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MANNHEIMER MORGEN WELT UND WISSEN 3 Donnerstag 4. SEPTEMBER 2014 Andreas Kötzing Der promovierte Historiker (35) arbei- tet am Hannah-Arendt- Institut für Totalitaris- musforschung an der TU Dresden, das sich der Erforschung der DDR- und der Nazi-Diktatur widmet. Zu Kötzings Forschungsschwer- punkten gehört die Deutsch-Deut- sche Nachkriegsgeschichte. trös CHRONIK Interview: Historiker Andreas Kötzing über den Stellenwert der Montagsdemonstrationen für das Ende der DDR und die Rolle der Kirche „Nicht nur Honecker war zur Gewalt bereit“ Von unserem Redaktionsmitglied Martin Tröster MANNHEIM/DRESDEN. Welche Rolle spielten die Montagsdemonstratio- nen für das Ende der DDR? Welche Rolle spielte die Kirche für den Wi- derstand und warum geschah das al- les ausgerechnet in Leipzig? Ein Ge- spräch mit dem Historiker Andreas Kötzing von der TU Dresden. Herr Kötzing, wie wichtig waren die Montagsproteste für das Ende der DDR? Andreas Kötzing: Der Stellenwert ist sehr groß, vor allem, wenn man sie in historischer Perspektive sieht. Die Friedensgebete, die jeder Demons- tration vorangingen, gab es ja seit den frühen 80ern. Sie hatten von An- fang an eine Art Kanalisationswir- kung für die DDR-Opposition, viele Unzufriedene haben im geschützten Raum der Kirche über Alternativen nachgedacht. Die Friedensgebete gab es aber schon in Dresden, unter Pfarrer Christoph Wonneberger, der 1985 nach Leipzig wechselte. Er gab den Bürgerrechtlern die Chance, die Friedensgebete zu gestalten. War Wonneberger damit letztlich die Hauptfigur der Montagsde- monstrationen? Kötzing: Eine einzige Hauptperson kann man schwer herausheben. Aber Wonneberger war eine zentrale Figur, weil er seine Arbeit als Pfarrer immer sehr politisch gesehen hat – nicht nur im Hinblick auf die Ausrei- sewilligen, sondern auch in der Fra- ge, wie man das System reformieren kann. Deshalb hat ihm ja 1988 die staatlich bedrängte Kirchenführung die Leitung der Friedensgebete ent- zogen, die Bürgerrechtsgruppen wurden zeitweise ausgeschlossen. Warum gab es die Montagsde- monstrationen gerade in Leipzig? Kötzing: Ausschlaggebend war ne- ben dem Engagement von Wonne- berger und anderen Kirchenvertre- tern die besondere Situation in der Stadt. In Leipzig haben sich die poli- tischen und sozialen Probleme der DDR wie in einem Brennglas gebün- delt: der Verfall der Industrie, die starke Umweltverschmutzung we- gen des Braunkohleabbaus, der Ver- fall der Bausubstanz prächtiger, alter Bürgerhäuser. Und: Durch die Welt- offenheit der traditionsreichen Han- delsstadt gab es dort schon immer eine sehr starke Bürgerbewegung. Hinzu kam eine breite Schicht von oppositionellen Jugendlichen. Wie kam es, dass die Proteste nicht niedergeschossen wurden? Weil Honecker erkrankt war? Kötzing: Es gab auch andere an der Staatsspitze, die zur Gewalt bereit gewesen wären. Wichtig war, dass die Demonstranten nicht den ge- ringsten Anlass gegeben haben und es viele Aufrufe gegen Gewalt gab – am 9. Oktober auch von SED-Vertre- tern. Das war eine kleine Sensation. An diesem Tag sollten Tausende be- waffnete Einsatzkräfte die Demo auflösen. Letztlich entschied sich hier der friedliche Verlauf der Revo- lution: Die Obrigkeit hatte vielleicht mit 15 000 Menschen gerechnet, aber nicht mit 70 000. Das ließ sich nicht