verjüngungskur der iPS-
Zellen, dafür kennt er seine zukünftigen
Aufgaben schon recht gut, weil er ja das
spezialisierte Gewebe bildet.
Gentechnisch veränderte HautDie bekannteste Stammzelltherapie ist
die gegen den Blutkrebs. Dabei überträgt
man Blutstammzellen vom gesunden und
genetisch passenden Spender auf den
Leukämiepatienten. Bei der klassischen
Knochenmarkspende werden dem Spen-
der unter Vollnarkose ein bis anderthalb
Liter Knochenmark aus dem Hüftkno-
chen entnommen. Der einfache Eingriff
dauert etwa eine Stunde, in der ein Arzt
mit einer Spritze Stammzellen absaugt.
Massayo Takahashi ist die Augenärztin, die erstmals Patienten mit chemisch reprogrammierten Stammzellen behandelt hat
An Leukämieerkrankt
gesund
Blutkrebs: Es gibt sehr unterschiedliche Leukämieformen, die meist im Knochenmark beginnen und zu einer stark erhöhten Zahl weißer Blutkörperchen und Vorläuferzellen (orange) führen. Die Zahl der roten Blutkörperchen für den Sauerstoff-transport und der Thrombozyten (blau), die bei Verletzungen für die Blutgerinnung sorgen, verändert sich kaum
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47DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
MEDIZIN WISSENSCHAFT
Stammzellen:Die Fast-Alleskönner helfen auch bei der Entwicklung neuer Medikamente.www.draeger.com/403-47
Stammzellen eignen sich auch dafür, verschlissene Gelenke wieder zu mobilisieren
Normalerweise kann der Spender noch
am selben Tag das Krankenhaus wieder
verlassen. Mögliche Risiken sind sehr
gering. Es dauert nur wenige Wochen,
bis sich das Knochenmark wieder rege-
neriert hat. Der Transfer auf den Empfän-
ger funktioniert ganz einfach per Trans-
fusion. Die Blutstammzellen finden ihren
Weg eigenständig durch die Blutbahn bis
hin zu den Knochen, wo sie sich ansie-
deln. Sogenannte mesenchymale Stamm-zellen, wie sie im Knochenmark herum-
schwimmen, eignen sich aber auch, um
verschlissene Gelenke wieder mobil zu
machen – oder abgenutzten Knorpel wie-
der aufzubauen.
Stammzellen aus verschiedenen
Geweben wurden bereits getestet, um
beschädigte Herzmuskeln nach einem
Infarkt wieder zu kräftigen. Bislang gab es
in diesem Bereich jedoch keinen durch-
schlagenden Erfolg, obwohl die Zellthe-
rapie am Herzen bereits an einigen Hun-
dert Patienten getestet wurde. Noch ist
unklar, ob die Stammzellen sich in den
lädierten Muskel integrieren und sich an
die neue Aufgabe anpassen – oder ob sie
lediglich biologische Signalstoffe abson-
dern, die dem Herzen dabei helfen, sich
selbst zu helfen. Wenn es aber da rum
geht, nicht nur verschlissene Organe
oder Gewebe zu ersetzen, sondern auch
angeborene Krankheiten zu heilen, müs-
sen Ärzte die Fähigkeiten der Stammzel-
len mit den Möglichkeiten der Gentech-
nik kombinieren. Erstmals ist das einem
deutsch-italienischen Ärzteteam gelun-
gen, das einen Jungen mit einer lebensbe-
drohlichen Hautkrankheit retten konnte.
Die genetisch bedingte Schmetterlings-
krankheit (Epidermolysis bullosa) hatte
etwa 80 Prozent seiner Oberhaut zerstört.
Alle bekannten Medikamente hatten ver-
sagt, deshalb wagten die Ärzte im Jahre
2015 ein Experiment: Sie entnahmen
dem Jungen ein Stück noch intakter Haut,
vermehrten die Stammzellen darin und
schleusten eine intakte Version des defek-
ten Gens ein. Ende vergangenen Jahres
berichteten die Mediziner in der Fachzeit-
schrift Nature, dass es ihrem Patienten –
zwei Jahre nach der Verpflanzung von fast
einem Quadratmeter gentechnisch verän-
derter Haut – so gut gehe, dass er wieder
ein fast normales Leben führen könne.
Als John Gurdon (Anfang 1958) sei-
ne Experimente zur genetischen Identi-
tät von Zellen begann, war diese Entwick-
lung noch nicht abzusehen. Für ihn ist
das eine der besonderen Überraschun-
gen, die die Wissenschaft bereithält. In
seiner Nobelpreisrede (2012) erklärte er,
dass es für ihn eine besondere Freude sei,
dass aus einer ursprünglich durch reine
Neugierde betriebenen Grundlagenfor-
schung und nicht zuletzt durch die Entde-
ckung Yamanakas „etwas wurde, das der
menschlichen Gesundheit nützt“. Das
lässt sich wahrlich nicht über jeden Ver-
such mit Froscheiern sagen.
Glossar Adulte Stammzellen bilden die Reserve in Geweben und Organen; sie bringen Nachschub hervor, wenn Zellen kaputt oder zu alt geworden sind. Sie sind nicht so vielseitig wie embryonale Stammzellen.
Embryonale Stammzellen können sich in nahezu jedes Körper-gewebe verwandeln; deshalb werden sie als pluripotent bezeichnet. Im ganz jungen, nur wenige Tage alten Embryo gibt es noch solche Fast-Alleskönner-Zellen. Doch auch sie haben bereits Entwicklungspotenzial eingebüßt – ein Mensch kann aus ihnen nicht mehr erwachsen, sonst wären sie totipotent. Reprogrammieren ist ein Begriff, der eher mit Computern in Zusammenhang gebracht wird. Doch auch der Code, der einer Zelle sagt, ob sie zu einer Niere gehört, zum Gehirn oder zum Blut, lässt sich neu interpretieren. Das geschieht durch chemische Markierungen an den Genen, sogenannte epigenetische Marker. Jede Zelle eines Lebewesens trägt sämtliche Gene in sich.
Epigenetische Markierungen steuern, welche Gene wo und wann genau gebraucht werden.
DRÄGERHEFT 403 | 1 / 201848
PANORAMA NATURKATASTROPHEN
Das vergangene Jahr war verheerend – und vermutlich nur der Auftakt: Trotz besserer
Vorhersagemodelle stehen den USA und anderen Teilen der Welt künftig wohl noch mehr Natur-
katastrophen bevor. Bevölkerungswachstum an den falschen Orten und der Klimawandel
dürften das Problem noch verschärfen.
Text: Steffan Heuer
DAS WIRBELSTURM-TRIO KATIA, IRMA UND
JOSE AM 8. SEPTEMBER 2017 ÜBER DEM ATLANTIK.
BILANZ: MINDESTENS $68 MRD. SACHSCHADEN
49DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018 49
Mehrere Hundert Tote, Zehntausende Obdachlose – zerfetz-
te Häuser, Autos und Fabriken, die unter Wasser stehen. Ganze
Landstriche, in denen auch Monate später noch kein Strom
fließt. Die Hurrikansaison 2017 stellte in den USA einen neuen
traurigen Rekord auf, was die durch Wind, Regen und Über-
schwemmungen verursachten Schäden angeht.
Nach vorläufigen Erhebungen kostete das Wirbelsturm-
Trio Harvey, Irma und Maria fast 207 Milliarden US-Dollar, als
es die Millionenstadt Houston und diverse Karibikinseln (ein-
schließlich des US-Außengebietes Puerto Rico) verwüstete. Die
Schäden übersteigen damit die Summe der Serie von Stürmen
zuvor, als Katrina, Rita, Dennis und Wilma 2005 an Land feg-
ten und Schäden von mehr als 151 Milliarden Dollar verursach-
ten. Doch selbst wenn man davon einmal absieht, schrieb das
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vergangene Jahr Geschichte. Meteorologen und Klimaforscher
notierten insgesamt 17 große Stürme, davon sechs der Kate-
gorie 3 oder stärker, also mit einer Windgeschwindigkeit von
178 Stundenkilometern und mehr. Seit 1893 hatte man keine
derart schlimme Saison mehr erlebt. Die im Fernsehen und in
den Sozialen Netzwerken live ausgestrahlte Zerstörungskraft der
Natur hat Wissenschaftler wie Katastrophenschützer weltweit
aufgeschreckt. Sie treiben gleich mehrere Fragen um, bevor die
diesjährige Saison am 1. Juni wieder offiziell beginnt: Besitzen
ihre Modelle genügend Datendichte und Analysekraft, um die
nächsten Stürme akkurat und mit größerer Vorlaufzeit vorher-
zusagen? Wie können sich die Menschen entlang der Küsten-
regionen besser auf die Verwüstungen vorbereiten? Und inwie-
weit verschärft der fortschreitende Klimawandel die Stürme
samt ihren verheerenden Auswirkungen?
