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Abitur 2005 – Deutsch Haupttermin 1 Aufgabe I Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext) Thema: Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest (Textstelle: Kap. 24, Auszug) Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe 05 10 15 20 25 30 35 Sie erhob sich und ging auf die Tür zu und horchte: Ros- witha schlief schon und Annie auch. Und mit einem Male, während sie das Kind so vor sich hatte, traten ungerufen allerlei Bilder aus den Kessiner Ta- gen wieder vor ihre Seele: das landrätliche Haus mit seinem Giebel und die Veranda mit dem Blick auf die Plantage, und sie saß im Schaukelstuhl und wiegte sich; und nun trat Crampas an sie heran, um sie zu begrüßen, und dann kam Roswitha mit dem Kinde, und sie nahm es und hob es hoch in die Höhe und küsste es. »Das war der erste Tag; da fing es an.« Und während sie dem nachhing, verließ sie das Zimmer, drin die beiden schliefen, und setzte sich wieder an das offene Fenster und sah in die stille Nacht hinaus. »Ich kann es nicht loswerden«, sagte sie. »Und was das Schlimmste ist und mich ganz irremacht an mir selbst... « In diesem Augenblicke setzte die Turmuhr drüben ein, und Effi zählte die Schläge. »Zehn ... Und morgen um diese Stunde bin ich in Berlin. Und wir sprechen davon, dass unser Hochzeitstag sei, und er sagt mir Liebes und Freundliches und vielleicht Zärtliches. Und ich sitze dabei und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele.« Und sie stützte den Kopf auf ihre Hand und starrte vor sich hin und schwieg. »Und habe die Schuld auf meiner Seele«, wiederholte sie. »Ja, da hab ich sie. Aber lastet sie auch auf meiner Seele? Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes Angst, Todes- angst und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angst ... Scham. Ich schä- me mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab ich auch nicht die rechte Scham. Ich schäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, dass ich nicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche, lügen ist so gemein, und nun habe ich doch immer lügen müssen, vor ihm und vor aller Welt, im Großen und im Kleinen, und Rummschüttel hat es gemerkt und hat die

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Abitur 2005 – Deutsch Haupttermin

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Aufgabe I

Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext)

Thema: Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest (Textstelle: Kap. 24, Auszug) Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe

05 10 15 20 25 30 35

Sie erhob sich und ging auf die Tür zu und horchte: Ros-witha schlief schon und Annie auch. Und mit einem Male, während sie das Kind so vor sich hatte, traten ungerufen allerlei Bilder aus den Kessiner Ta- gen wieder vor ihre Seele: das landrätliche Haus mit seinem Giebel und die Veranda mit dem Blick auf die Plantage, und sie saß im Schaukelstuhl und wiegte sich; und nun trat Crampas an sie heran, um sie zu begrüßen, und dann kam Roswitha mit dem Kinde, und sie nahm es und hob es hoch in die Höhe und küsste es. »Das war der erste Tag; da fing es an.« Und während sie dem nachhing, verließ sie das Zimmer, drin die beiden schliefen, und setzte sich wieder an das offene Fenster und sah in die stille Nacht hinaus. »Ich kann es nicht loswerden«, sagte sie. »Und was das Schlimmste ist und mich ganz irremacht an mir selbst... « In diesem Augenblicke setzte die Turmuhr drüben ein, und Effi zählte die Schläge. »Zehn ... Und morgen um diese Stunde bin ich in Berlin. Und wir sprechen davon, dass unser Hochzeitstag sei, und er sagt mir Liebes und Freundliches und vielleicht Zärtliches. Und ich sitze dabei und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele.« Und sie stützte den Kopf auf ihre Hand und starrte vor sich hin und schwieg. »Und habe die Schuld auf meiner Seele«, wiederholte sie. »Ja, da hab ich sie. Aber lastet sie auch auf meiner Seele? Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes – Angst, Todes-angst und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angst ... Scham. Ich schä- me mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab ich auch nicht die rechte Scham. Ich schäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, dass ich nicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche, lügen ist so gemein, und nun habe ich doch immer lügen müssen, vor ihm und vor aller Welt, im Großen und im Kleinen, und Rummschüttel hat es gemerkt und hat die

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Achseln gezuckt, und wer weiß, was er von mir denkt, je- denfalls nicht das Beste. Ja, Angst quält mich und dazu Scham über mein Lügenspiel. Aber Scham über meine Schuld, die hab ich nicht oder doch nicht so recht oder doch nicht genug, und das bringt mich um, dass ich sie nicht habe. Wenn alle Weiber so sind, dann ist es schrecklich, und wenn sie nicht so sind, wie ich hoffe, dann steht es schlecht um mich, dann ist etwas nicht in Ordnung mit meiner Seele, dann fehlt mir das richtige Gefühl. Und das hat mir der alte Niemeyer in seinen guten Tagen noch, als ich noch ein hal- bes Kind war, mal gesagt: auf ein richtiges Gefühl, darauf käme es an, und wenn man das habe, dann könne einem das Schlimmste nicht passieren, und wenn man es nicht habe, dann sei man in einer ewigen Gefahr, und das, was man den Teufel nenne, das habe dann eine sichere Macht über uns. Um Gottes Barmherzigkeit willen, steht es so mit mir?« Und sie legte den Kopf in ihre Arme und weinte bitter- lich. Als sie sich wieder aufrichtete, war sie ruhiger geworden und sah wieder in den Garten hinaus. Alles war so still, und ein leiser, feiner Ton, wie wenn es regnete, traf von den Platanen her ihr Ohr.

Aufgabenstellung: • Legen Sie kurz dar, was Effi zu diesem Selbstgespräch veranlasst. • Interpretieren Sie diese Textstelle; beziehen Sie die sprachliche und erzählerische Gestaltung ein. • Fontanes „Effi Briest“ und Schillers „Kabale und Liebe“: Stellen Sie, ausgehend von dieser Textstelle, Effis und Luises Konfliktsituation dar. Vergleichen und erläutern Sie, wie sie sich darin verhalten.

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Aufgabe II

Gestaltende Interpretation Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe Fünfter Akt, Letzte Szene

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FERDINAND. Der PRÄSIDENT. WURM und BEDIENTE, welche alle voll Schrecken ins Zimmer stürzen, darauf MILLER mit VOLK und GERICHTSDIENERN, welche sich im Hintergrund sammeln. PRÄSIDENT (den Brief in der Hand). Sohn, was ist das? – Ich

will doch nimmermehr glauben – FERDINAND (wirft ihm das Glas vor die Füße). So s i e h , Mör-

der! PRÄSIDENT (taumelt hinter sich. Alle erstarren. Eine schröck-

hafte Pause). Mein Sohn! Warum hast du mir das getan? FERDINAND (ohne ihn anzusehen). O ja freilich! Ich hätte den

Staatsmann erst hören sollen, ob der Streich auch zu sei- nen Karten passe? – Fein und bewundernswert, ich ge- steh’s, war die Finte, den Bund unsrer Herzen zu zerrei- ßen durch Eifersucht – Die Rechnung hatte ein Meister gemacht, aber schade nur, dass die zürnende L i e be dem Draht nicht so gehorsam blieb, wie deine hölzerne Puppe.