mehr einfach niederschlagen, das hatte Signalwirkung: Nun pro- testierten immer mehr. 25 JAHRE MAUERFALL Die Berliner Mauer Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 leitete die Wie- dervereinigung der beiden deut- schen Staaten ein. Die Mauer war in den 28 Jahren ihrer Existenz weltweit bekanntes Symbol für den Kalten Krieg. Diese Phase begann mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Die Siegermächte teilten Deutschland in die zwei Staaten: Bundesrepu- blik und DDR. Im Westen entwi- ckelte sich eine Demokratie mit sozialer Markt-, im Osten eine SED- Diktatur mit Planwirtschaft. Am 13. August 1961 begannen die DDR-Machthaber mit dem Bau einer 167,8 Kilometer langen Mauer rund um West-Berlin. Die innerdeutsche Grenze erstreckte sich über eine Distanz von 1378 Kilometer. Sie verlief entlang der westlichen Grenzen der heutigen Bundesländer Mecklenburg-Vor- pommern, Brandenburg, Sachsen- Anhalt, Thüringen und Sachsen. Die schon bestehenden Sperranla- gen wurden durch Minenfelder und Selbstschussanlagen zu einem lebensgefährlichen Hinder- nis. Über die Zahl der Toten gibt es unterschiedliche Angaben. Sie schwanken allein an der Berliner Mauer zwischen 138 und 255. An der innerdeutschen Grenze geht man von rund 1000 Toten aus. Im Zuge der Massenproteste wurde Staats- und Parteichef Erich Honecker am 18. Oktober 1989 in Ost-Berlin gestürzt. Wenige Wochen später fiel die Mauer. was Unser interaktiver Zeitstrahl zeigt die wichtigsten Ereignisse und Begebenheiten vom Bau bis zum Fall der Mauer. w morgenweb.de/mauer i TEXT Leipziger Montagsdemonstrationen 1989 vor allem in Leipzig, hatte sich im Laufe der 80er Jahre zu einer Keim- zelle der DDR-Opposition entwickelt. Die Protestmärsche trugen stark zur weiteren Schwächung des SED- Regimes bei und wurden zu einem Symbol der „Friedlichen Revolution“, an deren Ende der Mauerfall und die Wiedervereinigung standen. Bei der Demonstration am 6. November waren etwa eine halbe Million Men- schen auf der Straße. 2003 wurde der Mythos beim Pro- test gegen die Hartz-Gesetze wieder- belebt. 2014 ebenfalls – als Reaktion auf die Kämpfe in der Ukraine. trös Die Montagsdemonstrationen fan- den erstmals am 4. September 1989 statt (etwa 1500 Teilnehmer). Sie begannen nach den „Friedensgebe- ten“ in der Leipziger Nikolaikirche. Das erste Friedensgebet nach der Sommerpause am 4. September wurde angesichts der außenpoliti- schen Entwicklung mit Spannung erwartet. Während der ersten Demos kam es zu Polizeigewalt und Massen- verhaftungen, später kaum mehr. Die Friedensgebete waren mehr als nur ein Gottesdienst. In den Andach- ten kamen auch politische Themen zur Sprache. Das kirchliche Umfeld, Nationalpreis würdigt Demos Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls hat der Deutsche Nationalpreis die Leipziger Montagsdemons- trationen gewürdigt. Der Preis wurde Ende Juni in Berlin an drei herausragende Akteure des Herbstes 1989 verliehen: die Leip- ziger Pfarrer Christian Führer und Christoph Wonneberger sowie den Bürgerrechtler Uwe Schwa- be. Außerdem wird das Archiv Bürgerbewegung Leipzig geehrt. Die Preisträger stünden für all jene Menschen, die 1989 in der DDR auf die Straße gegangen sei- en, teilte die Deutsche National- stiftung mit. Die Auszeichnung ist mit 60 000 Euro dotiert. 