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    GRNES GEDCHTNIS 2011

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    BildnachweisSeite 21: Wahlplakat Kein KKW in Wyhl, in: Grner Weg durch schwarzes Land. 10 JahreGrne in Baden-Wrttemberg, hrsg. von Winne Hermann/Wolfgang Schwegler-Rohmeis,1989, S. 42Seite 59: Michael JespersenSeite 67: unbekannte/r Fotograf/inSeite 73: dpa Alle anderen Abbildungen: Archiv Grnes Gedchtnis

    Diese Publikation wird unter den Bedingungen einer Creative-Commons-Lizenz verffentlicht: http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/Eine elektronische Fassung kann heruntergeladen werden. Sie drfen das Werk

    vervielfltigen, verbreiten und ffentlich zugnglich machen. Es gelten folgende Bedingungen: Namensnennung: Sie mssen den Namen des Autors/Rechteinhabers in der von ihm festgelegten Weise nennen(wodurch aber nicht der Eindruck entstehen darf, Sie oder die Nutzung des Werkes durch Sie wrdenentlohnt). Keine kommerzielle Nutzung: Dieses Werk darf nicht fr kommerzielle Zwecke verwendet werden. Keine Bearbeitung: Dieses Werk darf nicht bearbeitet oder in anderer Weise verndert werden.

    Grnes Gedchtnis 2011

    Hrsg. von der Heinrich-Bll-Stiftung1. Auflage, Berlin 2011

    Cover: Die Grnen Baden-Wrttemberg, Landtagswahl 1988 (Ausschnitt); Grafik: Sigi Hepner/Ursula Ries

    Gestaltung: graphic syndicat, Michael Pickardt, BerlinDruck: agit-druck, Berlin

    ISBN 978-3-86928-072-1

    Bestelladressen: Archiv Grnes Gedchtnis der Heinrich-Bll-Stiftung, Eldenaer Strae 35, 10247 Berlin

    T+49 30 28534-260F +49 30 28534-5260E [email protected] www.boell.deHeinrich-Bll-Stiftung, Schumannstrae 8, 10117 BerlinT+49 30 28534-0F+49 30 28534-109E [email protected] W www.boell.de

    Inhalt

    http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/mailto:[email protected]:[email protected]:[email protected]://www.boell.de/mailto:[email protected]:[email protected]://www.boell.de/http://www.boell.de/mailto:[email protected]://www.boell.de/mailto:[email protected]://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/
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    Grnes Gedchtnis 2011

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    INHALT

    Vorwort 7

    1 Beitrge zur Zeitgeschichte: Die Grnen in den Lndern

    Phillip WilkeGebrochene Perspektivlosigkeit: Die grne Wahlbewegung und die Alternativszene 10

    Gerhard GrberVon Wyhl in die Villa Reitzenstein: Die wundersame Reise der Grnen

    in Baden-Wrttemberg 18 Annika LauxDie Grnen in Niedersachsen 35

    2 Das historische DokumentDer Beitritt der deutschen Grnen zu den Grnen in Europa 48

    Christoph Becker-SchaumKommentar 50

    3 Bestnde in den ArchivenSteffi RnnefarthDer Bestand Frieder Otto Wolf MdEP von 1994 bis 1999 54

    Anne VechtelDie Akten des Osteuropareferats der grnen Bundestagsfraktionenvon 1983 bis 2002 58

    Christine TietzDer Bestand Frauenaktion 70 62

    Claudia DreierZur Aktenberlieferung der Berliner Grnen 66

    Anne VechtelDie Aktenberlieferung der Hamburger Grnen 70

    Robert CampZu den Aktenbestnden der nordrhein-westflischen Grnen 75

    Anne VechtelGrne Archive in Europa 80

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    4 Archivprojekte

    Anne VechtelInternationale kologische und grne Archive Bericht vom1. Treffen im Mai 2011 in Berlin 88

    Stefan Baldauf

    Das 5. Netzwerktreffen der Bewegungsarchive 90

    5 Rezensionen

    Dagmar HlscherEine Geschichte der Grndungsgrnen 94

    Martin KlimkePetra Kelly: Utopistin im Zeitalter der Apokalypse 96

    Jan Ole WiechmannDer NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationalerPerspektive 101

    Die Autorinnen und Autoren 103

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    VORWORT

    Wenn die Grnen inzwischen auf eine mehr als 30-jhrige Geschichte zurckblicken, bedeutet dies nicht, dass dieses Jubilum mit einem Mal abgefeiert wrDie Parteigrndung ist schlielich aus einer Wahlbewegung hervorgegangen, dieim Jahr 1977 begann, also drei Jahre vor der eigentlichen Parteigrndung, und dim Westen erst 1990 mit dem Einzug der Grnen in die Landtage von Nordrhe Westfalen und dem Saarland zum Abschluss gekommen ist. Von daher verhltes sich bei den Grnen wie in einer Familie mit einer groen Kinderschar,

    nacheinander ihre runden Geburtstage feiert. Eine Besonderheit bei Jubilenzum Dreiigsten ist, dass Requisiten frs Fest bereits im Archiv zu liegen pflegOder auch nicht.

    Zum Beispiel Berlin. Im Mai dieses Jahres feierte die Fraktion im Abgeordntenhaus ihren Dreiigsten. Die Materiallage im Archiv war durchaus lckenhaft,aber mit vereinten Krften ist es gelungen, wichtige Dokumente herbeizuschaffen.Sitzungsprotokolle und Tausende Fotos kamen aus der Fraktion im Abgeordnetenhaus. Die Parteiakten des Berliner Landesverbandes der AktionsgemeinschaftUnabhngiger Deutscher, einer Vorluferorganisation der Grnen, aber nicht der

    Alternativen Liste, und die des Berliner Landesverbandes der Grnen wurden unsvom Landesarchiv bergeben. Schlielich haben wir 15 Interviews mit frheren Abgeordneten gefhrt. Einige hatten den ersten Fraktionen in den 1980er-Jahrenangehrt, andere hatten die Vereinigung von Brgerbewegten und Grnen mitgestaltet und wieder andere sind dieses Jahr aus dem Parlament ausgeschieden.Diese Interviews haben eine Flle interessanter, individueller Aspekte geliefertund erlauben neue Blicke auf die Geschichte der Berliner Grnen.

    Dennoch stellte sich anlsslich des Jubilums 30 Jahre Grne ob aLandesverband oder als Fraktion die Frage: Wie solide ist unsere berlieferun

    grner Geschichte eigentlich? Aus diesem Grund haben wir auch den Schwerpunkt dieser Ausgabe unseres Jahrbuchs auf die Geschichte grner Landesverbnde gelegt.

    Die lebendige Vielfalt grner Geschichte ist berzeugend, wie die hier versammelten Beitrge zeigen knnen. Annika Laux und Gerhard Grber erzhlendie Geschichte der Landesverbnde Niedersachsen und Baden-Wrttemberg,Robert Camp, Claudia Dreier und Anne Vechtel haben Ereignisse und Kontroversen in den Landesverbnden Nordrhein-Westfalen, Berlin und Hamburg mitunseren Archivbestnden abgeglichen und Phillip Wilke geht den Reaktionen

    der alternativen Szene in Hamburg, Frankfurt und Berlin auf die Grndung deGrnen nach.

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    Als historisches Dokument stellen wir den Beitritt der deutschen Grnen zuden Grnen in Europa vor. Im letzten Jahrbuch hatten wir bereits gezeigt, wie esdazugekommen war, dass die deutschen Grnen der Europischen KoordinationGrner Parteien anfangs nicht beigetreten waren.

    Drei Beitrge beziehen sich auf Archivbestnde, die im Laufe des Jahresbearbeitet worden sind und von Stef Rnnefarth, Anne Vechtel und ChristineTietz vorgestellt werden. Es handelt sich um die Akten von Frieder Otto Wolf, Abgeordneter im Europaparlament von 1994 bis 1999, die Akten von Elisabeth Weber, der langjhrigen Osteuropareferentin der Bundestagsfraktion, unddie Archivalien der Frauenaktion 70. Christine Tietz hat diesen Archivbestand whrend ihrer Archivausbildung an der Fachhochschule Potsdam bearbeitet.Im Anschluss hat sie die Unterlagen des Netzwerks Friedenssteuerinitiativebearbeitet. Die genannten Archivbestnde stehen damit fr die Nutzung zur Verfgung.

    Anne Vechtel und Stefan Baldauf berichten ber Konferenzen, die in diesemJahr im Archiv Grnes Gedchtnis stattgefunden haben. So haben sich zumersten Mal berhaupt Archivarinnen und Archivare europischer grner undkologiearchive getroffen, dagegen war es fr die Kolleginnen und Kollegen derfreien Archivszene bereits ihr fnftes Treffen im Grnen Gedchtnis.

    Drei Buchbesprechungen zu wissenschaftlichen Verffentlichungen, diefr die Geschichte der Grnen von besonderer Bedeutung sind, runden diesesJahrbuch ab: Silke Mendes Dissertation ber die Grndungsgrnen, SaskiaRichters Dissertation ber Petra Kelly und ein aus Anlass des dreiigsten Jahres

    tages des Nato-Doppelbeschlusses vom Institut fr Zeitgeschichte Mnchen unddem Deutschen Historischen Institut Washington herausgegebener Tagungsband.

    Fr das Zustandekommen des Jahrbuchs mchten wir allen unseren Autorinnen und Autoren herzlich danken. Ein besonderes Dankeschn geht an Anne Vechtel, die wieder die Redaktion des Jahrbuchs besorgt hat. Ihnen, liebeLeserinnen und Leser, wnschen wir Interesse und Vergngen bei der Lektre.

    Berlin, im November 2011

    Christoph Becker-SchaumLeiter des Archivs Grnes Gedchtnis

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    PHILLIP WILKE

    Gebrochene Perspektivlosigkeit:Die grne Wahlbewegung und dieAlternativszene

    Es war nach 12 Uhr am Samstag, als sich Dirk Schneider von der Alternativen

    Liste fr Demokratie und Umweltschutz aus Berlin auf das Podium der Karlsruher Stadthalle begab. Der grne Grndungsparteitag war bereits zwei Stundenim Gange. Dabei hatte er noch gar nicht richtig begonnen. Bevor ber Satzung,Programm und Prsidium gesprochen werden konnte, galt es, ein anderes,grundstzliches Problem aus der Welt zu schaffen. Denn neben den 1004 offiziellen Delegierten fanden sich in Karlsruhe weitere 254 Delegierte ein, die vonihren lokalen Gruppierungen gewhlt waren, ohne dass sie der Sonstigen Politischen Vereinigung Die Grnen (SPV), den sogenannten Europagrnen, beigetreten waren. Da in Karlsruhe, wie Ex-CDU-Mitglied Herbert Gruhl bereits zu

    Beginn der Sitzung betont hatte, eine Delegiertenversammlung der SPV stattfand, die zugleich Grndungsversammlung der Partei Die Grnen werden sollte, waren die autonomen Delegierten de facto ausgeschlossen. Diese Klarstellung,nochmal bekrftigt durch eine Abstimmung am Samstagmorgen, verursachteUnruhe Zensurvorwrfe wurden laut. Die optimistische Stimmung drohtezum ersten Mal an diesem Wochenende zu kippen. Es brauchte einen Kompromiss. Schneider konnte ihn liefern. Der Exponent jener Alternativen, die denEuropagrnen beigetreten waren, schlug vor, man solle eine Delegation von 30 Autonomen zur Sitzung zulassen und ihnen Rederecht einrumen. Der Vorschlag

    wurde, wenn auch unter Protest einiger Konservativer, angenommen. DerParteitag konnte beginnen.Diese Episode ist in zweierlei Hinsicht interessant. Einerseits gibt sie einen

    Hinweis darauf, welch unterschiedliche Kulturen in Karlsruhe zusammenkamen. Andererseits lsst sich die innere Zerrissenheit der Alternativszene erahnen.Beides ist symptomatisch fr die Grndungsphase der Grnen. Whrend demauergewhnlich chaotischen Aufeinandertreffen von buerlichen Bauplatzbesetzern, radikalen Feministinnen, Vogelschtzern und christlichen Pazisten, wie es die ehemalige Parteivorsitzende Jutta Ditfurth im Jahr 2000 beschrieb,

    bereits die Zeitgenossen Aufmerksamkeit schenkten, ist die Frage nach derinneren Verfassung der Alternativen und ihrer Einstellung zur Parteigrndung G r n e s

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    bisher weitgehend unbeantwortet. Dabei war die Teilnahme der Alternativbewegung enorm wichtig fr den grnen Grndungsprozess.