PRÄSIDENT (sucht mit verdrehten Augen im ganzen Kreis herum). Ist hier niemand, der um einen trostlosen Vater weinte?

MILLER (hinter der Szene rufend). Lasst mich hinein! Um Gottes willen! Lasst mich!

FERDINAND. Das Mädchen ist eine Heilige – für s i e muss ein anderer rechten. (Er öffnet Millern die Türe, der mit Volk und Gerichtsdienern hereinstürzt).

MILLER (in der fürchterlichsten Angst). Mein Kind! Mein Kind! – Gift – Gift, schreit man, sei hier genommen wor- den – Meine Tochter! Wo bist du?

FERDINAND (führt ihn zwischen den Präsidenten und Luisens Leiche). Ich bin unschuldig – Danke d i e s e m hier.

MILLER (fällt an ihr zu Boden). O Jesus! FERDINAND. In wenig Worten, Vater – sie fangen an mir

kostbar zu werden – Ich bin bübisch um mein Leben be-stohlen, bestohlen durch S i e . Wie ich mit Gott stehe, zittre ich – doch ein Bösewicht bin ich niemals gewesen. Mein ewiges Los falle, wie es will – auf S i e fall es nicht – Aber ich hab einen Mord begangen, (mit furchtbar erho-bener Stimme) einen Mord, den du mir nicht zumuten wirst, a l l e i n vor den Richter der Welt hinzuschleppen, feierlich wälz ich dir hier die größte grässlichste Hälfte

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zu, wie du damit zurechtkommen magst, siehe du selber. (Zu Luisen ihn hinführend.) Hier, Barbar! weide dich an der entsetzlichen Frucht deines Witzes, auf dieses Gesicht ist mit Verzerrungen dein Name geschrieben, und die Würgengel werden ihn lesen – Eine Gestalt, wie diese, ziehe den Vorhang von deinem Bette, wenn du schläfst, und gebe dir ihre eiskalte Hand – Eine Gestalt, wie diese, stehe vor deiner Seele, wenn du stirbst, und dränge dein letztes Gebet weg. – Eine Gestalt, wie diese, stehe auf deinem Grabe, wenn du auferstehst – und neben Gott, wenn er dich richtet. (Er wird ohnmächtig, Bediente halten ihn.)

PRÄSIDENT (eine schreckliche Bewegung des Arms gegen den Himmel). Von mir nicht, von mir nicht, Richter der Welt, fordre diese Seelen von d i e s e m! (Er geht auf Wurm zu.)

WURM (auffahrend). Von mi r? PRÄSIDENT. Verfluchter, von d i r ! Von d i r , Satan! – Du, du

gabst den Schlangenrat – Über d i c h die Verantwortung – Ich wasche die Hände.

WURM. Über mich? (Er fängt grässlich an zu lachen.) Lustig! Lustig! So weiß ich doch nun auch, auf was Art sich die Teufel danken. – Über mich, dummer Bösewicht? War es me i n Sohn? War i c h dein Gebieter? – Über mich die Verantwortung? Ha! bei diesem Anblick, der alles Mark in meinen Gebeinen erkältet! Über mich soll sie kom- men! – Jetzt will ich verloren sein, aber du sollst es mit mir sein – Auf! Auf! Ruft Mord durch die Gassen! Weckt die Justiz auf! Gerichtsdiener, bindet mich! Führt mich von hinnen! Ich will Geheimnisse aufdecken, dass denen, die sie hören, die Haut schauern soll. (Will gehen.)

PRÄSIDENT (hält ihn). Du wirst doch nicht, Rasender? WURM (klopft ihn auf die Schultern). Ich werde, Kamerad! Ich

werde – Rasend bin ich, das ist wahr – das ist dein Werk – so will ich auch jetzt handeln wie ein Rasender – Arm in Arm mit d i r zum Blutgerüst! Arm in Arm mit d i r zur Hölle! Es soll mich kitzeln, Bube, mit d i r verdammt zu sein. (Er wird abgeführt.)

MILLER (der die ganze Zeit über, den Kopf in Luisens Schoß ge- sunken, in stummem Schmerze gelegen hat, steht schnell auf und wirft dem Major die Börse vor die Füße). Giftmischer! Behalt dein verfluchtes Gold! – Wolltest du mir mein Kind damit abkaufen? (Er stürzt aus dem Zimmer.)

FERDINAND (mit brechender Stimme). Geht ihm nach! Er ver-zweifelt – Das Geld hier soll man ihm retten – Es ist meine fürchterliche Erkenntlichkeit. Luise – Luise – Ich komme – – Lebt wohl – – Lasst mich an diesem Altar verscheiden –

PRÄSIDENT (aus einer dumpfen Betäubung, zu seinem Sohn). Sohn Ferdinand! Soll kein Blick mehr auf einen zer-

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schmetterten Vater fallen? (Der Major wird neben Luisen niedergelassen.) FERDINAND. Gott dem Erbarmenden gehört dieser letzte. PRÄSIDENT (in der schrecklichsten Qual vor ihm niederfallend).

Geschöpf und Schöpfer verlassen mich – Soll kein Blick mehr zu meiner letzten Erquickung fallen?

FERDINAND (reicht ihm seine sterbene Hand). PRÄSIDENT (steht schnell auf). Er vergab mir! (Zu den an-

dern.) Jetzt euer Gefangener! (Er geht ab, Gerichtsdiener folgen ihm, der Vorhang fällt.)

Aufgabenstellung: • Erläutern Sie die Rolle des Präsidenten in dem Schauspiel und untersuchen Sie, welches Bild der Leser in dieser Szene von ihm gewinnt. • Gehen Sie von folgender Annahme aus: Im Gefängnis, noch vor der Urteilsverkündung, erhält der Präsident Besuch von Miller, der mit ihm ein Gespräch über das Schicksal der Kinder führen möchte. Der Präsident willigt ein. Gestalten Sie den Dialog.

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Aufgabe III

Literarische Erörterung Thema: „Ein junges Lämmchen weiß wie Schnee“, sagt Frau von Padden über Effi in Fontanes Roman „Effi Briest“. (Kap. 24) „Was hat dieses Lamm getan, dass Sie es würgen?“ sagt Frau Miller über Luise in Schillers bürgerlichem Trauerspiel „Kabale und Liebe“. (II, 5) Aufgabenstellung: Erörtern Sie, indem Sie beide Einschätzungen in Ihre Überlegungen einbeziehen, inwieweit Effi Briest und Luise Millerin als unschuldig gelten können.