30 000 Euro gehen an das Archiv, der Rest wird unter den Pfarrern und dem Bürgerrechtler geteilt. dpa Leipzig feiert mit Gauck Mit einer „Rede zur Demokratie“ würdigt Bundespräsident Joa- chim Gauck am 9. Oktober in Leipzig die Revolution. Die Stadt feiert das Jubiläum außerdem mit einem großen Fest und dem tra- ditionellen Friedensgebet in der Nikolaikirche. An dem Festakt nehmen auch die Ministerpräsi- denten aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn teil. Leipzig feiere stellvertretend für all jene Menschen, die 1989 den Mut gehabt hätten, auf die Stra- ßen zu gehen, in Berlin, in Plauen oder in Dresden, sagte der Chef der Sächsischen Staatskanzlei, Johannes Beermann. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) sagte: „Nach 25 Jahren bin ich dankbar, an diesem Tag innezuhalten.“ dpa Serie Mauerfall: Heute vor 25 Jahren war die erste Montagsdemonstration in Leipzig / Als Tag des Durchbruchs gilt aber der 9. Oktober – obwohl Polizisten zuvor mit Maschinengewehren geübt hatten Dem Rausch der Revolution drohte ein Massaker Die Leipziger Mon- tagsdemos setzten dem taumelnden SED-Regime friedlich, aber heftig zu. Wir sprachen mit Beteiligten an vorderster Front. Von unserem Redaktionsmitglied Martin Tröster A n den Rausch der Revolu- tion kann sich Ernst Demele noch gut erinnern. „Das war eine Offenba- rung, so öffentlich in Erscheinung zu treten.“ Wenn er heute, nach 25 Jah- ren, von der ersten Montagsde- monstration spricht, ballen sich die Fäuste des 74-Jährigen. Regie habe niemand geführt an diesem 4. Sep- tember 1989, „die Leute taten das, was sie für richtig hielten. Die Polizei hat einfach eine Straße offengelas- sen, also liefen wir da lang.“ Vom Nikolaikirchhof aus, wo die Kundge- bung stattfand, in Richtung Haupt- bahnhof. Weiter als diese 800 Meter kamen sie beim ersten Mal noch nicht. Das Loslaufen sei „ungeführt, aber gewollt“ gewesen, sagt Demele (kleines Bild oben). „Was meinen Sie, wie wir dem nächsten Montag entgegengefiebert haben?“ Von nun an gingen die Leipziger bis zum Dezember jeden Montag auf die Straße. Was am 4. September mit 1500 Menschen begann, schwoll im November auf eine halbe Million an. Es ging um Freiheit in vielen Facet- ten. Etwa um die Freiheit, diesen Staat mit seinen Zwängen und sei- nem Kontrollwahn verlassen zu dür- fen: Die Reisefreiheit war ein zentra- les, aber nicht das einzige Thema. Auch Demele hatte genug. Der Bauingenieur bei der Eisenbahn konnte den Widerspruch nicht mehr ertragen: den Widerspruch zwi- schen seinem Schweigen und seiner Unzufriedenheit mit „diesem Sys- tem, dem die Menschenwürde fehlt“. Also schloss er sich 1987 der „Initiativgruppe Leben“ an, die für Umweltfragen eintrat. Bei den Friedensgebeten in der Nikolaikirche hielt Demele Andach- ten. Als gläubig würde er sich nicht bezeichnen. „Aber ich habe die Kir- che immer respektiert, als morali- sche Instanz, die den Menschen Halt gibt.“ Nach den Friedensgebeten ver- sammelten sie sich auf dem Kirch- platz und liefen einfach los, dorthin, wo es möglich war. Am 9. Oktober hin- derte sie die Polizei nicht mehr daran, den gesamten Alt- stadtring abzulaufen. „Da war klar: Das hier ist kein Rumgeren- ne“, erinnert sich De- mele. „Wir wussten: Jetzt haben wir der Staatsgewalt etwas abgerungen. Dass wir das System beseiti- gen, daran hätten wir im Traum nicht ge- dacht. Wir wollten Veränderungen.