160612SimonIchMöchteDirEtwasSagen

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  • 7/26/2019 160612SimonIchMchteDirEtwasSagen

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    Simon, ich mchte Dir etwas sagen (160612 C11)[email protected]

    Die sehr direkte Anrede Jesu trifft uns auch ber den Abstand der Jahrhunderte hinweg. Wir

    spren, dass wir fr Simon durchaus unseren eigenen Vornamen einsetzen knnen. Jesusldt sich bei mir ein, ist bei mir zu Gast.Haben Sie das schon einmal erlebt: Sie sind eingeladen, und einer der Mitgste vertritt eineMeinung, z.B. eine politische, die Sie rgert oder die Sie fr grundfalsch halten? Sieschweigen eine Weile aus Hflichkeit, Sie versuchen, vermittelnd eine andere Perspektive insGesprch zu bringen, wenn es dann so richtig rechtsradikal, frauenfeindlich oder antikirchlichwird, versuchen Sie, das Thema zu wechseln. Bis es Ihnen zu bunt wird und Sie, sei es ausSelbstachtung, sei es aus Zivilcourage, sagen: In dieser Hinsicht sind wir verschiedenerMeinung. Ich bin mit Ihrer Position nicht einverstanden!.

    In der Szene mit Jesus, Simon und der anonymen Gastgeberin ist Simon der hfliche

    Gastgeber. Die Provokation kommt in diesem Fall nicht durch einen Gesprchsbeitrag,sondern durch eine hergelaufene Frau, die von sich aus eine unerhrte, geradezukompromittierende Nhe zu Jesus aufbaut. Simon hat allen Grund, sich zu schmen, denn esist sein Haus, und Jesus ist sein Gast. Aber so reagiert er nicht, er lsst es geschehen.Allerdings nicht aus Toleranz, sondern aus Fremdschmen. Fr ihn ist der Fall klar: Sie ist dieSnderin, wahrscheinlich eine Prostituierte, stadt- und mnnerbekannt. Und Jesus ist der

    Naivling, der nicht checkt, mit wem er es zu tun hat. Aber: die Hflichkeit siegt, er schweigt.Jesus lsst die ihm von der Frau angebotene Intimitt zu, er bleibt auch dann in Verbindungmit ihr, ber seine Fe, als er Simon auf das Ungesagte, auch auf das Unbewusste, anspricht:Simon, ich mchte dir etwas sagen.Der inhaltliche Kern der Lektion, die Jesus, dem Simon erteilt, lsst sich so zusammenfassen:nicht der Sndenbock ist der Snder, sondern der oder die, welche dem Bock ihre Sndeaufgeladen haben. Allerdings kann Simon die Lektion nur dadurch verstehen, dass er durchGleichnis aktuelle Szene emotional berhrt wird.Der Sndenbockmechanismus ist wohl so alt wie die menschliche Gemeinschaft. In Leviticus16 lesen wir, wie bei der Liturgie des Jom Kippur, des Vershnungstags, der Sndenbock indie Wste geschickt wird:Leviticus 16:21-23

    21Aaron soll seine beiden Hnde auf den Kopf des lebenden Bockes legen und ber ihmalle Snden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf desBockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wste treiben lassen, 22und der Bocksoll alle ihre Snden mit sich in die Einde tragen. Hat er den Bock in die Wste geschickt, 23dann soll Aaronwieder in das Offenbarungszelt gehen, die Leinengewnder, die er beim Betreten des Heiligtums angelegt hat,

    ablegen und sie dort verwahren.

    Die sndige Frau ist fr eine patriarchale Gesellschaft ein besonders geeigneter Sndenbock:Als Prostituierte stadtbekannt ist sie diskret zu Diensten. Aber nun traut sie sich aus demDunkel der Halbwelt in die offizielle Gesellschaft, zur Abendeinladung bei Simon. EineProvokation!