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Aufgabe IV

Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich Thema: Hans Sahl (1902-1993), Bald hüllt Vergessenheit mich ein Hilde Domin (geb. 1912), Ars longa 05 10

Bald hüllt Vergessenheit mich ein Kein deutsches Wort hab ich so lang gesprochen. Ich gehe schweigend durch das fremde Land. Vom Brot der Sprache blieben nur die Brocken, Die ich verstreut in meinen Taschen fand. Verstummt sind sie, die mütterlichen Laute, Die staunend ich von ihren Lippen las, Milch, Baum und Bach, die Katze, die miaute, Mond und Gestirn, das Einmaleins der Nacht. Es hat der Wald noch nie so fremd gerochen. Kein Märchen ruft mich, keine gute Fee. Kein deutsches Wort hab ich so lang gesprochen. Bald hüllt Vergessenheit mich ein wie Schnee.

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Ars longa Der Atem in einer Vogelkehle der Atem der Luft in den Zweigen. Das Wort wie der Wind selbst sein heiliger Atem geht es aus und ein. Immer findet der Atem Zweige Wolken Vogelkehlen. Immer das Wort das heilige Wort einen Mund.

Erklärungen: Ars longa: „Die Kunst währt lang“ (im Gegensatz zum kurzen Menschenleben). Zitat nach Seneca. Aufgabenstellung: Interpretieren und vergleichen Sie die beiden Gedichte.

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Aufgabe V

Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte (auch mit gestalterischer Teilaufgabe)

Schwerpunkt: Analyse

Thema: Iris Radisch, Zeichen und Wunder – Gute Bücher bilden nicht nur Herz und Verstand: Sie machen auch glücklich in: Die Zeit, Nr. 51, 11. Dezember 2003 Früher, als es die Stiftung Lesen noch nicht gab, schickte der Herr ab und zu eine Botschaft aus dem Himmel, um die Erdbewohner zur Lektüre anzuhalten. Tolle, lege – Nimm und lies!, ermahnte eine rätselhafte Stimme den jungen Philosophen Augustinus, als dieser, zerknirscht wegen seiner Sünden, weinend unterm Feigenbaum saß. Augustinus stand auf und las. Augenblicklich durchflutete das „Licht der Zuversicht“ sein 5 Herz. Es war der Anfang einer großen Liebe. Das stille Lesen – eines der großen weltumstürzenden Wunder. Doch was taugt ein Weltwunder, das heute niemand mehr will? Was taugt eine Liebe, zu der man Leser, Bildungsreformer und Meinungsmacher inzwischen ermahnen und antreiben muss wie lahme Esel? Die schlimme Nachricht heißt: Nur noch sechs Prozent 10 aller Deutschen greifen abends lieber zum Buch als zur TV-Fernbedienung. Das klingt zwar nach Bildungsapokalypse und Untergang des Abendlandes. Allerdings: Viel mehr Leser werden es zu Augustinus’ Zeiten auch nicht gewesen sein. Die Probleme, die uns heute beschäftigen, sind nicht ganz neu. Kerner beliebter als Kleist? Wickert bekannter als Wieland? Auch damals wird es irgendeinen drahtigen Ansager gegeben haben, der die 15 stammesfürstlichen Bulletins ausschrie. Und auch ihn wird man heftig verehrt haben. Das Weltwunder Lesen war immer etwas für wenige. Bis die Aufklärung kam und eine grandiose Idee hatte: Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit für alle – auch in der Erziehung. Folgt man der Idee, ist ein Verleger, der lieber Bücher über Steuertricks als Gedichte verlegt, ein kulturloser Geschäftemacher und sind Eltern, die ihr Automobil zwar vorbildlich 20 parken, ihre Kinder aber blindlings vor dem Fernseher absetzen, gewissenlose Kinderverderber. Wie gesagt, eine großartige Idee. Leider versagt sie in der Praxis. Denn in ihr kippen Fernseh- und Rundfunkintendanten ihre Kultursendungen haufenweise auf den Müll, steigt die Produktion von primitiven Wegwerfbüchern von Jahr zu Jahr, verbringen immer kleinere Kinder immer mehr Zeit vor 25 dem Fernseher, sinkt die so genannte Lesekompetenz nicht nur der Kinder. Politiker lassen nicht nur schreiben, sondern auch lesen, und die meisten ihrer Wähler können sich allenfalls noch auf Kürzesttexte konzentrieren. Was soll man machen? Lesen kann man nicht befehlen, nicht mit erhobenem Zeigefinger und auch nicht mit Appellen. Wie sollten die denn aussehen? Soll man lesen, um dem Kulturbürgertum 30 anzugehören und einen Sonnenaufgang brav im Stil von Thomas Mann mit dem Rosenrot im griechischen Götterhimmel vergleichen zu können? Soll man lesen, um seine Eheprobleme zu lösen oder gar um in der multimedialen Gesellschaft mitzuhalten? Das alles wird nicht verfangen. Sowohl die bildungsbürgerliche wie die alltagspsychologische und die medienkompetente 35 Aufforderung zum Lesen haben wenig bewirkt. In Wirklichkeit gilt: Literatur kann nur durch sich selbst überzeugen. Sie ist nicht dazu da, Lebenswirklichkeiten nachzuplappern, zu

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überhöhen oder Berufskarrieren zu begründen. Sie ist etwas Ernsteres. Sie ist eine echte Alternative, keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern eine Gegenwirklichkeit, mancher sagt: die eigentliche Wirklichkeit. Nur in großer Literatur sind vergangene Zeiten 40 gegenwärtig, nur hier ist das Innere eines anderen für uns erfahrbar, nur hier können wir uns selbst als Fremde begegnen, nur hier sind Anarchie und Subjektivität wirklich zu Hause. Was wüssten wir vom Judentum, was vom Christentum oder den anderen Religionen ohne Literatur? Und wo kann man noch immer unendlich viel mehr über die Liebe erfahren als im elenden Nachtprogramm von RTL? 45 Gute Bücher erklären und öffnen uns die Welt, wie niemand sonst es vermag. Sie schärfen unseren Möglichkeitssinn, verfeinern unser Gehör, bilden unseren Geschmack. Sie zerreißen den Panzer aus Konvention und Banalität, der uns umgibt. Gut geschrieben ist immer auch gut gedacht: Niemand, der heute Tolstoj gelesen hat, wird sich morgen mit den Phrasen eines sprachdebilen Medienkapitalismus abspeisen lassen. Von der 50 „Lesbarkeit der Welt“ hat der Philosoph Hans Blumenberg geschwärmt. Lesend können wir die Welt erkennen. Die andere Welt. Die, in der nicht alle Zeiger auf Geld gestellt sind. Und das ist – obwohl die meisten guten Bücher schlecht ausgehen – ein großes Glück. Nimm und lies! Erklärungen: Z. 01 Stiftung Lesen: Stiftung zur Leseförderung Z. 03 Augustinus (354-430 n. Chr.): lateinischer Kirchenlehrer und Philosoph Z. 15 Wieland (1733-1813): deutscher Dichter Z. 49 Tolstoj (1828-1910): russischer Schriftsteller Z. 50 debil: leicht schwachsinnig Z. 51 Blumenberg (1920-1996): deutscher Philosoph Aufgabenstellung: Arbeiten Sie die Kernaussagen des Textes heraus und analysieren Sie seine Struktur und sprachliche Gestaltung. Wählen Sie eine der folgenden beiden Arbeitsanweisungen: „Gute Bücher erklären und öffnen uns die Welt, wie niemand sonst es vermag.“ (Z. 46) Nehmen Sie zu dieser Aussage der Autorin Stellung. oder Gehen Sie von folgender Annahme aus: Sie haben diesen Artikel von Iris Radisch gelesen und möchten sich eingehend dazu äußern. Verfassen Sie einen Leserbrief.

