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Abitur 2007 – Deutsch Haupttermin 1 Aufgabe I Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext) Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe (Erster Akt, 4. Szene) Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest 05 10 15 20 25 30 35 Vierte Szene FERDINAND VON WALTER. LUISE. Er fliegt auf sie zu – sie sinkt entfärbt und matt auf einen Sessel – er bleibt vor ihr stehn – sie sehen sich eine Zeitlang stillschweigend an. Pause. FERDINAND. Du bist blass, Luise? LUISE (steht auf und fällt ihm um den Hals). Es ist nichts. Nichts. Du bist ja da. Es ist vorüber. FERDINAND (ihre Hand nehmend und zum Munde führend). Und liebt mich meine Luise noch? Mein Herz ist das gestrige, ist’s auch das deine noch? Ich fliege nur her, will sehn ob du heiter bist, und gehn und es auch sein – Du bist’s nicht. LUISE. Doch, doch, mein Geliebter. FERDINAND. Rede mir Wahrheit. Du bist’s nicht. Ich schaue durch deine Seele, wie durch das klare Wasser dieses Brillanten. (Er zeigt auf seinen Ring.) Hier wirft sich kein Bläschen auf, das ich nicht merkte – kein Gedanke tritt in dies Angesicht, der mir entwischte. Was hast du? Geschwind! Weiß ich nur diesen Spiegel helle, so läuft keine Wolke über die Welt. Was bekümmert dich? LUISE (sieht ihn eine Weile stumm und bedeutend an, dann mit Wehmut). Ferdinand! Ferdinand! Dass du doch wüsstest, wie schön in dieser Sprache das bürgerliche Mädchen sich ausnimmt – FERDINAND. Was ist das? (Befremdet.) Mädchen! Höre! Wie kommst du auf das? – Du bist meine Luise. Wer sagt dir, dass du noch etwas sein solltest? Siehst du, Falsche, auf welchem Kaltsinn ich dir begegnen muss. Wärest du ganz nur Liebe für mich, wann hättest du Zeit gehabt, eine Vergleichung zu machen? Wenn ich bei dir bin, zerschmilzt meine Vernunft in einen Blick – in einen Traum von dir, wenn ich weg bin, und du hast noch eine Klugheit neben deiner Liebe? – Schäme dich! Jeder Augenblick, den du an diesen Kummer verlorst, war deinem Jüngling gestohlen. LUISE (fasst seine Hand, indem sie den Kopf schüttelt). Du willst mich einschläfern, Ferdinand – willst meine Augen von diesem Abgrund hinweglocken, in den ich ganz gewiss stürzen muss. Ich seh in die Zukunft – die Stimme des Ruhms – deine Entwürfe – dein Vater – mein Nichts. (Erschrickt, und lässt plötzlich seine Hand fahren.) Ferdinand! ein Dolch über dir und mir! – Man trennt uns!

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Abitur 2007 – Deutsch Haupttermin

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Aufgabe I

Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext)

Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe (Erster Akt, 4. Szene) Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest

05 10 15 20 25 30 35

Vierte Szene

FERDINAND VON WALTER. LUISE.

Er fliegt auf sie zu – sie sinkt entfärbt und matt auf einen Sessel – er bleibt vor ihr stehn – sie sehen sich eine Zeitlang stillschweigend an.

Pause. FERDINAND. Du bist blass, Luise? LUISE (steht auf und fällt ihm um den Hals). Es ist nichts. Nichts. Du bist

ja da. Es ist vorüber. FERDINAND (ihre Hand nehmend und zum Munde führend).

Und liebt mich meine Luise noch? Mein Herz ist das gestrige, ist’s auch das deine noch? Ich fliege nur her, will sehn ob du heiter bist, und gehn und es auch sein – Du bist’s nicht.

LUISE. Doch, doch, mein Geliebter. FERDINAND. Rede mir Wahrheit. Du bist’s nicht. Ich schaue durch

deine Seele, wie durch das klare Wasser dieses Brillanten. (Er zeigt auf seinen Ring.) Hier wirft sich kein Bläschen auf, das ich nicht merkte – kein Gedanke tritt in dies Angesicht, der mir entwischte. Was hast du? Geschwind! Weiß ich nur diesen Spiegel helle, so läuft keine Wolke über die Welt. Was bekümmert dich?

LUISE (sieht ihn eine Weile stumm und bedeutend an, dann mit Wehmut). Ferdinand! Ferdinand! Dass du doch wüsstest, wie schön in dieser Sprache das bürgerliche Mädchen sich ausnimmt –

FERDINAND. Was ist das? (Befremdet.) Mädchen! Höre! Wie kommst du auf das? – Du bist meine Luise. Wer sagt dir, dass du noch etwas sein solltest? Siehst du, Falsche, auf welchem Kaltsinn ich dir begegnen muss. Wärest du ganz nur Liebe für mich, wann hättest du Zeit gehabt, eine Vergleichung zu machen? Wenn ich bei dir bin, zerschmilzt meine Vernunft in einen Blick – in einen Traum von dir, wenn ich weg bin, und du hast noch eine Klugheit neben deiner Liebe? – Schäme dich! Jeder Augenblick, den du an diesen Kummer verlorst, war deinem Jüngling gestohlen.

LUISE (fasst seine Hand, indem sie den Kopf schüttelt). Du willst mich einschläfern, Ferdinand – willst meine Augen von diesem Abgrund hinweglocken, in den ich ganz gewiss stürzen muss. Ich seh in die Zukunft – die Stimme des Ruhms – deine Entwürfe – dein Vater – mein Nichts. (Erschrickt, und lässt plötzlich seine Hand fahren.) Ferdinand! ein Dolch über dir und mir! – Man trennt uns!

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FERDINAND. Trennt uns! (Er springt auf.) Woher bringst du diese Ahndung, Luise? Trennt uns? – Wer kann den Bund zwoer Herzen lösen, oder die Töne eines Akkords auseinander reißen? – Ich bin ein Edelmann – Lass doch sehen, ob mein Adelbrief älter ist, als der Riss zum unendlichen Weltall? oder mein Wappen gültiger als die Handschrift des Himmels in Luisens Augen: Dieses Weib ist für diesen Mann? – Ich bin des Präsidenten Sohn. Eben darum. Wer, als die Liebe, kann mir die Flüche versüßen, die mir der Landeswucher meines Vaters vermachen wird?

LUISE. O wie sehr fürcht ich ihn – diesen Vater! FERDINAND. Ich fürchte nichts – nichts – als die Grenzen deiner Liebe.

Lass auch Hindernisse wie Gebürge zwischen uns treten, ich will sie für Treppen nehmen und darüber hin in Luisens Arme fliegen. Die Stürme des widrigen Schicksals sollen meine Empfindung emporblasen, G e f a h r e n werden meine Luise nur reizender machen. – Also nichts mehr von Furcht, meine Liebe. Ich selbst – ich will über dir wachen wie der Zauberdrach über unterirdischem Golde – M i r vertraue dich. Du brauchst keinen Engel mehr – Ich will mich zwischen dich und das Schicksal werfen – empfangen für dich jede Wunde – auffassen für dich jeden Tropfen aus dem Becher der Freude – dir ihn bringen in der Schale der Liebe. (Sie zärtlich umfassend.) An diesem Arm soll meine Luise durchs Leben hüpfen, schöner als er dich von sich ließ, soll der Himmel dich wiederhaben, und mit Verwunderung eingestehn, dass nur die Liebe die letzte Hand an die Seelen legte –

LUISE (drückt ihn von sich, in großer Bewegung). Nichts mehr! Ich bitte dich, schweig! – Wüsstest du – Lass mich – du weißt nicht, dass deine Hoffnungen mein Herz, wie Furien, anfallen. (Will fort.)

FERDINAND (hält sie auf). Luise? Wie! Was! Welche Anwandlung? LUISE. Ich hatte diese Träume v e r g e s s e n und war glücklich – Jetzt!

Jetzt! V o n h e u t an – der Friede meines Lebens ist aus – Wilde Wünsche – ich weiß es – werden in meinem Busen rasen. – Geh – Gott vergebe dir’s – Du hast den Feuerbrand in mein junges friedsames Herz geworfen, und er wird nimmer, nimmer gelöscht werden. (Sie stürzt hinaus. Er folgt ihr sprachlos nach.)