    Die Konikte, von denen die erwhnte Parteitagsszene nur eine Episode war, htten die hchst inhomogene Wahlbewegung bereits zu Beginn beinahegespalten. Hintergrund der Konikte innerhalb der Alternativszene war einevllig unterschiedliche Herangehensweise an die Parteigrndung. Fr die Alternativen ein breites Spektrum an jugendlichen Brgerinitiativlern, Landkommunenbewohnern, Spontis und Freiheitsliebenden war die Wahlteilnahmeneben den kologischen Zielen wie der AKW-Frage auch an explizit linke Politvorstellungen geknpft. Marxistische und anarchistische Ideen waren in Teilender Szene verbreitet. Ebenso lehnten viele einen einseitigen Verzicht auf Gewaltab, weil sie die BRD als repressiven Polizeistaat empfanden. Fr andere waren dEtablierung einer freien Lebenskultur und der Konsens als Verfahren zur Entscheidungsndung vorrangige politische Ziele. Diese politischen Visionen wiederum

    verngstigten groe Teile der konservativen und brgerlichen Wahlbewegung.Um zu verstehen, wieso sich viele Alternative mit groer Beharrlichkeit gegenden Eintritt in die Europagrnen wehrten, muss man tiefer in die politischen Vorstellungen und die politische Praxis der alternativen Szene einsteigen. Nur solsst sich ihre Bedeutung fr die Wahlbewegung ermessen.

    Ende der 1970er-Jahre war die Alternativbewegung in eine resignativePhase eingetreten. Scheinbar erfolg- und aussichtslose Kmpfe wie der gegen Atomkraft, fr besetzte Huser und bessere Haftbedingungen der ersten RAF-Generation hatten Kraft gekostet. In den Stdten, in denen die Alternativen beson

    ders stark vertreten waren, hatten viele begonnen, sich nun in Stadtteilinitiativen zu engagieren, begaben sich auf lange Reisen ins Ausland oder zogen siganz zurck. So kam der von der erfolgreichen Wahlbeteiligung lokaler kologischer Listen in Frankreich ausgehende Impuls gerade recht, um den Stillstandin der Szene zu beenden. Die Idee der Wahlbewegung erffnete neue Mglichkeiten fr gesellschaftliche Mitbestimmung. Der Preis dafr war allerdingshoch: eine Abkehr von der ideologisch bedingten Feindschaft zur bundesdeutschen Parteiendemokratie. Schlielich war die Alternativbewegung in den 70erneine der grten Kritikerinnen des westdeutschen Parlamentarismus gewesen.

    Zeitschriften wie die Berlinerradikal oder der Hamburger Arbeiterkampfberichteten von der Lgenhaftigkeit der Bonner Republik und traten fr einengesellschaftlichen Umsturz ein. Auf dem Titel des Gttinger Atom Express zurLandtagswahl 1978 werden Anti-Atom-Politiker als Marionetten der etabliertenParteien dargestellt und ironisch als das allerkleinste bel bezeichnet. All dies iunmissverstndlich als Affront gegen das herrschende System und seine Elitenzu verstehen. Doch die Aussicht auf Einzug in die Parlamente, und die damverbundene Aussicht auf gesellschaftliche Relevanz, lste bei einigen Alternativen einen Sinneswandel aus. Erste alternative Wahlbndnisse grndeten sich.

    Die Diskussion in der Szene nahm ihren Lauf. Die offensichtlichen Differenzenmndeten in hitzig gefhrte Debatten innerhalb der alternativen Stadtmagazineund Zeitungen.

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    Diese Debatten lassen sich im Nachhinein als eine Abfolge von Brchenbeschreiben: Szeneinterne Brche, die die Alternativbewegung in den

    1980er-Jahren in einzelne Teile zerfallen lieen, und ideologische Brche bzw.Kompromisse, die jeder Einzelne, der letztendlich der grnen Partei beitrat,eingehen musste. Ein erster Bruch mit der antiparlamentarischen Maxime ist G r

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    bereits in der prinzipiellen Teilnahme an der Wahlbewegung zu sehen. Ein zweiteBruch zeigt sich in der Akzeptanz der hierarchischen Parteistrukturen durch diedezidiert antiautoritr eingestellten Alternativler. Als dritten groen Bruch mitalternativen Vorstellungen lassen sich die programmatischen und parteistrukturellen Kompromisse betrachten, die als Grundlage zur Einigung mit den konservativen Krften der Bewegung eingegangen werden mussten. Anhand dieserKoniktlinien lsst sich die Diskussion ber die Wahlbewegung nachzeichnen.So kann man Ende der 1970er-Jahre drei alternative Standpunkte erkennen: dieaktive Teilnahme an der grnen Parteigrndungsinitiative, die Organisation einereigenen, alternativen Kandidatur und die komplette Verweigerung einer Beteiligung an der Wahlbewegung. Allerdings darf nicht von einem klaren Grenzverlauausgegangen werden. Die bergnge waren ieend und hingen zum groenTeil mit dem persnlichen Umfeld der jeweiligen Personen, mit der Struktur delokalen Szenen sowie mit taktischen berlegungen zusammen.

    Im Folgenden werden die starken Alternativszenen der urbanen ZentrenHamburg, Frankfurt und Berlin kurz charakterisiert und lokale Schlsselereignisse aufgezeigt.

    Hamburg

    Der groe Knall kam in Hamburg nach der Landtagswahl von 1978. Mir gefnicht, wie der KB immer deutlicher seine Dominanz ausspielt und alles abblock was nicht in sein politisches Konzept passt, hatte Holger Strohm, Spitzenkan

    didat der zur Landtagswahl angetretenen Bunten Liste Hamburg in einem offenenBrief geschrieben. Mit dem KB war der in der Hamburger Szene tief verwurzeKommunistische Bund gemeint, der auch eine Vormachtstellung innerhalbder Bunten Liste besa. Mit ihrer Zeitung Arbeiterkampf besa die sich undogmatisch gebende K-Gruppe auerdem ein mchtiges Propagandainstrument, welches sie auch einzusetzen wusste. Zwar hatte sich der KB im Wahlkampf nozurckgehalten. Doch nach der Wahl, die mit 3,5% auf Landesebene und zweMandaten im Eimsbtteler Bezirksparlament durchaus positiv verlaufen war,versuchte er immer strker, die Linie der Bunten Liste zu bestimmen. Strohm

    missfiel dieses Vorgehen. Doch sein Protest blieb ungehrt. In ihrer Antwortbeschimpften die Kommunisten den kologen im Arbeiterkampf als Spinnerund falschen Demokraten und unterstellten ihm persnliche Eitelkeit. Ex-SPD-Mitglied Strohm und seine Freunde verlieen daraufhin das Wahlbndnis. Es warder Anfang vom Ende der Bunten Liste.

    Dabei galt die Liste bis zu diesem Zeitpunkt als positives Beispiel fr ealternative Wahlbeteiligung. Die ersten Diskussionen ber eine Wahlteilnahme wurden im Kommunistischen Bund bereits im Vorfeld der Bundestagswahlen1976 gefhrt. Im Gegensatz zu anderen Alternativgruppen lehnte der KB brger

    liche Wahlen nie grundstzlich ab. Er sah sie als notwendiges bel, um die Bvom demokratischen Parlamentarismus in eine Rtedemokratie berfhrenzu knnen. Vor 1976 hatte er allerdings keine taktische Notwendigkeit fr ein

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    Wahlteilnahme gesehen. Ein Jahr darauf begann das Umdenken. Die aus derBrokdorfer Anti-Atom-Bewegung kommende Idee, zur Brgerschaftswahl miteiner Brgerinitiativliste anzutreten, wurde positiv aufgenommen. Das imMrz 1977 folgende Grndungstreffen der Bunten Liste/Wehrt euch-Initiativefr Demokratie und Umweltschutz untersttzten die Kommunisten mit allenKrften. Dieses Engagement der K-Gruppe muss als wesentlicher Bestandteil derfrhen alternativen Wahlbeteiligung gesehen werden. Und mit dem Hamburger Ableger der in Niedersachsen gegrndeten brgerlichen Grnen Liste Umweltschutz fand sich bald ein passendes Feindbild, welches die Alternativen weiterzusammenschweite. Der Arbeiterkampf wetterte eiig gegen die, aus Sicht derKommunisten, rechte Gruppierung.

    Daneben gab es auch in Hamburg Gruppen, die einer Wahlbeteiligung gegenber negativ eingestellt waren. Vor allem die Spontis und der KommunistischeBund Westdeutschland, der 1976 fr den Bundestag kandidiert hatte, beteiligten

    sich nicht an der Bunten Liste. Die Wahlbefrworter hingegen zerbrachen nachdem Strohm-Konikt in zwei Gruppen. Die einen folgten dem KommunistischenBund und versuchten, unter anderem auf den Koordinierungstreffen der Alternativen in Darmstadt und Offenbach, im Laufe des Jahres 1979 die Grndungeiner alternativen Bundespartei voranzutreiben. Die zweite Gruppierung, zu derfederfhrend die aus dem Kommunistischen Bund ausgeschiedene Gruppe Zgehrte, versuchte, die Grnen als starke linke Fraktion zu unterwandern undvon Konservativen wie Gruhl und Baldur Springmann zu befreien. So gehrteein Groteil der 73 Hamburger Delegierten in Karlsruhe der Gruppe Z um Jrgen

    Reents, Rainer Trampert und Thomas Ebermann an. Strohm selbst trat hingegennicht in die grne Partei ein.

    Frankfurt

    In den 1970er-Jahren beeinflussten die hedonistischen Spontis wie keine andereGruppierung die Frankfurter Alternativszene. Ihre sogenannte Putztruppe umJoschka Fischer hatte sich whrend des Frankfurter Huserkampfes Respektverschafft. Den politischen Aktionismus der Spontis frchtete man ber ideolo

    gische Grenzen hinaus, und ber die Artikel in der von Daniel Cohn-Benditherausgegebenen Zeitschrift Pflasterstrand sprach man in der gesamtendeutschen Alternativszene. Doch ab der zweiten Hlfte der 1970er-Jahre beganneine Fraktionierung der Szene. Whrend fr die einen kommunistische undanarchistische Ideen Vorrang hatten, setzten andere fortan auf die kologie alspolitische Leitlinie. So kam den Frankfurter Alternativen die Wahlbewegunggerade recht, und den Spontis bot sich noch einmal die Chance, ihre Vorreiter-rolle auszuspielen. Bereits 1977 wurden erste Gedankenspiele ber eine alternative Wahlteilnahme imPflasterstrand verffentlicht. Ich bin mir sicher, dass

    wir das in Frankfurt auch zustande gebracht htten, stand mit Blick auf die 8%,die eine Brgerinitiativliste bei der Kommunalwahl in Darmstadt erreicht hatte,in der Aprilausgabe. Sechs Monate spter konfrontierten die Spontis den Rest G r

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    der Szene mit der satirisch anmutenden Ankndigung ihrer eigenen Wahlkandidatur. Entgegen vieler Annahmen hatte die Grne Liste Frankfurt tatschlichdie Absicht, an der hessischen Landtagswahl im folgenden Jahr teilzunehmen.Im Anschluss regte sich auch in anderen Teilen der Brgerinitiativbewegung dasInteresse an einer Wahlteilnahme. Gemeinsam mit den Radikalkologen um JuttaDitfurth und Manfred Zieran, mit Teilen des Sozialistischen Bros, enttuschtenTraditionslinken, ehemaligen Jusos, konservativen Umweltschtzern und einigenK-Gruppen schlossen sie sich im Frhjahr 1978 zur Grnen Liste Whlergmeinschaft fr Umweltschutz und Demokratie zusammen.