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Abitur 2005 – Deutsch Haupttermin – Lösungshinweise

Bearbeitet von Winfried Bös

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Für jede Aufgabe gilt folgender Vorbehalt: „Die Lösungshinweise stellen nur eine mögliche Aufgabenlösung dar. Andere Lösungs-möglichkeiten sind zuzulassen, wenn sie der Aufgabenstellung entsprechen und sachlich richtig sind. Der Erstkorrektor kann in diesem Fall für den Zweitkorrektor eine Begründung beigeben (anonym und auf einem besonderen Blatt).“ Aufgabe I Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext) Thema: Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest (Textstelle: Kap. 24, Auszug) Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe Hinweise zur Aufgabenstellung Der Textauszug dokumentiert Effi Briests Auseinandersetzung mit dem vergangenen Geschehen und ihrer Schuld. Der Anlass der monologischen Reflexion wird im Text thematisiert (vgl. erste Arbeitsanweisung). Der Schwerpunkt der Aufgabenstellung liegt auf der Interpretation der vorgegebenen Textstelle (mit funktionaler Sprachanalyse – vgl. zweite Arbeitsanweisung) oder auf dem Vergleich der Konfliktsituation von Effi und Luise (vgl. dritte Arbeitsanweisung), wobei hier keine Vollständigkeit, sondern eine Konzentration auf zentrale Aspekte gefordert ist. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Zunächst scheint es, dass die Erinnerungen Effis unwillkürlich („ungerufen“ – Z. 4) beim Anblick ihres schlafenden Kindes wach gerufen werden. Später zeigt sich aber, dass ihre Gedanken mit der Abreise nach Berlin und dem Hochzeitstag zusammenhängen (vgl. Z. 19ff). Die „Schuld“ (vgl. Z. 22), die auf ihrer Seele lastet, ist dabei das eigentlich auslösende Moment. Sie formuliert es klar und unumwunden und setzt sich dann mit ihrem „Lügenspiel“ (Z. 41) auseinander. Ihre Gedanken beschäftigen sich neben der Schuld mit ihren Ängsten und Befürchtungen sowie der Scham und Reue. Am Ende übermannen sie die Gefühle und sie bricht in Tränen aus, kann sich aber dann wieder schnell fangen.

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Abitur 2005 – Deutsch Haupttermin – Lösungshinweise

Bearbeitet von Winfried Bös

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2. Arbeitsanweisung Effi befürchtet, dass ihr Seitensprung irgendwann doch ans Tageslicht kommt. Darauf bezieht sich ihre Angst, die sie doppelt steigert, wenn sie von „Todesangst“ (Z. 29f) und „ewiger Furcht“ (Z. 30) spricht. Die Superlative weisen auf die existentielle Bedrohung ihres Konfliktes und auf das tragische Ende hin. Die Dimension der Angst rührt einmal von der Enttäuschung über ihr eigenes Leben, zum anderen sicher von den gesellschaftlichen Sanktionen, die sie zu erwarten hätte, wenn es bekannt würde. Diese Sanktionen thematisiert Effi zwar nicht, aber sie sind – wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung – im Hintergrund so unumstößlich präsent, dass sie sich darüber nicht äußern muss. In Anspielung oder Umkehrung an Pastor Niemeyers Ermahnungen ist ihr so bewusst, dass sie in „ewiger Gefahr“ schwebt (Z. 52) und „das Schlimmste“ (Z. 51) eben doch passieren könnte. Dreh- und Angelpunkt ihrer Äußerungen ist der Ordnungsgedanke. Die „Ordnung“ ihrer Seele (vgl. Z. 46) ist durcheinander geraten, aber natürlich auch die der Moral, der Gesellschaft und vor allem die göttliche Ordnung. Da Effi sehr angepasst und behütet aufgewachsen ist, ist ihr die Vorstellung eines Lebens in der rechten Ordnung in Fleisch und Blut übergegangen. Sie hat ja keine Adoleszenzkrisen durchgemacht, die da irgendetwas ins Wanken gebracht hätten. So fühlt sie sich mehrfach verletzt. Der Stolz (vgl. Z. 34f), nicht lügen zu können, ist ebenso gebrochen wie das moralische Verdikt „lügen ist so gemein“ (Z. 36). Die geheime Mitwisserschaft Rummschüttels (vgl. Z 38) und das Eingeständnis, die Vorbildfunktion der Frauen verletzt zu haben, belasten sie gleichermaßen wie die Einsicht, nicht „das richtige Gefühl“ zu haben. Ein „richtiges Gefühl“ zu haben heißt in der Umkehrung, die menschliche, gesellschaftliche und göttliche Ordnung unangetastet zu lassen, d.h. sie im umfassenden Sinn zu respektieren (vgl. die Ausführungen Niemeyers; Z. 49ff). Gleichzeitig revoltiert Effi gegen diese übermächtigen Ordnungsvorstellungen, indem sie ihre Schuld zwar konstatiert, aber sich von Scham und Reue distanziert („Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab ich auch nicht die rechte Scham.“ – Z. 32f). Damit bekennt sie sich zu ihrem Seitensprung, behauptet indirekt das Recht eines eigenen Weges, ohne aus den verinnerlichten Normvorstellungen der Gesellschaft ausscheren zu können. Denn ihre fehlende Bereitschaft zu Reue und Sühne ist dann das Eigentliche, was sie „umbringt“ (Z. 43). So befindet sich Effi in einem Teufelskreis, dem sie aus eigener Kraft nicht entrinnen kann. Was ihr allerdings hilft, ist die ehrliche und offene Auseinandersetzung oder Aussprache, die sie mit sich selbst – auch dialogisch – führt. Sie kommt gleich zur Sache und umkreist sicher die Begriffe, um die es geht, bzw. die für sie wichtig sind. Gleichzeitig verdeutlichen die Begriffe ihren Leidensdruck, denn aus ihrer Lebenslüge (vgl. die sechsmalige Verwendung des Wortes „lügen“ – Z. 34ff) findet sie keinen Ausweg. Das Frage- und Antwortspiel führt zu einer Art Gewissensforschung, an deren Beginn das „Erschrecken“ steht (Z. 28), am Ende die Angst, die sie „Gottes Barmherzigkeit“ (Z. 54) anrufen lässt. Neben der Kommunikationssituation (Selbstgespräch) sind als Stilmittel emotionaler Betroffenheit Correctio (Z. 27), Ellipse (Z. 16), Gegensatz (Z. 27, 41), anaphorische Konstruktion (Z. 19ff) zu nennen. Die konditionalen Gefüge („wenn – dann“) kann man als Ausdruck des Nachdenkens oder Verallgemeinerns deuten (Z. 44ff). Als besondere Leistung ist zu werten, wenn Schülerinnen und Schüler verwendete Motive (z.B. Veranda, Schaukelstuhl, offenes Fenster) im Kontext des Romans deuten.