(Friedrich Schiller: Kabale und Liebe. Stuttgart 2001, S. 15-17) Aufgabenstellung: • Skizzieren Sie die Bedeutung dieser Szene für die Exposition des Dramas. • Interpretieren Sie diese Textstelle; beziehen Sie die sprachliche und szenische

Gestaltung ein. • Schillers „Kabale und Liebe“ und Fontanes „Effi Briest“: Untersuchen Sie in einer vergleichenden Betrachtung die Bedeutung der „Liebe“ für

Luise und Ferdinand sowie für Effi und Innstetten. Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung. Dabei werden die zweite und dritte Teilaufgabe etwa gleichwertig gewichtet.

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Aufgabe II

Gestaltende Interpretation Thema: Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest Kapitel 35 (Auszug)

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»Gnäd’ger Herr! Sie werden sich wohl am Ende wundern, dass ich Ihnen schreibe, aber es ist wegen Rollo. Anniechen hat uns schon voriges Jahr gesagt: Rollo wäre jetzt so faul; aber das tut hier nichts, er kann hier so faul sein wie er will, je fauler je besser. Und die gnäd’ge Frau möchte es doch so gern. Sie sagt immer, wenn sie ins Luch oder über Feld geht: >Ich fürchte mich eigentlich, Roswitha, weil ich da so allein bin; aber wer soll mich begleiten? Rollo, ja, das ginge; der ist mir auch nicht gram. Das ist der Vorteil, dass sich die Tiere nicht so drum kümmern.< Das sind die Worte der gnäd’gen Frau, und weiter will ich nichts sagen, und den gnäd’gen Herrn bloß noch bitten, mein Anniechen zu grüßen. Und auch die Johanna. Von Ihrer treu ergebensten Dienerin Roswitha Gellenhagen.« »Ja«, sagte Wüllersdorf, als er das Papier wieder zusammenfaltete, »die ist uns über.« »Finde ich auch.« »Und das ist auch der Grund, dass Ihnen alles andere so fraglich erscheint.« »Sie treffen’s. Es geht mir schon lange durch den Kopf, und diese schlichten Worte mit ihrer gewollten oder vielleicht auch nicht gewollten Anklage haben mich wieder vollends aus dem Häuschen gebracht. Es quält mich seit Jahr und Tag schon, und ich möchte aus dieser ganzen Geschichte heraus; nichts gefällt mir mehr; je mehr man mich auszeichnet, je mehr fühle ich, dass dies alles nichts ist. Mein Leben ist verpfuscht, und so hab ich mir im stillen ausgedacht, ich müsste mit all den Strebungen und Eitelkeiten überhaupt nichts mehr zu tun haben und mein Schulmeistertum, was ja wohl mein Eigentlichstes ist, als ein höherer Sittendirektor verwenden können. Es hat ja dergleichen gegeben. Ich müsste also, wenn’s ginge, solche schrecklich berühmte Figur werden, wie beispielsweise der Doktor Wichern im Rauhen Hause zu Hamburg gewesen ist, dieser Mirakelmensch, der alle Verbrecher mit seinem Blick und seiner Frömmigkeit bändigte...« »Hm, dagegen ist nichts zu sagen; das würde gehen.« »Nein, es geht auch nicht. Auch das nicht mal. Mir ist eben alles verschlossen. Wie soll ich einen Totschläger an seiner Seele packen? Dazu muss man selber intakt sein. Und wenn man’s nicht mehr ist und selber so was an den Fingerspitzen hat, dann muss man wenigstens vor seinen zu bekehrenden Confratres den wahnsinnigen Büßer spielen und eine Riesenzerknirschung zum Besten geben können.« Wüllersdorf nickte. »... Nun sehen Sie, Sie nicken. Aber das alles kann ich nicht mehr. Den Mann im Büßerhemd bring ich nicht mehr heraus, und den Derwisch oder Fakir, der unter Selbstanklagen sich zu Tode tanzt, erst recht nicht. Und da hab ich mir denn, weil das alles nicht geht, als ein Bestes herausgeklügelt: weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen! Denn gerade das, dieser ganze

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Krimskrams ist doch an allem schuld. Aus Passion, was am Ende gehen möchte, tut man dergleichen nicht. Also bloßen Vorstellungen zuliebe ... Vorstellungen! ... Und da klappt denn einer zusammen, und man klappt selber nach. Bloß noch schlimmer.« »Ach was, Innstetten, das sind Launen, Einfälle. Quer durch Afrika, was soll das heißen? Das ist für 'nen Leutnant, der Schulden hat. Aber ein Mann wie Sie! Wollen Sie mit einem roten Fez einem Palaver präsidieren oder mit einem Schwiegersohn von König Mtesa Blutfreundschaft schließen? Oder wollen Sie sich in einem Tropenhelm, mit sechs Löchern oben, am Kongo entlangtasten, bis Sie bei Kamerun oder da herum wieder herauskommen? Unmöglich!« »Unmöglich? Warum? Und wenn unmöglich, was dann?« »Einfach hierbleiben und Resignation üben. Wer ist denn unbedrückt? Wer sagte nicht jeden Tag: >Eigentlich eine sehr fragwürdige Geschichte.< Sie wissen, ich habe auch mein Päckchen zu tragen, nicht gerade das Ihrige, aber nicht viel leichter. Es ist Torheit mit dem im Urwald-Umherkriechen oder in einem Termitenhügel nächtigen; wer’s mag, der mag es, aber für unserein ist es nichts. In der Bresche stehen und aushalten, bis man fällt, das ist das Beste. Vorher aber im Kleinen und Kleinsten soviel herausschlagen wie möglich und ein Auge dafür haben, wenn die Veilchen blühen oder das Luisendenkmal in Blumen steht oder die kleinen Mädchen mit hohen Schnürstiefeln über die Korde springen. Oder auch wohl nach Potsdam fahren und in die Friedenskirche gehen, wo Kaiser Friedrich liegt, und wo sie jetzt eben anfangen, ihm ein Grabhaus zu bauen. Und wenn Sie da stehen, dann überlegen Sie sich das Leben von dem, und wenn Sie dann nicht beruhigt sind, dann ist Ihnen freilich nicht zu helfen.«

(Theodor Fontane: Effi Briest. Stuttgart 2002, S. 322-325) Aufgabenstellung: • Erläutern Sie kurz die Situation, in der das Gespräch zwischen Innstetten und Wüllersdorf stattfindet, und skizzieren Sie die Ansichten, die beide hier vertreten. • Gehen Sie von folgender Annahme aus: Das Gespräch mit Wüllersdorf veranlasst Innstetten, über sein Leben und seine Ehe nachzudenken. Gestalten Sie einen inneren Monolog. Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung. Der Schwerpunkt liegt auf der gestaltenden Interpretationsaufgabe.

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Aufgabe III

Literarische Erörterung Thema:

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„Literatur ist in meinem Verständnis eine Simulationstechnik. Der Begriff ist in letzter Zeit populär geworden durch die Raumfahrt, deren vollkommen neuartige Situationen, der praktischen Erfahrung vorauslaufend, zunächst künstlich erzeugt und durchgespielt werden. [...] Das ist, wie mir scheint, eine einleuchtende Analogie zur Literatur. Auch sie ist ein der Lebenspraxis beigeordneter Simulationsraum, Spielfeld für ein fiktives Handeln, in dem man als Autor und als Leser die Grenzen seiner praktischen Erfahrungen und Routinen überschreitet, ohne ein wirkliches Risiko dabei einzugehen. [...] Die Simulationstechnik der Literatur erlaubt es ihm [dem Leser], fremde Verhaltens- und Denkweisen in seinen Erfahrungsspielraum mit einzubeziehen, also weniger borniert zu sein, und in bezug auf den gesellschaftlichen Zusammenhang weniger normenkonform.“

Dieter Wellershoff: Literatur als Simulationstechnik (Auszug), in: Ders., Literatur und Veränderung, München 1971, S. 18f. Aufgabenstellung: Erörtern Sie anhand Ihrer Leseerfahrung, inwieweit Sie Wellershoffs Verständnis von Literatur teilen.