    Doch irgendwann verlieen die Frankfurter Spontis der Elan und der Spa ander Wahlbewegung. Krftezehrende Diskussionen mit Personen, die noch nieauf einer Demo gewesen waren, ewig dauernde Sitzungen mit dogmatischenKommunisten und brgerlichen Paragraphenreitern und all die hierarchischenParteistrukturen nervten die Hedonisten. Von der Wahlteilnahme hatten sie sich

    etwas anderes versprochen. Die eigens gegrndete Brgerinitiative Chaos undSumpf sollte den Wahlkampf aufmischen. Aus der Wahl sollte eine Art Happening gemacht und bei erfolgreichem Abschneiden das Parlament von innen adabsurdum gefhrt werden. Doch es kam anders. Denn innerhalb der Wahlbewegung waren die Spontis nur eine von vielen Gruppen. Mit ihrer antiautoritren Art der Politikfhrung und ihrer Idee, anstatt eines Wahlprogramms ein Mrchenzu verffentlichen, eckten sie an. Im Laufe des Jahres 1978 kam es zu mehreKonikten innerhalb der hchst heterogenen Listengemeinschaft. Die GrneListe Umweltschutz Hessen (GLU-Hessen) und die Grne Liste Whlerinitiative

    fr Umweltschutz und Demokratie (GLW), das Bndnis, zu dem sich die Spontmit den Radikalkologen zusammengetan hatten, hatten ihre Mitglieder aufgefordert, sich zur Beteiligung an der Grndung zur Grnen Liste Hessen (GLHzusammenzunden. Die GLH wurde am 23. Juli 1978 in Alsfeld von 135 Mitgdern dieser beiden Organisationen gegrndet und die Liste fr die Landtagswahlim Oktober aufgestellt. Bereits am 5. August 1978 zog die GLU-Hessen die Unsttzung der GLH wieder zurck und fnf Mitglieder traten aus der GLH aus, z Vorstandsmitglieder traten zurck und vier Mitglieder wollten von der Landesliste gestrichen werden. Die GLH existierte weiter, allerdings ohne Untersttzung

    der GLU. Die ffentliche Debatte um die Kandidatur der GLH zur Landtagswafokussierte sich auf die Person von Daniel Cohn-Bendit. Als der im August vseinem Listenplatz 7 zurcktrat, war fr viele Spontis das Fass bergelaufen. Sibeteiligten sich nicht mehr an der Wahlbewegung.

    Der Ausgang der Landtagswahl war schlielich ernchternd. Mit 1,1% aufLandesebene und 1,7% in der Region Frankfurt konnte die Grne Liste lediglich einen Prestigesieg gegen die von Gruhl gegrndete Grne Aktion Zukunfvorweisen. Es setzte ein erneutes Nachdenken ber Sinn und Zweck der Wahlteilnahme ein. In seinem wegweisenden Artikel imPasterstrand Warum eigentlich

    nicht? hatte Joschka Fischer kurz nach der Wahl die sorglose Parlamentarisierung der anti-parlamentarischen Spontibewegung als kurzsichtig entlarvt. Denn:Nur wer die Macht hat, kann verndern; aber auch: Wer dann Macht hat, d

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    hat sie auch, die Macht. Wie viele Spontis entschied er sich daraufhin gegen eine weitere Beteiligung. So spielte der Sponti-Zusammenhang, im Gegensatz zu demder Radikalkologen, bei der Grndung der Bundesgrnen keine Rolle. Fischerund Cohn-Bendit traten erst Anfang der 1980er-Jahre in die grne Partei ein,diesmal aber mit realpolitischer Zielsetzung und ohne Angst vor der Macht.

    Berlin

    Es war nicht gerade ein Auftakt nach Ma. Am Abend des 5. Oktober 1978 hattensich rund 3.500 Brgerinitiativler, Alternative, Umweltschtzer und Mitgliederverschiedener K-Gruppen zur Grndung der Alternativen Liste fr Demokratie undUmweltschutz in der Neukllner Neuen Welt getroffen. Doch mit dem Ergebnisder gut fnfstndigen Debatte ber einen Grndungsbeschluss konnte sich lediglich ein Drittel der Teilnehmer anfreunden. Grter Streitpunkt war die sogenannte

    K-Frage. Nach langen Diskussionen hatte sich die Mehrheit der Grndungsversammlung fr die Vereinbarkeit von Doppelmitgliedschaften entschieden, d.h. frdie Vereinbarkeit der Mitgliedschaft in der Alternativen Liste und den K-Gruppen. Als Kompromiss wurde zwar eine Art Loyalittserklrung zur Alternativen Listeund das Prinzip der Einzelmitgliedschaft verabschiedet, doch das beruhigte die wenigsten Kritiker. Noch am selben Abend erklrte der prominente Anwalt OttoSchily offiziell, an der Liste nicht mitzuwirken. Auch die in der Berliner Wahlbewegung aufgrund ihrer erfolgreichen Teilnahme an der Bezirkswahl 1975 in Zehlendorf als Vorreiterin geltende Whlergemeinschaft Unabhngiger Brger wandte

    sich von den Alternativen ab. In einem Interview mit der Berliner TageszeitungDer Abend bezeichnete Schily die Liste als KPD mit anderem Namen. Doch dasSchicksal der Hamburger sollte sich nicht wiederholen.

    Die Berliner Szene war wesentlich pluraler und heterogener als in anderendeutschen Grostdten. In den 1960er- und 1970er-Jahren hatte sich hier einalternatives Biotop umgeben von kommunistischem Feindesland entwickelt, indem sich derEinuss verschiedenster Gruppen egalisierte.Von einer dominantenalternativen Gruppierung kann nicht gesprochen werden. Die Scene ist zersplittert. Es gibt die Besetzer vom Sdkiez und vom Nordkiez. [...] Es gibt Wider

    stands-Punks und Wochenend-Punks, Anarcho-Punks und Schicki-Punks (undmanchmal fllt alles zusammen). Immer aufs Neue teilt und verteilt sich dieseStadt. Und das ist nicht nur schlecht. So haben wir vieles doppelt (und dreifach). Wagenbach und Rotbuch, taz und Neue, Ostberlin und Westberlin, zitty und tip,brachte es der frhere SDSler und Publizist Jrgen Miermeister im Jahre 1982 aufden Punkt. So trafen auch innerhalb der Wahlbewegung die unterschiedlichstenInteressen aufeinander. Dem Grndungskongress waren etliche kleinere Treffender verschiedenen Gruppierungen vorausgegangen. Immer wieder kamen dabeidieselben ngste und Sorgen zur Sprache. Man frchtete sowohl die negative

    Beeinussung der politischen Basisarbeit und den Verlust der Anbindung an dieBrgerinitiativen als auch die bereits angesprochene Majorisierung durch die G r n e s

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    von Wolfgang Spielhagen im Szenemagazinzitty als altgyptisch-rckwrtsge wandt bezeichnete KPD.

    Doch anstatt einer Vereinnahmung der Alternativen Liste durch die Kommunisten entwickelte sich in Berlin ein gesundes Zusammenspiel. 1982 lie ErnstHoplitschek von der AL Berlin verlauten: Htte es die KPD-Kader im Apparin den Bereichen und Bezirken nicht gegeben die AL htte mit Sicherheit niberlebt. Ihre Rolle machte sich besonders nach der Wahl im Mrz 1979, die3,7% auf Landesebene und dem Einzug in die Bezirksparlamente von KreuzbergTiergarten, Schneberg und Wilmersdorf als Erfolg verbucht werden konnte,bemerkbar. Denn die KPD-Kader waren es im Gegensatz zu den meisten Alternativen gewohnt, sich mit Paragraphen und hierarchischen Strukturen zu beschftigen. Dazu kam die interne Entscheidung der Kommunistischen Partei, sichim Mrz 1980 zugunsten der Alternativen Liste aufzulsen. Dies beruhigte dieK-Gruppen-Gegner. Zur vorgezogenen Landtagswahl im Mai 1981 arrangierten

    sich die verschiedenen Teile der Wahlbewegung. Sogar Schily und die Zehlendorfer Whlergemeinschaft begruben ihr Kriegsbeil und traten der AlternativenListe bei. Dies sollte sich auszahlen. Mit 7,2% zog die Liste erstmals ins Ber Abgeordnetenhaus ein.

    Zusammenfassung

    Diese drei Episoden aus deutschen Grostdten lassen erahnen, welch tiefeRisse die Grndung der Grnen in der Alternativszene hinterlie. Der Eintritt in

    die Europagrnen berechtigte zur Teilnahme an der Grndungsversammlung inKarlsruhe. Er bedeutete fr Alternative einen Bruch mit ihrem eigenen Organisationszusammenhang, der in den meisten Fllen mit dem persnlichen Freundeskreis identisch war. So kam in Hamburg ein Mitwirken bei den Grnen eineBruch mit dem Kommunistischen Bund gleich, in Frankfurt musste man sich vonden Spontis loslsen. In Berlin lagen die Dinge etwas anders. Die Pluralitt dSzene und die oftmalige Doppelzugehrigkeit zu verschiedenen Kreisen machtees einzelnen Alternativen mitunter einfacher, sich zu entscheiden. Eine Entscheidung bedeutet der auf den ersten Blick als Formalie erscheinende Eintritt in di

    Europagrnen aber in jedem Fall. Mit Blick auf die anfnglich unsichere politsche Ausrichtung der neuen Partei verschoben viele interessierte Alternative dieEntscheidung und fuhren als autonome Delegierte in die badische Metropole.Die meisten dieser Delegierten traten den Grnen allerdings im Lauf des Jahre1980 bei die Gedankenspiele um die Grndung einer alternativen Bundespartei wurden begraben. Dies sollten vor allem die konservativen Krfte zuspren bekommen. Bereits auf der Dortmunder Bundesversammlung im Junibesaen Traditionslinke und Alternative gemeinsam ein personelles berge wicht. Konservative wie Gruhl und Springmann verlieen daraufhin die Partei,

    und der Links-Rechts-Konflikt wurde im Laufe der 1980er-Jahre durch den allpolitischen Lager spaltenden Realo-Fundi-Gegensatz abgelst.

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    GERHARD GRBER

    Von Wyhl in die Villa Reitzen-stein: Die wundersame Reise derGrnen in Baden-Wrttemberg

    Anfang und vorlufiges Ende der Reise sind markiert durch zwei tiefgreifende,

    weite Teile der Bevlkerung umfassende Revolten: den erfolgreichen Kampfgegen das geplante Atomkraftwerk in Wyhl am Kaiserstuhl Mitte der 1970er-Jahreund die Auseinandersetzung um den Stuttgarter Bahnhof. Beide Widerstandsbe wegungen enthalten so etwas wie den Spirit der Grnen im Sdwesten. Es gehtum die Verhinderung von Grenwahn, um die Bewahrung von Heimat und umdie Wut ber die Arroganz der Macht. Diese Mischung aus konservativen undantiautoritren Elementen haben die Grnen hierzulande aufgreifen und reprsentieren knnen, nicht zuletzt in der Person des ersten grnen Ministerprsidenten Deutschlands, Winfried Kretschmann.