PANORAMA NATURKATASTROPHEN
John Cangialosi arbeitet am National Hurricane Center (NHC)
im Süden Floridas. Mit seinen neun Kollegen ist er tagein, tagaus
damit beschäftigt, Wirbelstürme zu verfolgen, ihre Intensität und
Route vorauszuberechnen sowie vorbeugende Öffentlichkeitsar-
beit zu leisten. Medien, Kommunen und Katastrophenschützer
verlassen sich jedes Jahr auf die detaillierten Vorhersagen und
Ratschläge des NHC, die ihnen bei der Entscheidung helfen
sollen, ob und wann ein Gebiet zu evakuieren ist. „Fast jeder,
der sich beruflich mit Wirbelstürmen beschäftigt, war von Kin-
desbeinen an von ihnen fasziniert – ich auch“, erinnert sich
Cangialosi. Er wuchs bei New York auf und kannte vor allem Bliz-
zards aus Eis und Schnee. „Dabei“, korrigiert Cangialosi höflich,
„verwenden Fachleute gar nicht den Begriff Hurrikane, son-
dern tropische Zyklone.“ Wie man sie auch nennt: „Wirbelstür-
me brauchen immer dieselben Voraussetzungen, um groß und
gefährlich zu werden.“ Zunächst muss die Oberflächentempe-
ratur des Ozeans zwischen 26 und 26,5 Grad Celsius warm und
obendrein viel Luftfeuchtigkeit vorhanden sein, damit ein Zyklon
entstehen und Kraft erlangen kann. Dann benötigt er möglichst
wenig vertikale Windturbulenzen oder Scherwinde. Je weniger
die Windgeschwindigkeit und Windrichtung in verschiedenen
Punkten der Luftsäule über dem Meer voneinander abweichen,
desto stärker kann er seine Kraft entfalten. Der Vollständigkeit
halber: Ein Tornado ist ein völlig anderes Wetter system, das sich
nur über Land zusammenbraut, mit einem Durchmesser von
bis zu 1 Kilometer sehr kompakt ist und eine bunt durchmisch-
te Säule aus kalter und warmer Luft liebt. „Bei aller Forschung
ist das keine exakte Wissenschaft. Es kommen viele Faktoren ins
Spiel, die einander beeinflussen“, sagt Cangialosi. Ein Teil in die-
sem dynamischen Puzzle ist das El-Niño-Phänomen. Dabei stei-
gen die Temperaturen des äquatorialen Pazifiks im Winter an
und beeinflussen auch das Klima über dem Atlantik. Die küh-
lere La Niña hingegen hat genau den umgekehrten Effekt und
kann so für mehr Wirbelsturmaktivität sorgen.
Dass Forscher überhaupt ermitteln können, wo als nächstes
ein Sturm droht und an Land gehen könnte, verdanken sie einem
über Jahrzehnte ausgebauten Messsystem sowie verbesserten
Computersimulationen. Der mit Abstand wichtigste Datensatz
stammt von Satelliten, die die Intensität und Geschwindigkeit des
Windes auf der Wasseroberfläche erfassen. Ihre Messungen wer-
den ergänzt durch regelmäßige Datenflüsse von Flughäfen, Flug-
zeugen, Schiffen und Wetterballons. „Die Messungen im Ozean
durch Bojen und Schiffe sind sehr wertvoll, doch angesichts der
riesigen Wasseroberfläche auch dünn gesät“, erklärt Phil Klotz-
bach, Hurrikan-Experte an der Colorado State University in Fort
Collins. Seine Forschungsgruppe gibt seit mittlerweile 34 Jah-
ren eine weltweit beachtete Prognose heraus, die dreimal jähr-
lich aktualisiert wird (Anfang April, Anfang Juni sowie Anfang
August), um die zu erwartenden Aktivitäten bis Ende November
besser einschätzen zu können. „Je weiter wir uns der Hochsai-
son nähern, desto mehr Daten haben wir und desto besser wird
die Vorhersage“, sagt Klotzbach. Das Hurricane Center in Flori-
da kümmert sich im Gegensatz dazu mehr um kurzfristige Vor-
hersagen, die den Verlauf eines Sturms bis zu fünf Tage im Vor-
aus berechnen.
Leistungsstarke Computer speisen alle Messungen und his-
torischen Daten in Modelle, bei denen die Erdatmosphäre in
rund 40 Kilometer große, dreidimensionale Würfel unterteilt ist.
Wobei: Es gibt nicht nur ein Modell, sondern deren viele, die von
Behörden in den USA, Europa und Japan über das Militär sowie
Hochschulen – wie in Boulder – bis zu privaten Institutionen und
natürlich Versicherungen entwickelt wurden. „Jeder hat Zugang FO
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Auf Halbmast:US-Staaten amGolf von Mexiko(hier: Florida)sind eine beliebteEinfallsschneisefür Wirbelstürme
HURRIKAN „HARVEY“ IM ANMARSCH AUF DIE TEXANISCHE METROPOLE HOUSTON:
MIT EINEM SOLCHEN STURM RECHNEN EXPERTEN NUR ALLE 500 JAHRE.
BINNEN 24 STUNDEN FIELEN 60 ZENTIMETER WASSER –STRASSEN VERWANDELTEN SICH IN REISSENDE FLÜSSE
JoJohnhnh CCCananannggigigiala ossi,i, WWetettet rexpxxpxpertete am National Hurricane Center
Sturmflut in der südchinesischen Provinz Guangdong: Auch über dem warmen Wasser des Pazifiks brauen sich verheerende Stürme zusammen. Taifun Usagi suchte 2013 die Philippinen, Japan, Taiwan und China heim
zu denselben Rohdaten, doch es gibt genug Spielraum, was deren
Interpretation betrifft“, sagt NHC-Fachmann Cangialosi. Selbst
die Einstufung eines Sturms ist international unterschiedlich.
Die bekannteste Kategorisierung (Stärke 1-5) stammt von zwei
US-Beamten, die die nach ihnen benannte Saffir- Simpson-Skala
Anfang der 1970er-Jahre entwickelten.
Drei Modelle liefern die besten PrognosenUnter den Computermodellen gelten drei Algorithmen als die
verlässlichsten: das Global Forecast System des amerikanischen
National Weather Service, das Modell des European Centre for
Medium-Range Weather Forecasts sowie das UKMET-Modell aus
Großbritannien. Dabei schneidet das EU-Modell seit Jahren am
besten ab, insbesondere was den Weg eines Wirbelsturms angeht.
So prognostizierten US-Experten, dass Hurrikan Sandy 2012 die
Ostküste entlangtaumeln würde, während die europäischen Wet-
terforscher korrekt davor warnten, dass der Sturm direkt auf
New York zusteuere. „Die Vorhersagen sind besser geworden
und haben schon viele Leben gerettet. Doch wir brauchen ein
noch dichteres Netz an Beobachtungspunkten und Computer-
modelle mit höherer Auflösung. Da haben die Europäer in der
Vergangenheit konsequenter investiert als die USA“, sagt Katha-
rine Hayhoe, Leiterin des Climate Science Center an der Texas
Tech University. Die gebürtige Kanadierin warnt mit am lautes-
ten vor den Folgen des Klimawandels. Das tödliche Wechselspiel
von Erderwärmung und Wirbelstürmen lässt sich laut Hayhoe
an verschiedenen Zusammenhängen festmachen. „Es gibt vie-
les, das wir noch nicht wissen“, sagt sie, „aber es gibt mindes-
tens fünf Risiken im Zusammenhang mit Wirbelstürmen, die
durch den Klimawandel noch verschärft werden und – auf unter-
schiedlichem Niveau – wissenschaftlich belegt sind.“ Da ist zum
einen der Anstieg der Meeresspiegel durch steigende Wassertem-
peraturen und Eisschmelze. Das versorgt Stürme mit mehr Was-
ser, um es an Land zu peitschen. Zudem sorgt der Klimawan-
del für mehr Wasserdampf, von dem eine wärmere Atmosphäre
mehr aufnehmen kann. Ein warmer Ozean ist ein unerschöpfli-
ches Reservoir für sintflutartige Regenfälle. Internationale For-
scherteams veröffentlichten Ende 2017 zwei Studien, die zum
selben Ergebnis kamen: Harvey lud genau deshalb zwischen 15
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52 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
PANORAMA NATURKATASTROPHEN
und 38 Prozent mehr Niederschlag über Houston ab. Obendrein
kann ein Hurrikan aus einem warmen Ozean mehr Energie sau-
gen. Satellitendaten von 1986 bis 2010 belegen, dass sich Stür-
me deswegen in immer kürzerer Zeit zu tropischen Zyklonen
zusammenbrauen. Im Schnitt sparen sie aufgrund der Erder-
wärmung neun Stunden, um zu einem Sturm der Kategorie 3
heranzureifen. Schließlich, so Hayhoe, sorge der Klimawandel
nicht unbedingt für mehr, aber mit großer Wahrscheinlichkeit
für stärkere und größere Stürme der Kategorien 4 oder 5. Und
selbst wenn es im Atlantik seltener zu einem Zyklon kommt, ist
es gut möglich, dass sich die weitaus schlimmeren Stürme im
wärmeren Pazifik zusammenbrauen und Asien verwüsten wer-
den, obwohl die Augen der westlichen Öffentlichkeit stets wie
gebannt auf den Atlantik starren.
Immer mehr Strandvillen in exponierter LageSelbst wenn der genaue Zusammenhang zum Klimawandel noch
aussteht, hat Hurrikan-Forscher Klotzbach ein ganz anderes Pro-
blem identifiziert, das die Menschheit aus Unvernunft und Leicht-
sinn verschlimmert. „Hurrikane werden auch deshalb verheeren-
der, weil wir ihnen immer mehr Dinge in den Weg bauen – meist
in Gebieten, die für starke Winde und Sturmfluten anfällig sind“,
sagt Klotzbach. Er hat gerade mit drei Kollegen alle Wirbelstür-
me ausgewertet, die seit 1900 in den USA an Land gegangen sind.