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3. Arbeitsanweisung Bei ihrem Vergleich sollen die Schülerinnen und Schüler das Spannungsfeld zwischen den persönlichen Eigenschaften der Figuren und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Für Effi ist konstitutiv, dass sie sowohl nach Freiheit (als „Tochter der Luft“) als auch standesgemäßem Leben trachtet. Das führt zwangsläufig zu einer Konfliktsituation, weil das gesellschaftliche Leben und die Ehe der wilhelminischen Zeit besonderen Normen und Zwängen unterliegen, die eine Selbstverwirklichung, wie sie Effi vorschwebt, nicht ermöglichen. Ihre Sehnsucht nach Abenteuer und Unterhaltung ist unter den gegebenen Bedingungen kaum zu befriedigen. Innstetten ist der Prototyp eines Karrieremenschen; er bietet Effi gesellschaftliche Reputation und Sicherheit, aber seine Bereitschaft, sich Effi liebevoll zuzuwenden, ist begrenzt, sein gesellschaftlicher Umgang konventionell. So sucht Effi in der Affäre mit Crampas mehr Zuwendung und Zerstreuung, ohne dass die große Liebe im Spiel wäre. Die Lebenskrise, in die Effi dadurch gerät, kann sie zunächst geschickt verbergen, aber die Emotionen in ihr wachsen; was sie getan hat, kann sie kaum mit ihrem Gewissen vereinbaren. Es gelingt ihr aber immerhin, sich über die eigene Situation Klarheit zu verschaffen (vgl. den vorgegebenen Textauszug) und – bedingt auch durch den Umzug nach Berlin – die Affäre hinter sich zu lassen und mit ihrem Mann in Berlin einen Neuanfang zu wagen. Dass ihr Seitensprung dann doch zu einer tödlichen Bedrohung – zuerst für Crampas, dann für sie selbst – wird, hat sie nicht direkt zu verantworten, wobei die Aufbewahrung der Briefe freilich ein bezeichnendes Licht auf den Abbruch der Beziehung wirft. Luise und Ferdinand können keine standesgemäße Beziehung eingehen, weil die Vorstellungswelt der Zeit ständisch orientiert ist und Beziehungen über Standesgrenzen hinweg nur als Konkubinat zulässt. Luise gibt ihrer Liebe von Anfang an keine Chance, weil sie die Gesellschaftsordnung als Teil einer göttlichen Ordnung akzeptiert. Die Bindung an ihren Vater, die sittlich-moralischen Grundsätze sowie ihre tiefe Religiosität verhindern, dass sie sich in eine Traumwelt flüchtet. Das aber genau tut Ferdinand. Dass sie ihm in sein Traumreich nicht folgt, quittiert er mit Eifersucht und Misstrauen, obwohl Luise offen über ihre Konfliktsituation spricht und gleichermaßen mit ihr ringt. Beide Figuren reflektieren klar und überlegt ihre Situation. Luise handelt jedoch konsequent nach den vorgegebenen Maßstäben, während Effi gegen sie verstößt, obwohl sie ihr Fehlverhalten von Anfang an einschätzen kann. Entscheidend ist die Stichhaltigkeit und Überzeugungskraft der Argumentation, wobei den Schülerinnen und Schülern genügend Spielraum bei der Beurteilung zuzugestehen ist. Die Vergleichsaufgabe hat bei der Beurteilung des Aufsatzes besonderes Gewicht.

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Aufgabe II Gestaltende Interpretation Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe Fünfter Akt, Letzte Szene Hinweise zur Aufgabenstellung Im Mittelpunkt der Aufgabe stehen die Väter von Luise und Ferdinand, insbesondere Präsident von Walter. In der ersten Teilaufgabe ist die Rolle des Präsidenten im Schauspiel zu erläutern und zu analysieren, inwiefern sie mit den Eindrücken aus der letzten Szene übereinstimmt. Diese Aufgabe ist die Basis für die Gestaltungsaufgabe. Der gestaltende Interpretationsauftrag setzt die Dramenhandlung fort und verlangt die Konzeption eines Gesprächs zwischen dem Präsidenten und Miller während der Untersuchungshaft. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Macht kommt im Absolutismus ohne Moral aus und so ist Präsident von Walter ein Prototyp des höfischen Machtmenschen. Er schreckt vor keinen Maßnahmen zurück, die dem Ausbau und dem Erhalt seiner Stellung bei Hofe dienen. Er ist durch kriminelle Machenschaften zu seiner Position gelangt und will diese über seinen Sohn festigen und sichern. So hat er für Ferdinand eine Heirat mit Lady Milford in die Wege geleitet, ohne auf die Vorstellungen seines Sohnes Rücksicht zu nehmen. Er setzt den eigenen Sohn unter Zugzwang, entwürdigt ihn als Mittel zum Zweck. Auch dringt er gewaltsam in das Haus Millers ein, beschimpft Luise als Hure und lässt den Vater widerrechtlich verhaften. Er baut bei seiner Intrige ganz auf die Hilflosigkeit und Unterwürfigkeit der bürgerlichen Sphäre, zwingt Luise zur Lüge und provoziert die Eifersucht Ferdinands, die schließlich zum Tod des Liebespaares führt. Am Beginn der letzten Szene stellt der Präsident seinen Sohn zunächst herrisch zur Rede „Sohn, was ist das?“, um dann den „trostlosen Vater“ (Z. 19) zu spielen und alle Schuld am Geschehen von sich zu weisen. Auf die Bloßstellung als „Barbar“ (Z. 42) von Seiten seines Sohnes reagiert er, indem er die Verfluchung an Wurm, den „Satan“ (vgl. Z. 57), weitergibt. Hier scheinen bekannte Mechanismen durch. Der Präsident kann blitzschnell seine Rollen tauschen und übt Macht ohne Verantwortung aus. Feigheit tritt neben den Machtmissbrauch. Anschuldigungen oder Angriffe werden einfach an andere weitergeleitet, ohne dass etwas an ihm selbst hängen bleibt. Angst hat er allein vor der Aufdeckung von „Geheimnissen“, die ihm Wurm androht (vgl. Z. 71). Diese Angst machte sich auch Ferdinand zunutze, als er Luise damals vor dem Zugriff der Schergen seines