“ Das System zu be- seitigen, das war das erklärte Ziel von Oli- ver Kloss. Der damali- ge Theologiestudent (kleines Bild Mitte) zählte zum subversiven Kern des Widerstandes, laut Kloss waren das in Leipzig über 300 vorwiegend junge Leute, „die das kippen woll- ten.“ Er war damals 24 Jahre alt und Mitbegründer der Arbeitsgruppe Menschenrechte, die Menschen- rechtsverletzungen in der DDR an- prangerte und hinter dem von Theo- logiestudenten initiierten „Arbeits- kreis Gerechtigkeit“ eine wichtige Rolle bei der Organisation der Pro- testmärsche spielte. Heute ist Kloss Dozent in der Erwachsenenbildung und gibt Philosophie-Seminare an der Uni Leipzig. Diejenigen, die ausreisen woll- ten, wurden nach vorne geschickt. Das war abgemacht: „Normalerwei- se dauerte es einige Jahre, bis ein Ausreiseantrag bewilligt wurde. Wer aber öffentlich auffiel, sich an einer Demo beteiligte, war nach wenigen Wochen draußen.“ Sie suchten diese Chancen und organisierten die Öf- fentlichkeit. Dabei war die West- presse wichtig, auch für die DDR- Bürger: Ihre Medien waren in Partei- hand. „Direkt von der Demo rannte ich zur Telefonzelle und gab Mel- dung an die Lukaskirche.“ Von Pfar- rer Christoph Wonnebergers Ge- meinde aus wurden die West-Kor- respondenten in Ost-Berlin angeru- fen. Aus der Nikolaikirche des Pfar- rers Christian Führer, der im Juni 2014 starb, durften sie nicht telefo- nieren. Er fürchtete laut Zeitzeugen ein hartes Durchgreifen des Staates. Bei „Wonni“, wie ihn seine Mit- streiter nennen, haben sie am Abend des 9. Oktober mit einem Whisky auf das Ende der DDR angestoßen. Nach dieser ersten friedlichen Massende- mo auf dem gesamten Altstadtring wussten sie: „Wir haben gesiegt!“ Angst, sagt Kloss, hätte er an diesem Tag nicht gehabt. „Einer Bekannten hatte ich gesagt: Zu 90 Prozent pas- siert nix.“ Dass keine Schüsse fallen würden, war alles andere als gewiss. Da war das Massaker gegen De- monstranten im Juni in Peking. Da- nach war SED-Funktionär Egon Krenz nach China gereist, in der DDR waren chinesische Generäle empfangen worden. Man verstand. Der große Tag der Protestierer, der 9. Oktober, hätte also auch ein blutiger werden können: „Wir hatten Maschinenpistolen dabei“, bestätigt Ralf Kohde (kleines Bild unten). Der damals 25-Jährige leistete seinen Er- satzwehrdienst bei der Erfurter Be- reitschaftspolizei und war vor der Nikolaikirche aufgestellt. „Die meis- ten Einheiten wurden aus Halle oder Erfurt angefordert“, sagt Kohde, der heute als Textilmaschinenführer ar- beitet und bei Osnabrück lebt. „Kol- legen aus Leipzig standen ja ihren ei- genen Eltern gegenüber.“ Dass sie scharfe Waffen dabei hatten, erfuhren sie erst später. „Man hat uns gesagt: ,Anti-sozialisti- sche Kräfte wollen den Staat stür- zen.’“ Sie übten mit Maschinenge- wehren, wenn auch mit Tränengas- munition. „Wir dachten: Was pas- siert hier mit uns? Mein Gott, wir müssen hier mit Waffen üben?“ Wäre der Schießbefehl gekom- men, hätte Kohde geschossen? „Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Vielleicht hätte ich in die Luft ge- schossen. Die Leute waren ja unbe- waffnet. Das ist eine schwierige Fra- ge, die man heute nur schwer beant- worten kann.“ Auf dem Weg zur „Friedlichen Revolution“: Leipziger Montagsdemonstranten im Oktober 1989 gehen gegen den autoritären SED-Staat auf die Straße. BILD: DPA