Ihr Fazit: Die steigenden Sachschäden lassen sich mit mehr Men-
schen und mit immer teurerem Eigentum in exponierten Lagen
erklären. „Hurrikane haben in den USA statistisch betrachtet
seit 1900 nicht an Intensität oder Frequenz zugenommen“, so
die Forscher. Doch allein entlang des Atlantiks und des Golfs von
Mexiko sind seit 1970 rund 34 Millionen neue Häuser gebaut
worden. „Früher waren das bescheidene Strandhütten, jetzt sind
es riesige Villen, die im Schnitt 245 Quadratmeter Wohnfläche
haben“, sagt Klotzbach. Wenn dann eine drei Meter hohe Sturm-
flut auf die Villa mit Meerblick zurollt, nützen selbst modernste
Bauvorschriften wenig. „Der Trend zu mehr Sachschäden wird
sich fortsetzen“, warnt Klotzbach. „Solange wir dort siedeln, wo
wir nicht siedeln sollten.“ Das UN-Gremium zum Klimawandel
(IPCC) hat das Dilemma in einem Diagramm zusammengefasst.
Danach braucht ein Wirbelsturm folgendes, um zum Desaster zu
werden: extremes Wetter, eine „Exponierung“ der zerstörbaren
Infrastruktur sowie eine daraus resultierende Verwundbarkeit von
zudem schlecht vorbereiteten Menschen. So stellte sich in Hous-
ton heraus, dass zigtausende Bürger in tiefliegenden Regionen
wohnten, wo wider besserer Vernunft Häuser gebaut und zu viele
Flächen mit Beton und Asphalt versiegelt worden waren, so dass
sie die starken Regenfälle nicht absorbieren konnten. Bevor wich-
tige Dämme endgültig brechen konnten, mussten die Behörden
andere gezielt öffnen, um für Entlastung zu sorgen. Bei einem
massiven Sturm wie Harvey potenzieren sich planerische Fehlent-
scheide schnell mit unvorhergesehenen, akuten Problemen. Kata-
strophenschützer sollten deshalb möglichst alle Varianten vorher
einmal durchgespielt haben. Dabei stellt sie jeder Sturm vor eine
komplizierte Kalkulation, ob mit starken Winden, Regen oder
einer Sturmflut zu rechnen ist. Während man sich vor Wind böen
verbarrikadieren kann, sollte man vor Wassermassen fliehen.
„Dieser Teil von Texas ist ein riesiger Sumpf. Wer hier wohnt,
muss sich darauf einstellen, dass das keine kurze Schlacht, son-
dern ein langer Feldzug wird“, sagt Joseph Leonard leicht martia-
lisch. Leonard war fast drei Jahrzehnte bei der Küstenwache und
arbeitet heute als Berater für die Firma CTEH, die Unternehmen
und Kommunen auf den Fall der Fälle vorbereitet. „Entlang der
„Der Trend zu mehr Sachschäden wird sich fortsetzen“Phil Klotzbach, Hurrikan-Experte
Kaputte Karibik: Sturm Irma verwüstete
tropische Paradiese wie St. Martin
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Allzeit bereit!Sich für den nächsten Sturm zu rüsten, kann zur Vollzeitbeschäftigung werden.www.draeger.com/403-53
Golfküste haben wir seit 1950 alle neun Monate eine Naturkata-
strophe. Ich selbst habe seit 1990 sechs Mal evakuieren müssen.“
Das sorgt zwangsläufig für reichlich Übung, was den Schutz von
Menschen, Industrieanlagen und anderer kritischer Infrastruk-
tur angeht. Bohrinseln etwa haben ein ausgeklügeltes Verfahren
entwickelt, das Systeme mit ein paar Tagen Vorlauf herunterfährt.
Deshalb sind größere Schäden eher selten. Chemiewerke und
andere Industrieanlagen auf dem Festland haben ebenfalls Pro-
tokolle entwickelt, um vorübergehend schließen zu können. Und
sie sind mit aufgeständerten Notstromaggregaten sowie ande-
ren Schutzvorkehrungen auf Überschwemmungen vorbereitet –
solange diese nicht wie bei Harvey historische Rekorde brechen.
Nicht alles lässt sich vorhersehenBei den Aufräumarbeiten kommen auch regelmäßig Dräger-Pro-
dukte zum Einsatz, etwa um festzustellen, ob gefährliche Substan-
zen wie Gase ausgetreten sind. Langzeit-Atemschutzgeräte sowie
Chemikalienschutzanzüge erlauben Rettern zudem, schnell und
sicher mit Gefahrgütern umzugehen und Menschenleben zu ret-
ten. Trotz aller Erfahrung und Planspiele kann man nie alles vor-
hersehen. Als Harvey ganz Houston unter Wasser setzte, fiel nicht
nur das Internet der Coast Guard aus, sondern auch das Video-
konferenzsystem zur Koordinierung der Rettungsmannschaften
und obendrein das Notrufsystem der Millionenstadt. „So lande-
ten plötzlich alle Notrufe bei der Küstenwache. Wir mussten mit
Privathandys improvisieren und unsere Frauen und Kinder Anru-
fe beantworten lassen“, erinnert sich Leonard. „Ein dreifaches
Versagen hatte ich in den Übungen nie durchgespielt. Man lernt
immer wieder dazu, bekommt einen besseren Überblick aller
verfügbaren Ressourcen und kann die Zusammenarbeit der Ret-
tungskräfte weiter verbessern.“ Bevor die nächsten Stürme an
Land fegen, sollten Kommunen und Katastrophenschützer eini-
ge grundlegende Dinge regeln, argumentieren Klimaforscher wie
Hayhoe. Das betrifft nicht nur die Fragen, wer wo bauen darf und
nach welchen Vorschriften – sondern auch Initiativen, um ausrei-
chend Grünflächen und Reservoire vorzuhalten, die eine Sintflut
auffangen können. „Wenn wir den Klimawandel nicht in unsere
langfristige Planung für Infrastruktur, Wasser, Energie und die
gesamte Volkswirtschaft einbeziehen, sind mehr Not und Leid
vorprogrammiert“, warnt Hayhoe. „Nur leider macht es sich bes-
ser, den heroischen Helfer zu spielen, als die vorsorgliche Nanny
zu sein, die den Menschen vor dem Sturm ins Gewissen redet.“
Von einer Idee hat die Fachwelt seit langem Abstand genom-
men: Stürme mit chemischen oder anderen Mitteln steuern zu kön-
nen. „Trotz vieler Fördermittel haben derartige Experimente noch
nie überzeugende Ergebnisse gebracht“, sagt Klotzbach. „Das Wet-
ter ist einfach ein paar Nummern zu groß für uns Menschen.“
Die Hurricane Hunters starten mit einer WC-130J Super Hercules (oben), um die mächtigen Wolkenwirbel von innen heraus studieren und verfolgen zu können
Flug ins Auge des SturmsDie US-amerikanische Wetterbehörde (NOAA) lässt Piloten das tun, was sie eigentlich vermeiden sollten: mitten in ein Unwetter zu fliegen. Die „Hurricane Hunters“ genannten Mitarbeiter der NOAA versuchen so, Daten über Wirbelstürme zu sammeln, zu analysieren und ihren weiteren Weg vorherzusagen. Die Teams bestehen aus Piloten, Wissenschaftlern und Meteoro-logen. Sie fliegen auf rund 3.000 Metern direkt ins Auge des Sturms und sammeln Daten aus drei Quellen: Sensoren an Bord, indirekte Daten von der Meeresoberfläche sowie punktuelle Messungen mit Hilfe von Einweg-Dropsonden, die ins Unwetter geworfen werden. Die US-Luftwaffe betreibt zehn dieser Spezialflugzeuge, zwei Maschinen fliegen für die NOAA, die im
vergangenen Jahr rund 500 Flugstunden absolvier-ten. Natürlich sammeln auch Satelliten Informationen über Wirbelstürme, sie können aber nicht deren Inneres erfassen. „Die besten Daten über einen Sturm verbergen sich nun mal im Sturm selbst“, sagt einer der Piloten.
DRÄGERHEFT 403 | 1 / 201854
99, Ganz gleich, ob Arzt, Pfleger, Patient oder Klinikbesucher – wer Menschenleben retten will, der sollte vor allem eines tun: HÄNDE DESINFIZIEREN. Und das ist alles andere als trivial.
Text: Sascha Karberg
Die Sache mit den
Der Disco-Effekt: Das fluoreszierende Desinfektionsmittel zeigt unter UV-Licht, ob die Hände vollflächig desinfiziert wurden und damit keimfrei sind. Dort, wo keine ausreichende Desinfektion stattgefunden hat, wurde auch keine fluoreszierende Flüssigkeit verteilt. An diesen Stellen können Keime sitzen
HYGIENE KRANKENHAUS
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999 % Regensburg hat Gold geholt. Die Rede ist nicht von einer olym-
pischen Medaille, sondern von einer Auszeichnung, die Tag für
Tag Leben rettet: Die Uniklinik der Stadt hat das Gold-Zertifi-
kat für 2018/19 der „Aktion Saubere Hände“ bekommen, die
seit zehn Jahren unter anderem vom Bundesgesundheitsminis-
terium unterstützt wird. „Das Desinfizieren der Hände ist gera-
de in Krankenhäusern eine der wichtigsten Maßnahmen, um
eine Ausbreitung gefährlicher Keime zu verhindern“, sagt Wulf
Schneider, Professor für Krankenhaushygiene an der Universität
Regensburg. Schneider ist seit 1999 am Klinikum (UKR), über-
nahm 2010 die Leitung der Krankenhaushygiene und 2017 zusätz-
lich die Professur für Krankenhaushygiene. Und so wie Trainer
Athleten auf Medaillen vorbereiten, hat Schneider die Aktion
„UKR goes for Gold“ ausgerufen. „Ein solcher Wettbewerb wie
die ,Aktion Saubere Hände‘ hilft, Ärzte und Pflegepersonal über
die üblichen Hygieneregeln hinaus zu motivieren – und ihre täg-
lichen Arbeitsabläufe noch besser und sicherer zu machen“, sagt
Schneider. Handlungsbedarf besteht genügend. Schätzungsweise
500.000 Menschen infizieren sich jedes Jahr in deutschen Klini-
ken, etwa 10.000 Patienten sterben dadurch. Denn immer häu-
figer sind die Erreger gegen einzelne oder mehrere Antibiotika
resistent, sodass Ärzte entzündete Wunden und Blutvergiftungen
kaum noch oder erst zu spät behandeln können. Eine umso wich-
tigere Rolle bekommt die Infektionsprävention.