    Waren die Grnen bislang ausschlielich Gegenstand politologischer odersoziologischer Untersuchungen1, so sollten sie mit zunehmendem Alter auch indas Visier der Zeitgeschichte genommen werden.2 Der vorliegende Beitrag wirfteinen dezidiert historischen Blick auf den grnen Weg3 in Baden-Wrttemberg. Whrend Politikwissenschaftler hauptschlich Strukturen und ihren Wandeluntersuchen, geht es dem Historiker mehr um Entwicklungen, die Identizierung von Phasen, Wendepunkten. Freilich sind die Grenzen vor allem in derZeitgeschichte ieend. Zur Beschreibung von Vernderung und ihren verursa

    1 Vgl. u.a. Joachim Raschke, Die Grnen. Wie sie wurden, was sie sind, Kln 1993, und ders.,Die Zukunft der Grnen, Frankfurt/M. 2001; Hans-Peter Welte, Die Parlamentarisierungder Grnen im Landtag von Baden-Wrttemberg, Frankfurt/M. 1994; Dieter Salomon,Grne Theorie und graue Wirklichkeit, Freiburg 1992. Angaben zu Fakten wie Wahlergebnisse, Amtszeiten usw. sind, wenn keine Quelleangegeben ist, den Daten des Statistischen Landesamtes oder den Chroniken auf denHomepages der Grnen Baden-Wrttemberg und der Bundespartei entnommen. Quellenaus dem Archiv Grnes Gedchtnis werden mit AGG gekennzeichnet.

    2 Hierzu liegt die erste umfangreiche geschichtswissenschaftliche Arbeit vor. Silke Mende,Nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Eine Geschichte der Grndungsgrnen, Mnchen2011.

    3 Bezeichnung aus: Winfried Hermann/Wolfgang Schwegler-Rohmeis (Hrsg.), Grner Wegdurch schwarzes Land. 10 Jahre Grne Baden-Wrttemberg, Stuttgart 1989.

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    chenden Krften muss auf politologische und soziologische Kategorien zurckgegriffen werden. Aber im Vordergrund steht doch die Narration des Prozesses.

    Die Wurzeln

    Wyhl, das ist im Geschichtsbuch als Geburtsstunde der deutschen Anti-Atom-Bewegung vermerkt, auch die Partei der Grnen hat letztlich am Kaiserstuhl ihr Wurzeln.4 So stellt es lapidar Karl-Otto Sattler in derFrankfurter Rundschaufest, aus Anlass des 25-jhrigen Jubilums des erfolgreichen Kampfes gegen denBau eines AKW am Kaiserstuhl. Der Hhepunkt dieses Kampfes lsst sich aufJahr 1975 datieren. Ein Tag nach dem Baubeginn, am 18. Februar 1975, besetzim Anschluss an eine Pressekonferenz der bis dato 30 Brgerinitiativen einigeHundert Protestierende den Platz. Zwei Tage danach wird in einem brutalenPolizeieinsatz mit Wasserwerfern und Schlagstockeinsatz der Bauplatz wieder

    gerumt und mit Panzerdraht gesichert. 54 Besetzer werden verhaftet. Das wardie Initialzndung fr einen dauerhaften Massenprotest. Aus einer Kundgebung heraus, am 23. Februar 1975 mit 28.000 Menschen am Baugelnde, wider Platz gestrmt und erneut besetzt und trotz aller Drohungen von Seiten derLandesregierung und des Baden-Werks (heute ENBW) bis zum 7. November1975 gehalten. Nach Erfolgen (Baustopp 1977) und Misserfolgen (Aufhebung deBaustopps 1983) der Bewegung vor den Verwaltungsgerichten wird das Ende de AKW-Plne in Wyhl letztlich politisch besiegelt: Ministerprsident Lothar Sptherklrte 1983 das AKW als nicht dringlich. Aber whrend des Jahres der Be

    zung entfaltete sich auf dem Platz eine einzigartige Protestkultur um die Volkhochschule Wyhler Wald, in der sich Umweltschtzer, die studentische Linke voallem aus dem nahen Freiburg und die Winzer und Bauern aus dem Kaiserstuhmiteinander verbanden. 5

    Die Faszination, die von Wyhl ausging, gab letztlich auch der studentischenLinken in den zahlreichen baden-wrttembergischen Universittsstdten, diesich Mitte der 1970er-Jahre entweder in Grabenkmpfen zwischen maoistischenK-Gruppen, den Spontis oder RAF-Sympathisanten selbst zerlegte oder an derportugiesischen Nelkenrevolution besoff, einePerspektive.6 Im Grndungspro

    zess der Grnen in Baden-Wrttemberg spielte die studentische Linke zunchstallerdings nur eine marginaleRolle.7

    4 Karl-Otto Sattler, Wyhl 25 Jahre danach, in:Frankfurter Rundschau , 18.02.2000.5 Die Darstellung der Ereignisse von Wyhl folgt Bernd Nssler/Margret de Witt (Hrsg.), Wyh

    Kein Kernkraftwerk in Wyhl und auch sonst nirgends. Betroffene Brger berichten, Freiburg1976; Website des BUND Regionalverband Sdlicher Oberrhein:http://vorort.bund.net/suedlicher-oberrhein/wyhl-chronik.html (Stand 16.08.2011).

    6 Der Autor sttzt sich hier auf eigene Teilnahme und Beobachtung vor allem in Heidelberg.

    7 Vgl. u.a. Stefan Gnzle, Bndnis 90/Die Grnen, in: Michael Eilfort (Hrsg.), Parteiein Baden-Wrttemberg, Landeszentrale fr politische Bildung, Stuttgart 2004, S.129;Hermann/Schwegler-Rohmeis, S. 10f.

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    Der Grndungsprozess

    Die bundesweiten Entwicklungen, die Entstehung von grnen oder alternativenListen bei Kommunalwahlen in verschiedenen Bundeslndern, die organisatorische Strukturierung vieler kologischer Initiativen im Bundesverband Brgerinitiativen Umweltschutz (BBU), die Austritte aus den Volksparteien wegen derenkologischer Ignoranz 1977 beschloss die SPD auf ihrem Bundesparteitag inHamburg den verstrkten Ausbau der Atomkraft, 1978 grndete der aus derCDU ausgetretene Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl die Grne AktionZukunft (GAZ) und die Hinwendung der ursprnglich eher nationalkonservativen Splitterpartei Aktionsgemeinschaft Unabhngiger Deutscher (AUD) unterdem Vorsitzenden August Hauleiter zu kologischen Fragen brachten auch inBaden-Wrttemberg das politische Personal hervor, das sich auf den Weg zurParteigrndung machte.

    Eine baden-wrttembergische Besonderheit war das Mitwirken einer anthroposophischen politischen Strmung, der sogenannte Achberger Kreis, benanntnach dem geistigen Zentrum der Gruppierung, der Free International University(FIU) in Achberg am Bodensee. Inspiriert von anthroposophischen Sozialvorstellungen und den Ideen des Dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismusaus dem Prager Frhling von 1968 blieb diese Initiative nicht nur ein intellektueller Diskussionszirkel, sondern versuchte ganz praktisch in einem Verbundmehrerer nach solchen Vorstellungen organisierter Betriebe (Mitarbeiterselbstverwaltung, Entkoppelung von Leistung und Einkommen, usw.) eine Umset

    zung.Ein wichtiger Schub zur Grndung des Landesverbandes kam von derBundesebene. Unter baden-wrttembergischer Beteiligung wurde im Mrz 1979in Frankfurt von sieben kologischen Parteien undWhlerinitiativen beschlossen,fr die Europawahlen im Juni 1979 als Sonstige politische Vereinigung Die Grnen(SPV) zu kandidieren: GAZ, AUD, GLU, GLU-Schleswig-Holstein, GLU Rheinland-Pfalz, Aktion 3. Weg und FIU. Eine regelrechte Parteigrndung war dafrnicht ntig. Mit Petra Kelly als Spitzenkandidatin holten die Grnen bundesweit3,2%, in Baden-Wrttemberg sogar 4,5%. Jetzt konnte man sich ernsthaft eine

    Chance fr die Landtagswahlen im Frhjahr 1980 ausrechnen. Am 30. September1979 grndeten ca. 600 Mitglieder in der Stadthalle von Sindelngen die ParteiDie Grnen Baden-Wrttemberg und whlten den Tbinger Gymnasiallehrer Wolf-Dieter Hasenclever (ehemals SPD, seit 1977 AUD) zu ihrem ersten Vorsitzenden.8

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    8 Darstellung des Grndungsprozesses nach Hermann/Schwegler-Rohmeis; Vgl. Protokollder Grndungsversammlung, AGG, C BaW I, Sign. 176.

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    Wahlplakat aus der Anfangszeit der Grnen in Baden-Wrttemberg

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    Die innerparteilichen Auseinandersetzungen der 1980er-Jahre

    Obwohl schon zum Wahlkampfauftakt anlsslich der 3. Landesversammlungin Esslingen am 27./28. Januar 1980 heftigste programmatische Auseinandersetzungen gefhrt wurden, die die junge Partei vor eine Zerreiprobe stellten,bersprang sie am 16. Mrz 1980 mit 5,3% die 5%-Hrde und zog mit sechs Abgeordneten in den Landtag in Stuttgart ein, als erste grne Partei einesFlchenstaates in der BRD (1979 war schon die Bremer Grne Liste in die Brgerschaft gewhlt worden). Entscheidend fr die politischen Kmpfe war der Eintrittdezidiert linker Mitglieder in die Partei seit der Grndung der Bundespartei inKarlsruhe am 13. Januar 1980. In Baden-Wrttemberg waren es vor allem dieFunktionre studentischer Basisgruppen Ali Schmeissner (Tbingen) und UliTost (Karlsruhe), die den Landesverband radikal basisdemokratisch ausrichten wollten und Begriffe wie kologischer Humanismus und Evolution statt

    Revolution als brgerliche Formeln aus dem Programm streichen wollten, sichin Esslingen aber nicht durchsetzen konnten.9 Whrend zwischenzeitlich die Grnen bei der Bundestagswahl im Oktober

    1980 (Schmidt gegen Strau) regelrecht untergegangen waren (1,5%, in Baden- Wrttemberg 1,8%) und die politische Dynamik sich von der Anti-AKW-Bewegung hin zur Friedensbewegung (Kampagne gegen NATO-Doppelbeschluss)verlagerte, fand der Streit um die Ausrichtung der Landespartei, inzwischen alsFundi-Realo-Streit etikettiert, auf der 8. Landesversammlung am 26./27. Juni1982 in Baden-Baden einen ersten Hhepunkt. Ganz schn giftig. Die grne