2014-09 Zur Revolution 1989 - Mannheimer Morgen

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2014-09 Martin Tröster: Dem Rausch der Revolution drohte ein Massaker. Die Leipziger Montagsdemos setzten dem taumelnden SED-Regime friedlich, aber heftig zu. Wir sprachen mit Beteiligten an vorderster Front. In: Mannheimer Morgen vom 4. September 2014, Seite 3.

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Page 1: 2014-09 Zur Revolution 1989 - Mannheimer Morgen

MANNHEIMER

MORGENWELT UND WISSEN 3Donnerstag4. SEPTEMBER 2014

Andreas Kötzing

� Der promovierteHistoriker (35) arbei-tet am Hannah-Arendt-Institut für Totalitaris-musforschung an derTU Dresden, das sichder Erforschung derDDR- und der Nazi-Diktatur widmet.

� Zu Kötzings Forschungsschwer-punkten gehört die Deutsch-Deut-sche Nachkriegsgeschichte. trös

CHRONIK

Interview: Historiker Andreas Kötzing über den Stellenwert der Montagsdemonstrationen für das Ende der DDR und die Rolle der Kirche

„Nicht nur Honecker war zur Gewalt bereit“Von unserem RedaktionsmitgliedMartin Tröster

MANNHEIM/DRESDEN. Welche Rollespielten die Montagsdemonstratio-nen für das Ende der DDR? WelcheRolle spielte die Kirche für den Wi-derstand und warum geschah das al-les ausgerechnet in Leipzig? Ein Ge-spräch mit dem Historiker AndreasKötzing von der TU Dresden.

Herr Kötzing, wie wichtig warendie Montagsproteste für das Endeder DDR?

Andreas Kötzing: Der Stellenwert istsehr groß, vor allem, wenn man sie inhistorischer Perspektive sieht. DieFriedensgebete, die jeder Demons-tration vorangingen, gab es ja seitden frühen 80ern. Sie hatten von An-

fang an eine Art Kanalisationswir-kung für die DDR-Opposition, vieleUnzufriedene haben im geschütztenRaum der Kirche über Alternativennachgedacht. Die Friedensgebetegab es aber schon in Dresden, unterPfarrer Christoph Wonneberger, der1985 nach Leipzig wechselte. Er gabden Bürgerrechtlern die Chance, dieFriedensgebete zu gestalten.

War Wonneberger damit letztlichdie Hauptfigur der Montagsde-monstrationen?

Kötzing: Eine einzige Hauptpersonkann man schwer herausheben.Aber Wonneberger war eine zentraleFigur, weil er seine Arbeit als Pfarrerimmer sehr politisch gesehen hat –nicht nur im Hinblick auf die Ausrei-sewilligen, sondern auch in der Fra-

ge, wie man das System reformierenkann. Deshalb hat ihm ja 1988 diestaatlich bedrängte Kirchenführungdie Leitung der Friedensgebete ent-zogen, die Bürgerrechtsgruppenwurden zeitweise ausgeschlossen.

Warum gab es die Montagsde-monstrationen gerade in Leipzig?

Kötzing: Ausschlaggebend war ne-ben dem Engagement von Wonne-berger und anderen Kirchenvertre-tern die besondere Situation in derStadt. In Leipzig haben sich die poli-tischen und sozialen Probleme derDDR wie in einem Brennglas gebün-delt: der Verfall der Industrie, diestarke Umweltverschmutzung we-gen des Braunkohleabbaus, der Ver-fall der Bausubstanz prächtiger, alterBürgerhäuser. Und: Durch die Welt-

offenheit der traditionsreichen Han-delsstadt gab es dort schon immereine sehr starke Bürgerbewegung.Hinzu kam eine breite Schicht vonoppositionellen Jugendlichen.

Wie kam es, dass die Proteste nichtniedergeschossen wurden? WeilHonecker erkrankt war?

Kötzing: Es gab auch andere an derStaatsspitze, die zur Gewalt bereitgewesen wären. Wichtig war, dassdie Demonstranten nicht den ge-ringsten Anlass gegeben haben undes viele Aufrufe gegen Gewalt gab –am 9. Oktober auch von SED-Vertre-tern. Das war eine kleine Sensation.An diesem Tag sollten Tausende be-waffnete Einsatzkräfte die Demoauflösen. Letztlich entschied sichhier der friedliche Verlauf der Revo-lution: Die Obrigkeit hatte vielleichtmit 15 000 Menschen gerechnet,aber nicht mit 70 000. Das ließ sichnicht mehr einfach niederschlagen,das hatte Signalwirkung: Nun pro-testierten immer mehr.