Aufgaben auf dem Weg zum GoldstandardDie Aufgabe des Mediziners und seines Teams ist es daher, die
Krankenhäuser fit zu machen für eine nahe Zukunft, in der Ärz-
te mehr und mehr Infektionen mit gängigen Antibiotika nicht
mehr werden stoppen können. Mit Schulungen und Seminaren
allein, in denen Hygieneregeln für den Verbandswechsel oder den
Umgang mit Kathetern geübt werden, ist es dabei nicht getan.
„Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Schneider. Bes-
ser sei es, den Alltag und die Handgriffe auf den Stationen zu
sehen und direkt Feedback zu dem zu geben, was noch optimiert
werden kann. „Denn was nützt die beste Schulung, wenn sich
der Alltagstrott nicht ändert?“ Schulungen, in denen Ärzten mit
UV-Licht jene Stellen an den Händen gezeigt werden, die nicht
richtig desinfiziert wurden, seien zwar „nett, aber da dürfen
wir nicht stehen bleiben, wenn wir von Hygiene 1.0 zu 4.0 kom-
men wollen“.
Auf dem Weg zum Goldstandard müssen bestimmte Krite-
rien erfüllt werden – etwa die Verwendung zertifizierter Desin-
fektionsmittel, die die Anzahl der Keime auf der Haut oder auf
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KRANKENHAUS HYGIENE
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einer Fläche um 99,999 Prozent reduzieren. „Mit Seife schafft
man bestenfalls 90 bis 99 Prozent“, sagt Schneider. „Ein Grund-
pfeiler der krankenhaushygienischen Versorgung ist die regelmä-
ßige Desinfektion all jener Flächen, von denen Erreger auf die
Hand und von der Hand auf Schleimhäute oder Wunden über-
tragen werden können.“ Welchen Anteil die Fläche an der Ver-
breitung von Erregern hat, ob resistent oder nicht, ist allerdings
umstritten. Schließlich müssen die Keime zur weiteren Verbrei-
tung erst von dieser Fläche zum Körper gelangen. Womit man
wieder bei der Handdesinfektion wäre. „Wenn sich das Perso-
nal vor und nach dem Patientenkontakt ausgiebig, also mindes-
tens 30 Sekunden lang, die Hände desinfiziert,
ist es eigentlich egal, was auf der Fläche ist.“
Dass sich Hygienebemühungen lohnen und kein
Selbstzweck sind, lässt sich beispielsweise an den
Neuinfektionen mit Grippeviren innerhalb einer
Klinik ablesen. Deutschlandweit liegt die Zahl
bei etwa 17 Prozent, in goldzertifizierten Kran-
kenhäusern deutlich darunter. So sehr man sich
hierzulande auch müht, den Hygienestandard zu
heben, im direkten Vergleich haben die Nieder-
lande die Nase vorn. „Das hängt mit der Organi-
sation des Gesundheitswesens zusammen“, sagt
Schneider. Bezogen auf die Bevölkerungsgröße
stünden in den Niederlanden nur 50 Prozent der
in Deutschland vorhandenen Krankenhausbet-
ten zur Verfügung. Dadurch gibt es weniger Kli-
niken, die über mehr Ressourcen verfügen, mit
denen sich die hohen Qualitätsstandards erfül-
len lassen, zu denen sich die Einrichtungen ver-
pflichtet haben – ohne dass es dazu Vorschriften
der Überwachungsbehörden gibt. „In den Nie-
derlanden wird ein Patient auf einer Intensivsta-
tion von einer Pflegekraft pro Schicht betreut“,
sagt Schneider. „Schon deshalb lassen sich die
Hygieneregeln einfacher befolgen als hierzulan-
de, wo mehrere Patienten gleichzeitig von einer
Pflegekraft betreut werden.“ In einer Stellung-
nahme „Zum Verhältnis von Medizin und Öko-
nomie im deutschen Gesundheitssystem“ emp-
fiehlt die Leopoldina, die Nationale Akademie
der Wissenschaften Deutschlands, deshalb eine Neuverteilung
der Ressourcen sowie eine Reduzierung der rund 1.900 Kranken-
häuser in Deutschland auf höchstens 500. Die verbliebenen Kli-
niken könnten sich dann beispielsweise eine eigene mikrobiolo-
gische Abteilung leisten, die in den Niederlanden längst Standard
an Einrichtungen mit Intensivstationen ist. „Wenn ich das bei
meinen krankenhaushygienischen Beratungen vorschlage, fra-
gen die Geschäftsführer, in welcher Vorschrift das stehe“, so der
Hygiene-Spezialist. „Und wenn ich dann sage, dass das nirgend-
wo steht, sondern ein selbst gewähltes Qualitätsmerkmal der Kli-
nik ist, dann heißt es meist, das könne man sich nicht leisten.“
Dabei wäre es gerade für die Diagnose und Bekämpfung resis-
tenter Keime wichtig, Mikrobiologen nicht nur für Schnelltests,
sondern auch für die Beratung und Planung des Einsatzes von
Antibiotika vor Ort zu haben.
Händedesinfektion bleibt wichtigste MaßnahmePraktikabel wäre das auch in Deutschland, anders allerdings als
das Screening neuer Patienten auf resistente Erreger. In den Nie-
derlanden kommen Patienten erst in Quarantäne, dann wird ein
Abstrich genommen und kontrolliert, ob eine Besiedlung mit pro-
blematischen Keimen vorliegt. Gesucht wird nach MRSA-Keimen,
gegen das Antibiotikum Methicillin resistente Staphylokokken.
Erst nach einem negativen Befund darf der Patient auf die Stati-
on. „In Deutschland wäre das nicht machbar – zu viele Tests, die
zu teuer sind. Aber es ist ohnehin fraglich, wie sinnvoll ein sol-
ches Massenscreening ist“, meint Schneider. Denn selbst wenn
ein Patient gefährliche Keime an oder in sich trägt: Die wichtigste
Maßnahme gegen deren Verbreitung ist und bleibt die Händedes-
infektion. Darüber hinaus gibt es nicht für alle problematischen
Erreger flächendeckend geeignete Tests. Für Bakterien vom Typ
VRE – Enterokokken, die gegen das Antibiotikum Vancomycin resistent sind und über die Tierproduktion und Nahrung in den
Darm gelangen – gibt es ebenso wenig Screeningkriterien wie für
gramnegative multiresistente Stäbchenbakterien (MRGN). „Mit
denen haben auch die Niederländer ein Problem, trotz allem.“
Die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprä-
vention (KRINKO) des zuständigen Robert Koch-Instituts in Ber-
lin setzt vor Tests zunächst auf Information. So ist es ein Qua-
litätsmerkmal für eine Klinik, wenn sie jeden ihrer Patienten
Viele Kranken-hausinfektionen lassen sich nicht vermeiden
Hände desinfizieren, aber richtig: Vor und nach dem Patientenkontakt muss sich das Krankenhauspersonal sorgfältig die Hände desinfizieren. Wie das wirksam funktioniert, zeigt diese Anleitung in acht Schritten. Wichtig ist,dass für die jeweilige Handgröße ausreichend Desinfektionsmittel verwendet wird. Für die Schritte 1-8 werden rund 30 Sekunden benötigt
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Richtig oder falsch? Rund um die Krankenhaushygiene halten sich einige Mythen hartnäckiger als mancher Keim. Hygiene-Experte Wulf Schneider klärt auf.www.draeger.com/403-57
eingangs fragt, ob er in den vergangenen Monaten mit Antibiotika
behandelt, ein Katheter gelegt, im Ausland medizinisch versorgt
wurde oder im landwirtschaftlichen Bereich arbeitet. „Wenn sol-
che Risikokriterien erfüllt sind, wird ein MRSA-Test gemacht“,
sagt der Hygiene-Experte. Ab wann ein Erreger ein Krankenhaus-
keim sei oder als eingeschleppt gelte, sei indes eine Definitions-
frage. Schlägt der Bakterientest binnen 72 Stunden nach Einlie-
ferung an, gelten die Keime per Definition als „ins Krankenhaus
verschleppt“. Das ist in etwa 90 Prozent der Fälle so, zumindest
was MRSA-Nachweise betrifft. Nur für diesen Keimtypus gibt es
hinreichend Daten. Ob die restlichen zehn Prozent der Patien-
ten, deren Infektion erst nach mehr als 72 Stunden diagnosti-
ziert wurde, sich wirklich erst in der Klinik angesteckt haben,
bezweifelt Schneider. „Die gute Nachricht ist also, dass die Über-
tragungsrate im Krankenhaus – bezogen auf die Menge – zu ver-
nachlässigen ist.“
Aber widerspricht das nicht dem Mythos, dass jede dritte
Krankenhausinfektion von anderen Patienten stamme und von
Ärzten oder Pflegepersonal übertragen wurde? „Es gibt keine
Daten, die das belegen“, entgegnet Schneider. Studien zeigen,
dass die meisten Infektionen aus der eigenen Patientenflora
stammen und nicht aus der Umgebung, weder vom Personal noch
von Nachbarpatienten. „Jede Dritte – das wäre ein Albtraum.“
Die Übertragung von Mensch zu Mensch können nicht nur Ärz-
te und Pfleger vermeiden, sondern auch Patienten, Angehörige
und sonstige Besucher. Dräger beispielsweise schult seine Ver-
triebsmitarbeiter regelmäßig in Hygienefragen, mitunter bis hin
zur VHD-Qualifikation. Die KRINKO fordert Kliniken inzwischen
auf, auch Besucher besser über die Hygieneregeln zu informie-
ren – und die Hände zu desinfizieren, bevor man das Kranken-
haus betritt, aber auch wenn man es wieder verlässt. „Das wird
vermutlich nicht der Durchbruch sein, aber schaden kann Hän-
dehygiene auch in diesem Fall nicht“, ist sich Schneider sicher.