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Aufgabe IV

Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich Thema: Erich Fried (1921-1988), Nacht in London (1946) Sarah Kirsch (*1935), Reisezehrung (1982)

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Nacht in London Die Hände vor das Gesicht halten und die Augen nicht mehr aufmachen nur eine Landschaft sehen Berge und Bach und auf der Wiese zwei Tiere braun am hellgrünen Hang hinauf zum dunkleren Wald Und das gemähte Gras zu riechen beginnen und oben über den Fichten in langsamen Kreisen ein Vogel klein und schwarz gegen das Himmelblau Und alles ganz still und so schön dass man weiß dieses Leben lohnt sich weil man glauben kann dass es das wirklich gibt

(Erich Fried: Gesammelte Werke. Gedichte 3. Berlin 1993, S. 75f.)

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Reisezehrung Ich musste eine Menge Zaubersprüche lernen Mit großer Kühnheit im preußischen Wald Pentagramme kritzeln das kleine Land Bei Nacht und Nebel verlassen die Könige auch Und wieder frei sein. Die grauen Feldjäger die fleißigen Flurhüter Hatten das Nachsehn. So halten sie mir Heute und morgen den Schlagbaum geschlossen. Ich gedenke nicht am Heimweh zu sterben. Unauslöschlich hab ich die Bilder im Kopf Die hellen die dunklen. Ich kann in Palermo sitzen Und doch durch Mecklenburgs Felder gehen Auf gelben Stoppeln schwenkt mir der Bauer den Hut. Die Schwalben stürzen und steigen vorm Fenster Vertraute Schatten, sie finden mich Wo ich auch bin und ohne Verzweiflung.

(Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. München 2005, S. 218) Erklärung: „Pentagramme“ (V. 3): Das Pentagramm (griech.: pentágrammos) ist ein fünfzackiger Stern. Im Volksglauben gilt das Pentagramm als magisches Zeichen, z.B. gegen Hexereien. Aufgabenstellung: Interpretieren und vergleichen Sie die beiden Gedichte.

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Aufgabe V Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte (auch mit gestalterischer Teilaufgabe) Schwerpunkt: Erörterung

Thema: Asfa-Wossen Asserate: Die Ehre (Auszug) In: Ders., Manieren, Frankfurt/Main 2005, S. 32ff. Wenn man die Person betrachtet, die Manieren hat und auf die sich alle Betrachtungen über die Manieren notwendig beziehen müssen, kommt man nicht darum herum, auf den einen Begriff einzugehen, der unserer gesellschaftlichen Realität wohl am allerfernsten liegt: die Ehre. Die Ehre scheint endgültig untergegangenen Zeiten anzugehören. Vielleicht ist im Begriff der Ehre am allermeisten von dem enthalten, was uns von der 5 Vergangenheit trennt. Das würde mancher zwar abstreiten. Ist nicht auch heute noch in Verleumdungsprozessen etwa von der Ehre des Klägers die Rede? Wenn in einem modernen Strafverfahren jedoch einmal die Ehre einer Person ins Spiel gerät, kann man sicher sein, dass es sich nicht um das Institut handelt, das der alteuropäische Ehrenbegriff meinte. Eine Ehre, deren Rechte ein Gericht unter Abwägung anderer Rechtsgüter dem 10 »Ehreninhaber« zugesteht, eingrenzt, für betroffen oder nicht betroffen erklären kann, hat mit dem Begriff der Ehre, der tausend Jahre lang die europäische Welt beherrschte, nichts zu tun. Die Ehre entstammt einer Zeit, in der Kollektive, auch Stände genannt, viel galten, die Zentralgewalt aber wenig. Sie war Ausdruck einer der zahlreichen Paradoxien der ständisch gegliederten Welt: auf der einen Seite fordert sie vom einzelnen Unterordnung 15 und Gehorsam, auf der anderen gebot sie, daß jeder seine Ehre höchstpersönlich mit allen Mitteln zu schützen habe, auch wenn er sich dadurch mit allen Mächten und Gesetzen anlegen mußte und schließlich den kürzeren zog und unterlag. Der alte Begriff der Ehre pflanzte den Samen der Anarchie in die gesellschaftliche und staatliche Ordnung. Lange Zeit war das Duell streng verboten, wer aber nach einer Ehrverletzung der 20 Duellforderung auswich, hatte, als Soldat etwa, eine Entlassung in Unehren zu befürchten. [...] Die Ehre war der Ausdruck des Glaubens, daß nicht alle Fragen des menschlichen Zusammenlebens staatlich, gesetzlich und gesellschaftlich zu lösen sind. Sie forderte vom einzelnen eine Kampfbereitschaft, die den eigenen Untergang einschloß. Die Ehre führte 25 zu gräßlichen Katastrophen: Väter verstießen oder töteten gar ihre Töchter, Familien führten blutige Kriege gegeneinander, bis sie sich vollständig ausgelöscht hatten. Familienväter schossen sich gegenseitig im Duell tot oder töteten sich selbst, um der Schande zu entgehen. Die Literatur hat sich vielfach, zwischen Michael Kohlhaas und Effi Briest, solcher Verbrechen »aus verlorener Ehre« angenommen. Wer das Unglück, das 30 aus dem alten Ehrbegriff stammte, in Betracht zieht, wird dem Erlöschen dieses alteuropäischen Ehrgefühls schwerlich nachtrauern können. Und doch muß ich bekennen, daß ich mich an die eigentümliche Zahmheit des gesellschaftlichen Lebens in Europa erst gewöhnen mußte, als ich aus Afrika hierher kam. Der äthiopische Kaiser führte, wie man gerade auch in Deutschland allgemein wußte, den 35 Titel »Negus Negest« - das heißt »König der Könige«, und mit diesen Königen waren die Stammeskönigreiche gemeint, die zusammen das äthiopische Kaiserreich bildeten, aber auch in einem anderen Sinn paßte dieser Titel nicht schlecht: auch als Herrscher über den

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Vielvölkerstaat war der Kaiser ein »König der Könige«, weil jeder Untertan, und sei es der ärmste Bauer, sich mit seiner rostigen Flinte in der Hand als König fühlte, als souveräne 40 letzte Instanz in allen Fragen seiner Person und seiner Familie. Man mag es für absurd halten, wenn ein solcher Mann sich unter der Herrschaft eines absoluten Monarchen für frei hielt, aber ich schwöre, daß er das tat. Und ich bin mir nicht so sicher, ob sich der durchschnittliche Europäer mit seinem Wohlstand und seiner Freizügigkeit in seinem tiefsten Innern wirklich genauso frei fühlt, oder ob er sich nicht vielmehr mit tausend Fäden 45 in die gesichtslose gesellschaftliche Maschinerie eingebunden sieht. Die Frage der Ehre jedenfalls hat sich für den Europäer erledigt, Wer gekränkt und verletzt, wer beleidigt und gemobbt wird, muß, sofern diese Verfolgungen so intelligent angelegt sind, daß kein Gesetz verletzt wird, seinen Groll herunterschlucken. Die Unmöglichkeit, die Verletzung der eigenen Ehre zu rächen, schafft übrigens auch die Unmöglichkeit, aus vollem Herzen 50 zu verzeihen. Wird aus dieser Disposition nun ein edlerer Menschentypus entstehen als der ehrenstolze und ehrenverrückte Duellant und Totschläger der Vergangenheit? Diese Frage ist so lange unerheblich, als die Strahlkraft des Begriffs noch nicht vollends erloschen ist, und ich meine, hier, bei manchen Menschen jedenfalls, immer noch eine gewisse Wärme und Faszination zu spüren. Was die alte Ehre auszeichnete, ist in 55 abstracto auch heute noch nachvollziehbar: das starke Bewußtsein, unter einem eigenen, für niemanden als einen selbst geltenden Gesetz zu stehen, für dessen Einhaltung man ganz allein verantwortlich ist. [...] Angaben zum Verfasser: Der Autor ist ein Prinz aus dem äthiopischen Kaiserhaus. Er wurde 1948 in Addis Abeba geboren, nach der äthiopischen Revolution von 1974 ließ er sich in Deutschland nieder. Er hat in Tübingen und Cambridge Jura und Geschichte studiert und in Frankfurt am Main promoviert. Aufgabenstellung: • Arbeiten Sie die Kernaussagen des Textes heraus. Wählen Sie eine der folgenden beiden Arbeitsanweisungen: • Setzen Sie sich mit den Auffassungen des Autors auseinander; klären Sie dabei die Bedeutung der „Ehre“ für verschiedene Bereiche unserer heutigen Gesellschaft. oder • Gehen Sie von folgender Annahme aus: Sie sind Teilnehmer/Teilnehmerin eines interkulturellen Diskussionsforums zu Werten unserer Gesellschaft und haben die Aufgaben, in einer Rede zu den Aus- führungen des Autors Stellung zu nehmen. Verfassen Sie diese Rede. Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung. Der Schwerpunkt liegt auf der zweiten Teilaufgabe.