    Basis misstraut ihren eigenen Vorkmpfern, titelte am Tag darauf dieBadischeZeitung .10 In Baden-Baden das Ambiente des Kurhaussaals war wohl zustzlicher Stimulus zur Auehnung gegen die Parteivorderen brach die von Anfangan schwelende Kritik an der Landtagsgruppe um Hasenclever und WinfriedKretschmann vehement aus der Delegiertenseele. Ihnen wurde vorgeworfen, zureformorientiert und kompromisslerisch aufzutreten. Zankapfel war der Versuchvon Parteispitze und Fraktion, die Partei zu professionalisieren, das hie, Vorsitzende teilweise zu bezahlen. Mit einem halben Lehrergehalt von 1200 Markund ohne Untersttzung durch die Partei kann ich keine vernnftige Arbeit

    mehr durchhalten11, wird die Landesvorsitzende Marieluise Beck-Oberdorf ausPforzheim (seit 1980 im Amt, nachdem Hasenclever wegen des Landtagsmandats zurckgetreten war) zitiert. Die Versammlung reagiert mit einer eigenenLogik: Das Amt des Vorsitzenden, das offensichtlich unentgeltlich nicht mehrzu stemmen war, wird kurzerhand abgeschafft und stattdessen ein fnfkpgesgleichberechtigtes Gremium, der geschftsfhrende Landesvorstand, installiert ohne Bezahlung, versteht sich. Beck-Oberdorf tritt hierzu nicht mehr an. DieLandtagsgruppe bersteht trotz der Breitseiten von Hasenclever (Wir werden so

    9 Darstellung folgt Hermann/Schwegler-Rohmeis; Raschke, Die Grnen. Wie sie wurden, was sie sind; Gnzle, a.a.O.

    10 Bericht von Klaus G. Wertel, in:Badische Zeitung, 28.06.1982.11 Ebenda.

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    zum Sektiererhaufen) und Kretschmann (Wenn ihr provokatorische Aktionen wollt, dann kann man Leute wie mich nicht in den Landtag reinwhlen12) gegendie Forderungen nach Fundamentalopposition sowohl eine Rcktrittsforderungzwecks Rotation als auch die Vertrauensfrage mit knappen Mehrheiten. Kretschmann war schon bei der letzten Landesversammlung ein Dreivierteljahr zuvor inLudwigsburg der Kragen geplatzt. Weil ihm das Gemosre, wir seien im Landtaviel zu brav, gegen den Strich ging, entschloss er sich zu einem spontaneRedebeitrag, in dem er gegen den hrbaren Unmut des Publikums seine politische Strategie darlegte. Es mache keinen Sinn, der SPD etwa 10% der Whstimmen abzujagen, wenn dann die CDU immer noch ihre 53% hat. Ziel mses sein, in die Besitzstnde der CDU einzubrechen. Und deshalb habe ich auckeinen Bock drauf, in einer Partei links von der SPD zu sein.13

    Der Erfolg bei der vorgezogenen Bundestagswahl im Mrz 1983 beruhigteden Streit um Fundamentalopposition vorbergehend. Die Grnen zogen, be

    gelt von der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss, mit 5,6% insBundesparlament ein. In Baden-Wrttemberg wurde der Bundesdurchschnittmit 6,8% deutlich berboten. Die Partei konnte fnf Abgeordnete nach Bonnschicken, darunter Willi Hoss ausStuttgart.14 Hoss war sicherlich der baden wrttembergische Abgeordnete der ersten Fraktion mit dem grten bundespolitischen Bekanntheitsgrad. Der 1929 geborene Hoss war jahrelang Mitglied undFunktionr der KPD/DKP, wurde nach seiner Kritik an der Niederwerfung desPrager Frhlings 1968 aus der Partei ausgeschlossen und engagierte sich dannim Umfeld des Sozialistischen Bros. Seit 1959 hatte der gelernte Hochdruck

    schweier bei Daimler-Benz in Stuttgart gearbeitet und war als IG-Metall-Mitglied Betriebsrat. 1972 wurde er aus der IG Metall ausgeschlossen, nachdemzuvor mit einer eigenen Liste, der Plakat-Gruppe, erfolgreich zu Betriebsrats wahlen angetreten war. Hoss war auch als einziger ausgewiesener Linker schonim Grndungsprozess der Grnen in Baden-Wrttemberg dabei. In der Bundestagsfraktion, der er bis 1990 angehrte, zuletzt als einer der drei Sprecher, vertrer realpolitische Positionen und erwarb sich schnell politisches Gewicht. In derLandespolitik spielte er dann keine Rolle mehr und trat 2001 wegen der Zustimmung der Partei zum Afghanistan-Einsatz aus. 2003 starb Willi Hoss.15

    1983 wurde zum Jahr der Friedensbewegung. Baden-Wrttemberg wurdeaufgrund der geplanten Standorte fr Raketenstationierung eines der Zentren derBewegung. Im Herbst 1983 gelang es, ca. 220.000 Menschen fr eine Menschekette ber eine Strecke von 108 Kilometern von Ulm nach Stuttgart zu mobilisren.16

    Innerparteilich befrderte die Bewegungseuphorie eher die Schrfe der Auseinandersetzung. Die Konstanzer Landesversammlung im November 1983

    12 Ebenda.13 Sdwestpresse , 21.09.1981.14 Hermann/Schwegler-Rohmeis, S. 273. 15 Willi Hoss, Komm ins Offene, Freund. Autobiographie, Mnster 2004. 16 Hermann/Schwegler-Rohmeis, S. 274.

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    zurVorbereitung der Landtagswahlen gerietzu einerheftigen Abrechnung mit derPolitik der Landtagsgruppe, so dass die Presse schon den Untergang der Grnenprognostizierte. Dennoch legten die Grnen in Baden-Wrttemberg im Mrz1984 krftig zu, bekamen 8% der Stimmen, neun Mandate und wurden vor derFDP drittstrkste Kraft im Land. Drei Monate spter kamen die Grnen in Baden- Wrttemberg bei der Europawahl sogar auf 10,1% (bundesweit: 8,2%). Und imHerbst etablierten sich Grne und Alternative Listen auch bei den Kommunal wahlen als dritte politische Kraft. In den Stdten Stuttgart, Freiburg, Heidelbergund Tbingen lagen die Ergebnisse sogar zwischen 15 und 20%. Damit ist dasJahr 1984 als das Jahr der Stabilisierung und Etablierung innerhalb der politischen Landschaft zu verzeichnen, trotz grter innerparteilicher Uneinigkeitber die Rolle der Partei im Parlament, ber strukturelle Vorstellungen von Basisdemokratie undReprsentation.17

    Hhepunkt dieser Richtungskmpfe und zugleich Wendepunkt hin zu einer

    klaren real- bzw. reformpolitischen Ausrichtung der baden-wrttembergischenGrnen war eine Auseinandersetzung im Vorfeld der Bundestagswahlen von1987. Der Karlsruher Uli Tost, von 1981 bis Anfang 1986 Beisitzer im Bundesvorstand, setzte in seinem Kreisverband die Nominierung der damaligen Bundesvorstandssprecherin Jutta Ditfurth als Wahlkreiskandidatin durch, nachdemdiese zuvor bei der Listenaufstellung ihres Landesverbandes Hessen durchgefallen war. Die Nichtbercksichtigung der Bundesvorstandssprecherin in Hessen war ein Hhepunkt des innerparteilichen Strmungskonikts gewesen, der seitder Wahl von Ditfurth und Rainer Trampert als Bundesvorstandssprecher auf

    der Bundesversammlung 1984 in Hamburg eskalierte und sich vor allem in demKonikt mit den hessischen Grnen abbildete. Diese waren 1985 mit JoschkaFischer als Umweltminister mit baden-wrttembergischer Untersttzungdurch Winfried Kretschmann als Ministerialrat die erste rot-grne Regierungsbeteiligung eingegangen.18

    Tosts Coup zielte nun darauf ab, mit der Galionsgur Ditfurth die fundamentalistischen Claims im Landesverband Baden-Wrttemberg auszuweiten oderzumindest zu behaupten. Denn seit 1984 hatte die real- bzw. reformpolitischeStrmung um die neuen Landtagsabgeordneten, den Tbinger Sprachwissen

    schaftler Fritz Kuhn sowie den Stuttgarter Rechtsanwalt Rezzo Schlauch, dieLandtagsfraktion zu einem politischen Zentrum sowohl innerhalb der Partei alsauch in der Auenwahrnehmung der Grnen ausbauenknnen.19 Eine Platzierung von Jutta Ditfurth auf einem aussichtsreichen Listenplatz in Baden-Wrttemberg htte auch bundesweit die strmungspolitischen Gewichte zugunstender Fundamentaloppositionellen verschoben und fr die knftige Bundestagsfraktion muntere Diskussionen versprochen.

    17 Hermann/Schwegler-Rohmeis, S. 276f. 18 Hans-Joachim Noack ber den Wahlkampf von Jutta Ditfurth in Baden-Wrttemberg:

    Hufig werde ich gemieden, in:Der Spiegel , Nr. 2/1987.19 Welte, S. 99f.

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    Das Unternehmen scheiterte gnzlich. Uli Tost sprach gar von einem Dolchsto der Realos20 und bediente sich damit ohne Scheu einer Kampfmetapher ausder Propagandasprache der rechten Feinde der Weimarer Republik gegen dieRevolution von 1918. Die Landesversammlung zur Listenaufstellung vom 4. bis6. Juli 1986 in Asperg bei Ludwigsburg hatte sich gegen den Erpressungsversucder Tost-Anhnger zur Wehr gesetzt und die Forderung, dass der eigentlich defundamentalistischen Strmung zugestandene aussichtsreiche Listenplatz nurvon Jutta Ditfurth besetzt werden knne, zurckgewiesen. Mit ihrer ultimativenHaltung brachten die Fundamentalisten auch strmungsunabhngige Delegiertegegen sich auf, und Jutta Ditfurth unterlag bei der Abstimmung um den letztesicheren Listenplatz 5 mit 113 zu 159 Stimmen gegen die Bblinger StadtrtChrista Vennegerts und trat dann fr hintere Listenpltze gar nicht mehr an. DeParteitag brachte in der Folge noch tumultartige Szenen, und die Kerntruppe derFundamentalisten um Tost und Schmeissner wertete schlielich das Vorgehen

    der Parteitagsmehrheit als Ausgrenzung von Minderheiten. Sie kndigten an,dass man die Landesliste keineswegs akzeptieren wolle und im Wahlkampfnicht die politischen Vorgaben des Landesverbandes, sondern jene der Bundespartei vertreten werde. Man denierte sich also als Vertreter der Mehrheitslinieder Bundespartei und stellte damit den Landesverband in ein separatistisches Abseits. Auerdem, so Tost, htten die Realos im Vorfeld des Listenparteitageine regelrechte Schmutzkampagne gegen Jutta Ditfurth gefhrt. Bei nchternerBetrachtung konnte man aber die in Asperg aufgestellte Landesliste kaum alsreine Realo-Liste bezeichnen. Auer der Listenfhrerin, der entwicklungspoli

    tischen Expertin Uschi Eid, und Willi Hoss auf Platz 6 und auch diese belieen sich strmungspoltisch nicht einfach vereinnahmen gehrte eigentlich niemand zum Kreis des reformpolitischen Zirkels um Kuhn, Schlauch undden damaligen Landesvorstandssprecher Jrgen Gneiting. Mit Jutta Oesterle-Schwerin aus Ulm wurde gar eine ausgewiesene linke Feministin auf Platzgesetzt.21

    Der Showdown von Asperg vertiefte logischerweise die Grben zwischender Fhrung der Bundespartei und dem Landesverband, was an einem kleinenparteiinternen Scharmtzel zwischen dem Pressesprecher des Bundesvorstands,

    Michael Schroeren, und den baden-wrttembergischen Landesvorstandssprechern deutlich wird. Liebe Leute, jetzt seid ihr wohl total durchgeknallt, beginnSchroeren sein Schreiben vom 1. Oktober 1986 an den Landesvorstand in Baden Wrttemberg. Die Sprecher Jrgen Gneiting und Rolf Bach hatten in einer Presserklrung zur Bundesversammlung vom 26. bis 28. September 1986 in Nrnbergdie dort gefassten Beschlsse kologischer Umbau der Industriegesellschaftund die Bereitschaft, diesen in einer Koalition mit der SPD zu verwirklichennachdrcklich begrt. Dies sei eine Besttigung der baden-wrttembergischen