Während in Krankenhäusern die Hände desinfiziert werden soll-
ten, reiche das Händewaschen im Alltag in der Regel völlig aus.
Damit ist allerdings nicht gemeint, zwei Sekunden Wasser über
die Hände laufen zu lassen. „Die Hände müssen nass sein, zehn
bis 15 Sekunden schäumend eingeseift und dann gründlich abge-
spült werden“, sagt Schneider. „Alles andere ist Psychohygiene.“
Die häufig geäußerte Hoffnung, dass perfekte Hygiene rund ein
Drittel aller im Krankenhaus erworbenen Infektionen vermei-
den könne, dämpft der Experte. „Diese Zahl stammt von einer
Studie aus den 1970er-Jahren, in der zwei Krankenhäuser mit-
einander verglichen wurden.“ Bei dem einen wurde das Perso-
nal auf hygienisches Arbeiten trainiert, das andere lief weiter wie
zuvor. Nach ein paar Jahren zählte man in dem Krankenhaus,
in dem für Hygiene geworben wurde, 30 Prozent weniger Infek-
tionen im Vergleich zum Startpunkt. „Heute wäre der Abstand
geringer, denn im Vergleich zu den 1970ern sind die Hygiene-
standards überall besser geworden“, so Schneider. „Außerdem
müssen wir akzeptieren, dass die meisten Krankenhausinfektio-
nen selbst bei Einhaltung der besten Hygiene nicht vermeidbar
sind.“ Der Grund ist, dass kein Mensch steril, sondern am gan-
zen Körper mit Bakterien besiedelt ist. Zwar könne man die Haut
vor einer Operation dekontaminieren, aber eben nicht sterilisie-
ren. „Das Risiko ist hoch, dass sich Patienten mit den eigenen
Erregern, etwa Staphylokokken aus der Nase, infizieren.“ Selbst
wenn Ärzte und Pfleger also alles richtig machen und jeden Gold-
standard erfüllen – auf null wird das Infektionsrisiko in Kranken-
häusern nie sinken.
Prof. Dr. Wulf Schneider forscht, lehrt und berät am
Institut für Klini-sche Mikrobiologie
und Hygiene des Universitätsklinikums
Regensburg
INDUSTRIE NORMEN
58 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Wenn es keine INTERNATIONALEN STANDARDS gäbe, müsste man sie schleunigst erfinden. Denn ohne diese verbindlichen Normen wäre nicht nur der Alltag verwirrender, auch der Industrie würde ein effizientes Produktionsmittel fehlen.
Text: Nils Schiffhauer
Manchmal scheint alles so genormt
zu sein, dass nichts zueinander passt:
der deutsche Schuko-Netzstecker nicht in
die Dose des Konferenzraums in Shang-
hai, das Ladegerät der Kollegin nicht ans
Mobiltelefon. Und bei den Duscharma-
turen in den Hotels dieser Welt scheinen
sich Ingenieure und Designer oft gegen
den gesunden Menschenverstand verbün-
det zu haben.
Wenn sich der Ärger darüber gelegt
hat, treten umso schärfer die Segnungen
des Alltags hervor, in dem auf wundersa-
me Weise doch vieles zueinander passt:
„Solang’ das Deutsche Reich besteht, wer-
den Schrauben rechts herum gedreht“,
lautete einer der Merksprüche, die wir
heute ebenso wenig brauchen, wie wir
uns die vertikale Abfolge an Ampeln (Rot,
Gelb und Grün) bewusst machen müssen
und jedes Mal darüber staunen, wie gut
in einen Fenster-Briefumschlag ein ent-
sprechend gefaltetes DIN-A4-Blatt passt.
Genau dieses Format ist die bekanntes-
te der deutschen Industrienormen. Die
nahmen vor rund 100 Jahren mit Grün-
dung des Normenausschusses der deut-
schen Industrie am 22. Dezember 1917
ihren Anfang. Seit 1975 firmiert diese
Organisation als Deutsches Institut für
Normung (DIN) in Berlin. Mittlerweile
sind es rund 34.000 Normen, die unseren
Alltag durchdringen – und vieles leichter
machen, ohne dass man die oft langjähri-
ge Arbeit der Gremien dahinter spürt. Tho-
mas von Högen etwa befasst sich im Auf-
trag von Dräger seit vielen Jahren mit der
Normung von Chemikalienschutzanzü-
gen. „In diesem Gremium sitzen vor allem
M
des globalen Schmierstoff
die Vertreter von Herstellern, Anwendern,
Prüfinstituten und Berufsgenossenschaf-
ten“, sagt der Diplomphysiker. „Sie alle
eint das Ziel, den Arbeitsalltag sicherer zu
machen.“ Unter den Uni-Absolventen galt
dieses Thema lange als unattraktiv. „Als
ich vor vielen Jahren zum ersten Mal in
ein solches Gremium kam“, erinnert sich
von Högen, „waren das eher Altherrenver-
anstaltungen, in die Unternehmen ihre
Entwicklungsleiter schickten, die kurz vor
der Rente standen.“
Zugriff auf 700.000 StandardsDas hat sich geändert. Und so ist auch
für von Högens Kollegen, wie Carola
Mentrup, Klaus-Michael Rück und Mat-
thias Marzinko, Normungsarbeit durch-
aus ein spannender Karrierepfad, auf
dem sich vieles bewirken lässt. Sie alle
zählen zu insgesamt 32.000 Experten,
die allein in Deutschland ihre Experti-
se in den Normungsprozess einbringen –
und zu den mehreren Dutzend Mitarbei-
tern weltweit, die für Dräger in Sachen
Normung in externen Gremien im Ein-
satz sind. Nicht immer in Vollzeit, aber
59DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
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Handels
immer mit vollem Engagement. „Man ist
viel unterwegs, fliegt auch an Wochen-
enden in attraktive Städte, von denen
man allerdings nur die Konferenzräume
sieht – das muss man mögen“, sagt Mat-
thias Marzinko. Er mag genau das und
ist im Lübecker Unternehmen zuständig
für das International Standards Manage-
ment (ISM) in der Medizintechnik. „In
unseren Datenbanken können wir rund
700.000 Normen weltweit durchsuchen,
von denen wir einige Tausend vorhal-
ten – man muss sie nämlich kaufen.“ Der
Ingenieur, der zunächst ein Medizinstu-
dium begann, dann aber sein Faible für
die Technik dahinter entdeckte, spricht
hiermit die Themen Aufwand und Nut-
zen an. Was bewegt Unternehmen, ihre
Mitarbeiter in Gremien zu schicken, die
mit einem Aufwand von oft mehreren Per-
sonenjahren eine Norm entwickeln oder
vorantreiben, die dann dasselbe Unter-
nehmen kaufen muss? Einen frühen Hin-
weis liefert ein in Sütterlin handschrift-
lich verfasster Rundbrief von Bernhard
Dräger. Darin beklagte er gegenüber sei-
nen Mitbewerbern die „bewundernswür-
DIN-Norm 477: Bis heute ist dieses von Bernhard Dräger 1895 vorgeschlagene Normal-gewinde ein Industriestandard
60 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
dige Mannigfaltigkeit“ der Gewinde von
Verschlussventilen an Kohlensäurefla-
schen als „Krebs für die ganze Kohlen-
säure-Industrie“. Der Sohn des Firmen-
gründers hatte in seinem Brief vom 12.
November 1895 auch gleich eine Lösung
parat. Zunächst studierte er „die Größen-
verhältnisse der gangbarsten Gewinde“
und entwickelte daraus sein „Normal-
Kohlensäure-Gewinde“. Als technische
Instanz für diesen Normungsvorschlag
bat er Prof. Dr. Reuleaux aus Berlin um
dessen fachliche Meinung.
Kegelstifte: die erste NormProfessor Franz Reuleaux war der Weg-
bereiter dessen, was er „Austauschbau“
nannte. Heute spricht man von modu-
larer Technik. Bernhard Dräger kann-
te ihn, seit er als Gasthörer seine Vorle-
sungen mit Begeisterung verfolgt hatte.
Schon wenige Wochen nach der Initiati-
ve gab Professor Reuleaux dem Einheits-
anschlussgewinde „W 21,8 mm x 1/14
rechts“ durch die Veröffentlichung einer
„gutachterlichen Bewertung“ in einer
Fachzeitschrift seinen Segen. 1920 wur-
de es vom inzwischen gegründeten DIN
zur DIN 477 bestimmt – und hat bis heu-
te Bestand. Wie in einem Brennglas zei-
gen sich hier wesentliche Impulsgeber
der Normung. Die Industrie sieht durch
Normen einen größeren Markt. Sie selbst
muss die Sache fachlich in die Hand neh-
men – und einerseits einen Konsens unter
allen Interessenten finden, andererseits
eine von allen anerkannte Stelle, die die-
se Ergebnisse wie ein Notar beglaubigt
und veröffentlicht. Halten muss sich dar-
an übrigens niemand. Die Einhaltung von
Normen ist grundsätzlich freiwillig. Doch
schon ihr volkswirtschaftlicher Nutzen
von zwischen 15 und 20 Milliarden Euro
pro Jahr (allein in Deutschland) macht
die Anwendung von Normen attraktiv.