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Abitur 2007 – Deutsch Haupttermin – Lösungshinweise

Bearbeitet von Winfried Bös

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Für alle Erwartungshorizonte gelten folgende Hinweise: Die Lösungshinweise stellen nur eine mögliche Aufgabenlösung dar. Andere Lösungsmöglichkeiten sind zuzulassen, wenn sie der Aufgabenstellung entsprechen und sachlich richtig sind. Der Erstkorrektor kann in diesem Fall für den Zweitkorrektor eine Begründung beigeben (anonym und auf einem besonderen Blatt). Die in den Korrekturrichtlinien zur schriftlichen Abiturprüfung im Fach Deutsch genannten allgemeinen Kriterien und die angegebene Bewertungsskala sind Grundlage der Bewertung. Maßgeblich für die Beurteilung ist das Ganze der erbrachten Leistung. Dabei sind neben inhaltlichen Aspekten Angemessenheit des Ausdrucks, korrekte Anwendung der Fachterminologie und sprachliche Richtigkeit – einschließlich Interpunktion und Orthografie – von Bedeutung. Schwerwiegende Verstöße gegen Ausdruck und sprachliche Richtigkeit führen zu einem Abzug von Notenpunkten. Aufgabe I Interpretationsaufsatz mit übergreifender Teilaufgabe zu einer Pflichtlektüre (Werk im Kontext) Thema: Friedrich Schiller (1759 – 1805), Kabale und Liebe (Erster Akt, 4. Szene) Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest Für die Aufgabe I gilt zusätzlich: Maßgeblich für die Beurteilung des Aufsatzes ist das Ganze der erbrachten Leistung. Dabei werden die zweite und dritte Teilaufgabe etwa gleichwertig gewichtet. Die Formanalyse (zweite Teilaufgabe) verlangt nicht Vollständigkeit, wohl aber die Fähigkeit zu funktionaler Deutung. Hinweise zur Aufgabenstellung Im Mittelpunkt der ausgewählten Textstelle steht die Beziehung zwischen Ferdinand von Walter und Luise Miller. Thema der dreiteiligen Aufgabenstellung ist die divergierende Vorstellung von Liebe. Die Aufgabe beginnt mir einer kompositorischen Analyse der vorgegebenen Szene, gefolgt von der Textinterpretation und endet mit einer aspektbezogenen vergleichenden Betrachtung.

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Abitur 2007 – Deutsch Haupttermin – Lösungshinweise

Bearbeitet von Winfried Bös

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Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung In der vierten Szene begegnen sich Luise und Ferdinand zum ersten Mal. Vorbereitet wird das Treffen in den ersten drei Szenen aus der Perspektive der kleinbürgerlichen Welt des Musikers Miller. Aus der Sicht von Vater und Tochter erscheint die Liebesbeziehung konfliktreich und problematisch. Spiegelbildlich sind dann die Vorbehalte der adligen Welt (Szenen I, 5-7) angeordnet. Die Liebe zwischen Luise und Ferdinand muss sich also im Spannungsfeld bürgerlicher und adliger Konventionen behaupten; gleichwohl spielen auch charakterliche Dispositionen eine bedeutende Rolle: Luise ist eher ängstlich, furchtsam und pessimistisch gestimmt, während Ferdinand sich in der Tradition der Edelleute zum „Zauberdrachen“ aufschwingt (Z. 55), dem alle Hindernisse gegen ihre Liebe nichts anhaben können. So ist ein tragisches Scheitern der Liebesbeziehung eher wahrscheinlich als ein glückliches Ende. 2. Arbeitsanweisung Die Begegnung der beiden Liebenden ist hoch emotional und gleichzeitig kontrastiv, sofern Ferdinand ganz in der Beziehung aufgeht und die Begegnung dominiert, während sich Luise - geprägt von Zukunftsängsten - eher von ihm zu distanzieren sucht und kaum Gehör findet. Das Treffen beginnt als Versteckspiel, indem Luise ihre Bedenken und Sorgen zu verheimlichen trachtet, während Ferdinand eine glückliche und strahlende Geliebte erwartet. Die Dominanz Ferdinands zeigt sich darin, dass er das Gespräch lenkt („Rede mir Wahrheit.“ Z. 14) und Luises Einwürfe weitgehend zur Selbstdarstellung nutzt (vgl. die jeweiligen Gesprächsanteile). Er kaschiert seinen Herrschaftsanspruch metaphernreich („Ich schaue durch deine Seele, wie durch das klare Wasser dieses Brillanten.“, Z. 14f.), um echte Anteilnahme vorzuspiegeln („Was bekümmert dich?“). Statt Luises Kümmernisse ernst zu nehmen und sie reden zu lassen, konfrontiert er sie mit seinem Besitzanspruch („Du bist meine Luise. Wer sagt dir, dass du noch etwas sein solltest“, Z. 24f.). Er macht ihr sogar Vorwürfe, dass ihre Verstimmung auf mangelnder Liebe beruhe („Wärest du ganz nur Liebe für mich, wann hättest du Zeit gehabt, eine Vergleichung zu machen?“, Z. 26f.). Die Suggestionskraft von Ferdinands Auftreten schätzt Luise richtig ein („Du willst mich einschläfern, Ferdinand -…“; Z. 32f.). Während sie am Anfang ihre Blässe abstreitet und beteuert, es sei „nichts. Nichts.“ (Z. 7), gewinnt dieses Nichts in der Vision des Vaters von Ferdinand konkrete Gestalt: „- dein Vater – mein Nichts“ (Z. 35f.). Es ist die Angst vor den Vätern, die Luise von einem „Abgrund“ (Z. 33) und einem „Dolch“ (Z. 38) halluzinieren lässt. Sie hat ein Gespür für die Macht, die von den Vätern ausgeht. Sie behält damit recht, wie der weitere Verlauf des Dramas zeigt. Ferdinand kann auf diese Bedenken nicht eingehen, weil er sich selbst zum „Edelmann“ stilisiert und einen Helden aus sich macht, der in der Tradition der „Väter“ steht („Ich selbst - ich will über dir wachen.. Mir vertraue dich. Du brauchst keinen Engel mehr - Ich will mich

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Abitur 2007 – Deutsch Haupttermin – Lösungshinweise