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Vaters befreite, indem er drohte, alle Welt wissen zu lassen, wie der Vater Präsident geworden sei. Die Regieanweisungen am Ende der Szene zeigen einen anderen Präsidenten, einen getroffenen Vater, indem von „dumpfer Betäubung“ und „der schrecklichsten Qual“ die Rede ist (Z. 88 und 93). Im Angesicht des sterbenden Sohnes wirkt er ehrlich zerknirscht, wobei es auch möglich ist, sein Verhalten als taktisches Manöver zu deuten, um die Vergebung seines Sohnes zu erreichen. Wie ernst oder folgenreich die Entscheidung des Präsidenten, sich als „Gefangener“ der Justiz zu übergeben, ist bzw. sich auswirken wird, ist auch eine offene Frage, weil die Rechtsprechung im Absolutismus nicht unabhängig wie heute, sondern eng mit den Herrschenden verwoben war. Also könnte es für den Präsidenten glimpflich ausgehen, gleichwohl hat er seinen einzigen Sohn verloren. 2. Arbeitsanweisung Grundlage des Dialogs ist das Figurenverständnis des Interpreten. Für den Präsidenten ist zu entscheiden, wie sich seine Situation in den Händen der Justiz entwickelt und welche Schlussfolgerungen er für sich daraus zieht. Von einem Freispruch, über eine Bewährungsstrafe bis hin zu einem Todesurteil ist alles denkbar. Wenn es zu einem gerechten Verfahren käme, könnten die Richter ja zu der Einschätzung gelangen, dass er mit dem Tod des eigenen Sohnes genug bestraft sei. Das Verhalten des Präsidenten ist im Übrigen nicht an einen bestimmten Prozessverlauf gekoppelt, denn er könnte sich so oder so unbelehrbar geben oder mit einer kritischen Sicht auf höfische Comments zu einer Umkehr oder gar Reue gelangen. Miller ist durch den Verlust seiner Tochter härter getroffen als der Präsident, weil die Beziehung zu seiner Tochter intensiver war, und er wohl wirklich mehr auf sie (vor allem im Alter) angewiesen ist, als das bei dem Präsidenten der Fall ist. Außerdem hat der die Affäre mit Ferdinand von Anfang an kritisch begleitet und seine Tochter vor möglichen Folgen gewarnt. Da Miller um das Gespräch nachgesucht hat, wird er die Methoden anprangern, mit denen der Präsident versuchte, die Beziehung der beiden zu unterbinden. Möglicherweise ist aber auch das jeweilige Schuldeingeständnis der Kontrahenten eine gemeinsame Gesprächsbasis. Beide Gegenspieler gleichen sich insoweit, als jeder sein Kind verloren hat. Insofern sind beide ähnlich gestraft, sodass sie nicht allein von Rache und Vergeltung geleitet werden können. Miller muss im Übrigen mit sich selbst kritisch ins Gericht gehen, denn er hat seine Tochter in dem alles entscheidenden Augenblick allein gelassen und sich durch Geld bei dem fiktiven Auftrag Ferdinands täuschen oder gar bestechen lassen. So muss er vor allem an Klärung und Trauerarbeit interessiert sein.

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Ein offener, differenzierter Dialog zwischen beiden ist gut vorstellbar. Gleichwohl ist den Schülerinnen und Schülern ein kreativer Spielraum zuzugestehen, den sie frei nach ihrer gestalterischen Kompetenz ausfüllen können. Kriterien der Bewertung sind dabei: konzeptionelle Schlüssigkeit, Authentizität der Darstellung sowie Qualität der Dialogführung. Regieanweisungen sind dabei ebenso zuzulassen wie auch rhetorische Figuren, die funktional passen (Ellipsen, rhetorische Fragen u.a.). Imitation steht nicht im Vordergrund, sondern angemessene sprachliche Gestaltung, die den Figuren, der Situation und dem Thema gerecht wird. Die Gestaltungsaufgabe ist bei der Gesamtbewertung deutlich stärker zu gewichten.

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Aufgabe IV

Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich Thema: Hans Sahl (1902-1993), Bald hüllt Vergessenheit mich ein Hilde Domin (ge. 1912), Ars longa Hinweise zur Aufgabenstellung Beide Gedichte beschäftigen sich – vor dem Hintergrund der Exilerfahrung – mit dem Thema „Sprache“. So liegt eine Gegenüberstellung inhaltlicher Art nahe, aber auch ein Vergleich formaler Strukturen bietet sich an. Die Schülerinnen und Schüler haben durch die Aufgabenstellung hinreichend methodische Freiheit. Hinweise auf mögliche Ergebnisse Das dreistrophige Gedicht von Hans Sahl mit fünfhebigen Jamben ist sehr regelmäßig gebaut, weil auch Reime und Kadenzen sich abwechseln (Kreuzreim und alternierend weibliche und männliche Kadenzen). Thema ist der Verlust der Sprache im Exil, genauer gesagt, die Angst davor, dass sie in „Vergessenheit“ gerät. So kann man die Überschrift als Warnung verstehen, denn das Präsens hat durch das Adverb „bald“ futurische Funktion. Diese Warnung wird als Schlusszeile wieder aufgegriffen und gesteigert, indem der Vergleich mit dem Schnee die drohende Erstarrung und Vereinsamung widerspiegelt, wenn die eigene Sprache verloren geht. Als Begründung für die Gefahr dienen jeweils die erste und vorletzte Zeile; sie stellen die gesprochene Sprache in den Mittelpunkt. Das lyrische Ich ist im Exil zum „Schweigen“ verdammt, weil das Land „fremd“, d.h. eben auch fremdsprachig ist. So kann es die eigene Sprache nur im Inneren bewahren, was aber die Gefahr birgt, dass nur „Brocken“ „verstreut“ übrig bleiben. Wie elementar und existenziell wichtig die Sprache ist, unterstreicht die Metapher vom „Brot der Sprache“ (V. 3). Ihre beschützende Funktion veranschaulichen die „mütterlichen Laute“ (V. 5). Dass sie überdies konkrete Erfahrungen und Erkenntnisse für Heranwachsende ermöglicht, dokumentieren die assoziativ (aus dem Spracherwerb) aneinander gereihten Begriffe „Milch“, „Baum“, „Bach“ und „Katze“. So eröffnet die Sprache einen Zugang zur Welt, der auch Dinge umschließt, die den Menschen handgreiflich nicht unmittelbar zur Verfügung stehen (vgl. den „Mond“ und das „Gestirn“). Das „Einmaleins der Nacht“ verweist wohl auf beruhigende Worte, die die Gefahr aus der Dunkelheit der Nacht bannen und sie vertraut machen. Mit der Sprachlosigkeit ändert sich auch die Naturwahrnehmung: Der Wald wird „fremd“ und auch das damit verbundene Kulturgut der „Märchen“ verstummt. Trost und Schutz fehlen. Die dritte Strophe reiht die leitmotivisch zu verstehenden Indefinitpronomen („Kein deutsches Wort“; V. 1) gleich dreimal anaphorisch hintereinander („Kein Märchen, ... keine gute Fee. ...Kein deutsches Wort...“; V. 10f), was Ausmaß und Gewicht der Negativbilanz unterstreicht. Die Mittelstrophe liest sich dagegen als Reminiszenz eines „staunenden“ Einverständnisses mit Welt und Natur. „Ohne eigene Sprache sein“ bedeutet damit als