Vor allem aber bieten sie Sicherheit, da
sie den in vielen Gesetzen ganz allge-
mein geforderten Stand der Technik in
konkrete und nachprüfbare Eigenschaf-
ten umsetzen. Das dient nicht nur dem
Schutz von Menschen, sondern öffnet
auch Märkte – weltweit.
Eigentlich sind Normen ein Kind des
Ersten Weltkriegs. Sie wurden unaus-
weichlich, etwa, um das sprichwörtli-
che Maschinengewehr MG 08/15 in den
unterschiedlichen Waffenfabriken des
Deutschen Reichs in hoher Stückzahl
absolut identisch zu fertigen. Die erste
DIN vom 1. März 1918 allerdings legte
Werkstoffe und Abmessungen für Kegel-
stifte fest – konische Verbindungselemen-
te, die in entsprechende Bohrungen ein-
gebracht wurden, um Maschinenteile
zusammenzuhalten. Nicht mehr nach-
vollziehen allerdings lässt sich, wa rum
gerade das die erste Norm wurde. Da
sich Kegelstifte jedoch nicht für Verbin-
dungen eignen, auf die Erschütterungen
oder Stöße einwirken, ist der Bezug die-
ser ersten Norm auf das MG 08/15 eher
wenig wahrscheinlich und auch nicht
belegt. Heute sind Normen ohnehin vor
In Sütterlin machte Bernhard Dräger 1895 den Vorschlag für ein Normal-Kohlensäure-Gewinde. Die durchaus mit Witz vorgetragenen Argumente hatten Erfolg
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NORMEN INDUSTRIE
61DRÄGERHEFT 403 | 1/ 2018
Gremienarbeit hat viel mit Menschen zu tun. Ziel ist höchste Sicherheit im Konsens
allem wirksame Werkzeuge des Frie-
dens – für Sicherheit, Schutz von Perso-
nen und weltweiten Austausch. „Sie sind
so formuliert“, weiß Matthias Marzinko
von Dräger, „dass sie einerseits die maxi-
male Sicherheit nach dem Stand der
Technik fordern, sich andererseits aber
möglichst nicht auf ein Patent beziehen
und somit genügend Gestaltungsraum für
Hersteller bieten.“ Sein Kollege Thomas
von Högen ergänzt: „So schreibt die DIN
EN 443:2008 vor, dass ein Feuerwehr-
helm – nach mehrminütiger Wärmeex-
position – Temperaturen von mindestens
900 Grad Celsius für zehn Sekunden
widerstehen muss – aber nicht, aus wel-
chem Material er zu sein oder welche Far-
be und Form er zu haben hat.“ Die Arbeit
an technischen Details ist jedoch nur ein
Teil der Tätigkeit in Normungsgremien,
wie etwa Thomas von Högen als ehema-
liger Sekretär des DIN-Normenausschus-
ses Persönliche Schutzausrüstung (NPS)
weiß: „Meine Tätigkeit hatte sehr viel mit
Menschen zu tun. Ziel der Diskussionen
dort war und ist auch heute noch der Kon-
sens, bei maximaler Sicherheit der Pro-
dukte.“ Natürlich ginge es dabei gelegent-
lich auch mal profan zu. Etwa, wenn ein
Unternehmen eine von ihm entwickelte
Technologie in eine Norm gießen wollte
oder ein Prüfunternehmen den Prozent-
satz der Prüfmuster einer Serie gern ver-
vielfacht sähe. Hier ist Fingerspitzenge-
fühl gefragt, nicht nur über geografische
Grenzen hinweg.
Ziel: weltweit gültige NormenUnd auch jenseits davon erkennt man
die Kraft der Normung und treibt sie vor-
an, wo man sie nicht schon nutzt, hat
Matthias Marzinko beobachtet: „Indi-
en unternimmt derzeit große Anstren-
gungen, seine Normenarbeit zu entwi-
ckeln, China sowieso.“ Beide Länder
wissen, dass sie sich sonst vom Weltmarkt
abkoppeln – vom Export ebenso wie vom
Import. Normen sind so etwas wie der
Schmierstoff des globalen Handels. Auch
deshalb werden sie immer internationa-
ler. In Europa macht die Harmonisierung
große Fortschritte, bei der aus einzelnen
Ländernormen eine europaeinheitliche
Norm entwickelt wird. Die Digitalisie-
rung (siehe auch Seite 6 ff.) und Tele-
kommunikation lassen die Normenwelt
zu einem Dorf schrumpfen – für das Inter-
net gilt überall dasselbe Protokoll, und
auch die Zeit unterschiedlicher Handy-
standards ist vorbei. Der neue Standard
5G erfordert zudem derart hohe Inves-
titionen in Entwicklung und Infrastruk-
tur, dass die sich nur bei einem Milliar-
den von Kunden zählenden Markt lohnen.
So treibt der technische Fortschritt
die Normen an. Thomas von Högen
erlebt das gerade bei den Chemikalien-
schutzanzügen immer wieder: „Etwa,
wenn neue Substanzen auf den Markt
kommen, sich Arbeitsschutzgrenzwerte
ändern oder bestimmte Substanzen vom
Markt verschwinden.“ Ziel aller Bemü-
hungen sind weltweit gültige Normen.
Sie sind zumindest in den Branchen für
Medizin- und Sicherheitstechnik logisch,
da der Schutz des Menschen ebenfalls
universal sein sollte. „Dennoch“, sagt
von Högen, „gibt es immer wieder län-
derspezifische Anforderungen. Vielfach
haben sie eine gewisse Logik, wie etwa die
erhöhte Sicherheit gegenüber Erdbeben
in Japan. Gelegentlich haben sie jedoch
auch protektionistischen Charakter.“ Drä-
ger entwickelt seine Produkte von Anfang
an vorausschauend mit einer 360-Grad-
Sicht auf alle Normen der Welt, sodass
die Geräte sie einhalten oder gar über-
treffen – dort, wo sie in ihrem Zielmarkt
relevant sind. Seit Neuestem, ergänzt
sein Kollege Matthias Marzinko, sei Drä-
ger auch in jenen Gremien vertreten, die
darüber verhandeln, wie eigentlich Nor-
men prinzipiell entwickelt und vertrieben
werden. „Selbst heute gibt es kaum einen
Standard, wie wir ihn gerne hätten – etwa
XML-basiert. So müssen wir weiterhin
eine Reihe von Normen erst einmal in
die einzelnen Spezifikationen aufteilen,
um diese dann digital in der Produktent-
wicklung strukturiert zu berücksichti-
gen.“ Nicht zu reden von den Handrei-
chungen in Nationalsprachen, bei deren
fachsprachlich korrekter Übersetzung
dann die Kollegen vor Ort unterstützen.
In Lübeck weiterhin ChefsacheNormen sind in ihrer über 100-jährigen
Geschichte vom ungeliebten Papierkram
zur Chefsache geworden. Gelegentlich
sogar wortwörtlich, wenn jemand wie Ste-
fan Dräger, Vorstandsvorsitzender der Drä-
gerwerk Verwaltungs AG, auch Mitglied
des DIN-Präsidiums ist. Und er hat auch
eine Antwort auf die Frage, ob Normen
die hauseigenen Produkte austauschba-
rer machen: „Das führt noch lange nicht
dazu, dass wir als Lieferant ausgetauscht
werden. Wenn wir unsere vorhande-
ne Kundennähe nutzen und ausbauen,
indem wir mehr und mehr komplexe Sys-
teme liefern, dann können wir weiterhin
erfolgreich sein – und erste Wahl für den
Kunden bleiben oder werden.“
62 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Jeder spricht von Digitalisierung. Ihre wahre Kraft schöpft sie aus der Auswertung und Verknüpfung von Daten.
Text: Frank Grünberg
BIG DATABIG DATA– Vernetzung tut not
DATENLESE WISSENSCHAFT
63DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
PPrognosen bestimmen unseren All-
tag. Manches Grillfest wird erst nach dem
Blick auf die Wetter-App geplant. Auch
Piloten ziehen Wetterberichte zu rate.
Die Vorhersagen haben sich in den ver-
gangenen 50 Jahren deutlich verbessert
(siehe auch Seite 48 ff.). Anfänglich reich-
ten sie für drei Tage, bis heute hat sich
diese Spanne mehr als verdreifacht. Das
ist auch ein Verdienst von Big Data. Mitt-
lerweile messen Satelliten und Bodensta-
tionen weltweit regelmäßig Temperatu-
ren, Windstärken, Niederschlagsmengen
und Sonnenstunden. Rechenzentren sam-
meln diese Daten in Echtzeit, um sie zu
analysieren und zu verdichten. Durch das
wachsende Datenaufkommen werden die
Wetterberichte immer präziser. Diese Ent-
wicklung unterstützen heute auch selbst-
lernende IT-Systeme. Entscheidend hier-
für sind die Eingangsdaten. Deshalb sieht
die Big-Data-Strategie des Unternehmens
EUMETSAT vor, die Anzahl der Satelliten
so weit zu erhöhen, dass diese 99 Prozent
aller Wetterdaten direkt aus dem Welt-
all zur Erde funken können. EUMETSAT
wird von 30 europäischen Mitgliedslän-
dern finanziert. Nur noch ein Prozent soll
künftig aus den Mess- und Beobachtungs-
netzen am Boden kommen. Beim Aufbau
dieser Infrastruktur kommen der Organi-
sation offene Standards zugute. So defi-
niert die Weltorganisation für Meteoro-
logie (WMO), eine Unterorganisation der
Vereinten Nationen, die digitalen Schnitt-
stellen, über die der schnelle Austausch
meteorologischer Daten erfolgt. Die tech-
nologische Basis bietet das Internet.