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zwischen dich und das Schicksal werfen“, Z. 54ff.). Die fast blasphemisch anmutende Selbsterhebung steht in der Tradition des adligen Ritters, der keine Gefahren kennt, dem sich die Geliebte dann aber eben auch bedingungslos unterwerfen muss. Seine Sprache entlarvt seine Besitzansprüche („An diesem Arm soll meine Luise durchs Leben hüpfen“, Z. 59f.). Luise wird mit diesen Fantasien zur Marionette Ferdinands. Dieser instrumen-talisiert Luises Liebe für seinen Männlichkeitswahn („Wer, als die Liebe, kann mir die Flüche versüßen, die mir der Landeswucher meines Vaters vermachen wird?", Z. 45ff.). Das Problem, gesellschaftliche Repressalien zu überwinden als auch seinem Vater die Stirn bieten zu können, wischt er bekenntnishaft beiseite. Seine Gefühle für Luise macht er zum Maß aller Dinge („Wer kann den Bund zwoer Herzen lösen, oder die Töne eines Akkords auseinander reißen?“, Z. 40f.). Luise hat diesem Männlichkeitswahn nichts entgegenzusetzen. Anfangs versucht sie es, indem sie die Angst vor Ferdinands Vater thematisiert (vgl. Z. 35f.), aber Ferdinand benutzt diese nur, um seine Fähigkeiten wort- und metaphernreich unter Beweis zu stellen. Über die Distanz (vgl. die Regieanweisung - Z. 63) bleibt ihr am Ende nur die Flucht (vgl. Regieanweisung (Z. 72). Immerhin dokumentiert sie zum Schluss ihre seelische Not, weil sich ihre „Hoffnungen“ in „Furien“ verwandeln und sie den „Frieden (ihres) Lebens (und) Herz(ens)“ (Z. 68/70) durch „Wilde Wünsche“ (Z. 68f.) und „Feuerbrand“ (Z. 70) bedroht sieht. Ihre existenzielle Krise zeigt sich in den häufigen Satzunterbrechungen, markiert durch Gedankenstriche („die Stimme des Ruhms - deine Entwürfe - dein Vater - mein Nichts", Z. 35f.), Ellipsen („Wüsstest du“, Z. 64) und Ausrufen („O wie sehr fürcht ich ihn - diesen Vater“, Z. 48). Die Körpersprache (vgl. die Regieanweisungen: „fasst sein Hand, indem sie den Kopf schüttelt“, Z. 32f.) verrät, wie Luise sich bemüht, Ferdinand auf Distanz zu halten, auch um sich vor ihrer Verführbarkeit zu schützen („Erschrickt, und lässt plötzlich seine Hand fahren.“, Z. 37; „Will fort.“, Z. 65; „Sie stürzt hinaus.“, Z. 72). Ferdinand hingegen sucht immer wieder die Nähe Luises, um sie auch körperlich zu vereinnahmen („Er fliegt auf sie zu“ , Z. 3; „hält sie auf“, Z. 66; „Er folgt ihr sprachlos nach.“, Z. 72). Ferdinand bedient sich einer gefühlsbetonten Sprache, die Metaphern und Vergleiche („Tropfen aus dem Becher der Freude“, Z. 58; „Schale der Liebe“, Z. 59) heranzieht, um seine Liebe pathetisch zu überhöhen. Luise begreift dieses Verhalten als Teil von Ferdinands Verführungskunst (vgl. Z. 32f), der sie sich entziehen will. Dass Ferdinand Regie führt und damit Luise überrollt, lässt sich an seinen Fragen („Du bist blass, Luise?“, Z. 6; „… und du hast noch eine Klugheit neben deiner Liebe?“, Z. 29), seinen Ermahnungen („Schäme dich!“, Z. 29) und Aufforderungen („Rede mir Wahrheit.", Z. 14), ihm zu gehorchen, ablesen. Er fordert Luises Liebesbekenntnis ein, bedrängt sie mit Fragen und zwingt sie, sich permanent vor ihm zu rechtfertigen („Und liebt mich meine Luise noch?“, Z. 10; „Was hast du?“, Z. 17; „Was bekümmert dich?“, Z. 19). Das Motiv der Eifersucht wird hier grundgelegt. Ihr Zurückweichen, das auch auf die Gespräche mit ihrem Vater zurückgeht, deutet Ferdinand fälschlich als Mangel an Liebe. So stößt ihr Weitblick und die Fähigkeit, Gefahren richtig einzuschätzen, bei Ferdinand - in grenzenloser Selbstüberschätzung – auf taube Ohren.

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3. Arbeitsanweisung Ferdinands Liebe ist stark rollenspezifisch fixiert, insofern er sich auf die Tradition der Edelleute bezieht und gleichzeitig mit gesellschaftlichen Traditionen seines Vaters brechen will. Der Verzicht auf Privilegien scheint eher als Lippenbekenntnis eines unerfahrenen Draufgängers, der sich mit seiner Liebe zu einem bürgerlichen Mädchen vor allem selbst beweisen will. Im Vordergrund steht seine Egozentrik und Herrschsucht sowie eine daraus resultierende übersteigerte Eifersucht, die von Luise absolute Hingabe verlangt. Luises Liebe zu Ferdinand ist selbstlos und ohne Tendenzen zur Vereinnahmung. Sie kann ihre Liebe ohne Rücksicht auf familiäre und gesellschaftliche Gegebenheiten nicht denken. Kontrovers diskutiert werden kann, ob sie zu sehr von ihrem Vater abhängig ist und so ihrer Liebe von Anfang an keine Chance gibt oder ob ihr Realitätssinn sie davor bewahrt, in ein Abenteuer zu stürzen, das sie und ihre Liebe zerstört. Innstetten ist ein Karrieremensch, dem Aufstieg in der Ämterhierarchie und damit gesellschaftliche Anerkennung alles bedeuten. Seine Ehe und Liebe haben sich diesen Zielen unterzuordnen, wobei die Attraktivität und der jugendliche Charme Effis zur Repräsentation gut passen. Er denkt aber nicht daran, dass Abenteuerlust und Leiden-schaft seiner Frau auch Aktivität und Anstrengung seinerseits verlangen. Dass er am Ende sein eigenes und Effis Glück und Leben zerstört, zeigt, dass er das „Gesellschafts-Etwas“ (Kap. 27) über alles stellt. Sein Verhalten wirkt um so lebensfeindlicher, als er selbst Rachemotive gegen den Liebhaber seiner Frau ausschließt. Die sechzehnjährige Effi weiß eigentlich noch nicht, was Liebe ist. So kann sie kaum zwischen freundschaftlicher Sympathie, familiären Bindungen und der Liebe zwischen Mann und Frau unterscheiden (vgl. die Gespräche mit den Freundinnen - Kap. 3 - und ihrer Mutter - Kap. 4). Innstetten kann zwar Effis materielle Ansprüche und ihr Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung befriedigen, nicht aber ihre Sehnsucht nach Zärtlichkeit, Geborgenheit und Kommunikation. So stürzt sie sich in eine Affäre mit Crampas, den sie eigentlich gar nicht liebt. Der Umfang der Vergleichsaufgabe erlaubt eine Konzentration auf das Wesentliche. Eine detaillierte Textarbeit wird nicht erwartet, wohl aber eine Absicherung der zentralen Ergebnisse.

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Aufgabe II Gestaltende Interpretation Thema: Theodor Fontane (1819 – 1898), Effi Briest Kapitel 35 (Auszug) Hinweis: Bei der Gesamtbewertung ist die Gestaltungsaufgabe deutlich stärker zu gewichten. Hinweise zur Aufgabenstellung Thema der Textstelle ist das Krisenbewusstsein Innstettens am Ende des Romans. Aus ihm resultieren – im Gespräch mit Wüllersdorf – Gedankenspiele, wie seine Zukunft aussehen könnte. Die negative Bilanz seines Lebens sollte in dem Monolog in einen begründenden Zusammenhang gestellt werden, so dass klar wird, wie Innstetten dazu gelangt ist. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung In Roswithas Brief wird Innstetten mit der Gefühlswelt seiner von ihm verstoßenen Frau konfrontiert. Es ist ihre Angst, allein spazieren zu gehen, und indirekt die Bitte, ihr den Hund Rollo zu überlassen, weil er der einzige sei, der ihr nicht „gram“ (Z. 7) ist. Sowohl Wüllersdorf als auch Innstetten sind von den einfachen und doch authentischen Worten Roswithas angetan, so dass Innstetten den Brief „mit ihrer gewollten oder vielleicht auch nicht gewollten Anklage“ (Z. 17) aufgreift und thematisiert. Er gesteht ein „verpfuschtes Leben“ (Z. 21) ein, das ihn seit langem „quäle“ (Z. 18f.). Innstetten ist kürzlich zum „Ministerialdirektor“ aufgestiegen, distanziert sich in dieser Situation jedoch von „all den Strebungen und Eitelkeiten“(Z. 22). Er wolle damit „überhaupt nichts mehr zu tun haben“ (Z. 22f.), was wenig glaubwürdig wirkt. Wer ganz oben angekommen ist, hat jetzt gut reden, dass es ihm doch nichts bedeute. Psychologisch überzeugender ist sein Bekenntnis zum „Schulmeistertum“, was ja wohl sein „Eigentlichstes“ sei, weil es direkt auf die im Brief angesprochene Angst Effis Bezug nimmt. Es ist das Eingeständnis, dass er Effi mit ihren Ängsten nicht partnerschaftlich, sondern schulmeisterlich begegnet ist. Das Gedankenspiel mit der Funktion eines „höhere[n] Sittendirektor[s]“ (Z. 24) legt sogleich offen, dass er seine Schuld, Effi unangemessen behandelt zu haben, nicht büßen kann: „Den Mann im Büßerhemd bring ich nicht mehr heraus,…“ (Z.37f.). So wird sein Bekenntnis folgenlos bleiben. Auch „alternative“ Lebenskonzepte wie jenseits von Kultur und gesellschaftlicher Achtung unter „lauter pechschwarze[n] Kerle[n]“ (Z. 41) zu leben, entbehren nicht eines komischen