    20 Bericht von Oskar Weber, Nach dem Dolchsto bleibt den Fundis nur ein Kater, in:Stuttgarter Nachrichten , 07.07.1986.

    21 Ebenda.

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    Linie. Als skandals bezeichneten sie aber das Verhalten der Bundesvorstandssprecher Ditfurth und Trampert, die sich von den Ergebnissen von Nrnberg ineiner Pressekonferenz distanziert und von Satire und Anbiederung an die SPDgesprochen hatten. Bach und Gneiting warfen in ihrer Erklrung den Sprechern Arroganz vor und pochten darauf, dass es Aufgabe des Bundesvorstandes sei,Beschlsse der Bundesversammlung umzusetzen und nicht zu benoten. Schroeren wies in scharfem Ton die Vorwrfe als falsche Pressebehauptungen zurckund bezichtigte die Landesvorstandssprecher der Lge. Ihr habt sie wohl nichtmehr alle. Die Sdwestgrnen, so Schroerens Mutmaung, wollten wohl dieinnergrne Auseinandersetzung um die Wahlaussage ersticken und erffnetendie Jagdsaison auf unliebsame Kritiker. Wir fragen uns, so die prompte Replikaus Stuttgart, was du eigentlich fr ein Verstndnis von deiner Funktion alsPressesprecher des Bundesvorstandes hast, wenn du glaubst, in einem solchenTon Vorstandssprechern eines Landesverbandes antworten zu knnen. In der

    Sache konnte man auf eine schriftliche Erklrung von Ditfurth und Trampertverweisen, in der die inkriminierten uerungen, die Schroeren bestritten hatte,standen. Der Landesvorstand der Grnen in Hessen schloss sich der Zurechtweisung Schroerens an.22

    Die Bundestagswahl im Januar 1987 wurde trotz der innerparteilichen Flgel-kmpfe zu einem Erfolg, obwohl man sich bundesweit wegen der Atomkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 doch etwas mehr als die erreichten 8,3%erhofft hatte. In Baden-Wrttemberg lag man mit 10% wieder deutlich ber demBundesergebnis. Hier hatte im November 1986 noch eine weitere Industrieka

    tastrophe den Grnen ein zustzliches Thema geboten: Das Lschwasser zurBekmpfung eines Grobrandes im Basler Sandoz-Werk vergiftete den Rhein mitChemikalien.23

    Whrend 1987 fr die politische Auenwirkung der baden-wrttembergischenGrnen die Ausarbeitung eines von der Presse positiv aufgenommenen Technologieprogramms und der Volkszhlungsboykott im Mittelpunkt standen, sorgteinnerparteilich ein halbes Jahr vor der nchsten Landtagswahl im Mrz 1988ein Strategiepapier von Fritz Kuhn und der Stuttgarter Landtagsabgeordneten Waltraud Ulshfer fr Aufregung. Fr eine politische Kultur der wechselnden

    Mehrheiten, hie der Vorschlag, der anlsslich einer Landesausschusssitzungin Heidelberg vom Fraktionsvorsitzenden prsentiert wurde. Falls CDU-Ministerprsident Lothar Spth, so die berlegung, bei der Landtagswahl die absoluteMehrheit verlre, sollten die Grnen einen Keil in die bundesrepublikanischeKoalitionslogik treiben und Spth anbieten, ihn zum Ministerprsidenten mitzu whlen, wenn dieser sich bereit erklrte, ein kologieprogramm aufzulegen undin der Asylpolitik auf grne Vorstellungen einzugehen. Ansonsten solle er sich

    22 Pressemitteilung der Landesvorstandssprecher, TELEX, 01.10.1986, 11.21 Uhr; AntwortSchroerens, vom selben Tag, 11.59 Uhr, verschickt ber den innergrnen Verteiler;Schreiben der Landesvorstnde Baden-Wrttembergs und Hessens, TELEX, 02.10.1986, AGG, C BaW I.1, Sign. 83(2).

    23 Hermann/Schwegler-Rohmeis, S. 279f.

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    dann jeweils in Einzelfragen parlamentarische Mehrheiten suchen und so mitallen anderen im Landtag vertretenen Parteien kooperieren. Dieses Konzept der wechselnden Mehrheiten als Kernstck des Papiers sollte ein Schritt hin zu eineneuen bunteren, lebendigeren, diskussions- und inhaltsorientierteren politischen Kultur24 sein. Machtpolitisch wre es sicherlich ein kluger Schachzuggewesen, zumal in Baden-Wrttemberg damals eine rot-grne Mehrheit auerhalb des Vorstellbaren lag. Anscheinend mussten dafr erst ganze Bahnhfetiefer gelegt werden und Atomkraftwerke explodieren. Und auch eine Ampelkoalition war unmglich weder mit der SPD (verkncherte Funktionrsgarde25)noch mit der FDP (stndisch orientierter Pstchenjger-Verein26). Auch warbekannt, dass Spth weder eine schwarz-gelbe noch eine groe, schwarz-roteKoalition behagte. Die Grnen htten somit zu einem Gestaltungsfaktor werdenund sich gleichzeitig aus der SPD-Fixierung lsen knnen. Historisch gesehen war dieses Strategiepapier die erste Annherung an schwarz-grne Koopera

    tionen auf Landesebene und fand auch bundesweit bei den KommentatorenBeachtung. Nur, die Vorstellung einen CDU-Ministerprsidenten mitzuwhlen,lie nicht nur fundamentalistisch orientierten Grnen die Haare zu Berge stehen.Die Delegierten des Landesausschusses begrten zwar mit knapper Mehrheitdas Anliegen, das hinter einer Kultur der wechselnden Mehrheiten stand; warumman dafr aber Spth mitwhlen sollte, wollte kaum jemand einsehen. DasPapier verschwand in der politischen Versenkung und wurde auf der nchstenLandesversammlung zur Vorbereitung der Wahlen nicht mehr zur Abstimmunggestellt. Dort wurde vielmehr in der Prambel des Wahlprogramms sowohl die

    Wahl eines CDU-Ministerprsidenten ausgeschlossen als auch eine Absage anein Konzept der wechselnden Mehrheiten festgeschrieben.Hinter dem Vorschlag Kuhns und Co. vermutet der Politikwissenschaftler

    Hans-Peter Welte noch eine andere strategische Absicht. Darber hinaus ginges [...] fr die Grnen Baden-Wrttemberg auch um eine Distanzierung vonder Bundespartei. Es sollte verhindert werden, dass sich das schlechte Erscheinungsbild von Bundesvorstand und Bundestagsfraktion allzu negativ auf dieanstehende Landtagswahl in Baden-Wrttemberg auswirkt.27 Das Konzepteiner Kultur der wechselnden Mehrheiten htte eine eigene baden-wrttember

    gische Linie bedeutet und man htte so auch in das Whlerpotenzial der CDUeindringen knnen.Bei der Landtagswahl am 20. Mrz 1988 erhielten die Grnen erstmals i

    Baden-Wrttemberg einen Dmpfer. Zwar verloren sie gegenber 1984 nur 0,1%und erreichten 7,9%, aber bei der letzten Bundestagswahl das Jahr zuvor wadas Ergebnis zweistellig gewesen. Fr viele war dies angesichts der Strmungskmpfe in Bonn noch ein glimpicher Ausgang.28

    24 Welte, S. 137-143. 25 Welte, S. 139. 26 Ebenda. 27 Ebenda, S. 141f. 28 Hermann/Schwegler-Rohmeis, S. 282.

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    In der Tat hatten die Grnen auf Bundesebene damit begonnen, sichzusehends selbst zu zerlegen. In dem Bemhen, den lhmenden Fundi-Realo-Streit aufzulsen, bildeten sich dazwischen neue Strmungen. Der Grne Aufbruch, 1988 von Antje Vollmer und Ralf Fcks initiiert, war ein solcher Vermittlungsversuch. Von den harten Fundis um die sich selbst als kosozialisten etikettierenden Ditfurth, Trampert und Thomas Ebermann setzten sichundogmatische Linke im Linken Forum in mehr reformpolitischer Richtung ab.Eine Gruppe kritischer Realos setzte sich von den marktwirtschaftlichen, parlamentaristischen Positionen eines Otto Schily oder Udo Knapp ab. Die Besonderheit in Baden-Wrttemberg war die, dass seit dem Ditfurth-Coup von Uli Tost imJahre 1986 die kosozialistische Strmung praktisch nicht mehr existierte undein pragmatischer reformpolitischer Grundkonsens weit ber das eigentlicheRealolager hinaus vorhanden war.

    So war es auch kein Zufall, dass auf dem Bundesparteitag am 3. Dezember 1988

    in Karlsruhe die beiden Vorstandssprecher des gastgebenden Landesverbandes,die Stuttgarter Psychologin Heide Rhle und der Gymnasiallehrer WolfgangKaiser aus Bad Drrheim, die bundespolitisch bislang kaum in Erscheinunggetreten waren, mit ihren Auftritten mageblich dazu beitrugen, die Stimmungfr eine Rcktrittsforderung gegen die fundamentalistische Sprechertroika umJutta Ditfurth zu bereiten. Anlass fr die vehemente Kritik an den Sprechern botdas von ihnen zu verantwortende nanzielle Fiasko beim Umbau der Parteizentrale Haus Wittgenstein bei Bonn. Aber auch der mit knapper Mehrheit erzwungene Rcktritt brachte letztlich keine wirkliche Ruhe in die Partei. Dies schaffte

    erst der Whler 1990, indem er bei der ersten Bundestagswahl des vereinigtenDeutschlands im Dezember die Westgrnen politisch abstrafte, sie aus demBundestag katapultierte und zu einem politischen Neuanfangzwang.29

    Letztlich zeigten sich die Grnen als die bundesrepublikanischste der Parteien.Durch die Richtungskmpfe geschwcht waren sie den durch die Entwicklungin der DDR gestellten deutschland- und europapolitischen Herausforderungennicht gewachsen und erreichten bundesweit nur 3,9%. In Baden-Wrttemberghtte man mit 5,7% allerdings den Einzug in den Bundestag geschafft. Dort wares Anfang Mrz 1990, noch vor der Volkskammerwahl in der DDR, auf einer

    Landesversammlung bundesweit zuerst gelungen, eine deutschlandpolitischeErklrung zu beschlieen, die sich vom Dogma der Zweistaatlichkeit verabschiedete.30 Aber der reformpolitische Konsens war auch in Baden-Wrttembergschwer ins Wanken geraten. Mit einem 6-seitigen offenen Brief an alle Mitgliederhatte eine Gruppe Realos nach der Bundesversammlung von Hagen im April1990 die dort gefassten Beschlsse als Position der Zweistaatlichkeit durch dieHintertr, der Abkehr von der kologie als Leitidee und des Offenhaltens einerZusammenarbeit mit der PDS scharf kritisiert und das berleben der Partei in

    29 Welte, S. 29f.30 Landesversammlung vom 2. 4. Mrz 1990, Fr ein ziviles, europisches Deutschland,

    Initiativantrag und Beschluss, AGG, C BaW I.1, vorl. Sign. 655.

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    Wahlplakat der Grnen in Baden-Wrttemberg zur Landtagswahl 1988

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    Frage gestellt.31 Die berbringer der schlechten Nachricht wurden vom parteipolitischen Mainstream im Landesverband obwohl durch das Wahldebakeldann in der Analyse besttigt eher als Spalter denn als Retter wahrgenommen.Unter den 30 Unterzeichnern war neben Kuhn und Schlauch auch Kretschmann,der schon 1988 als Mitverfasser eines kolibertren Manifestes in Erscheinunggetreten war.