Doch Big Data verspricht auch im
Gesundheitswesen allerhand Potenzial:
für bessere Befunde, Diagnosen und The-
rapien. Wer klinische, epidemiologische,
molekulargenetische und ökonomische
Daten zusammenführt, kann neues Wis-
sen zur Entstehung, Prävention und The-
rapie von Krankheiten erzeugen. Mithilfe
statistisch relevanter Vergleichsdaten lie-
ßen sich Risiken so bereits im Frühstadi-
um erkennen. Ähnlich wie in der Meteo-
rologie sind die Messstationen zahlreich
und flächendeckend verteilt: angefangen
bei Arztpraxen und Krankenhäusern bis
hin zu Patienten, die ihre Daten (Herzfre-
quenz, Blutdruck etc.) immer öfter selbst
sammeln.
Der Anfang ist gemachtDie Vernetzung bereits verfügbarer
Gesundheitsdaten hinkt den Möglichkei-
ten allerdings noch hinterher – vor allem
aufgrund datenschutzrechtlicher Beden-
ken sowie fehlender Standards für die Ver-
netzung aller medizintechnischen Gerä-
te. Der Schutz der persönlichen Daten
ist ein hohes Rechtsgut. Um einen Miss-
brauch zu verhindern, darf niemand
außer den Betroffenen darüber verfügen,
was mit ihren identitätsstiftenden Daten
geschieht. Viele Menschen aber stellen
ihre Gesundheitsdaten globalen Internet-
konzernen inzwischen freiwillig zur Verfü-
gung – ohne zu wissen, wie diese die Daten
am Ende nutzen. Das Problem: Langfristig
könnte diese Entwicklung zu einer Priva-
tisierung der Wissenschaft führen. Denn
während Unikliniken und andere öffent-
liche Einrichtungen das Potenzial von Big
Data aus datenschutzrechtlichen Grün-
den nur eingeschränkt nutzen können,
füttert die private Konkurrenz ihre Prog-
nosemodelle mit immer neuen Daten, um
sie Schritt für Schritt auf Höchstleistung
zu trimmen. So wächst ihr Vorsprung von
Tag zu Tag. Hier braucht es neue Ansätze,
wie sich Patientendaten in anonymisier-
ter Form leichter für Forschungszwecke
zugänglich machen lassen. Unabhängig
davon ist die technische Vernetzung aller
Geräte eine Aufgabe, die die Gesundheits-
branche nur gemeinsam leisten kann.
Doch wie können Daten aus unterschied-
lichen Quellen – wie Beatmungsgeräten,
Patientenakten und Gesundheitsbehör-
den – zusammenfließen, ohne dass zeit-
aufwendige Nacharbeiten erforderlich
werden? Standardisierungsinitiativen
wie die Fast Healthcare Interoperability
Resources (FHIR) sind dafür ein wichtiger
Schritt, allerdings auch nur ein Anfang.
Daten-Kooperationen über die Grenzen
von Krankenhäusern oder gar Ländern
hinweg bilden immer noch die absolute
Ausnahme.
Wer Big Data im Gesundheitswesen
zum Leben erwecken will, darf nicht in
Einbahnstraßen denken. Diese Vision
dürfte scheitern, wenn alle Beteiligten ihr
eigenes Süppchen kochen. Digitalisierung
lebt von Transparenz und Partnerschaft.
Das beginnt schon bei der Sammlung, Ver-
netzung und Analyse der Daten.FO
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Blutzuckerwert per Sensor: Immer mehr Vitaldaten lassen sich heute – oft berührungslos – mit elektronischen Sensoren erheben und sammeln
WISSENSCHAFT DATENLESE
64 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Die Entwicklungder letzten Jahre ist rasant
Bereits ein einfaches Fitness-Armband
kann bei Datenschützern und Medizinern
gemischte Gefühle auslösen. Die dazu-
gehörigen Gesundheits-Apps, die Ext-
rem- wie Freizeitsportler auf Schritt und
Tritt begleiten, können vielen Menschen
eine wertvolle Hilfe sein, heißt es in der
CHARISHMA-Studie, die die deutsche Bun-
desregierung 2016 veröffentlichte. Bei
mehr als 100.000 Apps ist es allerdings
nicht so einfach, zwischen guten und
schlechten Angeboten zu unterscheiden.
„Nötig sind klare Qualitäts- und Sicher-
heitsstandards für Patienten, medizini-
sches Personal und App-Hersteller“, raten
Experten. Umkehren wird sich der Trend
deshalb nicht. Schließlich eröffnet die
regelmäßige Kontrolle des eigenen Kör-
pers neue Optionen für die Gesundheits-
vorsorge – ganz ohne Schnitt und Nadel.
Blutzuckerwert in der AppEs ist noch nicht lange her, da führte an
einer Blutentnahme kein Weg vorbei. Für
Laktattests, mit denen Sportler ihre Aus-
dauer bestimmen, ist der Pieks ins Ohr-
läppchen nach wie vor die Regel. In ande-
ren Bereichen gibt es inzwischen immer
mehr elektronische Alternativen. Senso-
ren und Software sorgen dafür, dass Medi-
zintechnik nicht mehr unter die Haut
gehen muss und Auswertungen in Echt-
zeit vorliegen. Innovation ist nicht nur
digital, sondern auch mobil und nicht-
invasiv. Die Entwicklung der letzten Jah-
re ist rasant. Für Diabetiker etwa gibt
es inzwischen Alternativen zum Finger-
Pieks. Seit rund fünf Jahren sind Analyse-
geräte erhältlich, die den Blutzuckerwert
per Sensor scannen. Der Sensor steht mit
einem Messfühler in Kontakt, der sich mit
einer Setzhilfe einmalig unter die Haut
stechen lässt. Mittlerweile kann man die
Werte sogar per App und Smartphone
scannen.
Geringere VerweildauerIn der Intensivmedizin ist der Trend zu
mobilen, nicht-invasiven Untersuchungs-
methoden ebenfalls spürbar: Techniken
wie die Elektrische Impedanztomogra-
phie (EIT) können dabei helfen, die Zahl
von Computertomographien (CT) zu ver-
ringern – auch wenn EIT keine CT ersetzt
(siehe auch Drägerheft 402 Seite 26 ff.).
Dabei ist es nicht allein die medizinische
Perspektive, die eine enge Kopplung von
Medizintechnik und IT wünschenswert
erscheinen lässt. Auch ökonomisch spre-
chen viele Argumente für mehr digitale
Assistenz. Denn die Zahl der Patienten
wächst, die Fachkräfte dagegen werden
knapp. Laut offizieller Krankenhaus-Sta-
tistik wurden 2015 in Deutschland 2.355
Krankenhausfälle je 10.000 Einwohner
registriert, rund 29 Prozent mehr als
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65DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
Krankenhausaufenthalte von Patienten werden heute digital begleitet, ihre persönlichen wie medizinischen Daten systematisch erfasst und gesammelt. Einen therapeutischen Nutzen aber stiften die Daten nur dann, wenn sie sich problembezogen und leicht verständlich aufbereiten lassen.
Mit dem SmartPilot View (SPV) brachte Dräger 2010 eine Software auf den Markt, die relevante Parameter für die Narkosesteuerung auf dem Monitor eines Anästhesiearbeitsplatzes anzeigt. Sie informiert beispielsweise über den er-rechneten, zeitlichen Verlauf der Wirkung verabreichter Medikamente sowie über deren kombinierten Effekt. Zudem ver-deutlicht sie die Narkosetiefe als numeri-schen Wert, basierend auf Modellen zur Interaktion von Schlaf- und Schmerzmit-teln. Welchen Nutzen der SmartPilot View für die Arbeit im OP stiften kann, zeigt eine Studie eines Forscherteams am Universitätsklinikum im französischen Angers. Knapp 100 Testpersonen nah-men daran teil, die Ergebnisse wurden im November 2017 veröffentlicht. Demnach waren die Patienten, deren Hüft-OP mit Unterstützung des SmartPilot View durchgeführt wurde, nach der Narkose insgesamt stabiler als die Kontrollgruppe, die konventionell behandelt wurde. Zu-dem konnten die SmartPilot-View-Patien-ten das Krankenhaus deutlich früher ver-lassen; auch traten bei ihnen innerhalb von 30 Tagen nach der Operation weni-ger Komplikationen auf. 2011 folgte mit dem PulmoVista 500 ein Lungenfunk-tionsmonitor, der die Beurteilung der regionalen Verteilung der Ventilation erlaubt. Ärzte und Pfleger können die Wirkung von therapeutischen Maßnah-men, die über das Beatmungsgerät
Live-Einblicke in die Lunge bietet die Elektrische Impedanztomographie. Auch hier
fallen viele Daten an, die ausgewertet, gespeichert und weitergeleitet werden können
Aktive AssistentenIm OP und auf der Intensivstation lassen sich große Datenmengen immer dann gut nutzen, wenn man sie mit den Arbeitsabläufen verzahnt. Entsprechend aufbereitet können sie das Krankenhauspersonal bei Entscheidungen unterstützen und ihm sogar die Arbeit abnehmen. Welche Entwicklungen möglich sind, zeigt das aktuelle Produktportfolio von Dräger.
gesteuert werden, damit unmittelbar verfolgen und bei Bedarf korrigieren. Der PulmoVista 500 baut auf der Elektri-schen Impedanztomographie (EIT) auf, die den elektrischen Widerstand (Impe-danz) misst und somit Rückschlüsse auf die Vorgänge in der Lunge ermöglicht. Für die Messung muss dem Patienten lediglich ein Brustgurt angelegt werden.