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Fazit, sich selbst und der Welt entfremdet zu werden, umfassend „fremd“ (vgl. V. 2 und 9) zu sein. Das Gedicht beschreibt also die Gefahr und den Prozess einer zunehmenden Entfremdung, wobei wichtig ist, dass es eben nicht nur um Sprache geht, sondern darüber hinaus um Wahrnehmung und Persönlichkeit. Mit dem Verlust der eigenen Sprache ist auch die eigene Identität bedroht. Als besondere Leistung ist zu werten, wenn die Schülerinnen und Schüler den Widerspruch thematisieren, dass das Gedicht selbst – mit seinen Inhalten und seiner Form – die behaupteten Gefahren des Sprachverlustes konterkariert. Wer sich so eloquent noch in der Schriftsprache bewegt, dem kann so schnell die Sprache nicht abhanden kommen. Allerdings ist dagegen einzuwenden, dass die Intention und der Schwerpunkt eindeutig auf der „gesprochenen Sprache“ und nicht auf der Schriftsprache liegt. Der lebendige Austausch mündlicher Kommunikation in der eigenen Sprache ist etwas anderes als die monologisch – dichterische Gestaltung in der Abgeschiedenheit der eigenen Existenz, die meist auch ohne Adressat, Leser oder Publikum auskommen muss. Das Gedicht von Hilde Domin ist vierstrophig und mutet moderner an, weil es unregelmäßiger scheint. Der Umgang mit Wörtern und Sätzen ist sparsamer. Die Verse variieren von einer bis zu drei Betonungen und sind so unterschiedlich lang. Es gibt sogar zwei Ein-Wort-Verse (V. 10 und 11), so dass den Einzelwörtern ein besonderes Gewicht zukommt. Wie es kein einheitliches Betonungsschema gibt, so entfallen auch Reime. Jede Strophe ist durch ein Satzschlusszeichen abgetrennt, aber Strophe eins und vier sind elliptisch, weil das Verb fehlt. Es gibt nur zwei Verben: „ein- und ausgehen“ (V. 8) und „finden“ (V. 9). Die Satzstrukturen lassen sich aber problemlos ergänzen. In der ersten Strophe kann man den Leser appellativ einbinden: „Stelle dir vor, wie... sich bewegt.“ Die erste Strophe hat Signalcharakter; sie fordert den Leser auf, sich auf den „Atem“ zu konzentrieren, wobei diesem Begriff schon Bewegung und Lebendigkeit innewohnt, weswegen gut auf ein Verb verzichtet werden kann. Die Luft kann still stehen, den Atem kann man höchstens kurzzeitig anhalten, aber seine Qualität ist die Bewegung des Ein- und Ausatmens, also seine Aktivität und Unerschöpflichkeit. Atmung ist lebens-, ja überlebenswichtig. Mensch und Tier können nicht darauf verzichten. Das lyrische Ich ordnet die Natur in die gleiche Reihe, dass auch sie vom „Atem der Luft“ durchflutet sei. Die zweite Strophe verallgemeinert die kreatürliche Bewegung des Atmens auf das Wort. Es wird dabei mit dem Wind verglichen und besonders erhöht, indem weihevoll von seinem „heiligen Atem“ die Rede ist. Auch der Bewegung des Wortes haftet etwas Würdevolles an, indem es bzw. sein Atem „aus- und eingeht“. Die dritte Strophe feiert den „Atem“ als umfassendes Lebensprinzip, als „Seele“ von Natur und Kreatur. Er wird personifiziert, sodass er von sich aus die Natur und die Lebewesen findet und sie mit seinem Atem gleichsam zum Leben erweckt und beseelt. Das lyrische Ich, das nicht persönlich auftritt, sondern im Hintergrund bleibt (im Gegensatz zum ersten Gedicht), bekräftigt mit dem Adverb „immer“, dass es sich des Lebens und der Schöpfung sehr sicher ist. Der Atem findet immer sein Ziel, geht nie fehl, repräsentiert also eine ursprüngliche Schöpferkraft und Vitalität. Die vierte Strophe ist parallel gebaut und kann deswegen auch auf das Verb verzichten. Was von dem Atem in der dritten Strophe behauptet wird, findet jetzt seine Entsprechung beim „Wort“. Auch das Wort „findet“ seinen Weg zur Realität und Wirklichkeit, indem es

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ausgesprochen wird. Wie oben schon – fast pathetisch – von seinem „heiligen Atem“ (V. 7) die Rede war, wird das Wort nun direkt als „heilig“ apostrophiert und damit in seiner Schöpfungspotenz nicht nur dem Atem gleichgesetzt, sondern einer göttlichen Sphäre zugeordnet. Eine besondere Leistung ist es, wenn Parallelen zum biblischen Kontext gefunden und formuliert werden (Genesis und Hiob). Ebenso, wenn die Schülerinnen und Schüler die Überschrift in Beziehung zu der Formstruktur des Gedichts setzen können. Die Struktur der Wörter ist dauerhaft und erst durch die überlegte Anordnung und Entsprechung der Wörter gewinnt dieses Gedicht seine unverwechselbare Gestalt. Der Atem „findet“ in der dritten Strophe spiegelverkehrt zuerst zu den Zweigen, dann zu den Vogelkehlen (vgl. als Kontrast Strophe eins), inmitten stehen die Wolken als Verbindung zum Himmel, also zum Göttlichen. Ein Gedanke wäre auch, dass die Kunst lange braucht, um lange zu währen, dass sie einer Komposition bedarf, die Zeit und Überarbeitungen erfordert. Als zentraler Vergleichspunkt ist die Bedeutung und Wertung der Sprache zu thematisieren. Während bei Sahl die Angst um den Sprachverlust im Vordergrund steht, arbeitet Domin die Kraft und Macht der Sprache heraus. Sie gestaltet fast einen Hymnus auf die Sprache, die ihre Wirkung selbst unter ungünstigen Bedingungen wie denen des Exils behaupten und entfalten kann.