25 JAHREMAUERFALL

Die Berliner Mauer

� Der Fall der Berliner Mauer am9. November 1989 leitete die Wie-dervereinigung der beiden deut-schen Staaten ein.

� Die Mauer war in den 28 Jahrenihrer Existenz weltweit bekanntesSymbol für den Kalten Krieg.Diese Phase begann mit dem Endedes Zweiten Weltkriegs 1945. DieSiegermächte teilten Deutschlandin die zwei Staaten: Bundesrepu-blik und DDR. Im Westen entwi-ckelte sich eine Demokratie mitsozialer Markt-, im Osten eine SED-Diktatur mit Planwirtschaft.

� Am 13. August 1961 begannendie DDR-Machthaber mit dem Baueiner 167,8 Kilometer langenMauer rund um West-Berlin. Dieinnerdeutsche Grenze erstrecktesich über eine Distanz von 1378Kilometer. Sie verlief entlang derwestlichen Grenzen der heutigenBundesländer Mecklenburg-Vor-pommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen.Die schon bestehenden Sperranla-gen wurden durch Minenfelderund Selbstschussanlagen zueinem lebensgefährlichen Hinder-nis.

� Über die Zahl der Toten gibt esunterschiedliche Angaben. Sieschwanken allein an der BerlinerMauer zwischen 138 und 255. Ander innerdeutschen Grenze gehtman von rund 1000 Toten aus.

� Im Zuge der Massenprotestewurde Staats- und Parteichef ErichHonecker am 18. Oktober 1989 inOst-Berlin gestürzt. WenigeWochen später fiel die Mauer. was

Unser interaktiver Zeitstrahlzeigt die wichtigsten Ereignisseund Begebenheiten vom Bau biszum Fall der Mauer.

w morgenweb.de/mauer

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Leipziger Montagsdemonstrationen 1989

vor allem in Leipzig, hatte sich imLaufe der 80er Jahre zu einer Keim-zelle der DDR-Opposition entwickelt.

� Die Protestmärsche trugen stark zurweiteren Schwächung des SED-Regimes bei und wurden zu einemSymbol der „Friedlichen Revolution“,an deren Ende der Mauerfall und dieWiedervereinigung standen. Bei derDemonstration am 6. Novemberwaren etwa eine halbe Million Men-schen auf der Straße.

� 2003 wurde der Mythos beim Pro-test gegen die Hartz-Gesetze wieder-belebt. 2014 ebenfalls – als Reaktionauf die Kämpfe in der Ukraine. trös

� Die Montagsdemonstrationen fan-den erstmals am 4. September 1989statt (etwa 1500 Teilnehmer). Siebegannen nach den „Friedensgebe-ten“ in der Leipziger Nikolaikirche.Das erste Friedensgebet nach derSommerpause am 4. Septemberwurde angesichts der außenpoliti-schen Entwicklung mit Spannungerwartet. Während der ersten Demoskam es zu Polizeigewalt und Massen-verhaftungen, später kaum mehr.

� Die Friedensgebete waren mehr alsnur ein Gottesdienst. In den Andach-ten kamen auch politische Themenzur Sprache. Das kirchliche Umfeld,

Nationalpreiswürdigt DemosZum 25. Jahrestag des Mauerfallshat der Deutsche Nationalpreisdie Leipziger Montagsdemons-trationen gewürdigt. Der Preiswurde Ende Juni in Berlin an dreiherausragende Akteure desHerbstes 1989 verliehen: die Leip-ziger Pfarrer Christian Führer undChristoph Wonneberger sowieden Bürgerrechtler Uwe Schwa-be. Außerdem wird das ArchivBürgerbewegung Leipzig geehrt.