Mit SmartSonar Sepsis stellte Dräger 2014 ein weiteres System vor, das eine Sepsis frühzeitig erkennen kann. Als funktionelle Erweiterung des Integrated Care Managers (ICM) bewer-tet die Software die aktuellen Vitaldaten eines Patienten auf Basis anerkannter Leitlinien und zeigt das Ergebnis intuitiv an. Somit hilft es dem Krankenhausper-sonal, rechtzeitig geeignete Maßnahmen einzuleiten. Mit Smart Ventilation Control (SVC) hat Dräger in 2016 sein erstes Assistenzsystem für die Beatmung im OP eingeführt. Auf dem Zeus IE, einem Anästhesiegerät, lässt sich SVC mit dem SmartPilot View sowie SmartSonar Sepsis am Arbeitsplatz des Anästhe-sisten kombinieren. SVC passt die Beatmungssteuerung nach den Vorgaben des Anästhesisten selbst-ständig an. Dafür muss dieser lediglich das gewünschte Beatmungsziel angeben. Soll die Beatmung geändert werden, zum Beispiel von einer kontrollierten Beatmung hin zu einer Spontanatmung, genügt ein Tasten-druck. Smart Ventila tion Control führt die Beatmung diesem Ziel anschließend kontinuierlich näher.
Organische Elektronik bietet die Möglichkeit, eine Vielzahl von Sensoren zur Erhebung ganz unterschiedlicher Vitalfunktionen einfach auf die Haut zu kleben – wie dieses Pflaster
WISSENSCHAFT DATENLESE
66 DRÄGERHEFT 403 | 1 / 2018
noch vor 25 Jahren. Dennoch ging die
Zahl der Belegungstage zurück, weil sich
die durchschnittliche Verweildauer auf
7,3 Tage halbierte. Personell rüsteten die
Krankenhäuser daher nicht auf. Die Zahl
der vollzeitbeschäftigten Ärzte und Pfleger
in Deutschland lag 1991 und 2015 stabil
bei rund 880.000.
Gerollt, gebogen oder geknicktDie kürzere Verweildauer führen Exper-
ten auf neue medizinische Verfahren
zurück, aber auch auf die Einführung von
Fallpauschalen. Fraglich ist allerdings,
wie stark sich die Verweildauer noch ver-
ringern lässt. Irgendwann droht ein Dreh-
türeffekt: Patienten, die zu früh entlas-
sen wurden, kommen schnell wieder
zurück. Fraglich ist auch, wie sich – ange-
sichts des demografischen Wandels – das
Betreuungsverhältnis entwickelt. Da die
Menschen immer älter werden, dürf-
te die Zahl der Krankenhausfälle auch
künftig steigen. Zudem nähert sich die
Babyboomer-Generation dem Rentenal-
ter. Mitte der 1960er-Jahre wurden jähr-
lich mehr als 1,3 Millionen Kinder gebo-
ren; fast zwei Drittel mehr als in 2016. Die
Informationstechnologie kann dabei hel-
fen, das demografische Problem zu ent-
schärfen und das Krankenhauspersonal
von Routine aufgaben zu entlasten.
Den nächsten Schub der Prozessau-
tomatisierung soll die organische Elek-
tronik bringen. Sie erlaubt es, aus langen
Ketten organischer Moleküle (Polymere)
elektronische Bauteile zu drucken, statt
sie in Silizium zu ätzen. Im Vergleich zu
traditionellen Computerkomponenten
sind diese Bauteile sehr leicht und las-
sen sich rollen, biegen oder knicken. Das
elektronische Pflaster könnte eine der ers-
ten Anwendungen sein. Die Idee: Um die
Vitalfunktionen von Patienten zu über-
wachen, werden flache, dehnbare Sen-
soren direkt auf die Haut geklebt. Dort
messen sie die Atem- und Herzfrequenz
und übertragen die Daten direkt an eine
medizinische Zentrale. Erste Pilotsyste-
me wurden bereits vorgestellt. Japanische
Forscher gingen im Sommer 2017 sogar
mit einem Konzept an die Öffentlichkeit,
das die Sensoren direkt mit der Haut ver-
webt. Anders als aufgeklebte Pflaster sol-
len sie sich nicht lösen und somit auch
nicht die Messergebnisse verfälschen kön-
nen. Dafür wird ein Netz aus hauchdün-
nen Golddrähten geflochten, das sich fle-
xibel an alle Bewegungen anpasst. Erste
Tests mit der gasdurchlässigen und bio-
kompatiblen elektronischen Haut seien
positiv verlaufen. Die Probanden hätten
sie gar nicht gespürt. Sollte diese Tech-
nologie den Sprung von der Vision zur
Wirklichkeit schaffen, müssten Patienten
künftig vielleicht nicht einmal mehr zum
Wechseln der Pflaster ins Krankenhaus.
Bald sollen elektronische Pflaster die Herzfrequenz und Atem-tätigkeit überwachenkönnen
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INFOS SERVICE
67
Was wir beitragenEinige PRODUKTE dieser Aus gabe finden sich hier im Überblick – in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Zu jedem Produkt gehört ein QR-Code, der sich mit einem Smartphone oder Tablet scannen lässt. Danach öffnet sich die jeweilige Produkt-information. Haben Sie Fragen zu einem Gerät oder zum Drägerheft? Dann schreiben Sie uns: draegerheft@draeger.com
X-pid 9000/9500 Diese Kombination aus Gasmessgerät (links) und Bedieneinheit misst flüchtige organische Gefahrstoffe in der Umgebungsluft und zeigt ihre Konzentration im Milliardstelbereich an.Seite 26
CPS 7900 Chemikalienschutzanzug, der vor Industriechemikalien und anderen Gefahrstoffen schützt.Seite 33
PSS BG4 plus Bis zu vier Stunden versorgt dieses Kreislauf-Atemschutzgerät seinen Träger in toxischer Umgebung mit Atemluft.Seite 33
Perseus A500 Anästhesiegerät für optimierte Abläufe im Operationssaal. Seite 36
X-am 8000 Dieses Gaswarngerät misst bis zu sieben toxische sowie brennbare Gase, Dämpfe und Sauerstoff gleichzeitig – im Pumpen- oder Diffusionsbetrieb.Seite 40
PulmoVista 500 Elektrischer Impedanz-tomograph zur nicht-invasiven Beurteilung der regionalen Verteilung der Ventilation.Seite 65
Smart Ventilation Control Assistenzsystem zur Beat-mungssteuerung während des gesamten Operationsverlaufs.Seite 65
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EINBLICK NOTFALLMEDIZIN
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Maschinelle Beatmung ist seit dem
Pulmotor von 1907, einer Erfi ndung
von Firmengründer Johann Heinrich
Dräger, eine Kernkompetenz des Hauses.
Das Oxylog VE300 setzt diese Tradition
mit einem neuen Gerät für die Notfall-
und Transportbeatmung fort. Eine große
Herausforderung bei dieser Entwicklung
lag darin, die Handhabung so einfach
wie möglich zu machen. Gespräche mit
Anwendern hatten gezeigt, dass nur
ein leichtes und einfach zu bedienendes
Gerät auch wirklich sofort mit in
den zwölften Stock genommen wird.
Natürlich stehen alle Formen der
volumen kontrollierten Beatmung, die
Unterstützung der Spontanbeatmung
sowie (mit der Option „Plus“) eine
druckunterstützte Beatmung zur Verfü-
gung. Doch es sind die Details, die das
Versprechen einer leichten Nutzung
auch wirklich einlösen. Das Oxylog
VE300 wiegt rund 1,5 kg weniger als sein
Vorgänger, was durch den Einsatz
hochwertiger und widerstandsfähiger
Werkstoffe erreicht wird. Die Schutz-
bügel 1 , die früher aus Metall waren,
wurden durch Kunststoff ersetzt. In
der Variante mit Tragesystem lässt sich
die Sauerstofffl asche 2 mittels
aufklapp barer Scharniere 3 schnell
über den Druckminderer 4 anschlie-
ßen. Das Gerät ist an der Wand des
Rettungswagens vielseitig positionierbar
und über den Tragesystemhalter auto-
matisch – zum Aufl aden des internen
Langzeitakkus 5 – am Bordstrom
an geschlossen. Mit nur einer Hand lässt
sich das Oxylog VE300 über den Schnell-
kupplungsanschluss 6 mit einer zen-
tralen Gasversorgung verbinden und
wieder lösen. Dank der schmalen,
ausbalancierten Form kann das Gerät –
mithilfe des gummierten Griffs 7 –
bequem und dicht am Körper getragen
werden. Das Gerät ist wenige Sekunden
Sicher, leicht und handlich:110 Jahre Erfahrung stecken in diesem Notfall- und Transport-
beatmungsgerät – die von Dräger sowie Anwendern aus aller Welt
nach dem Einschalten 8 betriebsbereit.
Auf dem farbigen Touch-Display 9
muss man lediglich „Erwachsener“
oder „Kind“ sowie den Beatmungstyp
auswählen und kann anschließend die
Beatmung starten. Weitere Funktionen
und Anzeigen stehen über das Display
sowie den Drehknopf 10 zur Verfügung.
Die Anzeige kann um 180 Grad gedreht
werden und ist von verschiedenen Posi-
tionen gut einsehbar. Alle beatmungs-
relevanten Daten werden automatisch
dokumentiert und lassen sich drahtlos
(via Bluetooth) oder per USB 11 auslesen.
RettendeAtemluft
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