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oder gar zynischen spießbürgerlichen Zuges, den Wüllersdorf auf das rechte Maß zurechtbiegt: - „hierbleiben und Resignation üben“ (Z. 55), „in der Bresche stehen und aushalten“ (Z. 60) und vom Kleinen profitieren (vgl. Z. 61ff.) – ist die Botschaft für die gesellschaftlich Arrivierten. Was Wüllersdorf vorschlägt, ist ein Spießbürgertum mit Hang zu nationalem Pathos. „..ein Auge dafür haben, wenn die Veilchen blühen oder das Luisendenkmal in Blumen steht oder die kleinen Mädchen mit hohen Schnürstiefeln über die Korde springen. Oder auch wohl nach Potsdam fahren und in die Friedenskirche gehen, wo Kaiser Friedrich liegt, und wo sie jetzt eben anfangen, ihm ein Grabhaus zu bauen.“ (Z. 62ff). 2. Arbeitsanweisung Auch wenn Innstetten kein „Mann im Büßerhemd“ sein kann, so kann er sehr wohl sein Leben kritisch bedenken und intellektuell die Momente herausarbeiten, die mit dem Scheitern seiner Familiengründung in Zusammenhang stehen. Folgende Aspekte bieten sich an: - die Situation, als Innstetten um Effis Hand anhält; insbesondere der Kontrast

zwischen persönlichen Erwartungen/Wünschen und gesellschaftlichen Konventionen;

- der Stellenwert von Privatleben und gesellschaftlicher Existenz (Kap. 10, 13), sowie Kommunikation (vgl. dazu Effis Bemerkung, Gieshübler sei „wirklich der Einzige, mit dem sich ein Wort reden lässt“ – Kap. 9);

- seine Rolle als Erzieher Effis: der Spuk als „Angstapparat aus Kalkül“, um Effi „in Ordnung“ zu halten (Kap. 17);

- seine Vorbehalte gegen Gefühl und Zärtlichkeit aus Rücksicht vor gesellschaftlicher Konvention (Kap. 15);

- die Reaktion auf den Ehebruch Effis als Handeln nach festen Grundsätzen (Kap. 32) als „Prinzipienreiterei“ (Kap. 29) aus Rücksicht dem „Gesellschafts-Etwas“ (Kap. 27) gegenüber.

Es wird nicht erwartet, dass alle hier genannten Aspekte von den Schülerinnen und Schülern berücksichtigt werden. Die sprachliche Gestaltung verlangt nicht Imitation, sondern Angemessenheit. Gestalterische Authentizität ist als besondere Leistung zu werten.

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Aufgabe III Literarische Erörterung Hinweis: Zur literarischen Erörterung wird kein Erwartungshorizont erstellt. Aufgabe IV Interpretationsaufsatz zu einem Gedicht oder Gedichtvergleich Thema: Erich Fried (1921-1988), Nacht in London (1946) Sarah Kirsch (*1935), Reisezehrung (1982) Hinweise zur Aufgabenstellung Die Gedichte haben ein verbindendes Thema und vergleichbare Motive, die sich für eine Gegenüberstellung eignen. Die Erinnerung an die verlassene Heimat bildet den Hintergrund der in den Gedichten gestalteten Exilerfahrung. Die Schülerinnen und Schüler haben gemäß der Aufgabenstellung volle methodische Freiheit. Hinweise auf mögliche Ergebnisse Das Gedicht von Erich Fried hat eine moderne Form: drei unterschiedlich lange Strophen ohne Reim, Metrum und Interpunktion. Die Sprache ist einfach und auf Anhieb verständlich. Die Strophen sind klar gegliedert: Die erste Strophe setzt mit der Aufforderung zu einer spezifischen Erinnerung ein und fährt mit einer optischen Sinneswahrnehmung fort. Die zweite Strophe intensiviert dann über den Geruchssinn des gemähten Grases die Wahrnehmung der vorgestellten Wirklichkeit, um in ein Fazit der virtuell erlebten Erfahrung zu münden (vgl. die letzte Strophe). Das häufig gebrauchte „und“ (V. 3, 7, 10, 12, 16, 18) und die verwendeten Enjambements (V. 1-4, 7-11 etc.) ermöglichen ein fortlaufendes Lesen, das dem additiven Gedankenfluss des Gedichts entspricht. Der fiktive Ort der Erinnerung ist eine Landschaft aus der verlassenen Heimat. Jede Strophe lebt von einer anderen Sinneswahrnehmung („Augen“, V. 3; „riechen“, V. 11; „ganz still“, V. 17). So steht das innere Erleben des lyrischen Ichs im Mittelpunkt, das über den Vergleich der Herkunft des Autors aus Deutschland und seinem Aufenthalt in London als Exilant identifiziert werden kann. Die Modalität der Ausgangssituation ist bewusst offen gehalten. Man kann eine Aufforderung, Möglichkeit oder Notwendigkeit hineinlesen. Man sollte, kann, darf oder muss „die Hände vor das Gesicht halten“, um das Geschilderte zu erleben und zu erfahren.

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Die „Augen nicht mehr auf(zu)machen“ signalisiert eine Situation der Entspannung und Meditation, die für das lyrische Subjekt im Exil besonders wichtig zu sein scheint. Es blendet dabei die Alltagsrealität des Exils aus und lebt von dem Kontrast der „Nacht in London“ und dem „hellgrünen Hang“ und dem „Himmelblau“ der imaginierten Heimatlandschaft. Einfache Elemente („Berge und Bach“, „Wiese“, „Hang“, „Wald“) kennzeichnen diesen Ort der Sehnsucht. Die zweite Strophe stellt eine Steigerung der ersten dar, weil sie die Wahrnehmung intensiviert und ausweitet. „Das gemähte Gras“ halluziniert einen angenehmen und frischen Geruch und der Blick strebt über die Bäume und die Vögel in den „himmelblauen“ Himmel. Das Bild der Heimat lebt von den Farbkontrasten der Natur („braun“ - „hellgrün“ - „dunkel“ - „schwarz“ - „himmelblau“; vgl. die Verse 8/9, 14/15) sowie der „langsamen“ (V. 13) Bewegung. Wie der „Vogel“ seine „Kreise“ (V. 13) zieht, so denkt man sich die Arbeit des Mähers (vgl. das „gemähte Gras“ - V. 10). Die Heimatlandschaft steht also in vielfachem Kontrast zur „Nacht in London“ als Ort des Exils. Die letzte Strophe mündet in eine Quintessenz, die die Wirkung des fiktiv Erlebten einfängt. Der Sehnsuchtsort ist zwar gegenwärtig unerreichbar, aber er ist existent, und macht so das Leben - auch in der Fremde - lohnenswert (V. 20). Die Erfahrung des Gedichts zeugt von einer großen Fähigkeit des Menschen. Er kann seine Situation und Zeit transzendieren, indem er simultan vergangene Erfahrungen lebendig werden lässt. Die „Nacht in London“ als gegenwärtige Wirklichkeit verliert ihren übermächtigen Einfluss; mögliches Angst- und Drohpotenzial, was der dunklen Nacht der Stadt entspricht, wird so eingegrenzt und relativiert. Das Gedicht von Sarah Kirsch thematisiert ebenso den Blick aus der Fremde auf die zurückgelassene Heimat. Der Weg führt aus dem „preußischen Wald“ (V. 2) und den „Feldern Mecklenburgs“ (V. 12) nach „Palermo“ (V. 11). Die Hürde, dorthin zu gelangen, war relativ hoch: Man musste „Zaubersprüche lernen (V. 1) und „mit großer Kühnheit“ … „Pentagramme kritzeln“. Außerdem gestaltete sich die Flucht als „Nacht und Nebel“ - Aktion (V. 4), wobei der Weg in die Freiheit (vgl. V. 5) unumkehrbar ist, denn „Feldjäger“ und „Flurhüter“ wachen und „halten“ … „den Schlagbaum geschlossen“ (V. 7f.). Dass die Freiheit nur mit Hilfe von magischen Praktiken erreichbar gewesen ist, hängt sicher mit dem „kleinen Land“ (V. 3) zusammen, das mit den „grauen Feldjägern“ und „fleißigen Flurhütern“ (V. 6) flächendeckend kontrolliert und überwacht wird. Die ohne Interpunktion durch Enjambements ineinander fließenden Sätze stocken an einer Stelle, wo „Könige“ und die „Freiheit“ (V. 4f.) mit ins Spiel kommen. Ob die „Könige“ Subjekt oder Objekt sind bleibt offen wie auch der Bedeutungsbezug zum lyrischen Ich. Die erste Strophe erzählt die Fluchtgeschichte, während die zweite zur Gegenwart zurückkehrt. Sie beginnt mit der trotzigen Gegenwehr des lyrischen Ichs: „Ich gedenke nicht…“. Es ist ein Aufbegehren gegen das „Grau“ und den „Fleiß“ (V. 6) der Wachmänner im eigenen Land. Sie können den „hellen“ und „dunklen“ Farben, den „gelben Stoppeln“ und „Schatten“ der Erinnerungsbilder nichts anhaben. Da dringen sie nicht durch. Das lyrische Ich kann Vergangenheit und Gegenwart höchst eigen verknüpfen und dabei auch Distanz und den Raum zwischen Exil und Heimat überbrücken. Der erlebte Gang durch die Felder enthält einen unzerstörbaren Gruß aus der Heimat („der Bauer schwenkt mir den Hut“, V. 13). Auch die Schwalben stehen für Dauer und Lebendigkeit der Erinnerung.