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Aufgabe V Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte (auch mit gestalterischer Teilaufgabe) Schwerpunkt: Analyse Thema: Iris Radisch, Zeichen und Wunder – Gute Bücher bilden nicht nur Herz und Verstand: Sie machen auch glücklich in: Die Zeit, Nr. 51, 11. Dezember 2003 Hinweise zur Aufgabenstellung Das Thema Lesen ist von individueller und gesellschaftlicher Bedeutung, zu dem auch Schülerinnen und Schüler durch eigene Erfahrung Zugang haben. Das „Wunder“ des Lesens (Z. 7) provoziert zur Auseinandersetzung, weil die Autorin engagiert dafür eintritt – mit vielen Seitenhieben auf gesellschaftliche Erfahrungen und die Medienwirklichkeit von heute. Die rhetorische Gestaltung des Artikels erlaubt eine funktionale Sprachanalyse. Diskussionsaufgabe und Leserbrief ermöglichen eine individuelle und zugleich differenzierte Stellungnahme, die aber auf den Vorlagentext bezogen bleiben muss. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Das Diskussionsthema enthält schon die Hauptthese, von der man ausgehen kann: „Gute Bücher erklären und öffnen uns die Welt, wie niemand sonst es vermag“ (Z. 46). Die Autorin expliziert diese These im Abschnitt davor (Z. 35ff) und danach (Z. 46ff). Die spezifische Leistung des Lesens besteht demnach darin, möglichst viele Sinne des Lesers anzusprechen, zu bilden und zu verfeinern. Explizit nennt sie den „Möglichkeits-, Gehör-, Geschmacks-„ (Z. 47) und den Denk- oder Erkenntnissinn (Z. 49 und 52). Damit umreißt die Autorin gleichzeitig den aufgeklärten Bürger: Er verfügt über Phantasie (Literatur beflügelt diese als „echte Wirklichkeit“, als „Gegenwirklichkeit“ oder „eigentliche Wirklichkeit“ – vgl. Z. 38ff), ein gutes Gehör und einen guten Geschmack. Er kann Dinge und Sachverhalte durchdenken und „die Welt erkennen“ (Z. 51f). Kennzeichnend für ihn ist auch das Interesse an allgemeiner und historischer Bildung (vgl. Z. 44f und Z. 43f). Solche Bildung nennt die Autorin am Ende emphatisch „ein großes Glück“ (Z. 53). Dagegen entwickelt die Autorin – kontrastierend und provozierend – die Wirklichkeit, wie sie sie wahrnimmt. „Alle Zeiger“ der gesellschaftlichen Betriebsamkeit seien „auf Geld gestellt“ (Z. 52), das Fernsehen verderbe Kinder (Z. 21), biete ein „elendes Nacht-programm“ (Z. 45), werfe die Kultur auf den Müll (Z. 24). Die Medien insgesamt seien „banal“ und „konventionell“ (Z. 48), „phrasenhaft“, „sprachdebil“ (Z. 50) und „plapperten Lebenswirklichkeiten“ (Z. 37) nur nach. Vernichtender könnte das Urteil kaum ausfallen, zumal der Befund über die Medien hinaus verallgemeinert wird, also auch für Menschen gilt, die sich in öffentlicher Verantwortung so äußern, geben und entscheiden.

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Was die Struktur des Artikels betrifft, beginnt die Autorin mit einem religiösen Beispiel aus der Kirchengeschichte (Erweckung des Augustinus zum Lesen), was sicher ironisch gemeint ist, um als These das Lesen als „weltumstürzendes Wunder“ einzuordnen. Dialektisch – in Form eines Frage- und Antwortspiels – treibt die Autorin dann ihre Gedanken weiter, wobei sie Geschichte und Gegenwart der Lesekultur beleuchtet und bilanziert. Ihr Fazit dabei ist sehr kritisch. Die Lesekompetenz sinke immer weiter (vgl. Z. 26) und führe damit zu einem Defizit oder gar Verfall der Fähigkeiten, die das Lesen befördere und unterstütze. Bevor die Autorin ihre Sicht des Lesens preisgibt, stellt sie nicht ganz ernst gemeinte Fragen nach der Lesemotivation (vgl. Z. 30ff). Sie beendet ihren Artikel mit dem Appell, der schon das Wunder des Augustinus ausgelöst haben soll: „Nimm und lies!“ Sprachlich konstitutiv sind die rhetorischen Fragen (Z. 14f, 30-34) sowie die provokanten Begriffe (Eltern als „Kinderverderber“ – Z. 22f; „Wegwerfbücher“ – Z. 25; „Kürzesttexte“ – Z. 28) oder die bild- bzw. thesenhafte Zuspitzung ihrer Angriffe in polemischer Absicht („Panzer aus Konvention und Banalität“ – Z. 48; „Phrasen eines sprachdebilen Medienkapitalismus“ – Z. 50). 2. Arbeitsanweisung (2a) Der aufgeklärte und gebildete Bürger (vgl. Ausführungen zur 1. Arbeitsanweisung), der sich lesend als solcher entwickelt hat, könnte Kristallisationspunkt sein, um eigene Erfahrungen verifizierend einzubringen und zu erläutern. Konkret bieten sich Beispiele aus der eigenen Lektüreerfahrung an, die bestimmte Fähigkeiten gefördert haben. Darüber hinaus können auch eigene positive Wirkungen des Lesens einbezogen und beschrieben werden. Wichtig ist gleichzeitig, das Bücherlesen von dem Gebrauch anderer wichtiger Medien (Fernsehen, Radio, Zeitungen und Zeitschriften) zu unterscheiden und abzugrenzen. Nur so kann die spezifische Wirkung des Lesens untermauert werden. Dass dies nur beispielhaft geschehen kann, versteht sich von selbst. Die Grenzen bei der Rezeption fiktionaler Texte sollten klar markiert werden. Wer nur liest, ohne sich den Auseinandersetzungen und Fragen der Mitmenschen zu stellen, wird von Literatur nicht wirklich profitieren. Auch Literatur bedarf des lebendigen Austausches mit anderen Menschen, um Erfahrungen und Sichtweisen abzugleichen. Literatur kann nicht die eigene Welterfahrung ersetzen, aber sie kann sie sinnvoll ergänzen und wesentlich bereichern. Entscheidend ist also der Problemhorizont sowie die Ergiebigkeit der Beispiele, die Schlüssigkeit und Differenziertheit der Argumentation.

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2. Arbeitsanweisung (2b) Die Textsorte „Leserbrief“ ist dadurch gekennzeichnet, dass sie subjektiv sein kann und keine abwägende Gegenüberstellung von pro und contra verlangt. Für die sprachliche Gestaltung gilt das nicht, denn auch Leserbriefe erreichen wie die Zeitung weite Leserkreise, die einen bestimmten Sprach-Standard erwarten und gewöhnt sind. Allerdings kann mit einer bestimmten Adressatengruppe auch der Sprachstil eines Mediums variieren. Aufhänger oder Anlass des Leserbriefes können die Attacken der Autorin gegen Gesellschaft und Medien sein, wenn man sie übertrieben findet oder nicht teilt. Man kann der Autorin auch in einer zentralen These zustimmen, indem man ein eigenes markantes Beispiel aus der Literatur als Untermauerung entfaltet und kommentiert. In beiden Fällen sollte die Sonderrolle der Literatur thematisiert werden. Auch könnte nach gesellschaftlichen Gruppen oder Institutionen gefragt werden (Familie, Schule), die die Leseförderung stützen oder eher behindern. Als besondere Leistung ist zu werten, wenn die Autorin/der Verfasser des Leserbriefes sich kompetent mit dem „Glück“ des Lesens auseinandersetzt und fragt, ob die private Erfüllung durch ein gutes Buch auch gesellschaftlich und wirtschaftlich von Bedeutung ist. Leben wir in einer Welt, die Allgemeinbildung im umfassenden Sinn wirklich honoriert oder eher Spezialkenntnisse, so dass der Bewerber vor allem im Räderwerk eines Unternehmens funktionieren muss? Als Kriterien der Bewertung sind zusammenfassend neben dem Textbezug die inhaltliche Differenziertheit der Ausführungen sowie eine angemessene sprachliche Gestaltung zu nennen.