Die Preisträger stünden für alljene Menschen, die 1989 in derDDR auf die Straße gegangen sei-en, teilte die Deutsche National-stiftung mit. Die Auszeichnung istmit 60 000 Euro dotiert. 30 000Euro gehen an das Archiv, derRest wird unter den Pfarrern unddem Bürgerrechtler geteilt. dpa

Leipzig feiertmit GauckMit einer „Rede zur Demokratie“würdigt Bundespräsident Joa-chim Gauck am 9. Oktober inLeipzig die Revolution. Die Stadtfeiert das Jubiläum außerdem miteinem großen Fest und dem tra-ditionellen Friedensgebet in derNikolaikirche. An dem Festaktnehmen auch die Ministerpräsi-denten aus Polen, Tschechien,der Slowakei und Ungarn teil.Leipzig feiere stellvertretend fürall jene Menschen, die 1989 denMut gehabt hätten, auf die Stra-ßen zu gehen, in Berlin, in Plauenoder in Dresden, sagte der Chefder Sächsischen Staatskanzlei,Johannes Beermann. LeipzigsOberbürgermeister BurkhardJung (SPD) sagte: „Nach 25 Jahrenbin ich dankbar, an diesem Taginnezuhalten.“ dpa

Serie Mauerfall: Heute vor 25 Jahren war die erste Montagsdemonstration in Leipzig / Als Tag des Durchbruchs gilt aber der 9. Oktober – obwohl Polizisten zuvor mit Maschinengewehren geübt hatten

Dem Rausch der Revolutiondrohte ein MassakerDie Leipziger Mon-tagsdemos setztendem taumelndenSED-Regimefriedlich, aber heftigzu. Wir sprachenmit Beteiligtenan vorderster Front.

Von unserem RedaktionsmitgliedMartin Tröster

An den Rausch der Revolu-tion kann sich ErnstDemele noch gut erinnern.„Das war eine Offenba-

rung, so öffentlich in Erscheinung zutreten.“ Wenn er heute, nach 25 Jah-ren, von der ersten Montagsde-monstration spricht, ballen sich dieFäuste des 74-Jährigen. Regie habeniemand geführt an diesem 4. Sep-tember 1989, „die Leute taten das,was sie für richtig hielten. Die Polizeihat einfach eine Straße offengelas-sen, also liefen wir da lang.“ VomNikolaikirchhof aus, wo die Kundge-bung stattfand, in Richtung Haupt-bahnhof. Weiter als diese 800 Meterkamen sie beim ersten Mal nochnicht. Das Loslaufen sei „ungeführt,aber gewollt“ gewesen, sagt Demele(kleines Bild oben). „Was meinenSie, wie wir dem nächsten Montagentgegengefiebert haben?“

Von nun an gingen die Leipzigerbis zum Dezember jeden Montag aufdie Straße. Was am 4. September mit1500 Menschen begann, schwoll imNovember auf eine halbe Million an.Es ging um Freiheit in vielen Facet-ten. Etwa um die Freiheit, diesenStaat mit seinen Zwängen und sei-nem Kontrollwahn verlassen zu dür-fen: Die Reisefreiheit war ein zentra-les, aber nicht das einzige Thema.

Auch Demele hatte genug. DerBauingenieur bei der Eisenbahnkonnte den Widerspruch nicht mehrertragen: den Widerspruch zwi-schen seinem Schweigen und seinerUnzufriedenheit mit „diesem Sys-tem, dem die Menschenwürdefehlt“. Also schloss er sich 1987 der„Initiativgruppe Leben“ an, die fürUmweltfragen eintrat.

Bei den Friedensgebeten in derNikolaikirche hielt Demele Andach-ten. Als gläubig würde er sich nichtbezeichnen. „Aber ich habe die Kir-che immer respektiert, als morali-sche Instanz, die den Menschen Haltgibt.“

Nach den Friedensgebeten ver-sammelten sie sich auf dem Kirch-platz und liefen einfach los, dorthin,

wo es möglich war.Am 9. Oktober hin-derte sie die Polizeinicht mehr daran,den gesamten Alt-stadtring abzulaufen.„Da war klar: Das hierist kein Rumgeren-ne“, erinnert sich De-mele. „Wir wussten:Jetzt haben wir derStaatsgewalt etwasabgerungen. Dass wirdas System beseiti-gen, daran hätten wirim Traum nicht ge-dacht. Wir wolltenVeränderungen.“