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Die „vertrauten Schatten“ der Heimat stemmen sich gegen eine mögliche „Verzweiflung“ in der Fremde. Vergleich Die Exilerfahrung beider Autoren ist unterschiedlich. Erich Fried floh vor der national-sozialistischen Gewalt nach England, Sarah Kirsch wurde von der DDR ausgebürgert. Für beide ist die Heimat bedeutungsvoll und überlebenswichtig. Sie können sich ihrer vergewissern, indem sie Innen- und Außenwelt über Raum und Zeit verweben. Die Heimat erhält dadurch eine Präsenz, die sich neben dem Exilstandort behauptet. Die erinnerte Schönheit der Natur hat eine lebenserhaltende Kraft, weil sie in beiden Gedichten lebendig (vgl. die „kreisenden Vögel“ bei Fried, V. 13, und die „stürzenden Schwalben“ bei Kirsch, V. 14) und farbenfroh ist. Gemeinsam ist auch, dass sich der Blick in die Heimat aus einfachen, gleichwohl aussagekräftigen und dichten Naturbildern zusammensetzt. Bei Sarah Kirsch ist die Erinnerung ein bewusstes Auflehnen gegen den Heimatverlust, fast ein Programm des Widerstandes, sich den Machthabern des eigenen Landes nicht willenlos auszuliefern. Die „Nacht in London“ prägt mehr die Meditation, die zu einer „Belohnung“ (vgl. V. 20), nämlich einer doch lebenswerten Existenz auch im Exil führt. Ein konkreter Anlass als Auslöser der Gedanken wird nicht erwähnt; sie ergeben sich einfach aus der Situation des Exils. Das lyrische Ich bei Sarah Kirsch kann ohne Heimweh der Heimat gedenken. Die Selbstbehauptung des lyrischen Subjekts dominiert, weil es im Exil Freiheit gewinnt. Bei Fried erfährt das lyrische Ich nur eine Möglichkeit, wie man der Dunkelheit und dem Heimweh begegnen kann. Wie erfolgreich eine solche Selbstvergewisserung unter den Bedingungen des Exils wirklich ist, muss offen bleiben. Aufgabe V Analyse und Erörterung nicht fiktionaler Texte (auch mit gestalterischer Teilaufgabe) Schwerpunkt: Erörterung

Thema: Asfa-Wossen Asserate: Die Ehre (Auszug) In: Ders., Manieren, Frankfurt/Main 2005, S. 32ff. Hinweis: Auf der Erörterungs- bzw. Produktivaufgabe liegt der Schwerpunkt der Gesamtaufgabe. Für die Erörterungsaufgabe gilt: Über die Qualität der Leistung entscheiden Problembewusstsein, Ergiebigkeit der Beispiele sowie Schlüssigkeit und Überzeugungskraft der Argumentation.

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Für die Produktivaufgabe gilt: Für die Leistungsbewertung entscheidend sind neben inhaltlicher Differenziertheit und Schlüssigkeit der Argumentation eine der Kommunikationssituation angemessene rhetorische Qualität. Hinweise zur Aufgabenstellung Ehre, Würde und Ehrverletzung sind Begriffe, denen schon Schülerinnen und Schüler begegnen. Sie verfügen über private und gesellschaftliche Erfahrungen, wie man sie selbst und andere Menschen behandelt. Heranwachsende leben besonders in dem Zwiespalt, Gehorsam und Unterordnung zu lernen und gleichzeitig eine Persönlichkeit mit eigenen Konturen zu entwickeln. Insofern weckt die 1. Arbeitsanweisung das Interesse an einer differenzierten Textrezeption, zumal die Außenperspektive des Autors zur Auseinandersetzung reizt. Diese fordert die 2. Arbeitsanweisung, wobei der Blick auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche zu richten ist, um die Relevanz der „Ehre“ für die heutige Gesellschaft zu überprüfen. Die alternative Produktivaufgabe bietet eine anregende Rollenperspektive und eine Kommunikationssituation, die inhaltlich und formal einen individuellen Gestaltungs-spielraum eröffnet, der von dem vorliegenden Text ausgeht. Hinweise auf mögliche Ergebnisse 1. Arbeitsanweisung Wichtig ist, dass der Ehrbegriff auf die ständische Welt zurückgeführt wird (vgl. Z. 13f.). Er dokumentiert sich in der Paradoxie des Gehorsams und der Unterordnung (Z. 15f.), somit der Verpflichtung des Einzelnen, „seine Ehre höchstpersönlich [...] zu schützen“ (Z. 14f.). Der Preis des Selbstschutzes lag darin, sich „mit allen Mächten und Gesetzen an(zu)legen“ und damit den „Samen der Anarchie“ (Z. 19) in die gesellschaftliche und staatliche Ordnung zu streuen. Viele unterlagen dabei und zahlten einen zu hohen Preis, indem sie sich oder andere in den Untergang führten. Trotzdem verteidigt der Autor die „alte Ehre“, weil „…nicht alle Fragen des menschlichen Zusammenlebens staatlich, gesetzlich und gesellschaftlich zu lösen..“ seien (Z. 23f.). Die Verteidigung der eigenen Ehre bedingt einen spezifischen Aspekt der Freiheit. Diesen stuft der Autor hoch ein, insofern auch jemand, der im Absolutismus lebte, sein eigenes Gesicht wahren konnte. Heute habe sich die Frage der Ehre erledigt (Z. 47ff.), denn die Menschen seien in eine „gesichtslose gesellschaftliche Maschinerie“ (Z. 46) eingebunden. Auch wenn man früheren Katastrophen, die z.B. auf der Blutrache gründeten, nicht nachtrauere, so kämen die Zeitgenossen nicht ungeschoren davon. Beleidigungen und Kränkungen müssten