    Neuaufstellung, Erfolg und Stagnation in den 1990er-Jahren

    1988 war Fritz Kuhn aus dem Landtag ausgeschieden, ihm war somit eine frihn wichtige politische Bhne entzogen gewesen. 1991 kehrte er als Sprecherdes Landesverbandes im Duo mit der undogmatischen Linken Dagmar Dehmeraus Freiburg in ein offizielles Amt zurck. Ziel war es, die Grnen nach demDebakel von 1990 neu aufzustellen und die Landtagswahl 1992 erfolgreich zu

    bestreiten. Dies gelang mit 9,5% eindrucksvoll und noch mehr als das: Die CDU,deren umtriebiger Frontmann Lothar Spth zuvor ber die Traumschiffaffre32gestolpert war, musste mit seinem doch etwas biederen Nachfolger Erwin Teufelantreten und verlor prompt mit einem Minus von 10% ihre absolute Mehrheit,und die FDP fiel mit ihren 5,9% als Mehrheitsbeschaffer aus. Erstmals bot sichden Grnen in Baden-Wrttemberg eine rechnerische Machtoption: eine Koalition mit der CDU. Die schwarz-grnen Lockerungsbungen im Strategiepapiervon 1987 gingen sozusagen in die zweite Runde. Die Kehrseite der CDU-Niederlage war allerdings der Einzug der Republikaner in den Landtag, die mit 10,9%

    an den Grnen vorbei den dritten Platz belegten. Fr die CDU-Spitze im Lande,mit Ausnahme von Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder, stellte diese Truppeaber keine Machtoption dar, entgegen zahlreicher Stimmen von der Basis.

    Umgekehrt lste Teufels Entschluss, mit SPD und Grnen parallel zusondieren, einen Sturm der Entrstung in seiner Partei aus. Nur FraktionschefGnther Oettinger und die Junge Union sowie vorsichtig positive Signale aus derBundespartei bestrkten Teufel in seinem Schritt auf die Grnen zu.

    Die Grnen selbst legten dafr die Messlatte recht hoch die Union mssesich personell und inhaltlich erneuern, das AKW Obrigheim stilllegen, ambulante

    Abtreibungskliniken im Land einrichten, auf zwei geplante Sondermllfenverzichten und ernteten aus der Basis gedmpfte Zustimmung zu dem Feldversuch. Die Bundespartei reagierte eher mitStrfeuer.33

    Was man so andernorts bei den Grnen von den Parteifreunden im Sdwestenhielt, wird vielleicht an einem kleinen Aktenfund in drastischer Weise deutlich.

    31 Offener Brief an die Mitglieder der baden-wrttembergischen Grnen, o. D., AGG, C BaWI.1, vorl. Sign. 655; Vgl. Raschke, Die Grnen, S. 257.

    32 Journalisten hatten 1991 aufgedeckt, dass Lothar Spth sich u.a. zu einer privaten Urlaubsreise auf die Yacht des Chefs des Elektronikkonzerns SEL hatte einladen lassen.

    33 Peter Henkel, Die Wrfel fr Schwarz-Rot sind schon gefallen, in:Frankfurter Rundschau ,24.04.1992; Presseerklrung des Landesvorstandes Nr.22/92, 29.04.1992, AGG, C BaW I,vorl. Sign. 605.

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    Mit dem Briefkopf der Alternativen Jugend Hamburg ndet sich ein Fax in Akten der Stuttgarter Landesgeschftsstelle, in dem sie den Schwaben, so di Anrede, vorschlagen, eine braun-schwarz-grne Koalition zubilden.34 Der nichtnamentlich gezeichnete Brief empehlt hhnisch eine Zusammenarbeit mitden Republikanern und endet Mit deutschem Gru!. Man kann das zwar aldummen Jungen-/Mdchenstreich abtun, die Frage ist aber schon, in welchemUmfeld ein solcher Jux entstehen kann. Die schwarz-grnen Sondierungsgesprche jedenfalls gingen ber den Austausch von Positionen nicht hinaus. Allein, dass man sie berhaupt gefhrt hat, war eine neue politische Qualitt unletztendlich eine Aufwertung der Grnen. Die daraufhin gebildete groe Koalition gab den Grnen die Prolierungsmglichkeit als einzige ernstzunehmendeOppositionsfraktion im Landtag. Auch was die Parteispitze betraf, so beschrittman weiterhin den 1991 erfolgreich eingeschlagenen Weg, versierte und erfahrene Politiker in das Sprecheramt zu whlen. Auf Fritz Kuhn, der 1992 wieder

    Landtag den Fraktionsvorsitz bernahm, folgten die jeweiligen Ex-MdLs WinfriedHermann und Reinhard Btikofer. Die Landtagswahl 1996 brachte dann auchmit 12,1% das beste Ergebnis, das Grne bis dahin jemals in einem Flchenland einfahren konnten. Aber glcklich konnten sie am Ende des Wahlabendsber ihren Rekord nicht sein blickte man auf das Gesamtergebnis. Die SP war auf 25,1% abgestrzt und damit als grne Partnerin fr einen Regierungs wechsel ausgefallen, den man zuvor durchaus fr mglich erachtet hatte. DerCDU war die Groe Koalition besser bekommen, und sie stabilisierte sich m41,3% wieder. Der FDP gelang mit Walter Dring an der Spitze ein Comeback

    9,6%, ohne im Wahlkampf irgendwelche Inhalte angeboten zu haben. Und auchdie Republikaner wurden wieder mit 9,1% in den Landtag gewhlt. Die Grne waren verrgert ber die SPD, die mit ihrer Kampagne fr einen Stopp dZuzugs von Auslndern Rot-Grn geschadet und die Whler den Republikanernin die Arme getrieben hatte. Landesvorstandssprecher Winfried Hermann, derheutige Verkehrsminister, sah das Projekt Rot-Grn in Baden-Wrttemberg nun wohl fr alle Zeiten gestorben35. In der Tat konnte dieses Landtagswahlergebnisvon 1996 erst 2011 (2001: 7,7%; 2006: 10,7%) berboten, dann gleich verdopp(24,2%) und damit das Projekt Regierungsbernahme in der Farbkombination

    Grn-Rot verwirklicht werden. Viele der prolierten Landespolitiker drngte esdamals daher eher in die Bundespolitik.

    Baden-Wrttembergische Grne auf Bundesebene

    Als erste baden-wrttembergische Grne hatte Heide Rhle ein exponiertesParteiamt bernommen. Sie wurde 1990 zur Sprecherin der Bundespartei

    34 Fax vom 21.04.1992, AGG, C BaW I, Sign. 529.35 Rainer Laubig, Von der Beteiligung der Macht weiter weg denn je, in:Stuttgarter Zeitung ,

    25.03.1996.

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    gewhlt und war von 1992 bis 1998 deren politische Geschftsfhrerin. 1999 zogsie ins Europaparlament ein und wurde bis heute zweimal wiedergewhlt.

    Das Amt des politischen Geschftsfhrers blieb zunchst in baden-wrttembergischer Hand. Reinhard Btikofer, seit 1996 Landesvorsitzender, folgte Rhlenach. 2002 wurde er als einer der beiden Bundesvorsitzenden von Bndnis 90/Die Grnen gewhlt, bevor auch er 2009 ins Europaparlament entschwand. AlsBundesvorsitzender war er auch einem Baden-Wrttemberger gefolgt. FritzKuhn hatte im Jahr 2000, als die Grnen in der Mitte der ersten Legislaturperiodeder rot-grnen Bundesregierung in einer Krise waren36, mit Renate Knast denBundesvorsitz bernommen, bis er 2002 in den Bundestag gewhlt wurde, woer von 2005 bis 2009 zusammen mit Renate Knast die Fraktion fhrte. Auch indiesem Amt gab es einen baden-wrttembergischen Vorgnger. Rezzo Schlauch,seit 1994 im Bundestag, war whrend der ersten rot-grnen Bundesregierunggemeinsam mit Kerstin Mller Fraktionsvorsitzender, bevor er 2002 bis 2005 als

    parlamentarischer Staatssekretr ins Wirtschaftsministerium wechselte.Im Parteivorsitz folgte 2008 nach dem Ausscheiden Btikofers wieder einBaden-Wrttemberger. Cem zdemir, der von 1994 bis 2002 Abgeordneterim Bundestag und von 2004 bis 2009 im Europaparlament war, hat bis heutegemeinsam mit Claudia Roth dieses Amt inne. Daneben sind noch mindestenszwei weitere exponierte Landespolitiker zu nennen, die es in den 1990er-Jahren indie Bundespolitik zog. Biggy Bender, seit 1988 im Landtag und dort von 1988 bis1990 Fraktionsvorsitzende, kam wie Winfried Hermann 1998 in den Bundestag.

    Die Vorbereitung auf die Macht fand in den Gemeinden stattMaselheim liegt auf der Schwbischen Alb am Sdostrand von Baden-Wrttemberg im oberschwbischen Landkreis Biberach. 1991 bekam die 4.500-Seelen-Gemeinde bundesweite Aufmerksamkeit. Hier wurde erstmals in Deutschland mitElmar Braun ein Grner zum Brgermeister gewhlt. Bis dahin war die Gemeinde wie die Region fest in CDU-Hand gewesen. Braun, zeitweise auch Mitglied imLandesvorstand, ist ein Sohn des Dorfes. Bei NSU in Ulm war er zuvor Betriebsratgewesen. Sein sehr persnlich, aber mit klarer kologischer Zielsetzung gefhrter

    Wahlkampf wurde noch dadurch gekrnt, dass den frheren Motorradrennfahrerauch Motorradclubsuntersttzten. 37Der 28 Jahre amtierende CDU-Brgermeister trat nicht mehr an und Braun

    setzte sich mit 53% klar gegen zwei Mitbewerber durch. 1999 (70%) und 2007(82,4%) gelang ihm jeweils die Wiederwahl, obwohl er 2003 mit den Plnen freinen Motopark (Rennstrecke und Fahrsicherheitstraining) im Ortsteil pngeneine Brgerinitiative gegen sichaufbrachte. 38 Die Plne wurden 2006 letztlich

    36 Raschke, Die Zukunft der Grnen, S. 400ff. 37 Ausknfte von Elmar Braun bei einem Besuch des Autors mit internationalen Bundestags

    praktikanten 1992 in Maselheim.38 taz , 09.10.2003.