Das System zu be-seitigen, das war daserklärte Ziel von Oli-ver Kloss. Der damali-ge Theologiestudent (kleines BildMitte) zählte zum subversiven Kerndes Widerstandes, laut Kloss warendas in Leipzig über 300 vorwiegendjunge Leute, „die das kippen woll-ten.“ Er war damals 24 Jahre alt undMitbegründer der ArbeitsgruppeMenschenrechte, die Menschen-rechtsverletzungen in der DDR an-prangerte und hinter dem von Theo-logiestudenten initiierten „Arbeits-kreis Gerechtigkeit“ eine wichtigeRolle bei der Organisation der Pro-testmärsche spielte. Heute ist KlossDozent in der Erwachsenenbildungund gibt Philosophie-Seminare ander Uni Leipzig.

Diejenigen, die ausreisen woll-ten, wurden nach vorne geschickt.Das war abgemacht: „Normalerwei-se dauerte es einige Jahre, bis einAusreiseantrag bewilligt wurde. Weraber öffentlich auffiel, sich an einerDemo beteiligte, war nach wenigenWochen draußen.“ Sie suchten dieseChancen und organisierten die Öf-fentlichkeit. Dabei war die West-presse wichtig, auch für die DDR-Bürger: Ihre Medien waren in Partei-hand. „Direkt von der Demo rannteich zur Telefonzelle und gab Mel-dung an die Lukaskirche.“ Von Pfar-rer Christoph Wonnebergers Ge-meinde aus wurden die West-Kor-

respondenten in Ost-Berlin angeru-fen. Aus der Nikolaikirche des Pfar-rers Christian Führer, der im Juni2014 starb, durften sie nicht telefo-nieren. Er fürchtete laut Zeitzeugenein hartes Durchgreifen des Staates.

Bei „Wonni“, wie ihn seine Mit-streiter nennen, haben sie am Abenddes 9. Oktober mit einem Whisky aufdas Ende der DDR angestoßen. Nachdieser ersten friedlichen Massende-mo auf dem gesamten Altstadtringwussten sie: „Wir haben gesiegt!“Angst, sagt Kloss, hätte er an diesemTag nicht gehabt. „Einer Bekanntenhatte ich gesagt: Zu 90 Prozent pas-siert nix.“ Dass keine Schüsse fallen

würden, war alles andere als gewiss.Da war das Massaker gegen De-monstranten im Juni in Peking. Da-nach war SED-Funktionär EgonKrenz nach China gereist, in derDDR waren chinesische Generäleempfangen worden. Man verstand.

Der große Tag der Protestierer,der 9. Oktober, hätte also auch einblutiger werden können: „Wir hattenMaschinenpistolen dabei“, bestätigtRalf Kohde (kleines Bild unten). Derdamals 25-Jährige leistete seinen Er-satzwehrdienst bei der Erfurter Be-reitschaftspolizei und war vor derNikolaikirche aufgestellt. „Die meis-ten Einheiten wurden aus Halle oderErfurt angefordert“, sagt Kohde, derheute als Textilmaschinenführer ar-beitet und bei Osnabrück lebt. „Kol-legen aus Leipzig standen ja ihren ei-genen Eltern gegenüber.“

Dass sie scharfe Waffen dabeihatten, erfuhren sie erst später.„Man hat uns gesagt: ,Anti-sozialisti-sche Kräfte wollen den Staat stür-zen.’“ Sie übten mit Maschinenge-wehren, wenn auch mit Tränengas-munition. „Wir dachten: Was pas-siert hier mit uns? Mein Gott, wirmüssen hier mit Waffen üben?“

Wäre der Schießbefehl gekom-men, hätte Kohde geschossen?„Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht.Vielleicht hätte ich in die Luft ge-schossen. Die Leute waren ja unbe-waffnet. Das ist eine schwierige Fra-ge, die man heute nur schwer beant-worten kann.“

Auf dem Weg zur „Friedlichen Revolution“: Leipziger Montagsdemonstranten im Oktober 1989 gehen gegen den autoritären SED-Staat auf die Straße. BILD: DPA