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hingenommen und ge-„schluckt“ (Z. 49) werden. Die aufgezwungene Passivität beeinträchtige auch die richtige Form der Verzeihung. Ob aus der neuen Einbindung des Menschen ein „edlerer Menschentypus“ (Z. 51f.) entsteht, lässt der Autor offen. Ohne weitere Erläuterung hält der Autor ein „starkes Bewußtsein, unter einem eigenen, für niemanden als einen selbst geltenden Gesetz zu stehen,…“ (Z. 57f.) für unverzichtbar. 2. Arbeitsanweisung (2a) Da im Text der Roman „Effi Briest“ als Beispiel für traditionelle Ehrverletzung angesprochen wird (vgl. Z. 29f.), liegt es nahe, das Duell zwischen Innstetten und Crampas zu erörtern. Zu problematisieren wäre, dass die Ereignisse weit zurückliegen, dass Entschuldigungs-gründe für den Seitensprung Effis vorliegen und dass Innstetten bei seinem Verhalten nicht von Hass und Wiedergutmachung, sondern nur von einem überholten Ehrbegriff getrieben wird. So ergibt das Duell im vorliegenden Fall keinen Sinn mehr. Die Folgen unterstreichen, dass das Duell sinnentleert und überholt ist. Crampas wird tödlich verletzt, Effi wird der Vereinsamung und dem Tod preisgegeben. Innstetten erlebt keinerlei Befreiung oder Befriedigung, so dass er am Ende nur ein „verpfuschtes“ Leben eingestehen kann. Mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft wäre darauf zu verweisen, dass das Privileg des Adels, Waffen zu tragen und zu jagen, immer mehr eingeschränkt wurde und zumindest in europäischen Ländern dazu führte, dass der Staat sein Gewaltmonopol ausgedehnt hat. Waffen gibt es nur mit Waffenschein und begründbarer Verwendung, wobei der Einsatz der Waffe bei Ehrverletzung als Selbstjustiz strafbar ist. Die Entwaffnung der Bevölkerung kann positiv eingeschätzt werden, weil sie das Leben der Bürger sicherer gemacht hat. Sprachliche Formulierungen zeigen, wie oft Menschen bereit wären, zur Gewalt Zuflucht zu nehmen. Die amerikanische Praxis führt umgekehrt vor Augen, wie gefährlich der weit gestreute Waffenbesitz sein kann. Amokläufer gehören zu den schrecklichsten Erfahrungen der (nicht nur amerikanischen) Gesellschaft. Konflikte zwischen Mitgliedern bestimmter Bevölkerungsgruppen in Deutschland, die in Extremfällen wiederholt zu sogenannten „Ehrenmorden“ an jungen Frauen geführt haben, sind Beispiele dafür, wie gefährlich und lebensbedrohlich Ehrenkodexe sind. Auch der Terrorismus steht in der Tradition der Ehrverletzung. Menschenverachtende Ideologien sind entstanden, die Hass und Rache für ganze Gruppen und Religionen in Anspruch nehmen. Die Gewalt richtet sich dabei gegen andere Kulturen und unschuldige Menschen. Im Grunde ist es eine Pervertierung der alten Ehrverletzung, weil eine konkrete Verantwortung oder Schuld der Opfer nicht vorliegt. Menschen werden in Kollektivhaftung genommen und als Gruppe denunziert. Die Verfolgung und Auslöschung ganzer Familien ist aus Mafiafehden hinlänglich bekannt. Terroristen moderner Prägung nehmen ganze Völker und Kulturen in Sippenhaft. Der Rechtsstaat setzt dagegen die individuelle Haftung. Kollektivstrafen sind verboten, weil es nur die Verantwortung des Einzelnen und Individuellen gibt.

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Diskutiert werden könnte, inwieweit der Staat in der Lage ist, einzelnen Opfern oder deren Angehörigen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. So ist die Erwartung an die Ahndung der Tat bei Tötungsdelikten oder Unglücksfällen mit Todesfolge besonders hoch. Nicht immer können Strafverfolgungsbehörden und Gerichte die Gerechtigkeit erreichen, die von Geschädigten erwartet und gewünscht wird. Umgekehrt könnte darauf verwiesen werden, dass der Einzelne mit dem Gewalt- und Rechtsprechungsmonopol des Staates ungeheuer entlastet ist. Wer von einer Straftat betroffen ist, muss sie verarbeiten und verkraften. Sich auch noch um die Gerechtigkeit kümmern zu müssen, wäre eine zusätzliche Belastung. Zumal, wie der Text und andere Beispiele belegen, mit neuem Unrecht und einer Gewaltspirale zu rechnen wäre. Die Angemessenheit einer Strafe kann ein Unbeteiligter besser einschätzen, weil er von keinen übertriebenen Hassgefühlen geleitet wird. So wird neues Unrecht vermieden. Der Fortschritt moderner Rechtsprechung besteht gerade darin, dass nicht Gleiches mit Gleichem vergolten wird, sondern rechtsstaatliche Methoden Anwendung finden. Was Asserate als „Zahmheit des gesellschaftlichen Lebens“ (Z. 33) bespöttelt, kann man als Errungenschaft preisen. Denkt man an die vielen Scheidungen, von denen sicher auch einige durch „Seitensprung“ eines Partners herbeigeführt werden, so sind partner-schaftliche Regelungen, zu denen viele geschiedene Paare finden - nicht zuletzt wegen der gemeinsamen Kinder - ein Segen. Das Fehlverhalten eines Partners ist nicht mehr nur eine Frage der Ehre, sondern auch eine Frage der Verantwortung, wie man mit den Geschädigten umgeht. Das Bild des Bauern, der „sich mit seiner rostigen Flinte in der Hand als König fühlte“, lässt sich ebenso als Trugbild deuten, weil dem Hass und dem Missbrauch keine Grenzen gesetzt sind. Die Menschen von heute sind nicht deswegen „gesichtslos“ (Z. 46), weil sie keine Waffen mehr tragen. Außerhalb der Strafgesetze gibt es viele Möglichkeiten, für die Ehre von Menschen verantwortlich zu zeichnen. Jeder kann über die Stufen der Bildung zu einer beruflich verantwortlichen Stellung gelangen, wo er beweisen kann, dass ihm nicht nur Profit, sondern auch die Würde der Mitarbeiter am Herzen liegt. Im Übrigen stellt der Verfasser Zusammenhänge her, die man anzweifeln kann. Der Behauptung, dass nur die Rache zur Verzeihung führt, würde ein Christ vehement widersprechen. Verzeihung als göttliche Gnadengabe kann jederzeit und ohne Vorbedingung erfolgen, weil Gott als oberste Instanz letztlich Recht spricht und für Gerechtigkeit einsteht. Die „Frage der Ehre“ (Z. 47) hat sich für die Europäer nicht erledigt, sondern stellt sich neu. Unterhalb der Strafgerichtsbarkeit gibt es viele Fälle von Vorteilsnahme und Korruption in Wirtschaft und Politik. Da stellt sich die Frage der Trennung. Wie weit kann man gehen, ohne sich persönlich zu bereichern oder seine berufliche Stellung für private Anliegen auszunutzen? Als Frage der Ehre kann auch die eigene Karriere angesehen werden. Wer ist bereit, auf einen Aufstieg zu verzichten oder ein Amt aufzugeben, weil es mit der eigenen Ehre nicht mehr zu vereinbaren ist? Machtbehauptung ist häufig die Devise, ohne dass die eigene Glaubwürdigkeit kritisch hinterfragt würde. Daher rührt der Vertrauensverlust in die Politik. Selbst beim Sport stellt sich die Frage der Ehre. Doping hat alle Disziplinen so unterwandert, dass man jeden Rekord in Zweifel zieht. Viele Spitzensportler haben gelogen oder schweigen einfach, weil sie Opfer der Doping - „Maschinerie“ (vgl. Z. 46)

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geworden sind. Es ist wieder zu einer Frage der Ehre geworden, ohne unerlaubte Hilfsmittel auf die eigene Leistung und deren Begrenzung zu vertrauen. 2. Arbeitsanweisung (2b) Die Form der Rede bestimmt die Kommunikationssituation. Wichtig ist eine erkennbare Adressatengruppe sowie stilistische Angemessenheit. Inhaltlich können die Aspekte der alternativ gestellten Aufgabe (vgl. 2a) als Leitschnur dienen. Zentrale Aussagen des Vorlagentextes sind aufzunehmen und kritisch zu beleuchten (Freiheit der subjektiven Rednerperspektive).