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    mangels Investor sang- und klanglosbeerdigt.39 An der Position Brauns kratztedies nicht. Vielleicht bietet eine jngst in einem Interview gemachte Aussageeinen Erklrungsansatz fr seinen Erfolg. Befragt nach Grnden fr die Beliebtheit von Kretschmann sagt er: Der Winfried Kretschmann ist echt. Ich glaubdass ihm die Beliebtheit nicht so wichtig ist. Und auf die Frage, wie das beiin Maselheim sei, antwortet Elmar Braun, es sei richtig, dass die Brgermeistacht Jahre Zeit haben bis zur nchsten Wahl. Und nicht vier oder fnf wie inPolitik.40

    Nicht in den kommunalpolitischen Hochburgen, den Uni-Stdten Tbingen,Freiburg, Heidelberg und Stuttgart, in denen bei Kommunalwahlen um die 20%geholt wurden, gelang also die erste Eroberung des Chefsessels im Rathaussondern im oberschwbischen schwarzen Kernland. Vielleicht liegt die Erklrunghierfr wirklich in Brauns Unterscheidung. In den Metropolen ist wohl einfachzu viel Politik. 1996 brachten dann der Landtagsabgeordnete Manfred Renz im

    Schwarzwaldkurstdtchen Bad Herrenalb und der langjhrige wirtschafts- undnanzpolitische Berater der Landtagsfraktion Ralph Brk in der Bodenseegemeinde Uhldingen-Mhlhofen das Kunststck fertig. Beide schafften aber2004 ihre Wiederwahl nicht. Im gleichen Jahr gelangte dann auch erstmals einGrner auf den OB-Sessel einer greren Stadt: Der Rechtsanwalt Horst Frankin Konstanz. 1996 war auch Rezzo Schlauch ins Rennen um das Oberbrgermeisteramt in der Landeshauptstadt Stuttgart gegangen. Dem Wahlkampf despopulren politischen Schwergewichts Zwei Zentner fr Stuttgart, lautetedas Wahlmotto auf Ganzkrperplakaten gab der Erfolg zuvor in Konstanz noc

    zustzlichen Auftrieb. Im ersten Wahlgang kam Schlauch mit ber 30% bis auf 5an den CDU-Kandidaten heran, und SPD-Mann Rainer Brechtken war mit 22%abgeschlagen. Der Sieg war fr Schlauch also zum Greifen nahe gewesen. DSPD htte sich nur klar fr ihn positionieren mssen. Beim zweiten Wahlgangbei dem die einfache Mehrheit reicht, zog Brechtken zwar zurck, aber aus Pforheim meldete sich der dortige, umtriebige SPD-OB Joachim Becker (nach baden wrttembergischen Wahlrecht mglich) und warf trotz Kritik seiner Partei denHut in den Ring. Das Unterfangen war aussichtslos, kostete aber Rezzo Schlaucletztlich den Sieg: Schuster (CDU) gewann mit 43,1%, Rezzo Schlauch leg

    nochmals auf 39,3% zu und Becker landete abgeschlagen bei13,5%.412002 gelang es dann dem Fraktionsvorsitzenden der Grnen im Landtag,Dieter Salomon, den OB-Sessel in Freiburg und damit in der ersten Grostadtzu erobern. Der Politikwissenschaftler hatte schon whrend des Studiums frdie Grnen den Kreisverband gemanagt, war im Stadtrat gewesen und hat auchnoch ber die Grnen promoviert. 2005, nach dem Ausscheiden der Grnen aus

    39 Mitteilungsblatt der Gemeinde Maselheim Nr.27/2006, 14.06.2006. 40 taz , 25.09.2011. 41 Zur OB-Wahl 1996 in Stuttgart liegt eine Einzelfallstudie von Markus Hoecker vor. Disse

    tation am Institut fr Sozialwissenschaften der Universitt Stuttgart, 2005,http://elib.uni-stuttgart.de/opus/volltexte/2005/2216/pdf/OB_Wahl_aktuell_05_02_15_als_PDF_ Vorlage.pdf (Stand 25.09.2011).

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    der Bundesregierung, war er zeitweise der Grne mit dem bedeutendsten politischen Amt in der Republik. 2010 wurde er souvern wiedergewhlt. Ebenfalls2002 kam Arno Schtterle ins OB-Amt in der Kleinstadt Mhlacker, wurde aber2010 wieder abgewhlt. Cai-Ullrich Fark wurde 2003 in Warthausen, wie Maselheim im Landkreis Biberach gelegen, Brgermeister. 2008 wechselte er aber indie CDU und verlor 2010 die Wiederwahl gegen einen Parteilosen. In Gufelden wurde ebenfalls 2003 der Landtagsabgeordnete Johannes Buchter ins Brgermeisteramt gewhlt. 2004 folgten Carsten Gabbert und Hansjrg Hofer in denbadischen Gemeinden Schutterwald und Schriesheim. Greres Aufsehenerregte dann wieder der Sieg des Landtagsabgeordneten Boris Palmer 2006 beider OB-Wahl in Tbingen. Palmer hatte zuvor bei der OB-Wahl 2004 in Stuttgartmit 21% gut abgeschnitten, war aber nicht wie Rezzo Schlauch in die Nhe einesSieges gekommen. Die SPD-Frau Ute Kumpf war deutlich an ihm vorbeigezogenauf Platz zwei hinter dem amtierenden CDU-OB Schuster. Umstritten war dann

    in der Partei, dass Palmer nach Zugestndnissen Schusters an grne Forderungendessen Wiederwahl empfahl und im zweiten Wahlgangzurckzog.42Die ZEIT bewertete die Tatsache, dass die meisten grnen Brgermeister

    in Baden-Wrttemberg, Hessen und Bayern zuhause sind, als typisch fr die wohlhabenden Brger dieser Lnder, die gern konservativ whlten, wenn es umdie groe Politik gehe. Aber in der kleinen Politik, die nicht so richtig wehtut undkeine Vermgenssteuer erndet, whlen die Wohlhabenden grn, wahrscheinlich um sich selbst zu beweisen, wie weltoffen und tolerant sie sind.43 Ob diesauch fr die 2011 gelungene grne Regierungsbernahme im Land gilt, muss

    sich noch zeigen. Jedenfalls ist der Erfolg bei den Landtagswahlen nicht nur mitFukushima und Stuttgart 21 zu erklren. Er basiert auch auf der Eroberung von Verantwortungspositionen auf kommunaler Ebene.

    G r n e s

    G e d c h t n i s

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    43

    Vgl. Website Boris Palmers25.09.2011)Die ZEIT , 17.09.2009.

    zur Wahl:http://stuttgart2004.boris-palmer.de/ ( Stand:

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    Inhalt

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    ANNIKA LAUX

    Die Grnen in Niedersachsen

    A n n

    i k a

    L a u x

    D i e G r n e n

    i n N i e d e r s a c

    h s e n

    Als Wiege der grten und vor allem langlebigsten Anti-Atomkraftbewegungenund (gemeinsam mit Schleswig-Holstein) Experimentierfeld der ersten erfolgreichen grnen Listen, gilt Niedersachsen seit jeher als grnesStammland1. Wiefr die Grnen typisch entstanden die grnen Listen hier in enger Verbindungmit Brgerinitiativen und Protestbewegungen. Zugleich ist der niederschsi

    sche Landesverband mit seinem vergleichsweise harmonischen Image jedochdie Ausnahme in der frhen Parteigeschichte der Grnen, die in der ffentlichen Wahrnehmung hufig ein einziger Strmungskampf war. Doch von vorn.

    Grndung des niederschsischen Landesverbandes

    Die Grnen in Niedersachsen wurden am 9. Dezember 1979, also noch vor demgrnen Bundesverband, gegrndet. Sie entstanden zunchst als Landesverband Sonstige Politische Vereinigung/SPV Die Grnen. Vorausgegangen war

    der Zusammenschluss der Grnen Liste Umweltschutz (GLU) mit der Umweltschutzpartei (USP) zur Landtagswahl 1978, bei der die neu fusionierte GLU m3,9% bereits ein beachtliches Ergebnis einfahren konnte. Bis es zu dieser Einigunkommen konnte, hatte es in Niedersachsen durchaus eine Reihe heftigerStrmungsstreitigkeiten gegeben, die zunchst zur Ausbildung verschiedenergrner Parteigebilde und Listen auf Landesebenefhrten.2 Als landesweite Partei war die USP 1977 gegrndet worden. Nach der Landtagswahl von 1978 entstanmit der Grnen Aktion Zukunft (GAZ) eine weitere Partei auf Bundesebene, dsich wie die seit den 1950er-Jahren aktive Aktionsgemeinschaft Unabhngiger

    Deutscher (AUD) dem grnen Spektrum zuordnete. Hauptstreitpunkt unter dengrnen Gruppierungen war, wie in vielen anderen Landesverbnden, die ideologische Verortung einer gemeinsamen grnen Partei, insbesondere die Abgrenzung nach links.

    Fr die Europawahl 1979 schlossen sich GLU, GAZ und AUD dennozur gemeinsamen Liste Sonstige Politische Vereinigungen (SPV) Die Grnenzusammen und machten in Niedersachsen gemeinsam Wahlkampf. Mit

    1 Christoph Hohlfeld, Grne Eintracht Niedersachsen, in: Joachim Raschke, Die Grnen. Wiesie wurden, was sie sind, Kln 1993, S. 348.

    2 Vgl. dazu ausfhrlich: Anna Hallensleben, Von der Grnen Liste zur Grnen Partei? DEntwicklung der Grnen Liste Umweltschutz von ihrer Entstehung in Niedersachsen 1977bis zur Grndung der Partei Die Grnen 1980, Gttingen/Zrich 1984.

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    immerhin 3,6% in Niedersachsen konnte auch diese Wahl als Erfolg verbucht werden, obwohl der Einzug in das Europische Parlament nicht aus dem Standgelang. Der ideologische Konikt wurde durch den gemeinsamen Wahlkampfzwischenzeitlich verdeckt, aber nicht gelst. Unterhalb des kompromissfhigenkologiethemas schwelte er nach der Wahl weiter und entbrannte erneut, alsdie gemeinsame Grndung der Grnen auf Bundes- und Landesebene Konturannahm. 3 Auf der Landesdelegiertenkonferenz der GLU in Bodenwerder 1979 wurde zwar beschlossen, die bunten und alternativen Listen an den Programmdiskussionen zu beteiligen, um eine Spaltung wie beispielsweise in Bremen zuverhindern. Allerdings war das Gespenst der dogmatischen Linken auch in denbrgerlich geprgten Kreisen der GLU so gefrchtet, dass die niederschsischenKreisverbnde im Zuge der Grndungsvorbereitung zur gemeinsamen bundes weiten grnen Partei grtenteils eine strkere Abgrenzung nach links suchten.4Die bereits im Europawahlkampf vertretenen Grundstze kologisch, sozial,

    basisdemokratisch und gewaltfrei schufen nur eine prekre gemeinsame Basis,die in dieser Frage keine Entscheidung brachte. Erst ber das 1980 auf Bundesebene beschlossene Saarbrcker Programm kam es dann vereinzelt zum Bruch,als sich der Kreisverband Uelzen weigerte, es fr den Bundestagswahlkampf 1980zu vertreten. Auch unter der Fhrung von Herbert Gruhl, dem Grnder der GAZ,kam es zu Abspaltungen von der gemeinsamen Partei5, aber die GLU Niedersachsen als Ganzes ging im niederschsischen Landesverband der Grnen auf.

    Dadurch wurden die Querelen zwischen den brgerlichen und den linkenKrften zwar nicht beendet, aber whrend diese in anderen Bundeslndern zur

    Hypothek fr die weitere Entwicklung und schlielich zur Zerreiprobe wurden,gelang es im niederschsischen Landesverband, einen Mittelweg zu etablieren,der weitere Spaltungen verhinderte. Damit konnte die parlamentarische Erfolgsgeschichte der niederschsischen Grnen weitergehen.

    Etablierung im Parlament

    Das Ergebnis der Bundestagswahl 1980 fiel fr die Grnen bescheiden aus, mit1,5% der Stimmen bundesweit und 1,6% in Niedersachsen. Der besonders polari

    sierte Wahlkampf zwischen dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt und dem CDU/CSU-Kandidaten Franz Josef Strau mag hierfr der Hauptgrund gewesen sein,denn das damit keine langfristige Schwche der niederschsischen Grneneingeleitet wurde, zeigte sich zwei Jahre spter. Gleich bei der ersten Landtags wahl nach Grndung des grnen Landesverbandes gelang der parlamentarischeDurchbruch. Mit 6,5% zogen die Grnen 1982 erstmals in den niederschsischenLandtag ein, als vierter Landesverband der Grnen berhaupt. Wie im Rest derBundesrepublik eckten sie dort bei den bereits etablierten Parteien mit einigen

    3 Ebenda, S. 188.4 Ebenda, S. 216f.5 Ebenda, S. 229. G r

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    Auszug aus dem Landeswahlprogramm der Grnen in Niedersachsen, 1982

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