    Wie gehen wir heute mit ffentlichen Sndern um? Ich denke, die Entwicklung istweitergegangen, bis zur Eliminierung des Sndenbegriffs. Schmen und Fremdschmenmgen uns zwar immer noch erfassen, wenn wir in der Zeitung lesen, dass sich wieder einPolitiker mit sexuellem Missbrauch, Prostitution oder Drogen kompromittiert hat. Aber die

    Kategorie der Snde ist in der ffentlichen Sprache zu einer Karikatur verkommen: Umwelt-,Dit-, Verkehrssnde. Auch die sexuelle Verfehlung wird augenzwinkernd als Sndebezeichnet, wenn jemand kein Kind von Traurigkeit ist.

  • 7/26/2019 160612SimonIchMchteDirEtwasSagen

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    Snde ist zu einem Begriff der religisen Sondersprache geworden, der dadurch irritierendwirkt, auch fr uns Christen. Denn die Vergebung der Snde ist nun mal ein zentralerBestandteil der Botschaft Jesu und unseres Glaubens. Franz von Baader erklrt Snde durchdas Absondern von Gott. Die meisten Philosophen schweigen ber die Snde, vermeiden

    das Wort oder ersetzen es durch das skularer klingende Wort Schuld. Vonzwischenmenschlicher Schuld zu reden, ist schon schwer genug, von Snde als Schuld vorGott zu reden erscheint peinlich.

    Eine Ausnahme ist Sren Kierkegaard, der immer wieder auf die Snde zurckkommt, aufden verzweifelten Versuch des Menschen, der Snde auszuweichen, als Signatur unsererEndlichkeit, aber auch unseres Ausgerichtetsein auf das Unendliche, wo wir unsere sndigeExistenz spren.

    Jrgen Habermas sagt 2001 in der Paulskirche:

    Skulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, blo eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sndein Schuld, das Vergehen gegen gttliche Gebote in den Versto gegen menschliche Gesetze verwandelte, gingetwas verloren. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch,das anderen zugefgte Leid ungeschehen zu machen (Habermas 2001).

    Snde ist einer der Begriffe der religisen Sprache, den die Moderne bersetzen mchte,weil er, einfach so gebraucht, unertrglich unmodern erscheint.

    Die unglubigen Shne und Tchter der Moderne scheinen in solchen Augenblicken zuglauben, einander mehr schuldig zu sein und selbst mehr ntig zu haben, als ihnen von der religisen Traditionin bersetzung zugnglich ist so, als seien deren semantische Potentiale noch nicht ausgeschpft.

    Zurck zu Jesus, Simon und zur Snderin. Wie schpft Jesus semantische Potentiale aus? Inder Nhe herstellt, Nhe von Leib und Seele, von Verstand und Gefhl, in denen dieSndenbock-Projektion durchsichtig wird. Die Abendgesellschaft mit ihrer Hflichkeit, mitihren unausgesprochenen, aber nichtsdestoweniger festen Vorurteilen verwandelt er inBegegnung. Es ist ein Symposion, ein Miteinandertrinken, wo auch philosophiert wird. Aberder zentrale Inhalt, die Liebesfhigkeit einer Prostituierten, kommt von auen.

    Es ist eine Beichte zu dritt, kompromittierend zwar, aber durch die barmherzige Haltung Jesumglich gemacht:

    - Trnen, Salbl, Haare der Frau sind ein Bekehrungswunsch ohne Worte. Vielleichtgeht es in dem Ungesagten um etwas ganz anderes als um die stadtbekannteProstitution. Das bleibt im Dunkel, nur Jesus wei es.

    - Simon sieht und hrt und fhlt eine Menge. Argumentativ folgt er Jesus bei derAuslegung des Gleichnisses. Ob er letztlich auch emotional mitkommt?

    Auch das wissen wir nicht. Es ist ja schlielich eine Beichte, und das Beichtgeheimnis schtztauch Simon, dem Jesus etwas sagen wollte.

    Habermas J (2001) Glauben und Wissen : Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001.Frankfurt am Main: Suhrkamp.